23

Noch bevor die Sonne ganz aufgegangen war, bekam sie Fieber. Ihre Mutter untersuchte sie flüchtig und kam zu dem Schluss, dass es wohl größtenteils ihre Erschöpfung und die Vielzahl kleinerer Schrammen und Blessuren waren, die sich auf diese Weise Ausdruck verliehen, aber Arri spürte, dass sie das nur sagte, um sie zu beruhigen. Ihr Fieber stieg auch weiter, und schon bald sank sie in einen Dämmerzustand zwischen Wachsein und wirren Phantasien; sie nahm nicht mehr wirklich wahr, was rings um sie herum oder gar mit ihr geschah, fand sich nur irgendwann lang ausgestreckt und in eine Decke gehüllt auf der Ladefläche des Wagens wieder. Später dann wachte sie auf, weil sie spürte, dass sich irgendjemand an ihr zu schaffen machte, ohne dass sie genau sagen konnte, wer oder wie, und dann verlor sie wohl endgültig das Bewusstsein, denn das Nächste, woran sie sich erinnerte, war, dass es dunkel war und ihre Mutter ihr eine Schale mit einer kalten, bitter schmeckenden Flüssigkeit an die Lippen setzte und sie zwang, diese hinunterzuwürgen.

Sie schlief die ganze Nacht und auch noch bis spät in den darauffolgenden Nachmittag hinein, und als sie endlich wieder erwachte, da tat sie es nicht von selbst, sondern von so rasenden Kopfschmerzen geweckt, wie sie sie noch nie zuvor verspürt hatte. Mattes Sonnenlicht drang durch ihre noch geschlossenen Lider, und der Wagen schaukelte so sacht und regelmäßig unter ihr, dass es eigentlich beruhigend und einschläfernd hätte sein müssen - aber ihr wurde nun eher übel davon. In ihrem Mund war ein grässlicher Geschmack, und sie hatte das Gefühl, nicht mehr einen einzigen Flecken am Körper zu haben, der nicht auf die eine oder andere Weise wehtat.

Anfangs versuchte Arri mit aller Kraft, wieder einzuschlafen, und sei es nur, um diesem durch und durch unangenehmen Augenblick zu entkommen, aber natürlich erreichte sie damit eher das Gegenteil; je mehr sie sich zu zwingen versuchte, wieder einzuschlafen, desto rascher streifte ihr Geist die Fesseln des Schlafes ab und desto unwohler fühlte sie sich. Schließlich gab sie auf und öffnete die Augen, aber auch das bedauerte sie sogleich. Aus dem milden, roten Licht, das durch ihre geschlossenen Lider gedrungen war, wurde ein grellweißer Feuerball, der sich wie ein glühendes Messer in ihre Augen zu bohren schien. Arri biss mit einem schmerzerfüllten Zischen die Zähne zusammen und drehte rasch den Kopf auf die Seite, kam aber irgendwie nicht auf den Gedanken, einfach die Lider wieder zu schließen, und hinter ihr erscholl ein sonderbarer Laut, den sie erst nach einigen Momenten als das spöttische Lachen ihrer Mutter erkannte.

Mühsam stemmte sie sich auf die Ellbogen hoch, verdrehte den Hals, um zu ihrer Mutter zu sehen, die hinter und über ihr auf dem Kutschbock saß, und stellte dabei fest, wie sehr sie verbunden und eingewickelt war, sodass sie sich nicht nur kaum bewegen konnte, sondern sich auch vorkam wie eine Tote, die man vergessen hatte, in ihr Grab zu legen. Ihre Mutter aber wandte ihr den Rücken zu und sah nicht einmal in ihre Richtung, und trotzdem sagte sie: »Es ist nicht besonders klug, direkt in die Sonne zu sehen, wenn man gerade wach geworden ist. Der Winter steht jetzt zwar vor der Tür, aber sie hat noch eine Menge Kraft.«

Arri blinzelte die Tränen weg, die ihr das plötzliche grelle Licht in die Augen getrieben hatte. Sie hätte gern die Hand zu Hilfe genommen, um auch noch einiges andere wegzuwischen, das sich in ihren Augenwinkeln eingenistet hatte und nicht nur ihre Wimpern verklebte, sondern allmählich auch wehzutun begann, aber ihre Hände waren beide so dick verbunden, dass sie die Finger praktisch nicht bewegen konnte.

»Wo... wo sind wir?«, nuschelte sie mühsam. Ihre Zunge war schwer und weigerte sich, ihr richtig zu gehorchen, und Arri überlegte kurz, ob Lea sie ihr vielleicht auch verbunden hatte; dann schüttelte sie den Kopf über ihren eigenen, albernen Gedanken. Auch das war keine gute Idee - ihre Kopfschmerzen flammten zu einer schieren Feuersbrunst auf und verebbten wieder, als sie die Bewegung unversehens einstellte.

