All ihre Bedenken und Ängste, ob und vor allem wie sie ihrer Mutter von ihrer Begegnung mit Dragosz beichten sollte, erwiesen sich als überflüssig, als sie zu der kleinen Felsengruppe auf der anderen Seite des Waldes zurückkehrte. Obwohl die Sonne den Horizont zwar bereits berührte, aber noch nicht untergegangen war, fand sie ihre Mutter schlafend vor, in der gleichen Haltung, in der sie vorhin dagesessen hatte, mit Kopf und Rücken gegen den Felsen gelehnt und einem Ausdruck vollkommener Erschöpfung auf den im Schlaf erschlafften Zügen. Viel mehr vielleicht als alles, was Dragosz gesagt hatte, machte ihr dieser Anblick klar, wie Recht er gehabt hatte: Arri war es den ganzen Tag über nicht aufgefallen, denn sie war viel zu sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt gewesen, doch das Gefühl von schlechtem Gewissen, das sie auf dem Weg hierher begleitet hatte, schien nun regelrecht aufzulodern, als ihr klar wurde, wie erschöpft ihre Mutter wirklich war. Wahrscheinlich hatte sie während der gesamten Nacht zuvor kein Auge zugetan, und der Weg, der hinter ihnen lag, musste sie überdies zusätzlich angestrengt haben, auch wenn sie ihn vermeintlich bequem auf dem Kutschbock zugebracht hatte.
Obwohl das nun vollkommen sinnlos geworden war, setzte Arri die Schale mit Wasser so behutsam vor ihrer Mutter ab, wie sie sie hierher getragen hatte; das ganze Stück, ohne auch nur einen einzigen Tropfen zu verschütten, als wäre es tatsächlich eine Opfergabe, die sie ihrer Mutter brachte und nicht einfach nur eine Schale mit kaltem Wasser, das sie überdies nicht wirklich brauchte. Im allerersten Moment fühlte sie sich einfach nur hilflos - auf dem Weg hierher, so quälend lang er ihr auch vorgekommen sein mochte, war sie der Frage, wie sie ihrer Mutter von Dragosz erzählen sollte, schlichtweg dadurch ausgewichen, dass sie sich vollkommen auf die Aufgabe konzentriert hatte, keinen einzigen Wassertropfen zu verschütten. Nun aber hatte sie diese Ausrede nicht mehr. Anfangs verspürte sie eine tiefe Erleichterung: Lea schlief den tiefen Schlaf völliger Erschöpfung, und sie, Arri, hatte nicht das Recht, sie daraus zu wecken. Und außerdem spielte es keine Rolle, ob sie ihr jetzt oder erst später von ihrem Gespräch mit Dragosz berichtete.
Aber auch das war nicht wirklich die Wahrheit. Da war ein Teil in ihr, der ihr einflüstern wollte, dass es nicht nötig sei, ihr überhaupt davon zu erzählen, dass es ihrer Mutter keinen Nutzen brachte, wenn sie sie immer noch weiter belastete, ein Teil, der ihr, leise und mit einschmeichelnder Überzeugungskraft, klarmachen wollte, dass Dragosz Recht hatte, dass es besser war, wenn sie gar nichts von seiner Nähe wusste, denn schließlich hätte sie ihr dann auch von den Verfolgern berichten müssen, von denen Dragosz erzählt hatte, und das wiederum würde ihre Mutter sicherlich nur noch mehr beunruhigen.
Arri schüttelte sacht den Kopf, als ihr klar wurde, was diese Stimme wirklich war: nichts anderes als ihr eigener, fast verzweifelter Wunsch, Ausreden zu finden, um ihrer Mutter nichts von Dragosz erzählen zu müssen. Denn da war auch noch etwas anderes in ihr: keine Stimme, keine wirkliche Begründung, wohl aber ein Durcheinander von Gefühlen und Bildern, die sie mit einem Gefühl tiefer Scham erfüllten; und die zugleich doch so unbeschreiblich süß und kostbar waren, dass sie sie mit aller Macht festzuhalten versuchte. Sie glaubte, die Berührung von Dragosz’ Fingern auf ihrer Wange noch immer zu spüren, glaubte seine Augen zu sehen, in denen etwas geschrieben stand, das nicht sein durfte und vor dem sie sich mehr fürchtete als vor allem anderen auf der Welt und das sie zugleich auch mehr herbeisehnte als alles andere. Wie konnte sie sich so nach etwas verzehren, das sie gar nicht kannte?
Für einen kurzen Moment wurde das nagende Gefühl von Schuld so stark in ihr, dass sie die Hand ausstreckte, um ihre Mutter an der Schulter zu berühren und sie wachzurütteln. Sie hatte das Gefühl, sterben zu müssen, wenn sie ihr nicht sofort beichtete, was sie erlebt - und vor allem, was sie sich gewünscht - hatte. Aber sie führte die Bewegung nicht zu Ende. Stattdessen wich sie vorsichtig ein kleines Stück zurück, ließ sich auf der anderen Seite der Felsennische mit untergeschlagenen Beinen zu Boden sinken und warf einen Blick in den Himmel hinauf. Die Sonne war mittlerweile zu einem kaum noch fingerbreiten Kreisausschnitt über den Bergen im Westen geworden, und die Schatten wurden länger und dunkler. Es war jetzt schon spürbar kühler als vorhin, als sie fortgegangen war, um Wasser zu holen, und Arri dachte voller Schaudern daran, wie kalt die Nächte jetzt bereits wurden, und dass ihre Mutter sie ja schon gewarnt hatte, dass sie kein Feuer machen konnten. Immerhin hatte sie aber zwei Decken vom Wagen geholt, die Arri zuvor noch gar nicht entdeckt hatte, sodass sie jetzt der Kälte zumindest nicht vollkommen schutzlos ausgeliefert war.
Mit diesem Gedanken und dem festen Vorsatz, ihrer Mutter in dieser Nacht einen Teil ihrer Last abzunehmen, sie schlafen zu lassen und an ihrer Stelle Wache zu halten, nickte sie ein.
