24

Sie hatten nicht bei Sonnenuntergang Halt gemacht, wie Lea eigentlich vorgehabt hatte, sondern waren noch so lange weiter gefahren, bis aus der Linie am Horizont eine Mauer aus massiver Schwärze geworden war und sie schließlich den Waldrand erreichten. Arri hatte nichts dazu gesagt. Sie hatten ohnehin während des gesamten restlichen Weges nur noch sehr wenig miteinander gesprochen - um nicht zu sagen, so gut wie gar nicht -, und Arri ersparte sich auch jede Bemerkung, als sie begriff, auf welch sonderbare Weise Lea den Wagen schließlich anhielt: sie lenkte das Gefährt unter die weit ausladenden Äste einer gewaltigen Buche, die sich nicht nur vorwitzig ein gutes Stück weit aus dem eigentlichen Wald herausgeneigt hatte, sondern auch dem Herbst trotzte, der überall sonst schon seine Spuren hinterlassen hatte. Ihre Krone glänzte immer noch in einem saftigen Grün, das selbst während der Nacht zu erkennen war, während die meisten anderen Bäume sich bereits braun oder rot und goldgelb verfärbt hatten.

Ihre Mutter rutschte mehr vom Wagen, als dass sie hinunterstieg, und ging mit hängenden Schultern an den Pferden vorbei nach vorn, um die Zügel um den Stamm der großen Buche zu binden. Ihre Bewegungen waren fahrig und ließen einen gut Teil ihrer gewohnten Sicherheit und Genauigkeit vermissen, aber Arri entging dennoch nicht, auf welch besondere Weise sie die Tiere anband: Mit einem Knoten, den man mit einem einzigen, entschlossenen Ruck wieder lösen konnte, ebenso wie sie den Wagen nicht in gerader Linie unter den Baum gefahren, sondern eigens einen weiten Bogen geschlagen hatte. Die weit ausladenden Äste der Buche überspannten nicht die ganze Ladefläche; was durchaus möglich gewesen wäre, denn sie war allemal groß genug dafür. Stattdessen stand der Wagen so, dass sie sofort weiter fahren konnten, wenn es sein musste, ohne umständlich zurücksetzen oder rangieren zu müssen.

Man hätte es auch anders ausdrücken können, dachte Arri. Ihre Mutter schien sich auf eine schnelle Flucht vorzubereiten. Aber warum?

Sie wollte ebenfalls vom Wagen klettern, aber Lea machte eine müde, abwehrende Geste. »Ich sehe nach, ob alles ruhig ist. Du bleibst inzwischen hier und rührst dich nicht von der Stelle.«

Arri warf ihr einen schrägen Blick zu. Wohin sollte sie schon gehen, in ihrem Zustand? Ebenso wort- wie ausdruckslos sah sie ihrer Mutter nach, die mit müde wirkenden, aber dennoch schnellen und so gut wie lautlosen Bewegungen im Unterholz verschwand. Sie verstand auch nicht genau, was ihre Mutter überhaupt vorhatte. Sie befanden sich auf der anderen Seite des verbotenen Waldes, den die Dorfbewohner wie den Ort der Verdammnis mieden, den Sarn so anschaulich zu beschreiben verstand - wer sollte wohl ausgerechnet jetzt und noch dazu so spät am Tage rein zufällig hier auftauchen, um sie zu überraschen?

Immer vorausgesetzt, Lea hatte die Wahrheit gesagt und es gab außer den drei unglückseligen Kriegern, die Nor ihnen nachgeschickt hatte, tatsächlich niemanden, der von ihrer geheimen Reise oder diesem Ort hier wusste.

Ihre Gedanken bewegten sich schon wieder auf Pfaden, die ihr nicht gefielen, und sie brach diese Überlegung hastig ab und konzentrierte sich stattdessen auf ihre Umgebung. Sie erkannte diesen Ort nicht wieder. Zwar hatte ihre Mutter ihr gesagt, dass es der jenseitige Rand des verbotenen Waldes war, dort, wo er an die große Grasebene grenzte, auf der sie auf Nachtwind und seine Herde getroffen waren, aber es hätte ebenso gut auch jeder andere, ähnlich aussehende Wald auf der Welt sein können. Von den Pferden jedenfalls war keine Spur zu sehen, und Arri erblickte auch sonst keinerlei vertraute Wegmarken, was aber nichts heißen musste - schließlich war sie nur wenige Male hier gewesen, und darüber hinaus gab es nicht den geringsten Grund, ihrer Mutter zu misstrauen oder ihr Wort anzuzweifeln. Dann wurde ihr klar, dass allein der Umstand, diesen Gedanken zu haben, schon wieder ein Zweifel an sich war, und das Nagen ihres schlechten Gewissens nahm weiter zu.

Was war nur mit ihr los? Sicherlich hatte Lea ihr in den letzten Tagen und Wochen Anlass genug gegeben, ihr nicht mehr vorbehaltlos alles zu glauben, was sie sagte, aber allmählich verfiel sie in das genaue Gegenteil und zog grundsätzlich alles in Zweifel, was sie sagte; und manchmal sogar das, was sie nicht sagte.

Arri schüttelte den Kopf, ärgerlich auf sich selbst, brach ihre ohnehin sinnlose Betrachtung des Waldrandes und der schwarz daliegenden Grasebene ab, und kletterte mit mühsamen, kleinen Bewegungen zurück auf die Ladefläche des Wagens, um sich auf dem Lager aus Fellen und Decken auszustrecken, auf dem sie die letzten drei Tage verbracht hatte. Es stank nach kaltem Schweiß und anderen, noch unappetitlicheren Dingen, aber das war ihr plötzlich gleich. Obwohl sie den Großteil des Nachmittages, wenn schon nicht schlafend, so doch in einem Dämmerzustand zwischen Schlaf und Wachsein verbracht hatte und auch immer wieder kurz eingenickt war, fühlte sie sich mit einem Mal furchtbar müde, und auch ihre Hand und die gebrochenen Rippen, die Lea so fest verbunden hatte, dass sie kaum atmen konnte, schmerzten nun wieder. Das Mittel, das ihre Mutter ihr auf dem Weg hierher immer wieder eingetrichtert hatte, hatte vielleicht das Fieber besiegt und ihrem Körper geholfen, die Verletzungen zu heilen, die sie sich zugezogen hatte, aber sie spürte nun am eigenen Leib, was Lea ihr über die Heilkräfte der Natur erzählt hatte: Sie waren gewaltig, aber man bekam selten etwas geschenkt.

Müde schloss sie die Augen. Nachdem die Sonne untergegangen war, waren die Temperaturen rasch gefallen, und mittlerweile war es empfindlich kalt, und doch war sie plötzlich sogar zu träge, um die Hand auszustrecken und eines der warmen Felle über sich zu ziehen. Sie wusste, dass sie am nächsten Morgen bis auf die Knochen durchgefroren erwachen und sich noch elender fühlen würde, und doch erschien ihr das plötzlich ein geringer Preis, verglichen mit der Anstrengung, den Arm zu heben und mit einer Hand, die vor Schmerz pochte, irgendetwas zu ergreifen, das so schwer war wie dieses Fell. Arri spürte, wie der Schlaf sie einlullte...

... und dann drang das Brechen eines Zweiges so scharf und alarmierend in ihre Gedanken, dass sie sich mit einem Ruck aufsetzte.

Aus weit aufgerissenen, starren Augen blickte sie sich um. Ihr Herz begann zu hämmern, und plötzlich waren Schmerzen, Übelkeit und Fieber und selbst die Kälte vergessen, und sie lauschte mit allen Sinnen in die Nacht hinaus. Das Geräusch wiederholte sich nicht, aber dieser Umstand beruhigte sie keineswegs, sondern bewirkte eher das Gegenteil. Es war eindeutig der Laut gewesen, mit dem ein trockener Ast unter einem Fuß oder einer schweren Pfote zerbrach. Aber wäre es ein Tier gewesen, das diesen Laut verursacht hatte, dann wäre es jetzt nicht so still; sie hätte andere Geräusche gehört, Schritte, die entweder näher kamen oder sich entfernten, zumindest das Rascheln von Unterholz und trockenem Laub, das den Boden ringsum bedeckte wie ein dichter Teppich, auf dem es nur dann möglich war, sich lautlos zu bewegen, wenn man es wollte. Aber welches Tier würde eine solche Überlegung wohl anstellen? Und auch ihre Mutter hatte keinen Grund, sich an sie anzuschleichen.

Arris Hand tastete verstohlen über die Decke und das Gepäck, das rechts und links von ihrem Lager aufgeschichtet war, aber sie fand nichts, das sie im Notfall als Waffe hätte hernehmen können, um sich zu verteidigen. Doch sie brauchte etwas. Jemand war hier, ganz in ihrer Nähe, und es war ganz zweifellos ein Mensch.

»Erschrick nicht«, sagte eine leise Stimme hinter ihr.