»In Sicherheit, keine Angst«, antwortete Lea und fügte mit einem neuerlichen, gutmütig-spöttischen Lachen hinzu: »Du solltest dich nur vorsichtig bewegen, falls du keinen Wert darauf legst, dass dir der Kopf zerspringt.«

Arri zog eine Grimasse (von der sie ganz und gar nicht sicher war, dass ihre Mutter sie nicht sah), konzentrierte sich darauf, ihrer Zunge ihren Willen aufzuzwingen und brachte irgendwie das Kunststück fertig, halbwegs verständlich - wenn auch schleppend - zu sprechen: »Liest du jetzt mittlerweile auch schon meine Gedanken?«

»Das tu ich schon die ganze Zeit, Arianrhod. Alle Mütter können die Gedanken ihrer Töchter lesen, weißt du das etwa nicht? Die Frage ist nur, ob sie es auch wirklich immer wollen. Außerdem«, fügte sie nach einer winzigen Pause und in beinahe schadenfrohem und unüberhörbar spöttischem Ton hinzu, »habe ich dir ein Mittel eingeflößt, das zwar dein Fieber senkt, aber leider auch schreckliche Kopfschmerzen verursacht.« Sie hob die Schultern. »Man kann eben nicht alles haben.«

»Ja, vielen Dank auch«, maulte Arri, »aber ich glaube, ich hätte lieber weiter ein bisschen Fieber gehabt.«

»Hättest du nur ein bisschen Fieber gehabt, Kleines, hätte ich dir das Mittel nicht gegeben. Bleib einfach noch eine Weile ruhig liegen. Es dauert nicht lange, bis du dich besser fühlst.«

Arri dachte daran, erneut zu widersprechen, sah die Sinnlosigkeit eines solchen Versuches aber rasch ein, ließ sich - äußerst behutsam - zurücksinken und schloss die Augen. Aus dem grellen Feuerball am Himmel wurde wieder ein mildes, rotbraunes Licht, das nur sanft durch ihre Lider drang. Die beruhigende Wirkung dieses Lichtes hielt jedoch nur einen Atemzug lang an, dann brachte es Erinnerungen mit sich, die sie nicht haben wollte, obwohl sie ihr im ersten Moment vollkommen sinnlos erschienen; zusammenhanglose Bilder aus einem Albtraum, in dem Feuer eine Rolle spielte, und Schreie und brennende Menschen... und dann wurde ihr klar, dass es kein Albtraum gewesen war, sondern die Wirklichkeit.

Mit einem Ruck setzte sie sich auf und fuhr zu ihrer Mutter herum. Ihre Kopfschmerzen flammten erneut auf, aber das war ihr egal. »Targan!«, keuchte sie. »Runa! Was... die anderen... was... was ist mit ihnen?« Ihre Stimme brach. Für einen Moment wurde der Schmerz zwischen ihren Schläfen so stark, dass sie nicht mehr richtig sehen konnte und alles rings um sie herum verschwamm, dann erlosch er so plötzlich, dass ihr beinahe schwindelig wurde.

»Es ist alles in Ordnung, Arianrhod«, sagte Lea. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Wir sind in Sicherheit.«

Arri schluckte ein paar Mal und sammelte dabei Speichel im Mund, um ihre Zunge, die sich schon wieder taub anfühlte, geschmeidig zu machen. Sie nutzte die Zeit, um gründlich über die Worte ihrer Mutter nachzudenken. Die Furcht, die die Bilder aus ihrer Vergangenheit heraufbeschworen hatten, wühlte noch immer in ihr, und doch war ihr zugleich auch klar, dass Lea jetzt zum zweiten Mal nicht auf ihre direkte Frage geantwortet hatte. Sie beruhigte sich damit, dass sie vermutlich zu viel hineingeheimniste, oder das Mittel, das ihre Mutter ihr gegeben hatte, möglicherweise nicht nur für ihre Kopfschmerzen verantwortlich war, sondern auch ihre Gedanken träge machte.

»Wenn du dich besser fühlst, dann komm nach vorn zu mir auf die Bank«, fuhr ihre Mutter fort. »Es redet sich besser, wenn man sich dabei nicht ununterbrochen den Hals verdrehen muss.«

Zumindest seit Arri wach war, hatte Lea das kein einziges Mal getan, aber Arri beließ es dabei, drehte sich umständlich und ächzend um und kroch mit vorsichtigen, kleinen Bewegungen nach vorn und auf die Bank, wobei sie ungeduldig die Decke abstreifte, in die sie bislang gewickelt war, und hinter sich auf die Ladefläche warf. Sie wartete darauf, dass die Kopfschmerzen wieder einsetzten, aber das geschah nicht. Dennoch kostete es sie eine Menge Anstrengung und Geschicklichkeit, die kurze Entfernung zurückzulegen, denn die Verbände, die ihre Mutter ihr angelegt hatte, saßen nicht nur sehr stramm und behinderten sie bei jeder Bewegung, sondern taten zum Teil auch ziemlich weh, sodass ihr wiederum die Tränen in den Augen standen, als sie endlich neben ihrer Mutter angekommen war.

Lea sagte nichts dazu, maß sie aber mit einem Blick, in dem keinerlei Überraschung zu lesen war. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit nach vorn, und Arri nutzte den Umstand, dass ihre Mutter genau um ihren Zustand zu wissen schien und sicherlich Rücksicht darauf nahm, um ihrerseits eine geraume Weile zu schweigen und sich zu orientieren. Bisher hatte sie auf dem Rücken gelegen und kaum mehr als den Himmel über sich gesehen, nun aber erkannte sie, dass sie über eine weite, von nichts anderem als Gras, Büschen und nur sehr vereinzelt stehenden, kränklich aussehenden Bäumen beherrschte Ebene rollten. Weit am Horizont, fast nur als verschwommene Linie zu erkennen, war das dunkle Grün eines ausgedehnten Waldes zu erkennen, und die Berge, die ihr auf dem Hinweg als Orientierung gedient hatten, befanden sich nun in ihrem Rücken. Auch wenn Arri weit davon entfernt war, die Zeit anhand des Sonnenstandes mit der gleichen Kunstfertigkeit und Genauigkeit abzulesen wie ihre Mutter, so erkannte sie doch, dass es später Nachmittag war. Sie erschrak.