Und erwachte mitten in der Nacht und mit klopfendem Herzen, und weniger von einem Geräusch als eher von einem Gefühl allgemeiner Unruhe oder vielleicht auch Bedrohung. Sie war allein. Obwohl es so dunkel war, dass sie selbst die kaum drei Schritte entfernten Felsen ihrer Nische nur als massive Wand aus undurchdringlicher Schwärze wahrnehmen konnte, spürte sie doch, dass ihre Mutter nicht mehr da war. Vielleicht war es auch einfach das Fehlen ihrer regelmäßigen Atemzüge, das sie geweckt hatte. Arri hatte plötzlich ein Gefühl von absoluter Stille - auf der anderen Seite der Felsen spielte der Wind weiter raschelnd mit dem Gras, das trockene Laub der Bäume knisterte, als strichen unsichtbare Finger darüber, und sie hörte sogar die leisen Geräusche, die die beiden Pferde im Schlaf verursachen mochten, und trotzdem meinte sie zugleich von einer allumfassenden Stille eingehüllt zu sein, dem Schweigen, das aus dem Wissen stammte, plötzlich allein gelassen worden zu sein.
Arri sprang so hastig auf, dass ihr schwindelig wurde, aber sie unterdrückte das Gefühl und streckte nur rasch die Hand aus, um sich an dem Felsen hinter ihr abzustützen. Ihr Herz begann zu rasen. Wo war ihre Mutter? Sie hatte ihr versprochen, Wache zu halten und sie zu beschützen, während sie schlief, und dass sie dieses Versprechen nicht laut, sondern nur sich selbst gegenüber abgegeben hatte, änderte rein gar nichts. Sie hatte ihr Wort gebrochen - schon wieder -, und das war alles, was zählte.
Obwohl sie noch immer so schlaftrunken war, dass sie mehr taumelte als ging, stürmte sie zwischen den Felsen hervor, streifte die Decke ab, in die sie sich gewickelt hatte, und ließ sie achtlos zu Boden fallen, während sie sich gleichzeitig blindlings nach rechts wandte. Um ein Haar wäre sie gegen den Wagen geprallt, der als riesiges, gefährliches Hindernis jäh aus der Dunkelheit vor ihr auftauchte. Es gelang ihr im letzten Moment, die Hand auszustrecken, sodass sie nur einen dumpfen Schmerz spürte, der durch ihr Handgelenk schoss, statt sich ernsthaft zu verletzen, aber sie torkelte einen Schritt zurück und musste hastig mit den Armen rudern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und zu stürzen. Das dumpfe Geräusch, mit dem sie gegen den Wagen geprallt war, vielleicht auch ihre heftige Bewegung, hatte eines der Pferde geweckt.
Das Tier, das anscheinend im Stehen geschlafen hatte, drehte mit einem unwilligen Schnauben den Kopf in ihre Richtung und scharrte mit den Hufen, und im nächsten Moment hörte Arri hinter sich einen neuen Laut: das seidige Flüstern einer Stimme, die nahezu die gleiche Tonlage hatte wie der Wind, der über das Gras strich, sodass sie sie bisher gar nicht bewusst wahrgenommen hatte. Ihre Mutter. Sie sprach mit jemandem. Hatte sich Dragosz doch entschlossen, sich zu zeigen, oder hatte er sich vorhin gar einen Scherz mit ihr erlaubt, als er sie bat, ihrer Mutter nichts von seiner Anwesenheit zu verraten - oder sie möglicherweise sogar auf die Probe stellen wollen?
Arris Benommenheit war mittlerweile vollkommen verflogen. Langsam und mit schon wieder heftig klopfendem Herzen drehte sie sich um und versuchte die Dunkelheit mit Blicken zu durchbohren, aber es war ein sinnloses Unterfangen. Die Nacht war so kalt, wie sie es befürchtet hatte, aber noch sehr viel dunkler, und der Himmel hatte sich fast gänzlich zugezogen, sodass weder Mond noch Sterne zu sehen waren. Das wenige Licht, das irgendwie seinen Weg durch die geschlossene Wolkendecke gefunden hatte, reichte gerade aus, damit man die sprichwörtliche Hand vor Augen sehen konnte, aber kaum weiter. Ihre Mutter und Dragosz konnten eine Pfeilschusslänge entfernt sein und auf der anderen Seite der Felsen stehen, genauso gut aber auch direkt vor ihr.
Was sollte sie tun? Wenn Dragosz wirklich zurückgekommen war, um mit ihrer Mutter zu reden, dann würde sie alles erfahren, und auch, wenn Arris Vernunft ihr klarzumachen versuchte, dass an ihrem Gespräch eigentlich rein gar nichts Verbotenes oder auch nur Verfängliches gewesen war, begann ihr Herz doch allein bei der Vorstellung schneller zu klopfen, und ihr schlechtes Gewissen wurde noch stärker. Sie hatte nichts getan, dessen sie sich zu schämen brauchte, und dennoch erfüllte sie der Gedanke, dass Dragosz jetzt mit ihrer Mutter reden könnte, beinahe mit Entsetzen. Sie war davon überzeugt, dass ihre Mutter sie nur ein einziges Mal ansehen musste, um zu wissen, was sie in diesem Augenblick gefühlt und gedacht und vor allem, was sie sich gewünscht hatte.
Trotzdem ging sie nach kurzem Zögern weiter. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, einfach an ihren Schlafplatz zurückzukehren und so zu tun, als wäre sie gar nicht erwacht, aber sie erwog diese Möglichkeit gerade so lange, wie sie brauchte, um den Gedanken zu Ende zu denken. Die Dunkelheit würde ihr Schutz gewähren, sodass ihre Mutter ihr kleines Täuschungsmanöver gewiss nicht durchschauen würde, aber die Ungewissheit war schon jetzt so gut wie unerträglich. Nicht zu wissen, mit wem Lea dort auf der anderen Seite der Felsen sprach - und vor allem worüber! -, wäre mehr, als sie ertragen konnte.
So leise sie konnte, den linken Arm tastend vorgestreckt, um nicht in der Dunkelheit erneut gegen ein Hindernis zu prallen und sich vermutlich zu verraten, ging sie den Weg zurück, den sie gekommen war, und umrundete die Felsgruppe in der anderen Richtung. Das Wispern der Stimme wurde lauter, aber nicht verständlicher. Doch jetzt war sie beinahe sicher, dass es die Stimme ihrer Mutter war, und zwar nur ihre Stimme; wenn sie mit jemand anderem sprach, dann beschränkte sich dieser andere aufs Zuhören und sagte selbst nichts.
Sie konnte ein wenig besser sehen, als sie die Felsen umrundet hatte und die weite Grasebene wieder vor ihr lag; in der Dunkelheit ein Meer aus Schwärze, die nur ein wenig tiefer war als die über ihr, und doch reichte dieser winzige Unterschied aus, um die schlanke Gestalt auszumachen, die in einem Dutzend Schritte Entfernung dastand und zum Himmel hinaufsah. Es war ihre Mutter, und sie war allein.
