In dieser Nacht hatten die Feuer, deren roter Schein durch den winzigen Spalt unter der Decke ihres Gefängnisses drang, besonders hell gebrannt. Niemand war gekommen, um ihr zu essen oder zu trinken zu bringen, niemand war gekommen, um mit ihr zu reden oder ihr mitzuteilen, welches schreckliche Schicksal Sarns Götter für sie entschieden hatten; aber es war auch niemand gekommen, um sie zu holen.
Jetzt musste es beinahe wieder Morgen sein, und bald würden sie kommen.
Jedenfalls nahm Arri an, dass es so geschehen würde. Da der schmale Ausschnitt des Himmels, den sie durch das winzige Fenster erkennen konnte, die ganze Nacht über rot im Widerschein zahlloser Feuer geglüht hatte und das immer noch tat, war es ihr unmöglich, die Zeit an der Position der Sterne über ihr zu bestimmen, und das Fenster ging in die falsche Richtung, sodass sie den Mond nicht sehen konnte. Seit einiger Zeit glaubte sie jedoch etwas wie einen blassen, grauen Schimmer zu erkennen, der den Himmel aufhellte und beharrlich an der Glut der Feuer fraß.
In dieser Nacht schien niemand Schlaf gefunden zu haben, und obwohl der Wind so stand, dass er die meisten Geräusche von ihr weg trug, hatte sie dann und wann doch etwas gehört: den dumpfen Schlag einer Trommel, ein leises Jammern und Wehklagen, das von deutlich mehr als einer Stimme stammte, einmal einen scharfen, peitschenden Knall, den sie sich nicht hatte erklären können, und noch andere, unheimlichere Laute, die ihr allesamt unbekannt und furchteinflößend erschienen waren. Arri nahm an, dass Sarn möglicherweise wirklich gleich nach Sonnenuntergang ins Heiligtum hinaufgegangen war, um die Götter anzurufen, ihr Urteil über die heimtückische Mörderin und ihre Gnade erbat und Nors Tod betrauerte (und so ganz nebenbei und nur für sich den Umstand feierte, dass sein Plan so mühelos aufgegangen war und er nun die Macht über Goseg hatte), aber nicht einmal dessen war sie sich völlig sicher.
Sie hatte keine Erinnerung an das, was in der Zeit zwischen dem Augenblick, in dem die wütenden Männer sie hierher gebracht und derb zu Boden geschleudert hatten, und jenem Moment tief in der Nacht, in dem sie wieder zu sich gekommen war, geschehen war. Sie war nicht bewusstlos gewesen, und sie hatte schon gar nicht geschlafen, doch die Spanne zwischen diesen beiden Momenten war trotzdem wie ausgelöscht. Manchmal erwies sich der Schmerz als Freund. Ihr ausgekugelter Arm, das heftige Klopfen ihres gebrochenen Fingers und die dünnen, rot glühenden Dornen, die sich bei jedem Atemzug von innen heraus in ihre Brust zu bohren schienen, hatten sie in einen Zustand zwischen Bewusstlosigkeit und Wachsein geschleudert, in dem kein Platz mehr für einen klaren Gedanken oder auch nur für Furcht war.
Aber diese Momente barmherziger Pein waren vorbei. Irgendwann hatte es aufgehört; natürlich nicht wirklich. Ihre Hand pochte immer noch, die Qual in ihrer linken Schulter war nur so lange erträglich, wie sie in einer ganz bestimmten Haltung an die Wand gelehnt dasaß und nicht die mindeste Bewegung machte, und jeder Atemzug bereitete ihr Schmerzen, aber nun war es keine unerträgliche Agonie mehr, sondern nur noch bloßer Schmerz, den sie kannte und mit dem sie umzugehen verstand.
Beinahe wünschte sich Arri die unerträgliche Qual von vorhin zurück. Es war furchtbar gewesen, mit das Schlimmste, was sie jemals erlebt hatte, und doch... nachdem sich der erstickende Griff der Pein um ihre Gedanken gelockert hatte, hatte die Furcht Einzug in ihr Herz gehalten.