»Wie lange habe ich geschlafen?«, entfuhr es ihr. »Du hast mich nicht den ganzen Tag schlafen lassen, oder?«

Lea schüttelte den Kopf und warf ihr einen kurzen, belustigten Blick aus den Augenwinkeln zu. »Nein. Du hast den Rest der Nacht, den nächsten Tag, eine weitere Nacht, noch einen ganzen Tag, noch eine Nacht und den größten Teil dieses Tages verschlafen.«

Arris Gedanken bewegten sich noch nicht geschmeidig genug, um diesem Satz auf Anhieb folgen zu können. Aber sie begriff immerhin, was ihre Mutter damit sagen wollte. Sie rechnete mühsam im Kopf nach. »Ich war... drei Tage lang bewusstlos?«, murmelte sie.

Abermals schüttelte Lea den Kopf. »Nicht bewusstlos«, verbesserte sie. »Ich habe dir ein Mittel gegeben, das dich schlafen ließ. Das ist ein Unterschied.«

Das mochte so sein, für Arri spielte es jedoch kaum eine Rolle. »Aber warum?«

Wieder sah ihre Mutter sie nur ganz kurz an, doch diesmal blieb das belustigte Funkeln in ihren Augen aus. Sie löste die rechte Hand vom Zügel und berührte mit den Fingerspitzen Arris verbundene Rechte. Das Ergebnis war ein kurzer, aber heftiger Schmerz, der bis in ihre Schulter hinaufschoss und sie scharf die Luft einsaugen ließ. »Deshalb. Was hast du mit dieser Hand gemacht? Glühende Holzkohle aus einem Feuer geklaubt?« Sie schien keine Antwort auf ihre Frage zu erwarten, denn sie fuhr mit einem Kopfschütteln und unmittelbar fort: »Keine Angst. Ich konnte sie rasch genug behandeln. Du wirst keine Narben zurückbehalten, und wenn, dann zumindest keine, die dich behindern. Aber Brandwunden sind sehr, sehr schmerzhaft. Ich wollte nicht, dass du unnötig leidest.«

Seltsam - Arri spürte, dass das zugleich die Wahrheit war wie auch nicht. Sie blickte nachdenklich auf ihre dick verbundene rechte Hand hinab - der jähe Schmerz war erloschen, aber Leas Berührung hatte einen anderen, älteren Schmerz darin geweckt, der vielleicht die ganze Zeit über da gewesen war, den sie aber nicht bemerkt hatte und der nun im Takt ihres Herzens darin klopfte und pochte -, dann drehte sie sich mühsam auf der Bank um und sah zu den Bergen zurück, die nun fast so weit entfernt waren wie an dem Tag ihres Aufbruchs. »Du hättest mich nicht drei Tage lang schlafen lassen dürfen«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Hättest du lieber drei Tage lang vor Schmerzen geschrien?«, gab ihre Mutter unerwartet scharf zurück. »Wie kommt es eigentlich, dass ich mich immer verteidigen muss, wenn ich versuche, dir etwas Gutes zu tun?«

Vielleicht, weil es selten vorkommt und sich oft genug als das Gegenteil herausstellt, dachte Arri. Sie hütete sich, diesen Gedanken laut auszusprechen, aber ihre Mutter schien diese Antwort dennoch irgendwie zu spüren, denn ihr Gesicht verdüsterte sich noch weiter, und ihre Stimme wurde nun so kühl, als spräche sie über ein krankes Tier; noch dazu über eines, das jemandem gehörte, den sie eigentlich nicht leiden konnte. »Die Wunde ist mittlerweile weit genug verheilt. Schon sehr bald geht die Sonne unter, dann rasten wir, und ich werde den Verband entfernen. Es ist deine Entscheidung, ob ich ihn erneuere oder du lieber Schmerzen leiden und eine Narbe behalten willst.«

Arri schwieg auch dazu; nicht nur, weil sie sich noch viel zu elend und schwach fühlte, um sich auf einen Streit mit ihrer Mutter einzulassen, sondern auch, weil sie sich selbst sagte, dass sie sich reichlich undankbar benahm. Ganz gleich, welche Gründe Lea wirklich dafür gehabt haben mochte - sie hatte ihr eine sehr unangenehme Zeit erspart.

Was nichts daran änderte, dass es immer noch mindestens zwei Fragen gab, die ihre Mutter ihr bisher ganz bewusst nicht beantwortet hatte. Doch statt sie jetzt - sie spürte, dass es der falscheste aller nur denkbaren Augenblicke gewesen wäre - anzusprechen, glitt sie nur ein kleines Stück auf der Bank von ihr weg und sah dann lange und nachdenklich an sich herab. Auch ihre linke Hand war verbunden, wenn auch nicht so dick wie die rechte, sodass sie zumindest die Finger ein wenig bewegen konnte, und sie spürte weitere, zum Teil zwickende Verbände unter ihren Kleidern. Ihre Mutter hatte ihren Rock und ihre Bluse geflickt, und wenn man bedachte, dass sie es vermutlich in großer Hast getan hatte, war das Ergebnis sogar erstaunlich gut. Dennoch verdüsterte sich Arris Gesicht beim Anblick des dünnen Lederriemens, der ihren Rock jetzt bis zum Saum hinab zusammenhielt, und vor allem bei der Erinnerung daran, wie dieser Riss zustande gekommen war. Und diesmal musste Lea sicherlich nicht über irgendwelche außergewöhnlichen Fähigkeiten verfügen, um ihre Gedanken zu lesen.