Selbstverständlich bewirkten die beiden Worte genau das Gegenteil dessen, was sie sollten. Arri fuhr mit einem nur noch mühsam unterdrückten Schrei herum und starrte mit klopfendem Herzen in die Dunkelheit, und die Stimme fuhr fort: »Ich bin es nur.«

Die Stimme gehörte ganz zweifelsfrei Dragosz, auch wenn Arri den dazugehörigen Körper immer noch nicht sehen konnte, doch obwohl er flüsterte und sich ganz offensichtlich auch bemühte, in möglichst ruhigem Ton zu sprechen, hörte sie auch zugleich, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Da war ein leises Zittern in seinen Worten, das bisher noch nie dagewesen war.

»Dragosz?«, murmelte sie.

Das Knacken eines brechenden Astes wiederholte sich, diesmal begleitet vom Knistern trockenen Laubes, das unter seinen Schritten zerkrümelte, dann löste sich ein massiger Schatten vom Waldrand und kam langsam auf sie zu. Eines der Pferde hob den Kopf und wieherte unruhig, und Dragosz strich ihm beiläufig mit der Hand über die Nüstern, während er daran vorbeiging. »Ja, ich bin es. Wo ist deine Mutter?«

»Ganz in der Nähe. Sie wollte sich nur umschauen, um sicherzugehen, dass auch niemand da ist.« Arri deutete ein Schulterzucken an. »Aber anscheinend war sie nicht gründlich genug.«

»Warum?« Dragosz kam nun näher und blieb in einem Abstand stehen, der gerade nicht ausreichte, um ihn in aller Deutlichkeit erkennen zu können, und Arri fragte sich, ob das Zufall war.

»Weil sie dich sonst bemerkt hätte«, antwortete sie.

Dragosz schüttelte den Kopf. Sie glaubte etwas wie ein leises Lachen zu hören. »Niemand bemerkt mich, wenn ich es nicht will. Wie geht es dir?«

»Gut«, behauptete Arri. »Wo kommst du jetzt her?«

»Wir waren verabredet«, antwortete Dragosz. »Deine Mutter und ich.« Irgendetwas stimmte nicht mit ihm, das spürte Arri. Es war nicht nur seine Stimme. Auch an seiner Gestalt war irgendetwas nicht so, wie es sein sollte, obwohl sie sie nach wie vor nur als einen halb verschwommenen Schemen vor dem Hintergrund des Waldrandes erkennen konnte.

»Hier?«, fragte sie zweifelnd.

»Hat sie dir nicht gesagt, dass wir verabredet waren?«

»Doch. Aber nicht jetzt. Sie hat gesagt, dass du in ein paar Tagen ins Dorf kommst, um uns abzuholen.«

»Ich musste meine Pläne... ändern«, antwortete Dragosz. Seltsam, wie leicht man eine Lüge durchschauen konnte, wenn man das Gesicht seines Gegenübers nicht sah. Dragosz löste sich endlich von seinem Platz, kam näher und kletterte auf der anderen Seite des Wagens empor, aber mit Bewegungen, die Arri ebenso mühsam und umständlich vorkamen wie die, mit denen sie selbst gerade vom Kutschbock gestiegen war. Sie war jetzt sicher, dass mit ihm etwas nicht stimmte, und wären es nicht seine Bewegungen und sein sonderbar verkrüppelt aussehender Umriss gewesen, so hätte sie es gerochen. Er roch nach Schweiß, was an sich nichts Besonderes war - jeder, den sie kannte, roch so -, aber es war nicht der Schweiß schwerer Arbeit oder der Sommerhitze, sondern der saure Geruch eines überstandenen Fiebers, nur unzulänglich überdeckt von dem Kräuterduft, wie ihn die Verbände verströmten, die ihre Mutter aufzulegen pflegte.

Dragosz kam gebückt näher und ließ sich mit untergeschlagenen Beinen neben sie sinken, und endlich war er nahe genug, um von einem bloßen Schatten zu einem Körper zu werden. Aus Arris Verdacht wurde Gewissheit. Dragosz’ Gesicht war so bleich wie frisch gefallener Schnee, das konnte sie trotz des schwachen Lichtes erkennen, und auf seiner Stirn glitzerte ein Netz aus zahllosen, winzigen Schweißtröpfchen. Seine Gestalt wirkte tatsächlich unförmig; er trug den linken Arm in einer Schlinge aus denselben groben Stricken, aus denen auch das Geschirr der Pferde geflochten war, und die Schulter unter dem schwarzen Fellmantel war so dick verbunden, dass er fast wie ein Buckliger aussah. Auf seinem Gesicht lag ein aufmunterndes Lächeln, aber Arri sah trotzdem, dass er all seine Willenskraft brauchte, um nicht am ganzen Leib zu zittern, so als hätte er Schüttelfrost. Wahrscheinlich hatte er welchen.

»Was ist passiert?«, fragte sie erschrocken. Dragosz zuckte nur - vorsichtig - mit der unverletzten Schulter; und Arri hatte nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet, brauchte sie im Grunde aber auch gar nicht. Sie hatte sie sich fast im gleichen Moment schon selbst gegeben, in dem sie die Frage ausgesprochen hatte.

In all dem Durcheinander hinter ihrer Stirn waren zumindest ein paar Erinnerungen, die ganz eindeutig nicht aus einem Fiebertraum stammten, und in einer davon spielten gedämpfte Schreie eine Rolle, das Klirren von Waffen und große Flecken von niedergetrampeltem Gras, das nass von noch nicht ganz eingetrocknetem Blut war.

»Nichts von Bedeutung«, beantwortete Dragosz ihre Frage mit einiger Verspätung. »Ich bin froh, dass es dir wieder besser geht.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Als ich gehört habe, was passiert ist, habe ich mir schwere Vorwürfe gemacht. Es tut mir Leid, dass ich nicht da war, um dich zu beschützen.«

»Du konntest es nicht, oder?«, sagte Arri mit einer entsprechenden Kopfbewegung auf seine verbundene Schulter, aber Dragosz machte nur ein noch finstereres Gesicht.

»Ich habe dir versprochen, auf dich und deine Mutter aufzupassen«, beharrte er. »Es spielt letzten Endes keine Rolle, warum man ein Versprechen bricht, so lange man es bricht. Es tut mir Leid.«

Welch ein Unsinn!, dachte Arri.

Dann musste sie über ihre eigenen Gedanken lächeln. Dragosz sprach im Grunde nur laut aus, was sie selbst gerade gedacht hatte; und vielleicht war das nicht einmal Zufall. Jetzt, wo er ihr so nahe war, konnte sie erkennen, dass er sich in keinem besseren Zustand befand als sie, und eigentlich sogar in einem schlimmeren. Vielleicht, überlegte sie ernsthaft, führten ähnliche Verletzungen auch zu ähnlichen Verwirrungen des Denkens.

»Das warst du, in dieser Nacht, nicht wahr?«, fragte sie.

Dragosz sah sie fragend - aber nicht sehr überzeugend - an, und Arri fuhr mit einer erklärenden Geste auf seine verletzte Schulter fort: »Du hast die drei Krieger angegriffen, die uns aufgelauert haben.«

Dragosz zögerte. Seine Augen schimmerten wie nasse schwarze Steine, und irgendetwas in seinem Blick... änderte sich. Arri konnte nicht sagen, was, aber sie war nicht sicher, ob es ihr gefiel. Ganz und gar nicht.

»Nun ja«, erwiderte er. »Man könnte es so nennen.«

»Und wie nennst du es?«, fragte Arri.

Der sonderbare Ausdruck in Dragosz’ Augen blieb, aber da war jetzt plötzlich auch noch etwas anderes; etwas, das ihr einen durchaus nicht unangenehmen Schauer über den Rücken laufen ließ und das sie ebenso genoss, wie sie es fast schuldbewusst von sich schob. Sie war viel zu verwirrt und aufgewühlt, um das Gefühl benennen zu können (oder auch nur zu wollen), aber sie spürte doch, dass es etwas Verbotenes war. »Ich fürchte, ich habe sie unterschätzt«, gestand Dragosz mit unerwarteter Offenheit ein.

»Nors Männer?«

Dragosz nickte und zuckte gleichzeitig unglücklich mit den Schultern - zumindest wollte er es, brach die Bewegung dann aber schon im Ansatz und mit einer Grimasse sowie einem schmerzhaften Verziehen der Lippen wieder ab. »Ich dachte, ich könnte sie überraschen. In Wahrheit haben sie mich überrascht.«

»Und dich angegriffen?«, fragte Arri.