Arri konnte nicht erkennen, was sie tat - oder ob sie überhaupt etwas tat -, aber sie schien sich auf etwas zu stützen, und jetzt, als sie näher war und sich darauf konzentrierte, hörte sie auch, dass ihre Stimme monoton klang; gleichförmig und nahezu ohne Betonung, und es war irgendetwas Seltsames darin, auch wenn sie nicht sagen konnte, was es war.
Sie zögerte wieder. Ein spürbares Gefühl von Erleichterung machte sich in ihr breit, ihre Mutter allein zu sehen und nicht etwa zusammen mit Dragosz, aber zugleich nahm ihre Verwirrung eher noch zu. Sie verstand nicht, mit wem ihre Mutter da redete. Anscheinend mit niemandem, aber das war allerhöchstens etwas, was sie von den kleinen Kindern im Dorf kannte oder dem verrückten Achk, doch nicht von ihrer Mutter.
Sie zögerte noch einen allerletzten Augenblick, aber dann ging sie weiter. Sie hatte sich verschätzt, was die Entfernung anbetraf; Lea war noch viel weiter entfernt, als sie geglaubt hatte, aber der Wind stand günstig, sodass sie sie jetzt deutlich hören konnte. Trotzdem verstand sie sie nicht. Es war die Stimme ihrer Mutter, doch sie redete in einer Sprache, die sie nicht kannte und die ihr auch nicht im Geringsten vertraut vorkam.
Schließlich hielt Lea in ihrem sonderbaren Singsang inne und drehte sich zwar nicht zu ihr um, wandte aber den Kopf, und trotz der vollkommenen Dunkelheit, die ihre Gestalt und auch ihr Gesicht noch immer zu einem flachen, tiefenlosen Schatten herabminderte, glaubte Arri ihr sanftes Lächeln zu spüren; wie die flüchtige, aber sehr warme Berührung einer großen, beschützenden Hand.
»Komm ruhig näher, Arianrhod«, sagte sie. »Du musst nicht schleichen.«
»Ich... wollte dich nicht stören«, antwortete Arri stockend. Sie war ihrer Mutter nun nahe genug, um trotz der Dunkelheit erkennen zu können, dass sie tatsächlich allein war. »Was tust du hier?«
Eine geraume Weile verstrich, so als müsse Lea erst über die Antwort nachdenken - vielleicht aber auch über den Sinn ihrer Frage -, und sie wandte den Kopf wieder und sah in die gleiche Richtung wie zuvor, ehe sie sprach. »Ich halte Zwiesprache mit den Göttern. Aber bisher haben sie nicht geantwortet.«
»Mit den Göttern?« Arri war stehen geblieben, als ihre Mutter sie angesprochen hatte, doch nun ging sie langsam weiter, hielt aber auf gut drei- oder vierfacher Armeslänge wieder inne, fast ohne es selbst zu merken. Plötzlich verspürte sie beinahe so etwas wie Scheu, ihrer Mutter noch näher zu kommen. »Aber du hast mir doch selbst gesagt, es gäbe sie gar nicht.«
»Das ist kein Grund, nicht mit ihnen zu reden.« Lea lachte; wenigstens nahm Arri an, dass das Geräusch ein Lachen sein sollte. Es klang bitter, aber nicht so bitter, wie sie erwartet hätte. »Einen Versuch war es wert, oder?«
Arri war nicht sicher, ob sie wirklich verstand, was ihre Mutter ihr sagen wollte. Sie war nicht einmal sicher, ob die Worte tatsächlich ihr galten. Sie schwieg. Nachdem eine weitere, kleine Ewigkeit vergangen war, in der weder sie noch ihre Mutter etwas gesagt hatten, überwand sie ihre Scheu und ging weiter, bis sie unmittelbar neben ihr stand. Lea reagierte auch darauf nicht, jedenfalls nicht im ersten Moment. Erst nach einiger Zeit streckte sie den Arm aus und legte die Hand sacht auf ihre Schulter, sah aber nicht auf sie herab, sondern blickte weiter in den wolkenverhangenen schwarzen Himmel hinauf.
»Es gab eine Zeit, da habe ich täglich mit ihnen gesprochen«, flüsterte sie, legte eine neuerliche, lange Pause ein, und fuhr dann plötzlich und übergangslos in derselben, fremdartigen Sprache fort, die Arri vorhin gehört hatte; einer Sprache, von der sie plötzlich gar nicht mehr sicher war, dass es sich tatsächlich um eine solche handelte. Sie hörte nichts, was sie jemals gehört hatte, ja, sie war nicht einmal ganz sicher, ob es Worte waren oder vielleicht etwas völlig anderes, Geheimnisvolleres. Möglicherweise etwas wie ein Lied. Doch wenn, dann war es ein unendlich trauriges Lied.
»Ist das... die Sprache deiner...« Arri verbesserte sich fast hastig, »... unserer Heimat?«
Wenn Lea ihren Versprecher überhaupt bemerkt hatte, überging sie ihn. Ohne den Blick von den schwarzen Wolken am Himmel loszureißen, nickte sie. »Ja. Eine davon.«
»Eine?«, wiederholte Arri verwirrt. »Hattet ihr... wir denn mehr als eine Sprache?« Diese Vorstellung erschien ihr sinnlos. Wozu sollte ein einziges Volk mehr als eine Sprache haben? Sie fand es schon höchst verwirrend, dass die Menschen in ihrem Dorf einen anderen Dialekt als die in den Nachbardörfern sprachen, sodass es manchmal schwer war, sie überhaupt zu verstehen. Trotzdem nickte Lea - wieder nach einem spürbaren Zögern, fast, als folge sie einem sonderbaren Zeremoniell, das es ihr verbot, irgendetwas sofort oder auch nur schnell zu tun, und sie ließ noch einmal dieses leise, nun aber eindeutig bittere Lachen hören, bevor sie antwortete.
»Wir hatten viele Sprachen, Arianrhod. Die Sprache der gemeinen Menschen, die Sprache der Seeleute, die Sprache der Soldaten und die Sprache der Könige.«
»Aber warum?«, erkundigte sich Arri.