»Deine anderen Verletzungen sind nicht schlimm«, sagte sie unaufgefordert. Arri sah sie zweifelnd an, und Lea fuhr mit einem unechten Lachen fort, das kein bisschen überzeugend wirkte: »Es sind nur Schrammen und Kratzer, die verschwinden. Keine Sorge.«

»Der... der Krieger...«, begann Arri. Ihre Stimme versagte, aber Lea erriet, wie der Satz hätte weitergehen sollen. Vermutlich hatte sie die ganze Zeit darauf gewartet, dass ihre Tochter eine entsprechende Frage stellte.

Sie schüttelte den Kopf. »Keine Angst. Er hat dich verletzt, aber es ist nicht schlimm.«

»Hat er...«, begann Arri, wurde aber erneut und von einem diesmal heftigeren Kopfschütteln unterbrochen. »Nein, das hat er nicht«, sagte Lea in verändertem und plötzlich - Arri konnte sich nicht erklären, warum, aber es war so - fast angriffslustigem Ton. »Mach dir keine Sorgen. Dein heiligstes Gut ist unversehrt.«

Arri war verwirrt. Für einen Moment konnte sie ihre Mutter nur hilflos ansehen. Es war nicht das erste Mal, dass Lea so scheinbar grundlos hitzig und abfällig reagierte, wenn sie über das sprachen, was doch ihren eigenen Worten zufolge eigentlich fast zu dem Schönsten im Leben einer Frau gehören sollte, und sie verstand dieses sonderbare Benehmen immer weniger, zumal in dieser Lage, wo ihre Mutter doch eigentlich erleichtert sein sollte.

»Bist du sicher?«, fragte Arri und verfluchte sich im selben Atemzug dafür, diese Frage überhaupt gestellt zu haben, denn in Leas Augen blitzte nun fast so etwas wie Wut auf, und ihre Hände schlossen sich fester um die Zügel, als zöge sie es vor, lieber sie zu zerquetschen statt etwas anderes. »Ja«, antwortete sie zornig. »Ich habe nachgesehen, wenn es dich beruhigt.«

Das beruhigte Arri nicht, es war ihr überaus peinlich. Und sie empfand auch keinerlei Erleichterung, wie ihre Mutter anzunehmen schien, sondern einfach nur ein tiefes Gefühl zwischen Scham und hilfloser Wut, von der sie nicht einmal genau sagen konnte, wem sie überhaupt galt. Zu einem gut Teil sicherlich dem Mann, der ihr das angetan hatte, aber zu einem anderen, völlig verdrehten Teil auch ihr selbst, da sie es überhaupt zugelassen hatte. Es war verrückt. Sie hätte nichts tun können. Sie hatte alles getan, was sie konnte, und dennoch war da eine dünne, aber beharrliche Stimme in ihren Gedanken, die darauf beharrte, dass es ihre Schuld sei.

»Glaubst du, dass Targan und seine Familie... dass sie es geschafft haben?«, fragte sie zögernd.

Ihre Mutter sah sie nicht an, sondern deutete nur ein unwilliges Schulterzucken an. »Wahrscheinlich nicht«, gestand sie nach einer Weile. »Als wir über den Hügelkamm gefahren sind, habe ich zurückgesehen. Das Haus stand lichterloh in Flammen. Ich hoffe, sie sind entkommen, aber ihr Haus...« Sie beendete den Satz mit einem traurigen Kopfschütteln und zwang sich schließlich mit sichtbarer Anstrengung, Arri anzublicken. »Aber jetzt bist du erst einmal an der Reihe, mir einiges zu erzählen, meinst du nicht?«

»Ich weiß nicht genau, was...«, begann Arri.

Lea unterbrach sie sofort und in scharfem Ton. »Bei allem Verständnis, Arianrhod - ich warte jetzt seit drei Tagen darauf zu erfahren, was überhaupt geschehen ist. Also rede endlich und bleib bei der Wahrheit, auch wenn sie dir unangenehm oder peinlich sein sollte.« Ein dünnes, verächtliches Lächeln huschte über ihre Lippen und verschwand wieder. »Wir sind allein, weißt du? Keiner ist hier, der dich hört, und ich verspreche dir, dass ich es niemandem verrate.«

»Es war... es war meine Schuld«, begann Arri stockend, nur um schon wieder unterbrochen zu werden.

»Unsinn! Hast du die Männer etwa zu Targans Haus geschickt, damit sie uns überfallen?«

»Nein. Aber ich habe nicht auf dich gehört. Du hast gesagt, ich soll oben im Zimmer bleiben. Hätte ich es getan, dann wäre das alles vielleicht nicht passiert.«

»Was?«, hakte ihre Mutter nach.