»Ja. Sofort und ohne auch nur zu fragen, wer ich bin oder welche Absichten ich habe.«

Das hörte sich ganz nach Nors Kriegern an, dachte Arri. Sie wartete vergeblich darauf, dass Dragosz von sich aus weitersprach, und als er es nicht tat, warf sie ihm einen auffordernden Blick zu, auf den er zwar reagierte, aber auch das erst mit einiger Verspätung. Arri hatte plötzlich das Gefühl, dass er es nicht tat, um das Gespräch in die Länge zu ziehen oder ihr auszuweichen, sondern dass ihm das Reden viel Mühe bereitete. »Ich konnte ihnen entkommen. Aber nur mit Mühe und Not. Sie haben mich verletzt. Anscheinend bin ich doch kein so guter Beschützer, wie ich geglaubt habe.«

»Du warst allein gegen drei«, antwortete Arri. »Du hast einen von ihnen so schwer verwundet, dass er in der nächsten Nacht gestorben ist.« Dragosz wollte widersprechen, doch Arri hob rasch die Hand und schüttelte entschieden den Kopf, bevor sie mit leicht erhobener Stimme fortfuhr: »Ich bin kein Krieger, und ich verstehe auch bestimmt nicht so viel vom Kämpfen wie meine Mutter oder gar du - aber einer gegen drei, das erscheint mir kein sehr ausgewogenes Verhältnis. Die Krieger von Goseg sind berüchtigt für ihre Rücksichtslosigkeit und ihre Stärke. Nur die wenigsten Männer hätten diesen Kampf überlebt - und noch dazu einen von ihnen tödlich verwundet.«

Einen Herzschlag lang sah Dragosz sie auf eine sehr sonderbare Weise an. Dann schüttelte er den Kopf, und ein sehr warmes, fast väterliches Lächeln erschien auf seinen Lippen und erlosch dann wieder. »Gleich wirst du mir erzählen, dass ich diesen Kampf eigentlich gewonnen habe.«

Arri nickte. »Genau genommen ist es auch so. Du lebst, und sie sind tot. Das könnte man einen Sieg nennen.«

Dragosz lachte leise. »Weißt du eigentlich, wie sehr du deiner Mutter ähnelst, Arianrhod?«

Das wusste Arri sehr gut, sie wusste nur nicht, was diese Bemerkung bedeutete, ausgerechnet jetzt. »Warum habt ihr mir nicht gesagt, wie schlimm es um dich steht?«

Dragosz sah sie verwirrt und vielleicht mit einer Spur von Misstrauen in den Augen an, und Arri fügte mit einer erklärenden Geste hinzu: »An dem Abend, als du mit meiner Mutter gesprochen hast, draußen bei der Mine.«

»Was dir passiert ist, tut mir aufrichtig Leid«, sagte Dragosz. »Hätte ich auch nur gewusst, dass du dort draußen bist...«

Arri unterbrach ihn. »Du wusstest es aber nicht. Außerdem war ich ganz allein schuld. Meine Mutter hatte mir befohlen, im Haus zu bleiben. Hätte ich auf sie gehört, wäre vielleicht gar nichts passiert.« Dragosz hatte ihre Frage nicht beantwortet, das war ihr keineswegs entgangen. Und auch der ebenso verwirrte wie leicht misstrauische Ausdruck stand noch immer in seinen Augen. Mehr denn je hatte sie plötzlich das Gefühl, dass er aus einem ganz bestimmten Grund gerade jetzt und gerade hier aufgetaucht war, aber nun nicht so recht zu wissen schien, wie er anfangen sollte. Indem sie ihm Vorwürfe machte - oder auch nur etwas sagte, was er als Vorwurf auslegen konnte -, gewiss nicht.

»Deine Mutter wollte dich nicht unnötig beunruhigen«, sagte er nach einer Weile nun doch. Er zuckte wieder mit den Schultern; diesmal aber sehr behutsam. »Sie hat mich vor Nors Kriegern gewarnt, aber ich fürchte, ich habe ihre Warnung trotz allem nicht ernst genug genommen. Dabei hätte ich es wissen müssen. Schließlich bin ich ihnen schon begegnet.«

Das war eine Neuigkeit für Arri, die sie im allerersten Moment überraschte; dann zog sie zweifelnd die Augenbrauen zusammen. »Du sprichst von Kron und seinen Brüdern?« Ihr Herz begann zu klopfen.

»Ich weiß nicht, wer Kron ist«, antwortete Dragosz. »Aber sie waren zu dritt, ja.« Er legte den Kopf schräg. »Du kennst diese Männer?«

»Wenn es dieselben sind, über die wir reden, ja. Du hast einen von ihnen erschlagen und den anderen schwer am Arm verletzt?«

Dragosz sagte nichts. Er nickte nur, aber sein Blick wirkte mit einem Mal sehr wach.

»Das waren keine Krieger aus Goseg«, sagte Arri.

»Keine...« Dragosz blinzelte verwirrt. »Aber deine Mutter hat mir gesagt, es wären Nors Männer gewesen.«

»Die drei waren Jäger. Männer aus unserem Dorf. Du musst sie falsch verstanden haben.«

Dragosz schwieg auch dazu, aber er tat es auf eine ganz bestimmte Art, die eine Antwort im Grunde vollkommen überflüssig werden ließ. Er hatte sie weder falsch verstanden, noch hatte Lea sich irgendwie missverständlich ausgedrückt. Sie konnte seine Verwirrung spüren, aber auch eine Spur von Zorn, die er plötzlich empfand und nicht gänzlich unterdrücken konnte. »Darf ich dir eine Frage stellen?«, brach es aus ihr hervor.

»Welche Frage?« Dragosz sagte nicht ja.

»Grahl hat erzählt, du und deine Männer hättet sie völlig grundlos angegriffen«, begann Arri. »Warum habt ihr das getan?«

»Ich und...?« Dragosz schüttelte überrascht den Kopf. »Ich war allein. Und sie haben mich angegriffen, ohne Grund und ohne dass ich irgendetwas getan hätte. Genau wie die Männer vor drei Nächten.«

Arri hätte nicht sagen können, warum, aber sie glaubte Dragosz. Auch wenn sie ihn ja praktisch kaum kannte, meinte sie doch genug über ihn zu wissen, um sicher zu sein, dass er nicht log. Welchen Grund sollte er auch dafür haben?

Sie wollte etwas sagen, doch in diesem Moment hob Dragosz warnend die Hand und legte zugleich den Kopf auf die Seite, um mit geschlossenen Augen zu lauschen, und nur einen halben Atemzug später hörte Arri es auch: Leichte, fast - aber eben nur fast - lautlose Schritte näherten sich, und sie vernahm ein Rascheln wie von Stoff, der über trockenes Laub strich. Dragosz spannte sich, und seine unverletzte Hand glitt unter den Umhang, vermutlich, um nach einer Waffe zu tasten, die er dort trug, und nun war es Arri, die rasch die Hand hob und eine besänftigende Geste machte. Laut und mit weithin hörbarer Stimme sagte sie: »Du kannst ruhig herauskommen, Mutter. Es ist nur Dragosz.«

Dragosz sah sie verwirrt an. Für die Dauer von zwei oder drei Atemzügen wurde es vollkommen still, dann wiederholte sich das Rascheln, sie hörte das Brechen von Zweigen, und ohne sich umdrehen zu müssen, wusste sie, dass ihre Mutter hinter ihnen aus dem Unterholz heraustrat und mit schnellen Schritten näher kam. Dragosz’ Verwirrung nahm noch zu, aber dann wandte er sich halb um, um Lea entgegenzusehen, allerdings nicht, ohne Arri vorher einen kurzen, anerkennenden Blick zugeworfen zu haben. Oder war es etwas anderes?

»Was tust du hier?«, herrschte Lea Dragosz an; laut, unüberhörbar wütend und ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten.

»Ja, ich freue mich auch, dich zu sehen«, antwortete Dragosz spöttisch. »Mir geht es übrigens schon wieder besser - nur, falls du es wissen wolltest.«

Verwirrt sah Arri zuerst ihre Mutter, dann Dragosz und schließlich wieder ihre Mutter an. Lea hatte das Schwert gezogen und funkelte Dragosz so wütend an, als könnte sie sich gerade noch beherrschen, sich nicht auf ihn zu stürzen. Seltsam - Arri konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Zorn ihrer Mutter mindestens ebenso sehr ihr selbst wie Dragosz galt, obwohl sie sich weder für das eine noch für das andere irgendeinen Grund vorstellen konnte.

Es verging noch eine kleine Weile, dann konnte sie regelrecht sehen, wie ihre Mutter sich innerlich zur Ordnung rief. Mit einem Ruck schob sie das Schwert wieder in die lederne Schlaufe an ihrem Gürtel, schlug in der gleichen Bewegung den Umhang zurück und schwang sich mit einem kraftvollen Satz auf den Wagen. Das ganze Gefährt erzitterte unter ihrem Aufprall, und die Pferde wieherten unruhig. Ohne ein Wort zu sagen, ließ sich Lea vor Dragosz in die Hocke sinken, nestelte an seinem Umhang herum und streifte das Kleidungsstück dann mit einem Ruck ab. Dragosz biss die Zähne zusammen, konnte einen schmerzerfüllten Seufzer aber nicht ganz unterdrücken, und auch Arri riss erstaunt und erschrocken die Augen auf, als sie sah, wie unförmig die Schulter unter dem Umhang angeschwollen war. In den durchdringenden Geruch nach Heilkräutern, den der Verband bisher verströmt hatte, mischte sich etwas anderes, Schlimmeres.