»Warum tun Menschen die Dinge, die sie tun?«, gab ihre Mutter zurück. Sie sah sie immer noch nicht an. Ihr Blick suchte den schwarzen Himmel ab, und nun, als Arri ihr nahe genug war, um ihr Gesicht erkennen zu können, sah sie ganz deutlich, dass sie tatsächlich nach etwas suchte, vielleicht auch auf etwas wartete. »Du hast mich gerade gehört, nicht wahr?«
Arri nickte nur, und ihre Mutter schien die Bewegung zu spüren, obwohl sie nicht zu ihr herabsah. Vielleicht hatte sie auch keine Antwort erwartet.
»Was du gehört hast, war die Sprache der Hohepriester. Nur sehr wenige Auserwählte durften sie sprechen, denn es war die Sprache, in der wir mit den Göttern geredet haben.«
»Du warst eine Hohepriesterin?«, murmelte Arri. Ihre Stimme bebte vor Ehrfurcht, obwohl sie diese Erkenntnis nicht hätte überraschen dürfen; sie war nicht neu für sie. Und zugleich war sie es trotzdem. Vielleicht erst jetzt, nachdem sie diese sonderbaren, gleichzeitig unendlich fremdartigen wie berührenden Worte gehört hatte, begriff sie wirklich, was dieses Wort bedeutete. Es war nicht nur irgendein Titel, nicht nur irgendeine Bezeichnung für das, was Männer wie Sarn oder Nor oder die Jäger taten.
»Fast mein halbes Leben lang habe ich in dieser Sprache mit den Göttern geredet«, fuhr Lea fort. »Und fast mein halbes Leben lang haben sie mir geantwortet. Ich hätte dich diese Sprache so gern gelehrt, Arianrhod. Sie ist wunderschön. Manche sagen, sie sei so alt wie die Welt, und andere behaupten, sie allein sei es, die die Götter zum Leben erweckt habe.«
»Und was davon ist nun wahr?«, fragte Arri.
»Ich weiß es nicht«, gestand Lea. Sie klang jetzt nicht mehr bitter, sondern allenfalls ein wenig traurig; aber nicht sehr.
»Und... wirst du mich lehren, sie zu sprechen?«, fragte Arri.
Diesmal verging eine lange, wirklich sehr lange Zeit, bis ihre Mutter antwortete. Sie blickte noch immer in den Himmel hinauf, doch ihre Hand, die auf Arris Schulter lag, schien mit einem Mal schwerer zu werden, als wäre ein Teil ihrer Kraft aus ihrem Körper gewichen, sodass sie sich mit der Berührung, die ihr bisher Schutz und Sicherheit vermittelt hatte, jetzt auf sie stützte. »Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil ich es nicht mehr kann«, antwortete Lea leise. »Ich habe sie verlernt.«
»Aber du hast sie doch gerade noch...«, begann Arri und brach mitten im Satz ab, als ihre Mutter traurig den Kopf schüttelte. »Was du gehört hast, das waren nur die Worte. Aber ich fürchte, sie allein reichen nicht. Es sind nicht die Worte, die die Götter zum Leben erwecken, sondern das, was sie bedeuten.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Arri, und diesmal lächelte ihre Mutter. »Irgendwann wirst du es verstehen. Wenigstens hoffe ich das. Vielleicht wirst du klüger sein als ich, wenn diese Welt dir die Gelegenheit dazu lässt.«
Der Wind frischte auf, und obwohl er noch immer nicht wirklich stark war, reichte er doch, eine Lücke in die schwarze Wolkendecke über ihnen zu reißen, sodass sie das Funkeln der Sterne darüber erkennen konnten, und es war seltsam - Arri konnte ihrer Mutter ansehen, dass sie nicht nur darauf gehofft, sondern ganz genau gewusst hatte, dass das passieren würde, und wahrscheinlich sogar darauf gewartet hatte. Vielleicht hatten die Götter ihrer alten Heimat, zu denen sie in dieser fremdartigen Sprache gebetet hatte, ihr ein Zeichen geschickt.
Ein verirrter Lichtstrahl spiegelte sich auf Metall, und Arri sah erst jetzt, dass ihre Mutter das Schwert aus dem Gürtel gezogen und vor sich in den weichen Boden gerammt hatte, um sich mit der rechten Hand auf dem verzierten Knauf abzustützen.
»Siehst du diesen einen, besonders hellen Stern dort oben?«, fragte Lea. Sie löste weder die rechte Hand vom Schwert, noch nahm sie die andere von Arris Schulter, und doch begriff Arri fast sofort, was sie meinte: Zwischen den zahllosen Sternen, die wie glitzernde Eiskristalle auf schwarzer Asche am Himmel schimmerten, blinkte ein ganz besonders heller, weißer Funke. Sie nickte.
»Er hat unseren Seefahrern als Leuchtfeuer gedient«, fuhr Lea fort. »Wo auch immer auf der Welt sie waren, sie mussten sich nur nach seinem Licht richten, um wieder nach Hause zu kommen. Merk ihn dir gut. Vielleicht wird er dir eines Tages das Leben retten. Auch wenn er deinen Vater und so viele andere das Leben gekostet hat.«
Arri lauschte vergeblich nach einem Unterton von Bitterkeit oder gar Vorwurf in der Stimme ihrer Mutter. Nichts davon war zu hören. Es war eine Feststellung, mehr nicht, und vielleicht war es gerade das, was diese Worte so schrecklich machte, denn hätte es dieses Leuchtfeuer am Himmel nicht gegeben, hätte dieser eine, funkelnde Stern ihren Vater in jener schicksalhaften Nacht nicht nach Hause gebracht, dachte Arri, dann wäre er vielleicht jetzt noch am Leben. Aber dann wären sie und ihre Mutter vielleicht schon tot. Ganz plötzlich ergriff sie ein entschlossener Zorn auf die vergessenen Götter, über die ihre Mutter sprach. Wenn es sie wirklich einmal gegeben hatte, dachte sie, dann hatten sie einen grausam hohen Preis für all die vermeintlichen Geschenke verlangt, die sie den Menschen gaben, welche sie mit ihren Gebeten zum Leben erweckt hatten.
Der Wind frischte weiter auf, vergrößerte die Lücke in der Wolkendecke, und es wurde spürbar kälter. Lea löste nun doch die rechte Hand vom Schwert, das, sicher in den Boden gerammt, weiter dastand, und machte eine flatternde Bewegung nach oben. »Erinnerst du dich an die Sterne, die ich dir gezeigt habe?«
»Die sieben, von denen nur fünf sichtbar sind?«, fragte Arri.