»Runa«, antwortete Arri, leise und ohne Lea anzusehen. Dennoch entging ihr nicht, wie plötzlich eine steile, missbilligende Falte zwischen den Brauen ihrer Mutter entstand, und sie fügte rasch und fast hastig hinzu: »Nein, es war nicht ihre Schuld. Sie ist heraufgekommen, um mich zu warnen. Sie hat die beiden Männer belauscht. Sie hatten irgendetwas vor.«

»Wie überraschend«, sagte Lea spöttisch. »Gut, dass sie es gemerkt hat. Ich wäre nie von selbst darauf gekommen.«

Arri ignorierte den abfälligen Ton in Leas Worten. »Sie wollte mich warnen, das war alles«, fuhr sie unbeeindruckt fort. »Es war meine Entscheidung, nach dir zu suchen.«

»Nach mir?« Lea wurde hellhörig. Arri überlegte, ob sie ihr sagen sollte, dass sie Dragosz und sie draußen belauscht hatte, entschied sich dann aber dagegen; auch wenn sie selbst nicht genau sagen konnte, warum. Stattdessen begann sie mit leiser, stockender Stimme zu berichten, wie es Runa und ihr ergangen war, nachdem sie das Haus verlassen und in die Mine geflüchtet waren. Als sie an der Stelle angekommen war, an der der Fremde Runa getötet hatte, versagte ihr die Stimme, und sie wartete darauf, dass ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Sie kamen nicht. Ihre Augen begannen zu brennen, und in ihrer Kehle war mit einem Male ein bitterer Kloß, der sie am Atmen hinderte, doch ihre Augen blieben leer; sie weinte trockene Tränen.

Dann geschah etwas, das sie wirklich überraschte - obgleich es doch eigentlich das Natürlichste von der Welt sein sollte: Ihre Mutter ließ die Zügel los und legte ihr die Hand auf den Unterarm, und ein kurzes, aber sehr warmes Gefühl von Geborgenheit durchströmte Arri; etwas, das sie viel zu selten erlebt hatte und das auch jetzt nur Augenblicke anhielt, bevor Lea die Hand so hastig zurückzog, als hätte sie sich selbst bei etwas Verbotenem ertappt. »Es tut mir Leid, Arianrhod. Wirklich. Runa war... ein gutes Kind.« Sie griff wieder mit beiden Händen nach den Zügeln und deutete ein Schulterzucken an. »Ein sehr freundliches Mädchen, jedenfalls...«

»So?«, fragte Arri. »Ich hatte eher das Gefühl, dass sie mich nicht leiden konnte.«

Lea lachte leise. »Wer kann schon eine Konkurrentin leiden?« Arri sah sie verständnislos an. »Runa war ungefähr in deinem Alter«, erklärte ihre Mutter. »In diesem Alter ist jedes andere Mädchen ein Feind - noch dazu, wenn es so hübsch ist wie du.«

»Hübsch?«, wiederholte Arri. Lea wollte sie auf den Arm nehmen. »Ich bin nicht hübsch. Ich bin hässlich. Genau wie...« Sie brach mitten im Satz ab und biss sich auf die Unterlippe, aber ihre Mutter reagierte ganz anders, als sie erwartet hätte. Statt beleidigt zu sein oder sie gar zu schelten, lächelte sie kurz und führte den angefangenen Satz an ihrer Stelle zu Ende: »So wie ich, meinst du?«

»Nein«, sagte Arri hastig. »Es ist nur...«

»... das, was Sarn und Nor jedem erzählen, der es hören will, seit wir hierher gekommen sind; und jedem, der es nicht will, übrigens auch. Aber nur, weil sie es immer wieder sagen, muss es dadurch nicht auch gleich die Wahrheit sein.«

»Wie meinst du das?«, fragte Arri.

Ihre Mutter warf ihr einen sonderbaren, langen Blick zu, bevor sie antwortete. »Ist dir eigentlich noch nie aufgefallen, wie dich die Männer aus dem Dorf ansehen - oder mich?« Sie beantwortete ihre eigene Frage mit einem Kopfschütteln. »Du bist nicht hässlich, Arianrhod, genauso wenig wie ich. Wir sehen nur anders aus als diese Menschen hier, das ist alles. Runa hat das sofort erkannt. Wärest du wirklich so hässlich, wie du selbst glaubst, dann wäre sie wahrscheinlich ganz nett und zuvorkommend zu dir gewesen.«

»Du meinst, dass jeder, der freundlich zu uns ist, es in Wahrheit schlecht mit uns meint?«, fragte Arri.

Lea seufzte übertrieben. »Musst du eigentlich jedes Wort verdrehen, das ich sage?«

»Selbstverständlich«, antwortete Arri ernst. »Ich bin deine Tochter.«

»Ja, ganz zweifelsohne«, sagte Lea säuerlich. Aber in ihren Augen blitzte es schelmisch, und für einen Moment fühlte Arri trotz allem, was geschehen war, ein befreiendes Lachen in sich aufsteigen.

Aber der Moment hielt nicht lange an. Die Erinnerungen waren zu stark, und der Schmerz saß noch zu tief.