Lea machte sich - Dragosz’ Reaktion nach zu schließen, alles andere als sanft - an seiner Schulter zu schaffen und schüttelte schließlich den Kopf. »Entweder du hast es darauf angelegt, dich umzubringen, oder du überschätzt meine Heilkräfte und hältst mich tatsächlich für eine Zauberin. Ich kann dir versichern, dass ich es nicht bin. Sprichst du unsere Sprache so schlecht, oder hast du alles vergessen, was ich dir gesagt habe?«

»Das ist nur eine Schramme«, antwortete Dragosz, der sich dabei ungefähr so glaubwürdig wie ein trotziges Kind anhörte.

»Die sich bereits entzündet hat«, fügte Lea verärgert hinzu. »Ich habe dir gesagt, dass du dich schonen sollst. Ich habe dir gesagt, dass du den Verband täglich wechseln musst und die Salbe auftragen sollst, die ich dir gegeben habe. Gibt es noch etwas, was ich dir gesagt habe und was du in den Wind geschlagen hast?«

»Das eine oder andere«, brummte Dragosz. Lea wollte erneut auffahren, aber diesmal brachte er sie mit einem Blick zum Verstummen. »Ich bin gekommen, um dich zu warnen. Du darfst nicht zurück in euer Dorf gehen.«

»Warum?«, fragte Arri anstelle ihrer Mutter.

Lea warf ihr einen erbosten Blick zu, wandte sich dann aber wieder zu Dragosz und fragte ebenfalls: »Warum?«

»Ich habe Nachricht aus Goseg bekommen«, antwortete Dragosz. Goseg?, dachte Arri verwirrt. Was wusste Dragosz von Goseg? »Euer Schamane hat einen Boten nach Goseg geschickt. Meine Männer haben ihn abgefangen, keine Sorge. Er wird sein Ziel nie erreichen. Doch wenn er keine Antwort bekommt, wird er einen weiteren schicken, und dann noch einen und noch einen. Ich kann nicht euer ganzes Dorf auslöschen lassen.«

»Sarn?«, wiederholte Lea verwirrt. »Aber was...?«

»Ich weiß nicht, woher, aber er weiß, was geschehen ist. Er hat einen Boten mit der Bitte um Hilfe nach Goseg geschickt, und ich glaube, du weißt ebenso gut wie ich, was das für dich und deine Tochter bedeutet.«

Trotz des schwachen Lichtes konnte Arri sehen, wie ihre Mutter erbleichte. »Sarn weiß von... von Targan und seiner Familie?«, murmelte sie, brach ab, schüttelte verwirrt den Kopf und sah dann zu Arri, als erwarte sie ernsthaft von ihr eine Antwort. »Aber wie ist das möglich? Er kann unmöglich erfahren haben, was geschehen ist. Er wusste ja nicht einmal, wohin wir unterwegs waren!«

»Offensichtlich doch. Anscheinend war dein Geheimnis nicht ganz so gut bewahrt, wie du geglaubt hast.« Dragosz warf einen bezeichnenden Blick in Arris Richtung, den Lea jedoch mit einem eindeutig ärgerlichen Kopfschütteln beantwortete.

»Arianrhod wusste nichts davon.«

»Euer Schamane offenbar schon«, beharrte Dragosz. »Kommt mit mir. Es wird ein paar Tage dauern, bis Sarn begreift, dass sein Bote anscheinend nicht angekommen ist, aber danach wird er etwas unternehmen. Und ich fürchte«, fügte er mit einer Grimasse und einer angedeuteten Geste auf seine verletzte Schulter hinzu, »dass ich im Augenblick nicht in der Verfassung bin, euch zu beschützen.«

»Nun ja«, dachte Arri, »bisher konnten wir auch ganz gut allein auf uns aufpassen.« Jedenfalls glaubte sie, es nur zu denken - bis sowohl Dragosz als auch ihre Mutter gleichzeitig den Kopf drehten und sie jeder auf unterschiedliche Weise ansahen. Dragosz wirkte leicht gekränkt, während der ärgerliche Ausdruck in den Augen ihrer Mutter noch zugenommen zu haben schien; aber es war auch ein leicht belustigtes Funkeln darin, das sie zwar mit Mühe zu unterdrücken versuchte, was ihr aber nicht wirklich gelang.

»Mach dir darüber keine Sorgen«, sagte Lea schließlich, wieder an Dragosz gewandt. »Arianrhod und ich...«

»... ihr könnt ganz gut auf euch selbst aufpassen«, sagte Dragosz, wobei er einen kurzen, ebenso ärgerlichen wie spöttischen Blick in Arris Richtung abschoss. »Ich weiß. Trotzdem wäre es mir lieber, ihr würdet mich gleich begleiten.«

Lea schüttelte entschieden den Kopf. »Es gibt noch ein paar Dinge, die ich in Ordnung bringen muss. Vielleicht nicht annähernd so viele, wie ich möchte, aber einiges muss noch getan werden.«

Seinem verstörten Blick nach zu schließen, konnte Dragosz mit diesen Worten ungefähr ebenso viel anfangen wie Arri - nämlich nichts -, doch er schien Lea mittlerweile gut genug zu kennen, um es nicht noch einmal zu versuchen. Stattdessen griff er umständlich mit dem rechten Arm hinter seine linke Schulter und versuchte, den Umhang wieder hochzuziehen. Lea sah ihm einige Augenblicke lang - zwar mit unbewegtem Gesicht, aber dennoch spürbarer Schadenfreude - zu, wie er sich vergeblich bemühte, dann half sie ihm, stand in derselben Bewegung auf und machte eine Geste, wie um auch ihm beim Aufstehen behilflich zu sein. Dragosz warf ihr einen ärgerlichen Blick zu und arbeitete sich umständlich und schwankend in die Höhe. »Ganz, wie du willst«, erklärte er verdrießlich. »Aber sag hinterher bitte nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

»Ganz bestimmt nicht«, erwiderte Lea. »Ich werde es nicht sagen, wenn ich keinen Grund dafür habe. Und sollte es einen geben, werde ich es wahrscheinlich nicht mehr sagen können.«

Dragosz blinzelte. »Wie?«

»Schon gut«, winkte Lea ab. »Vielleicht trifft es sich sogar ganz gut, dass du hier bist.«

»Wieso?«, fragte Dragosz mit einer ganz offensichtlichen Mischung aus Hoffnung und Misstrauen, wobei Leas Antwort Ersteres sogleich wieder überflüssig machte.

»Der Wagen«, antwortete sie. »Ich war nicht ganz sicher, ob ich ihn einfach hier lassen kann. Er ist ein bisschen zu groß, um ihn zu verstecken.«

Der Ausdruck auf Dragosz’ Gesicht wurde noch ein wenig hilfloser. »Du...«

»... nimmst ihn einfach mit«, unterbrach ihn Lea. »In deinem Zustand würde ich dir ohnehin von einem Zwei-Tage-Marsch abraten. Mit dem Wagen schaffst du es deutlich schneller als zu Fuß.«

Dragosz presste nur ärgerlich die Lippen aufeinander, ersparte sich aber jetzt jede Antwort - zu einem Teil sicher, weil auch er mittlerweile wusste, wie Unterredungen mit Arris Mutter im Allgemeinen endeten, möglicherweise aber auch, weil sie mit ihren Worten weniger weit von der Wahrheit entfernt war, als er zugeben wollte. Obwohl er sich ausgezeichnet in der Gewalt hatte, spürte selbst Arri, wie schwer es ihm fiel, sich auch nur auf den Beinen zu halten. Sie fragte sich, ob er den ganzen Weg, den sie auf dem Wagen liegend und schlafend verbracht hatte, zu Fuß zurückgelegt haben mochte, in derselben Zeit wie sie und noch dazu schwer verletzt. Wenn ja, dann war es kein Wunder, dass er dem Zusammenbruch näher war als irgendetwas anderem.

Diese Frage führte sie zu einer anderen, deren Antwort vielleicht noch viel beunruhigender war: nämlich der, warum Dragosz nicht mit ihnen auf dem Wagen gefahren war - und warum ihre Mutter sich so wenig begeistert von seinem plötzlichen Auftauchen zeigte.

»Ganz wie du willst«, sagte er noch einmal, jetzt aber in eindeutig trotzigem Ton. »Du bist alt genug, um zu wissen, was du tust.«

So, wie er das sagte, hörte es sich allerdings nicht so an, als ob er es auch wirklich glaubte. Allerdings sah er auch nicht so aus, als wollte er auf der Stelle Leas Vorschlag annehmen und mit dem Wagen nach Hause fahren, oder überhaupt irgendwohin. Er stand einfach nur da, blickte sie an und wartete sichtlich darauf, dass sie etwas sagte, und Lea ihrerseits stand da und hielt seinem Blick gelassen, aber mit wachsendem Unwillen stand. Die Situation begann aberwitzig zu werden.