»Die Plejaden. Ja. Zeig sie mir.«
Arri hatte den Namen vergessen, nicht aber die Position des zum Teil unsichtbaren Sternbildes am Himmel. Sie brauchte nur einen Augenblick, um es wieder zu finden und mit dem ausgestreckten Arm in seine Richtung zu deuten. »Dort.«
»Ja.« Lea sagte nur dieses eine Wort, aber Arri konnte ihr ansehen, mit welchem Stolz es sie erfüllte, dass sie diese kleine Aufgabe so schnell und mühelos gelöst hatte. Dabei war sie nicht schwer gewesen. Die Sterne hatten Arri immer fasziniert, und sie hatte sich schon als kleines Kind gefragt, ob sich hinter diesen kalt funkelnden Lichtern am Himmel nicht vielleicht tatsächlich mehr verbarg als eben nur Lichter am Himmel, und wenn ja, was. Erst von ihrer Mutter und erst vor sehr kurzer Zeit hatte sie erfahren, dass manche dieser Sterne Namen hatten und manche Bilder und Gestalten am Himmel bildeten, aber gespürt hatte sie es schon immer. Möglicherweise hatte ihre Mutter ihr mehr vererbt als nur ihr silberfarbenes Haar und ihre schlanke Gestalt, die sie so oft zum Gespött aller anderen gemacht hatten.
»Haben all diese Sterne Namen?«, fragte sie.
»Nicht alle«, antwortete Lea. »Aber viele. Du wirst sie lernen müssen.«
»Aber es sind so viele«, murmelte Arri. »Was bedeuten sie?«
»Alles«, antwortete Lea. »Vielleicht habe ich zeit meines Lebens zu den falschen Göttern gebetet, Arianrhod. Vielleicht sind wir alle dumm und mit Blindheit geschlagen. Wir heben den Blick in den Himmel und suchen die Götter hinter der Welt, die wir sehen können, und doch ist die Antwort vielleicht die ganze Zeit dort oben.«
»In den Sternen?«, vergewisserte sich Arri.
»Sie sind alles«, antwortete ihre Mutter, doch sie tat es in einem Ton, der diese Worte irgendwie nicht wirklich zu einer Antwort machte, als hätte es Arris Frage nur bedurft, damit sie sich selbst eine Frage stellte, deren Antwort sie längst kannte und nur nicht wahrhaben wollte. »Sie wachen über uns, weißt du? Wenn du ihre Sprache verstehst, dann verraten sie dir so viel. Sie sagen dir, wohin du gehen musst, um nach Hause zu kommen. Sie sagen dir, wann die Saat ausgebracht werden muss und wann es Zeit ist, die Ernte einzuholen. Sie verraten dir, ob der nächste Winter hart oder mild wird, der nächste Sommer trocken oder kalt, ob der Schnee früh fällt und die Flüsse Hochwasser führen, wenn das Frühjahr kommt. Alle Antworten sind dort oben zu finden, Arianrhod. Wir müssen nur lernen, die richtigen Fragen zu stellen.«
Und ganz plötzlich begriff sie, wie wenig sie in Wahrheit über ihre Mutter wusste. Sie hatte geglaubt, alles über sie zu wissen, spätestens seit ihrem Gespräch auf der Waldlichtung, als sie vom Untergang ihrer Heimat und ihrer verzweifelten Flucht erfahren hatte, und in gewissem Sinn stimmte das sogar - sie wusste so unendlich viel mehr über ihre Mutter als irgendein anderer Mensch auf der Welt, vermutlich sogar mehr als Dragosz - und zugleich wusste sie rein gar nichts von ihr. Arris bewusste Erinnerungen reichten vielleicht sieben oder acht Sommer zurück, und sie wurden dünner und schemenhafter, je weiter sie zurückreichten, doch das Leben ihrer Mutter hatte nicht in jener Zeit begonnen, nicht einmal erst dann, als sie aus ihrer Heimat geflohen oder als sie, ihre Tochter, zur Welt gekommen war.
Es war dieser Augenblick, in dem Arri zum ersten Mal und mit erschütternder Wucht klar wurde, dass die Frau, die nun neben ihr stand und ihre Mutter war - und der sie nicht nur ihr Leben verdankte (und das gleich zweimal), nein, alles, was sie wusste, was sie war und was sie vielleicht irgendwann einmal werden würde -, nicht sehr viel mit der Leandriis zu tun hatte, die sie einst gewesen war. Mit ihrer Flucht aus ihrer sterbenden Heimat hatte sie nicht nur ihren Namen abgelegt und all ihr weltliches Hab und Gut verloren, ihre Familie, ihr Zuhause, sondern wortwörtlich ihr Leben. Ein kalter Schauer rann über Arris Rücken, als sie noch einmal an den sonderbaren Gesang zurückdachte, der sie hierher gelockt hatte. So fremd und vollkommen anders, wie diese Worte in ihren Ohren geklungen hatten, so vollkommen fremd und anders musste ihr Leben gewesen sein, das sie vor dem Untergang ihrer Heimat geführt hatte. Vielleicht dachte sie nicht einmal wie die Menschen hier. Vielleicht nicht einmal so wie sie.
Als hätte sie die Trauer gespürt, die Arri mit einem Mal ergriffen hatte, riss Lea den Blick vom Himmel los und drehte sich nicht nur ganz zu ihr um, sondern ließ sich leicht in die Hocke sinken, sodass sich ihre Gesichter auf gleicher Höhe befanden. Und als sie weitersprach, bewiesen ihre Worte, dass sie ihre Gedanken, wenn schon nicht gelesen, so doch ziemlich genau erraten hatte.
»Ich werde dich diese Sprache nicht lehren, Arianrhod«, sagte sie, »denn sie ist so tot wie die Götter, die sie einst gesprochen haben. So tot wie unsere Vergangenheit. Und ich werde auch keine weiteren Fragen über meine Heimat und mein früheres Leben beantworten. Die Vergangenheit ist tot, und keine Macht der Welt kann sie zurückbringen. Du musst nach vorn schauen, hörst du? Du gewinnst nichts dabei, einer Zeit nachzutrauern, die nie wieder kommen wird und die du niemals erlebt hast.« Ohne die Hand von Arris Schulter zu nehmen oder ihren Blick loszulassen, griff sie mit der anderen Hand hinter sich und zog das Schwert aus dem Boden. Sie hielt Arri den verzierten Griff so dicht vor das Gesicht, dass sie zurückgeprallt wäre, hätte Leas andere Hand sie nicht zugleich so festgehalten.