»Und?«, fragte ihre Mutter schließlich. »Was ist dann geschehen? Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst, aber oft ist eine Sache leichter zu ertragen, wenn man darüber spricht, glaub mir.«

Wahrscheinlich hatte sie Recht, dachte Arri. Sie zögerte, aber dann erzählte sie zu Ende. Es fiel ihr leichter, als sie erwartet hatte; die Erinnerung tat weh (und das durchaus in körperlichem Sinne), aber die Erleichterung, die ihre Mutter ihr versprochen hatte, stellte sich tatsächlich schon während des Redens ein. Zumindest ein Teil der absonderlichen Schuld, die sie noch immer bei der Erinnerung an die schreckliche Begegnung mit dem Krieger empfand, war verschwunden, als hätte sie sich diese wortwörtlich von der Seele geredet. »Ich war ganz sicher, dass er tot ist«, schloss sie. »Bitte glaub mir. Ich... ich wusste nicht, dass er noch lebt und mir folgen könnte, sonst wäre ich nie...«

»Was?«, unterbrach sie ihre Mutter. »Weggelaufen?« Sie schüttelte fast zornig den Kopf. »Was hättest du getan? Wärst du dageblieben und hättest dich umbringen lassen? Nur, damit das Feuer nicht auf das Haus übergreift?« Sie schnitt Arri mit einer wütenden Bewegung das Wort ab, das sie gar nicht hatte ergreifen wollen. »Du konntest nicht wissen, dass so etwas passiert! Niemand hätte das wissen können! Verdammt, ich habe dem Kerl das Schwert in die Brust gestoßen, und er ist immer noch weiter auf mich losgegangen!«

»Ich hätte trotzdem nicht...«

»Was?«, unterbrach Lea sie scharf. »Um dein Leben kämpfen sollen? Rede keinen Unsinn! Niemand an deiner Stelle hätte anders gehandelt! Du konntest nicht ahnen, dass er noch einmal aufsteht!«

»Ich begreife es auch nicht«, murmelte Arri. Doch es klang in ihren Ohren nur wie eine Ausrede, und nicht einmal wie eine gute.

Ihre Mutter starrte einen Moment lang ins Leere, bevor sie abermals ein Schulterzucken andeutete. »Nor verabreicht seinen Kriegern einen ganz besonderen Pilzsud«, sagte sie schließlich. »Ich war bisher nicht sicher, aber ich habe... Gerüchte gehört.«

»Gerüchte?«

»Rahn hat einmal etwas in dieser Art erzählt«, antwortete Lea. »Ich habe es nicht ernst genommen... das übliche angeberische Gerede. Dass die Krieger aus Goseg unbesiegbar sind und keinen Schmerz und keine Erschöpfung kennen...« Ein neuerliches, fast verlegen wirkendes Achselzucken. »Vielleicht war es doch mehr als Angeberei.«

»Aber ist denn das überhaupt möglich?«, fragte Arri zweifelnd.

»Ich hätte nicht gedacht, dass es hier möglich ist«, antwortete Lea, »aber ja, es ist denkbar. Auch ich kenne eine besondere Art von Pilzen, die ganz anders sind als die, mit deren berauschender Wirkung Sarn seine Zeremonien unterstützt. Schon wenn du sie kaust, gerätst du in einen Zustand, in dem dir alles gleich ist. Du spürst noch Schmerzen, aber sie sind dir vollkommen egal.« Sie sah Arri an. »Kommt dir das irgendwie bekannt vor?«

»Und du glaubst, dass Nor diese Pilze auch kennt?«

»Es müssen nicht diese Pilze sein«, antwortete Lea. »Aber sie wachsen auch hier. Ich habe sie selbst schon... gesehen.«

Arri war ziemlich sicher, dass sie etwas anderes hatte sagen wollen, beließ es aber dabei. »Aber wenn das so ist, warum nehmen seine Krieger diese Pilze dann nicht immer?«, fragte sie. »Sein Heer wäre unbesiegbar.«

»Ja«, bestätigte ihre Mutter. »Zumindest einmal.«

»Wie meinst du das?«

»Nur sehr wenig im Leben ist umsonst, Arianrhod«, antwortete Lea. »Es ist wahr - wenn du diese Pilze nimmst, bist du zehnmal so stark wie sonst, und es gibt nicht viel, was dich aufhalten kann. Aber die meisten sterben, wenn die Wirkung nachlässt.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Arri impulsiv. »Ich meine: Dann hätten sie es doch nicht genommen!«

»Wenn sie es wüssten, nicht«, bestätigte Lea. Sie schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle, dass Nor seinen Kriegern etwas von dieser Nebenwirkung erzählt hat, aber es ist auch nicht gesagt, dass es tatsächlich jene Pilze waren. Es gibt eine Menge Pflanzenextrakte, die eine ähnliche Wirkung haben, und vielleicht war es auch nur Zufall. Wer weiß - vielleicht war der Kerl einfach nur ganz besonders zäh; oder einfach zu dumm, um zu begreifen, dass er eigentlich schon tot war. So oder so: Du hast dir nichts vorzuwerfen. Selbst wenn du es gewusst hättest... ist dir nicht aufgefallen, wie schnell sich das Feuer ausgebreitet hat?«

Arri nickte nur. Worauf wollte ihre Mutter hinaus?

»Targan war ein Dummkopf!«, behauptete Lea. »Da war irgendetwas in diesem Lagerraum hinter der Tür, das wie Zunder gebrannt hat. So etwas lagert man nicht im Haus; schon gar nicht in einem Haus, in dem andere direkt daneben mit offenem Feuer hantieren! So etwas ist bodenlos leichtsinnig!«

Und sicherlich hatte sie auch damit Recht - aber das änderte rein gar nichts daran, dass sich Leas Worte für Arri mehr und mehr nach dem anhörten, was sie waren: dem fast schon verzweifelten Bemühen, eine Entschuldigung zu finden. Sie hatte Recht mit jedem Wort, aber das schien es eher noch schlimmer zu machen. »Wir hätten ihnen trotzdem helfen müssen«, sagte sie leise.