»Warum warten wir nicht einfach bis Sonnenaufgang?«, schlug Arri vor. »Wir wollten doch ohnehin hier lagern. Dragosz könnte sich ausruhen, und wir...«, sie suchte nach Worten, »... wir wären nicht allein.«

Sie kam sich ein bisschen albern bei diesen Worten vor, und wenn sie den Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter richtig deutete, hätte diese noch einige ganz andere, weit weniger schmeichelhafte Bezeichnungen dafür gefunden. Dragosz aber nahm die Hand, die sie ihm - eindeutig gegen den Willen ihrer Mutter - entgegenstreckte, dankbar und sehr schnell an.

»Eine gute Idee«, sagte er rasch. »Vielleicht gelingt es mir bis morgen früh ja noch, dich zur Vernunft zu bringen.«

»Ganz bestimmt nicht«, versetzte Lea. »Du...« Sie schluckte den Rest dessen, was sie eigentlich aussprechen wollte, mit mühsamer Beherrschung herunter, drehte sich mit einem Ruck um und sprang ansatzlos und mit einem federnden Satz vom Wagen. »Aber meinetwegen, wenn es euch glücklich macht. Ihr könnt ja schon einmal das Abendessen vorbereiten, eine Blätterhütte bauen und ein gemeinsames Lied anstimmen, bis ich zurück bin.«

»Wohin gehst du?«, fragte Arri.

»Ich schaue mich um«, antwortete ihre Mutter. »Ich will nur sichergehen, dass wir während unseres romantischen Familienabends keinen unangemeldeten Besuch bekommen.«

»Aber...«, begann Arri, doch Dragosz legte ihr rasch die Hand auf die Schulter, und sie verstummte mitten im Satz. Es hätte auch keinen Sinn mehr gehabt, noch etwas zu sagen. Sie hörte erneut das Brechen von Zweigen und das Knistern von trockenem Laub unter schnellen, fast stampfenden Schritten, dann war ihre Mutter im Wald verschwunden. Hilflos blickte Arri ihr nach. Sie hatte ihre Mutter niemals für eine geduldige oder gar sanftmütige Frau gehalten, nun aber benahm sie sich eindeutig kindisch.

»Lass sie«, sagte Dragosz. »Sie wird schon wieder zur Besinnung kommen. Und vielleicht hat sie sogar Recht.«

»Womit?«, fragte Arri.

»Sich umzusehen«, antwortete er rasch. »Wir sind ein gutes Stück von eurem Dorf entfernt, aber derzeit ist es wohl besser, sicherzugehen.«

»Doch niemand weiß von diesem Ort.«

»So, wie auch niemand von euren Freunden gewusst hat?« Dragosz schüttelte abermals den Kopf, ließ sich neben ihr in die Hocke und gleich darauf erneut mit untergeschlagenen Beinen in eine erschöpft sitzende Haltung sinken; und das gewiss nicht nur, um auf gleicher Höhe mit ihr zu reden.

»Ich verstehe nicht, wie er davon wissen konnte«, gab Arri hilflos zurück. »Nicht einmal ich wusste, wohin wir fahren!«

»Deine Mutter ist eine sehr kluge Frau, Arianrhod«, antwortete Dragosz. »Aber sie ist auch eine sehr starke Frau, und sie begeht den gleichen Fehler, den viele begehen, die um ihre Stärke wissen. Sie neigt dazu, ihre Gegner zu unterschätzen. Dieser Sarn mag der alte Narr sein, für den deine Mutter ihn hält, aber er ist ganz bestimmt kein Dummkopf. Ich an seiner Stelle hätte schon vor Jahren herausgefunden, wohin deine Mutter dann und wann verschwindet, um mit einem Wagen voller Schätze zurückzukehren.«

Arri sah ihn nur verwirrt an. Wahrscheinlich hatte er Recht. Aber das war es nicht, warum sie das Verhalten ihrer Mutter so irritierte. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie geschworen, dass Lea... eifersüchtig war.

Aber das war natürlich Unsinn.

»Woher kennst du meine Mutter?«, fragte sie nach einer Weile und noch immer in die Richtung blickend, in der Lea in der vollkommenen Schwärze der Nacht verschwunden war. Sie wusste selbst nicht genau, warum sie diese Frage stellte, noch dazu ausgerechnet jetzt - vielleicht einfach nur, um das plötzlich immer unangenehmer werdende Schweigen zwischen ihnen zu durchbrechen -, aber für Dragosz schien sie nicht annähernd so harmlos zu sein, wie sie geglaubt hatte. Seine Hand, die noch immer (oder schon wieder? Sie wusste es nicht) auf ihrer Schulter lag, versteifte sich kurz - vielleicht nur für den zehnten Teil eines Atemzuges, aber dennoch lange genug, dass sie es merkte, und seine Stimme klang ein ganz kleines bisschen angespannt, als er antwortete.

»Warum?«

»Nur so«, behauptete Arri, was zugleich die Wahrheit wie auch eine Lüge war.

Dragosz zog den Arm zurück, hob die Schultern und ließ seine Hand dann erneut auf ihren Unterarm sinken; nur, dass seine Berührung jetzt irgendwie... anders war. Sie konnte nicht sagen wie, aber sie war auf sonderbare Weise angenehmer.

»Vielleicht solltest du deine Frage anders stellen«, sagte er. »Richtiger wäre mich zu fragen, wie ich das erste Zusammentreffen mit deiner Mutter überlebt habe.«

Arri sah ihn zweifelnd an. Sie erinnerte sich gut, wie sie Dragosz und ihre Mutter das erste Mal zusammen gesehen hatte. Nach Feindschaft hatte es irgendwie nicht ausgesehen; und eigentlich auch nicht nach einem Kampf auf Leben und Tod.

Dragosz grinste, als hätte er ihre Gedanken gelesen, und wahrscheinlich hatte er es auch, auf eine gewisse Weise. »Es war zwei Tage nach meiner... Begegnung mit euren Männern. Die, die ich für Krieger aus Goseg gehalten habe.«

Das waren Worte, die Arri im Augenblick zwar hinnahm, sich aber ganz bewusst für später merkte, um noch einmal darüber nachzudenken. Da Dragosz offensichtlich auf eine Reaktion ihrerseits wartete, sah sie ihn offen an und nickte dann übertrieben, und Dragosz fuhr fort: »Weißt du, Arianrhod, ich war einfach nur neugierig.«

»Worauf?«

»Ich habe mich gefragt, was das für Menschen sind, die ihre Waffen ziehen und sofort angreifen, sobald sie einen Fremden sehen. Einfach so, ohne einen Grund, ohne eine Frage zu stellen, ohne...« Er suchte nach Worten.

»Ich verstehe«, sagte Arri, und das war sogar die Wahrheit. Sie kannte Grahl und seine Brüder gut genug, um Dragosz vorbehaltlos zu glauben - zumindest, was seine Schilderung des Zusammenstoßes mit den drei Jägern anging.

»Es war gar nicht einmal weit von hier«, fuhr er fort, und er klang dabei fast belustigt. Seine Hand lag noch immer auf ihrem Arm, aber sie war nun nicht mehr - ganz - still. Seine Finger strichen langsam über ihre Haut, und es war etwas an dieser Berührung, was sie fast unerträglich machte; aber auf eine vollkommen andere Art, als sie es jemals kennen gelernt hatte. Arri wollte den Arm schreiend zurückziehen und Dragosz am liebsten die andere Hand ins Gesicht schlagen; aber zugleich sehnte sie sich auch nach nichts mehr als danach, dass diese Berührung anhielt; und er vielleicht nicht nur ihr Handgelenk streichelte.

»Ganz plötzlich stand deine Mutter vor mir«, fuhr Dragosz fort. Er lächelte gequält. »Eine Frau. Eine wunderschöne Frau, verstehst du?«

»Nein«, antwortete Arri wahrheitsgemäß.

»Bei meinem Volk«, sagte Dragosz, »sind Frauen eben... Frauen.«

»Bei unserem auch«, erwiderte Arri trocken.

»Nicht so«, sagte Dragosz. »Kein Weib...«, war es Zufall, dachte Arri, dass er plötzlich dieses Wort gebrauchte?, »... unseres Volkes würde ein Schwert tragen. Deine Mutter hat ein Schwert getragen... und beim großen Donnergott, nicht nur als Zierrat. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte mich getötet.«

»Weil du überrascht warst?«, fragte Arri.

»Weil sie so gut war«, antwortete Dragosz mit einer verlegenen Grimasse. »Du hast Recht: Ich habe sie nicht ernst genommen. Im ersten Moment. Im zweiten war ich überrascht, und im dritten und all den Momenten danach hatte ich alle Hände voll damit zu tun, am Leben zu bleiben.« Er lachte. »Ist es wahr, dass deine Mutter früher Priesterin war?«

»Ja.«

»Dann möchte ich die Götter, denen sie gedient hat, nicht zu Feinden haben«, sagte Dragosz ernst. »Hast du deine Mutter jemals kämpfen sehen?«

Arri wollte den Kopf schütteln, aber dann erschien plötzlich ein Bild vor ihrem inneren Auge: Sie sah ihre Mutter und das Schwert, das plötzlich in ihrer Hand erschien und den Mann enthauptete, der Runa getötet hatte; so schnell, dass sie die Bewegung nicht einmal wirklich sah. Sie sagte nichts, aber dieses nichts war Dragosz offenbar Antwort genug.