»Du musst mir etwas versprechen, Arianrhod«, sagte sie, und in ihrer Stimme war plötzlich ein Klang, der Arri schaudern ließ. Sie versuchte abermals und mit nun schon deutlich mehr als sanfter Gewalt, sich loszureißen, doch der Griff von Leas so zart erscheinenden Händen war so hart wie das Zaubermetall, aus dem ihr Schwert geschmiedet war. Ihr Blick wurde bohrend, und schließlich nickte Arri zögernd.
»Ich habe dich schon einmal darum gebeten, aber ich weiß, dass du es damals wahrscheinlich nicht verstanden hast. Das konntest du gar nicht. Aber jetzt meine ich es bitter ernst, Arianrhod. Ich weiß nicht, was morgen geschieht, oder am Tag danach. Doch was immer es ist, du musst mir eines versprechen. Wenn du dich zwischen mir und diesem Schwert entscheiden musst, Arianrhod, dann wähle das Schwert. Es ist alles, was zwischen dir und einem Leben in Barbarei und Schrecken steht.«
Sie ließ Arris Schulter los, richtete sich auf und forderte sie zugleich auf, nach dem Schwert zu greifen. Arri zögerte, doch ihre Mutter wiederholte die Geste so heftig, dass sie diesmal zum Befehl wurde, und sie streckte zögernd die Hand aus und schloss die Finger um den verzierten Griff der Waffe. Das Schwert kam ihr schwerer vor als bisher, als ginge etwas Lautlos-Bedrohliches von ihm aus, das sie in all den Jahren zuvor noch nie bemerkt hatte. Plötzlich war sie sich sicher, dass diese Klinge viel größeres Unheil anzurichten vermochte als Fleisch zu zerschneiden und Knochen zu zertrümmern. Der grüne Stein, aus dem der goldverzierte Knauf geschnitzt war, fing einen Spritzer aus silberfarbenem Sternenlicht ein und schien für ein Lidzucken wie unter einem kalten, inneren Feuer aufzuleuchten, und währenddessen hatte Arri den völlig verrückten Gedanken, dass dieses Schwert tatsächlich von einem unheimlichen, düsteren Leben erfüllt sein mochte und auf diese Weise auf ihre Gedanken antwortete. Dann erlosch das Schimmern, das vermutlich ohnehin nur in ihrer Phantasie existiert hatte, und zurück blieb ein Gefühl tiefer, vollkommener Verwirrung.
»Wirst du mir das versprechen?«, fragte Lea noch einmal.
Arri starrte sie nur weiter verstört an. Wäre die Situation nicht so unheimlich und schrecklich verdreht zugleich gewesen, hätte sie möglicherweise laut aufgelacht. War ihre Mutter verrückt geworden? Sie erwartete im Ernst von ihr, dass sie sich für ein Stück lebloses Metall entschied, wenn sie vor diese Wahl gestellt wurde? Das war verrückt!
»Nein«, sagte sie.
Für die Dauer eines Herzschlags verfinsterte sich Leas Gesicht. Ihre alte Ungeduld war wieder da, und Arri sah genau, wie dicht sie davor stand, die Beherrschung zu verlieren und sie einfach anzufahren, wie sie es oft tat, wenn Arri nicht sofort gehorchte oder irgendetwas nicht zu ihrer vollen Zufriedenheit erledigte. Dann aber zwang sie sich mit einer sichtbaren Anstrengung zu einem Lächeln. »Vielleicht hast du ja sogar Recht. Ich kann so etwas schwerlich von dir verlangen, wenn du nicht weißt, warum.«
Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte eine ganze Weile wortlos in den Himmel hinauf, als erwarte sie, dort oben Rat zu finden oder vielleicht auch eine Antwort auf all die Fragen, die sie vielleicht quälten. Dann straffte sie mit einem lautlosen Seufzen die Schultern, trat einen halben Schritt zurück und nahm Arri das Schwert wieder aus der Hand. »Der kommende Winter wird sehr mild werden. Und die Schneeschmelze im nächsten Jahr sehr früh einsetzen. Aber Eis und Schnee werden zurückkehren, spät im Frühjahr, und mit großer Kraft.«
Arri sah ihre Mutter nun noch verwirrter an. Was hatten das Wetter und das nächste Frühjahr mit dem zu tun, worum sie sie gerade gebeten hatte? Sie behielt jedoch sowohl ihre Verwirrung als auch all die Fragen, die ihr auf der Zunge brannten, für sich und geduldete sich, bis ihre Mutter von sich aus fortfuhr. »Erinnerst du dich, was ich dir über dieses Schwert erzählt habe? Die Sterne, die in seinem Griff abgebildet sind?« Sie hielt Arri abermals den Schwertgriff hin, und ihr auffordernder Blick machte deutlich, was sie von ihr erwartete. Arri gehorchte und sah den kunstvoll verzierten, im schwachen Licht nun wieder fast schwarz erscheinenden Knauf gehorsam an, doch sie hatte kein gutes Gefühl dabei. Die Erinnerung an das, was gerade geschehen war, war noch zu frisch. Es nutzte ihr rein gar nichts, sich selbst zu versichern, dass sie die düstere Seele dieser Waffe nicht wirklich gespürt, sondern sich das unheimliche Erlebnis nur eingebildet hatte.
»Zeig sie mir noch einmal«, verlangte Lea.
»Die Plejaden?«
Lea nickte, und Arri deutete gehorsam auf den Kreis aus sieben goldenen Punkten auf dem Schwertgriff und dann auf die fünf sichtbaren, in kaltem Weiß schimmernden Sterne über ihnen am Himmel.
»Und weißt du noch, was ich dir darüber erzählt habe?« Leas ausgestreckter Finger deutete auf den winzigen, goldfarbenen Viertelkreis unter dem Siebengestirn auf dem Schwertknauf.
»Der... Himmelswagen?«, murmelte Arri. Sie erinnerte sich nur mühsam. Ihre Mutter hatte ihr eine Menge über dieses Schwert erzählt, aber vieles davon hatte mit den Göttern und ihrem Glauben zu tun, die beide zusammen mit ihrer Heimat untergegangen waren, und warum hätte sie sich etwas merken sollen, das für sie von keinerlei Belang mehr war? Trotzdem schien sie nicht ganz falsch gelegen zu haben, denn ihre Mutter sah zwar nicht völlig zufrieden aus, nickte aber trotzdem.