Sie würde sterben. Aus der Angst, die zu ihrer treuen Begleiterin geworden war, seit man sie in dieses Dorf aus Stein gebracht hatte, war nun Gewissheit geworden, und auch wenn sie vorher fast überzeugt davon gewesen war, sterben zu müssen, so wusste sie nun, dass es so kommen würde. Und das war ein gewaltiger Unterschied.
Eine Zeit lang hatte Arri sich einzureden versucht, dass Nor vielleicht Recht gehabt hatte und Sarn tatsächlich klug genug war, um einzusehen, wie wertvoll sie für ihn und das gesamte Dorf war, und sie am Leben lassen würde - und sei es nur als Geisel.
Aber natürlich würde er das nicht tun. Nicht nach dem, was sie gesehen hatte. Niemand würde ihr glauben, schon gar nicht, wenn ihre Aussage gegen die von Jamu und Nors Frau stand, doch Sarn konnte es sich trotzdem nicht leisten, sie am Leben zu lassen. Und wenn schon nicht er, dann Jamu. Arri kannte den schwarzhaarigen Krieger kaum, aber sie war dennoch sicher, dass er niemals das Wagnis eingehen würde, einen Zeugen des Meuchelmords am Leben zu lassen. Vermutlich würde er früher oder später auch Sasa töten. Sie aber ganz bestimmt.
Nein, dachte sie bitter, diesmal würde kein Wunder geschehen, das sie im letzten Moment doch noch rettete. Die Zeit, die ihr blieb, verrann im gleichen Maße, in dem das Grau der heraufziehenden Dämmerung den roten Feuerschein am Himmel auslöschte. Sobald es endgültig hell geworden war, würden sie kommen, um sie zu holen.
Arri hatte Angst. Unvorstellbare Angst. Angst vor dem Tod, aber noch viel größere Angst vor dem, was ihm vorausgehen würde. Ihre Mutter hatte ihr einmal erklärt, dass man den Tod im Grunde nicht zu fürchten brauchte. Wenn alle anderen Recht hatten und sie sich irrte und es die Götter und ein Weiterleben nach dem Tode wirklich gab, dann hatte man auch keinen Grund, Angst davor zu haben. Und wenn nicht... nun, dann erst recht nicht, denn dann wäre es ja nur so, als ob man in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiele, der einfach nie mehr aufhörte. Dieser Gedanke war ein Trost gewesen, schon, weil er so einleuchtend klang, aber er verlor mehr und mehr von seiner beruhigenden Kraft, je näher der Moment kam, an dem sie herausfinden würde, wer sich geirrt hatte - ihre Mutter oder der Rest der Welt.
Viel mehr Angst aber noch als davor hatte Arri vor dem, was Sarn tun würde. Sarn war kein Mann, in dessen Sprache Platz für das Wort Gnade war, und nach dem, was sie Nor angeblich angetan und das er und viele seines Volkes mit eigenen Augen gesehen zu haben glaubten, gab es erst recht keinen Grund für ihn, ihr einen schnellen, gnädigen Tod zu gewähren. Ganz im Gegenteil würde ihr Sterben lange dauern und zweifellos grauenhaft sein. Und bald, dachte Arri, wenn der letzte Trommelschlag verklungen und der letzte rote Schein am Himmel verblasst war, würden sie kommen und sie holen.
Die Schwärze draußen vor dem Fenster hellte sich allmählich auf, und die Feuer, die oben im Heiligtum, vermutlich aber auch im Dorf auf der anderen Seite des Hügels brannten, schienen eines nach dem anderen zu erlöschen, und irgendwann hörte auch der dumpfe Trommelschlag auf, der ihrem Herzen seinen Rhythmus aufgezwungen hatte, auch wenn sie selbst es nicht einmal merkte.
Niemand kam, um sie zu holen.
Einmal hörte sie Schritte und das Geräusch aufgeregter, wenngleich auch gedämpfter Stimmen durch das dicke Holz der Tür dringen, dann das hysterische Kläffen eines Hundes, das unglaublich lange anzuhalten schien, doch es verging noch eine lange, sehr lange Zeit, bis der Riegel endlich wieder zurückgezogen wurde und Arri in dem unerwartet hellen Licht der Morgensonne blinzeln musste, das durch den breiter werdenden Türspalt hereindrang. Unwillkürlich hob sie die Hand vor die Augen und musste gleich darauf die Zähne zusammenbeißen, um nicht vor Schmerz aufzuschreien, denn sie hatte den linken Arm benutzt, und ihre ausgekugelte Schulter dankte es ihr mit wildem Schmerz. Irgendwie gelang es ihr, einen Schrei zu unterdrücken, aber der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen, sodass sie die Gestalt, die hereinkam und sich über sie beugte, nur verschwommen erkennen konnte.