»Sie hat mich besiegt«, gestand Dragosz rundheraus. »Zuerst habe ich sie unterschätzt, dann war ich überrascht, und dann hatte ich ihr Schwert an der Kehle.«

»Aber nicht sehr lange«, vermutete Arri.

»Länger als mir lieb war«, sagte Dragosz mit übertriebener Zerknirschung. »Vielleicht nur ein paar Augenblicke, aber sie sind nicht besonders lustig, wenn du ein Schwert an der Kehle hast und die Wärme spürst, mit der dein eigenes Blut an deinem Hals herunterläuft.«

»Aber sie hat dich nicht getötet«, bemerkte Arri überflüssigerweise.

»Viel hat allerdings nicht gefehlt.« Dragosz strich sich mit der freien Hand über die Kehle und verzog die Lippen, als reiche allein die Erinnerung aus, um ihn die Schwertklinge wieder spüren zu lassen. Seine andere Hand blieb weiter auf ihrem Arm liegen; oder auch nicht - seine Fingerspitzen strichen sanft und anscheinend beiläufig über ihre Haut, und eigentlich hätte die Berührung allmählich unangenehm werden müssen, denn seine Fingerspitzen waren rau und so hart wie altes Holz und strichen immer wieder über dieselbe Stelle, aber das genaue Gegenteil war der Fall.

»Und wieso hat sie dich nicht getötet?«

»So genau weiß ich das selbst nicht«, gestand Dragosz. »Ich nehme an, ein einziges falsches Wort hätte genügt, und sie hätte es getan.« Er nahm endlich die Hand herunter - die von seinem Hals, nicht die von ihrem Arm - und lächelte erneut gequält. »Wahrscheinlich hat sie die Geschichte nicht geglaubt, die dieser...?«

»Grahl.«

»Grahl...«, Dragosz nickte, »... erzählt hat. Wäre es anders gewesen, wäre es vielleicht übel für mich ausgegangen.« Plötzlich grinste er. »Ich weiß gar nicht, warum ich dir das erzähle. Wenn meine Leute erfahren, dass ich von einer Frau besiegt worden bin, bin ich erledigt.«

»Du meinst, ich habe dich jetzt in der Hand?«, fragte Arri mit einem treuherzigen Blick.

»Ja«, seufzte Dragosz. »Dumm von mir.«

»Mach dir keine Sorgen«, beruhigte ihn Arri. »Ich werde dich nicht verraten - jedenfalls nicht, so lange du tust, was ich von dir verlange.«

»Wieso überrascht mich nicht, dass du das sagst?«, murrte Dragosz. Sein Gesicht verfinsterte sich, aber seine Fingerspitzen spielten weiter mit ihrem Handgelenk und schienen jetzt den Takt zu einem lautlosen Lied zu trommeln. »Habe ich schon erwähnt, dass du deiner Mutter sehr ähnlich bist?«

»Ein oder zwei Mal.« Plötzlich spürte Arri, wie kalt es wirklich geworden war. Ein eisiger Schauer lief über ihren Rücken, und sie bekam eine Gänsehaut. Dragosz zog sie ein wenig dichter an sich heran und legte ihr einen Teil seines Umhangs über die Schulter, aber das wollte sie nicht. Fast erschrocken glitt sie wieder unter dem warmen Fell hervor, machte sich aber nicht aus seinem Griff los, sondern sah ihn nur einen Herzschlag lang verlegen an, ehe sie sich - sehr vorsichtig - gegen seine Schulter lehnte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, indem sie ihm so nahe kam, aber zugleich war es auch ein sehr angenehmes Gefühl. Sein Umhang war warm, und das Fell, aus dem er gemacht war, viel weicher, als sie seinem Aussehen nach vermutet hätte. Dragosz versuchte nicht noch einmal, sie unter seinen Umhang zu nehmen, legte ihr aber nun den Arm um die Schulter, um sie auf diese Weise wenigstens ein bisschen zu wärmen.

»Und weiter?«, fragte sie.

»Was - weiter?«

Als ob er das nicht wüsste! »Was ist weiter passiert«, fragte Arri, »nachdem dir meine Mutter nicht die Kehle durchgeschnitten hat?«

»Wir haben geredet«, antwortete Dragosz.

»Ja, das habe ich gesehen. Ich meine: Vorher. Bevor ihr geredet habt.«

Ganz kurz hatte sie das Gefühl, zu weit gegangen zu sein, denn obwohl Dragosz vollkommen reglos dasaß, schien er sich für einen Moment doch innerlich zu versteifen; als wäre etwas in ihm erloschen. Aber wenn, dann war es im nächsten Augenblick schon wieder da. Seine Finger begannen mit ihrem Haar zu spielen; ganz sacht nur, aber auf eine völlig andere Art, als sie sie kannte. Wieder lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken, doch sie war plötzlich nicht mehr sicher, ob er nur von der Kälte kam.

»Ich glaube nicht, dass dich das etwas angeht, Arri«, sagte er belustigt. Es war das erste Mal, dass er sie mit diesem Namen ansprach, statt sie Arianrhod zu nennen, und sie glaubte nicht, dass das Zufall war. »Oder dass deine Mutter einverstanden ist, wenn wir uns darüber unterhalten.«

»Dann haben wir eben jetzt zwei Geheimnisse«, antwortete Arri, ebenso ärgerlich darüber, dass er sie plötzlich wieder wie ein Kind behandelte, wie über die Tatsache, dass ihre Mutter ihm ihren Kindernamen überhaupt verraten hatte. »Und ich behalte das eine für mich, wenn du mir das andere verrätst.«

Dragosz schien dies nun nicht mehr lustig zu finden. Er sagte zwar nichts, aber seine Finger hörten auf, ihr Haar zu kringeln. Für eine Weile saßen sie einfach schweigend beieinander, und ohne dass Arri es auch nur bemerkte, kuschelte sie sich immer enger an seine Schulter und versuchte dabei, sich einzureden, dass es nur die Wärme seines Umhangs war, die sie spürte, und das sonderbare Gefühl in ihrem Inneren die Erleichterung, endlich einen Menschen getroffen zu haben, der nicht ihr Feind war und dem sie vorbehaltlos vertrauen konnte.

Dragosz’ Finger spielten wieder weiter mit ihrem Haar, und schließlich ließ Arri den Kopf zur Seite sinken und schmiegte ihre Wange gegen seine Hand. Für einen Moment erstarrte er, als hätte ihn diese Bewegung nicht nur völlig überrascht, sondern als wüsste er auch nicht genau, wie er damit umgehen sollte. Arri wollte sich schon wieder aufrichten und ein Stück weit von ihm wegrücken, denn um nichts auf der Welt wollte sie diesen kostbaren Moment zerstören oder ihn zu etwas machen, was er niemals sein durfte. Dann aber fuhren Dragosz’ Finger fort, mit ihrem Haar zu spielen, und streichelten dabei gleichzeitig ihr Gesicht.

Ein sanfter Schauer durchfuhr Arri. Sie gab den Widerstand gegen sich selbst auf und versuchte jetzt nicht mehr, sich einzureden, dass das, was sie fühlte, irgendetwas anderes war als das, was es nun einmal war, aber diese Erkenntnis erschien ihr sonderbar undramatisch; sie hatte erwartet, von Schuldgefühlen geplagt und von ihrem schlechtem Gewissen gequält zu werden, doch nichts von alledem war der Fall. Seine Umarmung vermittelte ihr eine Wärme, die ihr weder zustand noch, dass sie sie wirklich haben wollte - aber es war ein Gefühl, gegen das sie wehrlos war. Vielleicht, weil sie sich tief in sich selbst auch gar nicht dagegen wehren wollte.

Für die Dauer von fünf oder auch zehn schweren Herzschlägen blieb sie reglos und mit geschlossenen Augen so sitzen und erkundete das neue, verbotene Gefühl von Wärme und Verlangen, das sich in ihrem Schoß breitmachte und rasch nach ihrem Herzen griff, dann öffnete sie die Augen wieder und drehte langsam den Kopf so, dass Dragosz ihre Wange weiter streicheln, sie ihn zugleich aber auch ansehen konnte. Trotz der fast vollkommenen Dunkelheit erkannte sie sein Gesicht nun deutlicher und klarer als jemals zuvor, denn sie waren sich auch noch nie so nahe gewesen. Er war schmutzig. Der kalte Schweiß, der auf seinem Gesicht eingetrocknet war, und das bleiche Licht des Nachthimmels ließen ihn kränklich und müde aussehen, aber Arri erkannte trotzdem, dass er deutlich jünger war, als sie bisher angenommen hatte.