»Der Himmelswagen, mit dem die Sonne ihre Reise durch die Nacht antritt, um am Morgen wieder am Himmel zu erscheinen«, bestätigte sie, schüttelte aber fast gleichzeitig den Kopf. Ein kurzes, flüchtiges Lächeln huschte über ihre Lippen und erlosch ebenso rasch wieder, wie es erschienen war. »Jedenfalls ist es das, was die meisten glauben. Und was sie auch glauben sollen.«
»Aber es ist nicht die Wahrheit«, vermutete Arri.
Statt sofort zu antworten, drehte ihre Mutter das Schwert herum, sodass sich der goldene Viertelkreis nun über dem winzigen Siebengestirn befand; eine fragend hochgezogene Augenbraue über einem leblos starrenden Götterauge. Arri war verwirrt und sah ihre Mutter auch mit dem gleichen Ausdruck an, doch Lea lächelte nur weiter und ließ noch ein paar Augenblicke verstreichen, wie um sicherzugehen, dass ihre Tochter auch tatsächlich gesehen hatte, was sie ihr zeigen wollte, dann deutete sie mit der anderen Hand zum Himmel, hinauf zu dem unvollkommenen Zwilling des Sternbildes auf dem Schwertgriff, und Arris Blick folgte der Geste, und dann sah sie es so deutlich, dass sie sich verblüfft fragte, wieso es ihr nicht die ganze Zeit über schon aufgefallen war: Auch über dem Vorbild des Schwertknaufs dort oben am Himmel spannte sich ein fast vollkommener Viertelkreis, nur dass er nicht aus Gold bestand, sondern aus zahllosen blitzenden Lichtpunkten, hunderte und tausende und abertausende von Sternen, die sich in einem gewaltigen Band dort oben entlangzogen. Es war ein wunderschöner Anblick, der Arri umso mehr verblüffte, als ihr klar wurde, dass es ihn nicht erst seit jetzt gab, sondern diese Sterne dort oben leuchteten, so lange sie lebte, und schon sehr viel länger. Und trotzdem hatte sie sie bis eben noch niemals wirklich gesehen.
»Was... ist das?«, murmelte sie stockend. Ihre Stimme bebte ganz leicht. Auch wenn sie die Antwort auf ihre eigene Frage kannte - es waren Sterne, was sonst? -, so spürte sie doch jetzt vielleicht zum ersten Mal, aber mit unerschütterlicher Gewissheit, dass es eben nicht nur Lichter am Himmel waren, nicht nur die schlafenden Götter oder Geister oder Dämonen, für die die meisten anderen sie halten mochten, falls sie sich überhaupt Gedanken darüber machten, sondern mehr. Sie hatte das Gefühl, von etwas Großem berührt zu werden, von etwas fast Heiligem.
»Alles«, antwortete ihre Mutter, und auch in ihrer Stimme klang ein schwacher Anflug jener Ehrfurcht an, die Arri empfand. Sie drehte das Schwert wieder um und amüsierte sich einen Moment lang sichtlich über Arris Stirnrunzeln, als der goldene Halbkreis nun wieder unterhalb des Siebengestirns war. »Siehst du? Manchmal ist es das Allereinfachste, das größte Geheimnis im Offensichtlichen zu verbergen.«
»Dann ist das...?« Arri deutete fast schüchtern auf den Schwertknauf. »... so etwas wie... wie Goseg?«
Lea wirkte für einen Moment ehrlich verblüfft. »Ja. Wenn du so willst. Nor und seine Priester richten Steine auf und bauen gewaltige Heiligtümer, aber nur die Wenigsten von denen, die in diesen Heiligtümern beten und ihren Tribut entrichten, ahnen, dass sie im Grunde nur einem einzigen Zweck dienen: die Zeit zu messen.« Sie lächelte traurig. »Auch ich war einst ganz ähnlich wie Nor und die anderen. Eine Priesterin, Arianrhod. Unser Glaube war vielleicht nicht ganz so grausam wie der dieser Menschen hier, und unser Einfluss auf das Leben der Menschen nicht ganz so groß, und doch ist der Unterschied nicht so gewaltig, wie ich mir immer eingeredet habe.«
Eine unbestimmte Trauer schwang in ihrer Stimme mit, und Arri fragte: »Aber was ist daran so schlimm?«
»Vielleicht nichts«, erwiderte Lea, allerdings in einem Ton, der das genaue Gegenteil besagte. »Wir belügen die Menschen, das ist alles. Wir tun es zu ihrem Besten, aber das ändert nichts daran, dass wir sie belügen.«
Sie schwieg einen Moment, dann schüttelte sie abgehackt und irgendwie zornig den Kopf und hob noch einmal das Schwert. »Du hast Recht, Arianrhod. Alles, wozu Nor und seine Priester mit ihrem gewaltigen Heiligtum in Goseg fähig sind, ist auch in diesem Schwert verborgen, und noch viel mehr. Die meisten halten es für eine Waffe, und das ist es auch, aber es ist darüber hinaus auch ein Instrument gewaltiger Macht. Denn wer den genauen Verlauf der Jahreszeiten kennt, den Tag der Sommer- und Wintersonnenwende, der weiß auch, wann die Saat ausgebracht werden muss und wann es Zeit ist, die Ernte einzuholen, wann die Zeit der Stürme beginnt und die Flüsse steigen.«
Sie machte eine unbestimmte Bewegung in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Das ist es, was Nor und Sarn und all die anderen fürchten, Arianrhod. Nicht meine Heilkunst, denn die können sie verstehen. Nicht mein Wissen um die Natur, das Verhalten der Tiere, denn das ist gar nicht so viel größer als das ihre. Manches habe ich erst in diesem Land und von den Menschen hier gelernt. Was sie fürchten, ist mein Wissen um die Zeit, um den Weg der Sonne und des Mondes, und um die Jahreszeiten. Es hat nichts mit den Göttern oder Magie zu tun, Arianrhod. Unser Volk hat den Himmel über zahllose Generationen hinweg beobachtet, und vor unserem ein anderes und davor wieder ein anderes. Es ist nur das gesammelte Wissen zahlloser Generationen. Nicht mehr.«
»Aber warum sagen sie es den Menschen dann nicht einfach?«, wunderte sich Arri.