»Das haben wir aber nicht«, antwortete Lea fast sanft - und dann brachte sie den Wagen mit einem Ruck zum Stehen und fuhr so abrupt herum, dass Arri erschrocken zusammenfuhr und hastig so weit von ihr wegrutschte, wie es die schmale Bank zuließ. »Verdammt, was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Ihnen helfen? Auch wenn ich genau wusste, dass es sinnlos ist? Bist du noch nicht schwer genug verletzt worden?«

»Aber ich...«, begann Arri.

Lea schien sie gar nicht zu hören. »Nur, falls es dich interessiert, Arianrhod«, fuhr sie in so scharfem Ton fort, dass sie kaum noch einen Deut davon entfernt war, wirklich zu schreien, »du hast in den beiden letzten Tagen nicht einfach nur geschlafen! Du wärst um ein Haar gestorben! Was, wenn ich auch verletzt worden wäre? Vielleicht so schlimm, dass ich mich nicht hätte um dich kümmern können? Wer hätte dann deine Wunden versorgt? Hast du dich das schon einmal gefragt?«

»Aber...«, begann Arri.

»Aber, aber, aber!«, unterbrach sie ihre Mutter, mittlerweile wirklich schreiend. Sie machte eine wütende Handbewegung. »Du brauchst mir keine Vorwürfe zu machen, Arianrhod! Das mache ich schon selbst. Glaubst du etwa, es macht mir nichts aus, meine Freunde im Stich zu lassen?«

»Warum hast du es dann getan?«, hielt Arri dagegen. »Weil es hier um etwas Wichtigeres geht!«, antwortete Lea zornig.

»Und worum?«, wollte Arri wissen.

Diesmal dauerte es einen Moment, bis sie eine Antwort bekam, und ebenso plötzlich, wie der Zorn ihrer Mutter aufgeflammt war, erlosch er auch wieder und machte etwas Platz, das Trauer sein mochte, aber eben nicht nur. »Um das Wichtigste überhaupt, Arianrhod. Um dich.«

»Um... mich?«, vergewisserte sich Arri. Sie schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht. Was soll an mir so wichtig sein?«

»Abgesehen davon, dass du meine Tochter bist?« Ihre Mutter fuhr ihr abermals mit der Hand über den Unterarm. Ihr Lächeln wurde so mütterlich und verständnisvoll, dass Arri damit rechnete, sie werde sie im nächsten Moment in die Arme schließen und einfach an sich drücken. Stattdessen zog sie die Hand fast hastig wieder zurück und wirkte mit einem Mal ein kleines bisschen unsicher; beinahe schuldbewusst. »Vielleicht verlange ich zu viel von dir. Wie könntest du es auch verstehen, wo ich es doch selbst kaum begreife?«

Sie griff nach den Zügeln und hob sie, wie um sie wieder auf diese eigentümliche Weise knallen zu lassen, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, sondern ließ die Hände ganz im Gegenteil fast behutsam sinken und legte den geflochtenen Strick in ihrem Schoß zu einem ebenso komplizierten wie sinnlosen Schlaufenmuster, das sie ebenso rasch formte, wie sie es wieder zerstörte, neu formte und wieder zerstörte. »Es geht nicht darum, dass du meine Tochter bist, Arianrhod«, sagte sie nach einer kleinen Ewigkeit und sehr leise, wie an sich selbst gewandt. »Natürlich bist du das Wertvollste, was es für mich auf der Welt gibt; ich wäre wohl eine noch schlechtere Mutter, als ich es ohnehin schon bin, wäre es nicht so. Aber du bist viel mehr. Nicht nur für mich. Dein Leben ist vielleicht das kostbarste Gut, das es auf dieser ganzen Welt gibt.«

»Warum?«, fragte Arri. Die Worte ihrer Mutter waren ganz von der Art, die sie sonst als lächerlich abtun würde; genau das, was Lea selbst so oft als pathetisches Gerede bezeichnete, wenn sie es von Sarn oder auch Nor oder einem anderen Priester aus Goseg hörte. Und doch war in Leas Stimme ein Unterton, der Arri einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Es spielte keine Rolle, ob sie die Wahrheit sagte oder nicht - sie glaubte, dass es so war.

»Warum bin ich etwas Besonderes?«, fragte sie noch einmal, als die Augenblicke verstrichen, ohne dass ihre Mutter antwortete oder auch nur ihren Blick von den kunstvollen Schlaufen und Gebilden löste, die sie in immer schnellerer Folge erschuf und wieder zerstörte.

»Weil du vielleicht das Einzige bist, was noch zwischen dieser Welt und vielen Jahren der Barbarei und der Unwissenheit steht, Arianrhod.« Plötzlich schlossen sich Leas Finger so fest um die Zügel, dass ihre Knöchel weiß durch die Haut stachen, und sie sah Arri mit einem Ernst an, wie diese ihn selten zuvor in den Augen ihrer Mutter gesehen hatte. »Du bist die Letzte unseres Volkes, Arianrhod.« Sie löste die rechte Hand vom Zügel, zog den angesengten Umhang zurück und strich mit den Kuppen von Zeige- und Mittelfinger über die in Gold gefasste Himmelsscheibe, die den Schwertknauf zierte. »Du und dieses Schwert, ihr seid alles, was von unserem Volk übrig geblieben ist. Dir darf nichts geschehen. Ganz egal, welchen Preis es auch kostet.«

Arri wollte antworten; auf die gleiche Weise, auf die sie immer antwortete, wenn ihre Mutter dieses Thema anschnitt: mit einem ungläubigen Kopfschütteln, einem Lachen und einer flapsigen Bemerkung. Aber sie konnte es nicht. Von einem Augenblick auf den anderen spürte sie, dass Lea Recht hatte. Aber das machte das, was geschehen war, weder ungeschehen noch irgendwie besser.