Das Fehlen eines wild wuchernden Bartes, das sein Gesicht so fremdartig und faszinierend zugleich erscheinen ließ, machte es ihr vollkommen unmöglich, sein Alter auch nur zu schätzen; dennoch war sie plötzlich sicher, dass er ihrem Alter weit näher war als dem ihrer Mutter. Und noch etwas bewirkte dieser Blick: Er machte ihre Frage nahezu überflüssig. Plötzlich wusste sie, warum ihre Mutter diesen Fremden nicht nur verschont, sondern sich auch mit ihm eingelassen hatte. Da war etwas in seinem Gesicht, vielleicht in seinen Augen, was sie auf eine unmöglich in Worte zu fassende Weise anzog. Vielleicht war es das Fremdartige an ihm, aber vielleicht war da auch noch mehr, und was immer es war - Arri war sicher, dass es ihrer Mutter ganz genau so ergangen sein musste.

Arri fragte sich im Stillen, was wohl geschehen wäre, hätte Dragosz zuerst sie und nicht ihre Mutter getroffen. »Wohin wirst du uns bringen?«, fragte sie laut.

Dragosz zögerte eine Antwort hinaus. Seine Finger streichelten weiter ihre Wange, fuhren nun aber auch sanft an ihrem Hals hinab und wieder herauf. »Zuerst einmal in unser Lager«, sagte er schließlich.

»Zuerst?«, fragte Arri. »Und... dann?«

»Wohin auch immer wir gehen.«

Das verstand Arri nicht. »Was soll das heißen - wohin auch immer ihr geht?«

»Mein Volk ist auf der Suche nach einer neuen Heimat«, erwiderte Dragosz. Seine Fingerspitzen streichelte jetzt ihren Nacken, was kitzelte, zugleich aber auch einen wohligen Schauer auslöste, der durch Arris ganzen Körper rann. »Ich weiß noch nicht, wohin uns das Schicksal und der Wille der Götter führen werden. Niemand weiß es.«

»Warum habt ihr eure alte Heimat verlassen?«, wollte Arri wissen. »Seid ihr vertrieben worden?«

Ein rasches, bitteres Lächeln huschte über Dragosz’ Lippen und erlosch ebenso schnell wieder, wie es gekommen war. »Ja, so könnte man es nennen.«

»Was meinst du damit?« Arri richtete sich nun doch ein winziges Stück auf, um ihm direkt ins Gesicht sehen zu können. Dragosz’ Worte verwirrten sie, aber sie beunruhigten sie auch ein kleines bisschen. Immerhin hatte dieser Mann es zweimal mit drei Gegnern gleichzeitig aufgenommen und diese Kämpfe nicht nur überlebt, sondern auch noch seine Gegner verwundet und einen, Grahls älteren Bruder Ans, bei dem angeblichen Überfall durch eine feindliche Horde, die er in Wirklichkeit ganz allein gewesen war, erschlagen. Sie konnte sich keinen Feind vorstellen, der ein Volk zu besiegen vermochte, das über so mächtige Krieger verfügte.

»Die Götter waren gegen uns«, sagte Dragosz. »Einst waren wir ein sehr mächtiges und stolzes Volk. Wir waren viele, und wir mussten keinen Feind fürchten. Aber das ist lange her. Zu der Zeit, als ich noch ein Kind war, brachten unsere Jäger reiche Beute nach Hause, in den Wäldern gab es Früchte und Beeren und Wurzeln, so viel wir nur brauchten, und die Ernten waren gut und so reichlich, dass wir Handel mit unseren Nachbarn treiben konnten. Jedenfalls hat man es mir so erzählt. Aber dann wurden die Winter länger und die Sommer heißer. Das Korn begann auf den Feldern zu verdorren, bevor es eingebracht werden konnte, die Flüsse führten weniger Wasser und hatten weniger Fische, und das Wild wanderte fort. Wir konnten nicht bleiben. Viele sind gestorben, in den letzten Jahren, und noch mehr wären ihnen gefolgt, wären wir im Land unserer Vorfahren geblieben. Also suchen wir eine neue Heimat.« Er lächelte traurig. »Siehst du - so einfach ist das.«

Seine Worte berührten Arri auf eigenartige Weise. Auch wenn sich seine Geschichte im ersten Moment so vollkommen anders anhörte, so ähnelte sie doch der, die ihre Mutter ihr erzählt hatte. Sie beide hatten ihre Heimat verloren, und im Grunde war es gar kein so großer Unterschied, dass Leas Welt in einer einzigen Nacht und in Feuer und Sturm untergegangen war, während die, aus der Dragosz und die Seinen stammten, einen stillen und schleichenden Tod gestorben war. Sie beide waren Heimatlose auf dem Weg in eine Ungewisse Zukunft. Vielleicht war es ja das, dachte sie, was Dragosz und ihre Mutter verband. Aber wenn dem so war, dann galt es auch für sie, und jetzt, wo sie kurz davor waren, ihre Heimat endgültig zu verlassen, umso mehr.

»Liebst du meine Mutter?«, fragte sie mit einem Mal.

Dragosz’ Hand erstarrte in ihrem Nacken. Jetzt war sie zu weit gegangen. Aber der scharfe Verweis, auf den sie wartete, blieb aus. Dragosz sah sie nur durchdringend an. Seine Hand lag plötzlich schwer und fast kalt auf ihrem Nacken, aber er zog sie auch nicht zurück. »Warum fragst du das?«, meinte er schließlich.

»Weil sie meine Mutter ist«, antwortete Arri. »Ich will nicht, dass ihr wehgetan wird.«

»Unsinn«, sagte Dragosz hart. »Du glaubst doch nicht...« Er zog die Hand nun doch - fast erschrocken - zurück und räusperte sich unbehaglich. »Wenn du ein paar Jahre älter wärst, und vor allem nicht Leandriis’ Tochter, könntest du mir wahrscheinlich sogar gefallen, aber so...«

»So gefalle ich dir nicht?«

»Ich glaube, du weißt genau, was ich meine, Arri. Es gibt Dinge, die man tut, und Dinge, die man nicht tut.« Dragosz’ Blick wurde hart, aber er rührte trotzdem keinen Finger, um sie von sich wegzuschieben oder sie auch nur aus seiner Umarmung zu entlassen. Nach einigen weiteren Augenblicken ließ er die Hand sogar wieder auf ihre Schulter sinken.

»Ich wollte doch nur...«

»Ich weiß, was du wolltest«, unterbrach Dragosz sie barsch. »Ich...« Er brach ab, wirkte für einen Moment beinahe hilflos und rettete sich schließlich in ein leicht verunglücktes Lächeln. »Entschuldige. Vielleicht... war ich jetzt ein wenig zu heftig. Ich wollte dich nicht beleidigen. Du gefällst mir, wirklich. Du bist ein sehr hübsches Mädchen. Aber du bist auch Leandriis’ Tochter - und außerdem bin ich viel zu alt für dich. Ich könnte beinahe dein Vater sein.«

»Unsinn«, antwortete Arri. »So alt bist du noch nicht. Und selbst wenn: Nor hat eine Frau, die jünger ist als ich, und er ist alt genug, um mein Urgroßvater zu sein.«

»Nor? Der Hohepriester aus Goseg, von dem deine Mutter mir erzählt hat?«

Arri nickte, und Dragosz zog eine beleidigte Grimasse. »Vielen Dank, dass du mich mit dieser alten Krähe vergleichst.« Er lachte. »Würde es dir etwas ausmachen, das Thema zu wechseln?«

Wenn alles wirklich so war, wie er behauptete, dachte Arri, warum nahm er dann den Arm nicht von ihrer Schulter oder setzte sich wenigstens so hin, dass ihr Kopf nicht mehr an seiner Wange lag? Da war ein deutlicher Unterschied zwischen dem, was seine Worte ihr mitteilten, und dem, was sein Körper sagte. Arri lauschte in sich hinein. Das verzehrende Verlangen war so gründlich erloschen, als hätte es niemals existiert, und an seiner Stelle verspürte sie plötzlich eine mindestens ebenso große schmerzende Leere. Dann Zorn. Wieso zeigte er ihr etwas so Wundervolles, nur um es ihr sofort wieder wegzunehmen? Legte er es darauf an, sie zu quälen, oder war es nur irgendein grausames Spiel, wie es Erwachsene manchmal mit Kindern spielten? Verdammt, sie war kein Kind mehr, schon lange nicht mehr! Sie war eine erwachsene Frau, und er hatte kein Recht, so mit ihr umzuspringen!

»Also, wie ist es?«, fragte Dragosz. »Sind wir noch Freunde?« Noch, dachte Arri, würde bedeuten, dass sie es schon gewesen waren. Waren sie es? Sie sah ihn nur an.