Zu ihrer Überraschung lachte Lea auf. »Aber wo kämen wir hin, wenn jeder einfache Bauer und Fischer wüsste, wann es Zeit ist, etwas Bestimmtes zu tun oder zu lassen?« Sie lachte erneut und schüttelte heftig den Kopf, als hätte Arri einen besonders guten Scherz gemacht. »Du hast es bereits begriffen, Arianrhod, auch wenn du es vielleicht selbst nicht weißt. Das hier ist das letzte Geheimnis der Priester. Wenn du es offenbarst, beraubst du sie ihrer Macht über die Menschen, und das ist es, was sie fürchten. Wüsste Nor genau, wo mein geheimes Wissen verborgen ist, hätte er es mir längst gestohlen und mich getötet.«
Arri erinnerte sich an das Gespräch mit dem greisen Hohepriester. »Deshalb hat er von dir verlangt, dass du es ihm sagst?«
Lea nickte. »Ja. Und ich hätte den Moment, in dem ich es getan hätte, nicht einmal um einen Atemzug überlebt, so wenig wie du.« Sie ließ sich wieder in die Hocke sinken und rammte das Schwert genau zwischen sich und Arri in den weichen Boden. Ihre rechte Hand lag flach auf dem Knauf. »Ich werde dich lehren, es zu gebrauchen. Es ist nicht einmal so schwer, wenn man das Geheimnis kennt. Aber du darfst es niemals preisgeben, hörst du? Niemandem, ganz gleich, wie sehr du ihm auch vertraust.«
»Das verspreche ich«, sagte Arri, doch ihre Mutter schüttelte den Kopf und machte zugleich eine abwehrende Bewegung.
»Nein«, sagte sie, »versprich nichts vorschnell. Bald wird eine Zeit kommen, in der du andere Menschen triffst, denen du glaubst, vertrauen zu können. Du wirst die Liebe kennen lernen, und das wünsche ich dir von ganzem Herzen. Und doch darfst du nie jemandem das Geheimnis dieses Schwertes verraten.«
Arri begriff erst ganz langsam, wovon ihre Mutter überhaupt sprach - nämlich nicht nur von diesem Schwert und seinem Geheimnis, sondern von einer Zeit, in der sie selbst nicht mehr da sein würde. Aber sie wollte nicht darüber reden. Der Tod gehörte so selbstverständlich zu dem Leben, das sie bisher geführt hatte, dass er kaum noch Schrecken für sie barg, aber das galt nicht für ihre Mutter. Sie würde ewig leben, das war für Arri vollkommen sicher.
»Aber du...«, begann sie, wurde aber sofort wieder mit einem noch heftigeren Kopfschütteln ihrer Mutter unterbrochen.
»Irgendwann wirst du selbst Kinder haben«, sagte Lea. »Eines davon wird eine Tochter sein, und ihr wirst du dein Wissen weitergeben, nur ihr und sonst niemandem. So ist es immer gewesen, und so wird es auch weiter sein.«
»Aber warum sagen wir es nicht einfach allen?«, murmelte Arri. »Wenn das, was Nor und die anderen tun, nur eine Lüge ist, warum erzählen wir es dann nicht allen? Und warum sagen wir ihnen nicht die Wahrheit? Dann hätten sie keinen Grund mehr, dich zu fürchten.«
Lea lächelte, als hätte sie einen dummen, aber verzeihlichen Fehler begangen. »O Arri, glaubst du, du wärest die Erste, die auf diesen Gedanken gekommen ist?« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist unmöglich.«
»Warum?«
»Weil es die Ordnung der Dinge durcheinander bringen würde«, antwortete Lea, womit Arri nicht wirklich etwas anfangen konnte. »Die Menschen brauchen Führer. Sie brauchen jemanden, der ihnen sagt, was sie tun sollen und wann, und was sie nicht tun sollen. Vielleicht wird irgendwann einmal eine Zeit kommen, in der das anders ist, aber heute und jetzt würde es unermesslichen Schaden anrichten, diese alte Ordnung zu zerstören. Das Ergebnis wären Krieg und Leid. Glaub mir. Ich habe es gesehen.«
»Warum bekämpfen wir Nor und die anderen dann?«, wunderte sich Arri.
»Wir bekämpfen ihn nicht«, erwiderte Lea ernst. »Er und die anderen fürchten mich, und deshalb versuchen sie, mich loszuwerden, aber nicht ohne zuvor mein Wissen an sich gebracht zu haben. Und früher oder später wird es ihnen auch gelingen. Aber ihn nicht zu bekämpfen bedeutet nicht, ihn zu unterstützen oder das, was er und die anderen tun, gutzuheißen. Vor langer Zeit waren unsere Vorfahren genau wie die Menschen hier. Wir haben diese Zeit überwunden und es geschafft, das Leben eine Spur erträglicher zu machen - und vielleicht ein wenig gerechter.«
Ihre Stimme wurde leiser, und wieder trat dieser sonderbare Ausdruck von Trauer in ihren Blick. Als sie fortfuhr, schienen die Worte gar nicht so sehr Arri zu gelten, sondern klangen fast wie eine Entschuldigung, die sie für sich selbst benötigte. »Ich habe genau so gedacht wie du, als ich hierher gekommen bin, Arianrhod. Ich dachte, ich brauchte nur hierher zu kommen und den Menschen zu sagen, was sie falsch machen und wie es besser geht. Ich habe mich getäuscht. Du darfst nicht denselben Fehler begehen wie ich. Lass den Dingen ihre Zeit. Wir können den Menschen hier helfen, sich ein wenig schneller zu entwickeln, aber wir können sie nicht zwingen, unzählige Generationen in wenigen Sommern zu überspringen. Und nun...«, sie stand mit einem plötzlichen Ruck auf, und sowohl ihr Gesichtsausdruck als auch ihr Ton änderten sich schlagartig und radikal, »... sag mir, wie lange es noch dauert, bis die Sonne aufgeht.«
Arri hatte Mühe, dem jähen Gedankensprung zu folgen. Völlig verwirrt sah sie zu ihrer Mutter hoch, und ihre Verwirrung wuchs noch, als Lea das Schwert wieder aus dem Boden zog und ihr die Waffe hinhielt, als könne sie die Antwort auf Leas Frage auf dem blanken Metall ablesen. Zögernd hob sie den Blick in den Himmel und suchte nach dem Mond, aber er war noch immer hinter dichten Wolken verborgen.
»Nein«, sagte Lea. »Du sollst es nicht schätzen. Ich will es ganz genau wissen.«
»Aber das ist unmöglich!«, begehrte Arri auf.
»Und wenn ich dir sage, dass es das nicht ist?«, fragte Lea lächelnd. Sie hob das Schwert, deutete mit der freien Hand zuerst in den Sternenhimmel hinauf, dann wieder auf den verzierten Griff. »Sieh her. Ich zeige dir, wie man es macht.«