»Was immer auch passiert, Arianrhod«, fuhr ihre Mutter fort, »du darfst das niemals vergessen. Ein einzelnes Menschenleben zählt nichts gegen das, was das Wissen unseres Volkes für all diese Menschen hier tun kann.«

»Ja, und wenn ich mich zwischen diesem Schwert und dir entscheiden muss, dann weiß ich, wie ich mich entscheiden werde«, antwortete Arri mit einem unsicheren Lachen und in dem hoffnungslos gescheiterten Versuch, scherzhaft zu klingen.

Ihre Mutter blieb ernst. »Das hoffe ich. Ich weiß, dass es nicht richtig war, was ich getan habe. Ich hätte bleiben müssen, um Targan und seiner Familie zu helfen. Es hätte nichts geändert, aber ich hätte es trotzdem tun müssen. Doch ich habe sie verraten, und ich würde es wieder tun, um dich zu schützen.«

»Mich oder das Schwert?«, entschlüpfte es Arri. Sie hasste sich fast selbst für diese Worte, aber sie waren einmal heraus, und überraschenderweise schienen sie Lea auch nicht zu verletzen; und wenn, so ließ sie es sich nicht anmerken.

»Euch beide«, antwortete sie, »vor allem aber dich. Dieses Schwert ist ein mächtiges Werkzeug, doch es nutzt nichts, wenn man nicht weiß, wie man es handhaben muss. Ich habe dir einige seiner Geheimnisse verraten, aber längst nicht alle, und ich fürchte, dass die Zeit, die uns noch bleibt, noch knapper ist, als ich ohnehin geglaubt habe.«

»Bis was geschieht?«, fragte Arri.

Ihre Mutter überging die Frage. »Ich werde mit dem, was ich getan habe, leben müssen«, fuhr sie fort, »und auch du wirst das tun. Vielleicht wirst du eines Tages verstehen, warum ich so handeln musste, und mir verzeihen. Bis dahin kann ich dich einfach nur bitten, mir zu vertrauen.« Sie löste die Hand vom Schwertgriff und ließ den Wagen wieder anrollen. Arri griff unwillkürlich mit der verbundenen rechten Hand nach Halt, um das plötzliche, heftige Schaukeln des Gefährtes auszugleichen, fuhr zusammen und biss schmerzerfüllt die Zähne aufeinander. Ihre Mutter hatte ihr zwar gesagt, dass die Verbrennungen, die sie sich an der Fackel zugezogen hatte, nicht so schlimm wären, aber sie fühlten sich jedenfalls so an, als wäre unter dem Verband aus kunstvoll gewickelten Blättern rohes, entzündetes Fleisch. Für einen Moment trat ein Ausdruck von Sorge in die Augen ihrer Mutter, aber sie sagte nichts dazu, sondern wartete nur, bis Arri auf der Bank wieder ein kleines Stück näher an sie herangerutscht war und sicheren Halt gefunden hatte, bevor sie fortfuhr: »Wir rasten, sobald die Sonne untergeht, und fahren erst morgen früh weiter. Wir könnten das Dorf noch heute erreichen, aber ich möchte nicht mitten in der Nacht und übermüdet ankommen.«

Arri sah sie überrascht an. »Wir fahren zurück zum Dorf?«, vergewisserte sie sich ungläubig.

»Wohin sonst?«, wollte Lea wissen.

»Aber...« Arri brach verwirrt ab und sah für die Dauer von zwei oder drei schweren Herzschlägen zu der dünnen, dunkelgrünen Linie am Horizont hin, bei der es sich um nichts anderes als um den verbotenen Wald handeln konnte, den Worten ihrer Mutter zufolge. Sie hatte ihr zwar gesagt, dass sie mehr als zwei Tage geschlafen hatte, aber Arri war bisher nicht klar gewesen, dass sie demnach schon beinahe wieder zu Hause waren.

»Aber ich dachte«, setzte sie neu an, »wir können nicht zurück. Wenn Nor erfährt, was seinen Kriegern widerfahren ist...«

»Sie werden es ihm schwerlich verraten können«, unterbrach sie ihre Mutter. »Du hast Recht - früher oder später wird ihm auffallen, dass sie nicht zurückkommen, und er wird Nachforschungen anstellen. Aber bis er erfährt, was wirklich passiert ist, sind wir längst nicht mehr hier.«

»Und wenn er es schon weiß?«

»Woher?« Lea schüttelte so heftig den Kopf, als wolle sie sich selbst von etwas überzeugen. »Er wusste ja bisher nicht einmal, dass es Targan und seine Familie überhaupt gibt, und mit ein wenig Glück wird er es auch nie erfahren. Und selbst wenn... wir müssen zurück ins Dorf, weil es noch einige Dinge gibt, die ich erledigen oder bereinigen muss. Aber in spätestens vier oder fünf Tagen verlassen wir diesen gastlichen Ort.«

»Und wohin gehen wir?«, wollte Arri wissen.

Diesmal zögerte Lea einen spürbaren Moment, zu antworten, und sie sah sie auch nicht an, als sie es tat. »Dragosz wird uns abholen.«

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