Ihr Schweigen schien Dragosz’ Missfallen zu erwecken, denn auf seinem Gesicht erschien nun zum ersten Mal ein Ausdruck von echtem Unmut, doch gerade als er dazu ansetzen wollte weiterzureden, erklang wieder das Geräusch brechender Zweige, und schnelle Schritte näherten sich. Arri löste sich fast erschrocken aus Dragosz’ Arm und bewegte sich hastig ein kleines Stück weit von ihm weg, und auch Dragosz schob sich hastig mit dem Rücken an der hölzernen Wand in die Höhe. Als ihre Mutter den Wagen erreichte, saßen sie auf mehr als Armeslänge auseinander - aber sogar Arri fiel auf, dass Dragosz wie ein Mann aussah, der gerade sein Dorf um die Jagdbeute betrogen hatte. Und was sie selbst anging - sie war noch nie besonders erfolgreich darin gewesen, ihrer Mutter etwas vorzumachen.

Anscheinend war sie es auch jetzt nicht. Ihre Mutter setzte dazu an, über eines der großen Räder auf den Wagen zu klettern, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne und blickte verwirrt von Arri zu Dragosz und wieder zurück. Eine tiefe, senkrechte Falte erschien wie hingezaubert zwischen ihren hellen Augenbrauen. »Was...«, fragte sie fast lauernd, »... was ist denn los?«

»Wir haben auf dich gewartet«, antwortete Arri. »Wo warst du so lange?«

Lea setzte zu einer zornigen Antwort an, beließ es dann aber bei einem Schulterzucken und schoss einen eisigen Blick in Dragosz’ Richtung ab, unter dem er regelrecht zusammenzuschrumpfen schien, bevor sie ihren Weg fortsetzte und vollends zu ihnen auf den Wagen hinaufstieg. »Ich habe mich umgesehen«, antwortete sie mit einiger Verspätung auf Arris Frage. »Es ist alles ruhig.«

»Hast du etwas anderes erwartet?«, fragte Dragosz.

»Nein«, erwiderte Lea. »Aber man kann nie wissen.« Sie schien noch mehr sagen zu wollen, schluckte es aber dann herunter und maß nun Arri mit einem langen, durchdringenden Blick, der ihr das Gefühl gab, von innen nach außen gekrempelt zu werden, auf dass ihre geheimsten Gedanken und Gefühle offenbar wurden. Arri fragte sich mit wachsendem Unbehagen, wie lange ihre Mutter wohl schon am Waldrand gestanden und Dragosz und sie belauscht hatte; und vor allem beobachtet.

Verstohlen versuchte sie, im Gesicht ihrer Mutter zu lesen, doch alles, was sie entdeckte, war ein vager Zorn, der niemandem im Besonderen zu gelten schien; aber das bedeutete nichts, denn seit einer Weile sah sie ihre Mutter eigentlich nur noch grimmig dreinblicken, als hätte sie dem ganzen Leben den Krieg erklärt. Vielleicht war es auch umgekehrt.

»Ich halte es trotzdem für besser, wenn ihr gleich mit mir kommt«, versuchte es Dragosz noch einmal. »Wenn du schon nicht zur Vernunft kommen willst, dann denk wenigstens an deine Tochter. Du hast gesehen, wozu Nors Krieger imstande sind.«

Lea fuhr mit einer zornigen Bewegung herum und duckte sich leicht, beinahe wie um sich auf ihn zu stürzen, beherrschte sich aber dann im allerletzten Moment doch und sagte in leisem, fast kühlem Ton: »Und sie haben gesehen, dass wir uns unserer Haut zu wehren wissen.«

Das war dumm, und das musste ihre Mutter auch selbst wissen, dachte Arri. Sie hatten pures Glück gehabt, das war alles. Sie konnte Dragosz ansehen, dass er Ähnliches dachte, vermutlich aber zu demselben Schluss kam wie sie, nämlich dem, dass jedes weitere Wort nur Zeitverschwendung war. Er deutete ein einseitiges Schulterzucken an und schwieg.

»Ich möchte kein Feuer machen«, fuhr Lea fort. »Wir sind zwar noch ein gutes Stück vom Dorf entfernt, aber ich will das Wagnis trotzdem nicht eingehen, dass jemand den Feuerschein sieht.« Sie machte eine flatternde Handbewegung auf die Decken und Fellbündel zu ihren Füßen. »Du kannst hier auf dem Wagen schlafen, das ist sicher und auch ein wenig wärmer. Arianrhod und ich schlafen vorne bei den Pferden.«

Dragosz blinzelte überrascht, und auch Arri sah ihre Mutter verständnislos an. Der Wagen war wahrhaftig groß genug für drei, und auch wenn sie das Schlimmste hinter sich hatte, so fühlte sie sich doch noch lange nicht wieder kräftig genug, um sich auf eine Nacht auf dem nackten, feuchtkalten Waldboden zu freuen. Lea hatte jedoch in einem Ton gesprochen, der keinen Widerspruch zuließ, und selbst wenn sich einer von ihnen dazu durchgerungen hätte, so hätte es wohl wenig Sinn gehabt, denn sie kletterte bereits wieder vom Wagen herab und winkte Arri dabei ungeduldig heran.

Wahrscheinlich hatte ihre Mutter sie doch beobachtet, dachte Arri. Und die Vorstellung, dass sie eifersüchtig auf ihre eigene Tochter sein könnte, erschien ihr wirklich nur im allerersten Moment völlig unfassbar - gerade so lange, wie sie brauchte, um sich einzugestehen, dass es ihr eben noch andersherum genauso ergangen war. Mit einem letzten, bedauernden Blick in Dragosz’ Gesicht stand sie auf und machte sich daran, ihrer Mutter zu folgen. Als sie dabei an ihm vorbeikam, raunte er ihr zu: »Vielleicht gelingt es dir ja, deine Mutter zur Vernunft zu bringen. Du musst es versuchen. Auf mich hört sie nicht, aber ihr seid in Gefahr, glaub mir.«

Als ob Lea ausgerechnet auf sie hören würde! Arri antwortete trotzdem mit einem angedeuteten Nicken, schon um ihn zu beruhigen, auch wenn sie kaum mit ihrer Mutter darüber sprechen würde. Umständlich folgte sie ihr. Ihre verbundene Hand behinderte sie so sehr, dass sie um ein Haar gefallen wäre, als sie vom Wagen herunterkletterte, und schon die wenigen Schritte hin zum Waldrand und der Stelle, an der ihre Mutter auf sie wartete, erschöpften sie spürbar. Bei dem bloßen Gedanken an den Marsch, der morgen vor ihnen lag, krampfte sich ihr schon der Magen zusammen.

Lea empfing sie mit einem Blick, der aus ihrer vagen Sorge endgültig Gewissheit machte: Sie hatte Dragosz und sie beobachtet. Zu ihrer Überraschung sparte sie sich jedoch jede entsprechende Bemerkung, sondern bedeutete ihr nur mit einer ebenso knappen wie ungeduldigen Geste, ihr weiter zu folgen. Sie entfernten sich ein gutes Dutzend Schritte vom Wagen, bevor sie eine Stelle erreichten, die vor Leas gestrengem Auge Gnade als Nachtlager fand; auch wenn Arri beim besten Willen nicht sagen konnte, was daran besser oder schlechter als an jedem einzelnen Flecken war, an dem sie bisher vorbeigekommen waren. Wortlos ließ sie sich ins Gras sinken, richtete sich dann noch einmal auf, um ihren Umhang abzustreifen, und breitete ihn wie eine Decke über Arri aus, als diese ihrem Beispiel folgte. Der Umhang war warm, und Arri schlang ihn instinktiv enger um sich, zugleich aber spürte sie auch, wie kalt die Nacht geworden war, und ihr schlechtes Gewissen machte sich bemerkbar.

Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, schüttelte Lea den Kopf, noch bevor sie auch nur ein einziges Wort sagen konnte. »Das ist schon gut. Die Kälte wird mir helfen, wach zu bleiben.«

»Wach zu bleiben?«, wiederholte Arri. »Warum?«

»Jemand muss schließlich auf euch beide aufpassen«, antwortete Lea mit einem ärgerlichen Kopfschütteln. »Nicht genug, dass ich nicht einmal genau weiß, wie ich dich in deinem Zustand zurück ins Dorf bringen soll, taucht jetzt auch noch dieses zu groß geratene Kind auf, das lieber stirbt, bevor es zugeben würde, dass auch seine Kräfte Grenzen kennen. Dieser Dummkopf.«

»Dragosz?«

»Siehst du hier sonst noch jemanden?«, fragte Lea ärgerlich. »Natürlich Dragosz! Ich dachte wirklich, er wäre klüger als all die anderen Narren. Aber am Ende ist er auch nur ein Mann.« Sie seufzte tief. »Und jetzt schlaf. Wir haben morgen einen anstrengenden Marsch vor uns, und du wirst jedes bisschen Kraft brauchen.«

»Und du?«, fragte Arri.

»Mach dir keine Sorgen um mich«, erwiderte Lea. »Eine Nacht ohne Schlaf macht mir nichts aus. Und vielleicht ist es sogar ganz gut so. Ich habe über eine Menge Dinge nachzudenken.«

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