Im allerersten Moment glaubte sie, es sei Rahn. Daran, dass er gekommen war, um ihr zu sagen, dass sich alles doch noch zum Guten gewendet habe, dass Sarns niederträchtiger Plan aufgedeckt worden sei und er selbst, Kron und Achk hier bleiben dürften und sie am Leben bleiben werde. O ja, und dass ihre Mutter gekommen sei, um sie abzuholen, damit sie in ihre Heimat zurückkehren konnten - die doch nicht untergegangen sei -, um sie auf den dort gerade frei gewordenen Thron zu setzen.
Natürlich war es nicht Rahn. Noch während sie den Gedanken dachte, erkannte sie, dass es ganz im Gegenteil Jamu war, der vor ihr stand und mitleidlos auf sie herabblickte, und trotzdem fühlte sie sich für einen Moment von einer wilden, vollkommen sinnlosen Hoffnung gepackt, die so stark war, dass sie selbst den grausamen Schmerz in ihrer Schulter vergaß.
»Ich hoffe, du hast gut geschlafen«, sagte Jamu höhnisch. Er selbst sah aus, als hätte er in dieser Nacht überhaupt keinen Schlaf gefunden, aber Arri nahm an, dass das auf jeden im Ort zutraf. »Das wird nämlich deine letzte Nacht gewesen sein.«
»Warum?«, stieß Arri zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. »Habt ihr beschlossen, dass ich eure Gastfreundschaft lange genug ausgenutzt habe und nun gehen muss?«
Für einen Moment verdunkelte Zorn Jamus Gesicht, doch er hatte sich fast augenblicklich wieder in der Gewalt. »Deine Frechheiten werden dir bald vergehen«, sagte er nur. »Steh auf!«
Arri versuchte es, aber steif gesessen und müde und durch ihren unbrauchbaren linken Arm behindert, war sie für seinen Geschmack anscheinend nicht schnell genug, denn er beugte sich mit einem unwilligen Knurren vor und riss sie am Arm in die Höhe; und gewiss nicht zufällig an ihrem linken Arm. Arri stieß einen schrillen Schrei aus und fiel unverzüglich wieder auf die Knie. Der Schmerz war so grauenhaft, dass sie sich um ein Haar auf seine in abgewetzten Sandalen steckenden Füße erbrochen hätte. Sie unterdrückte es nur deshalb mit aller Macht, weil sie wusste, dass er ihr dann vermutlich noch sehr viel mehr wehgetan hätte.
Immerhin gab sich Jamu mit dieser einen, kleinen Quälerei zufrieden und verzichtete darauf, noch einmal an ihrem verletzten Arm zu reißen, sondern ließ sie ganz im Gegenteil los, trat nur einen Schritt zurück und wedelte ungeduldig mit der Hand. »Steh auf!«, befahl er grob. »Sarn erwartet dich.«
Ja, dachte Arri, und ich bin sicher, er hält es vor lauter Wiedersehensfreude kaum noch aus. Sie war klug genug, vorsichtshalber gar nichts zu sagen, sondern kämpfte sich nur mit zusammengebissenen Zähnen wieder in die Höhe und presste ihren linken Arm mit der rechten Hand so fest an ihren Leib, wie sie konnte. So war der Schmerz in ihrer Schulter wenigstens halbwegs zu ertragen. Sie stand zwar taumelnd da, aber sie stand, und das aus eigener Kraft. Der Anblick schien Jamu zu ärgern. Arri registrierte mit einem Gefühl absurder Befriedigung, dass ihr Zustand und ihr Benehmen offensichtlich ganz und gar nicht dem entsprachen, was er erwartet hatte, als er hierher gekommen war. Aber wenn er geglaubt hatte, sie in Tränen aufgelöst und winselnd vor Furcht um ihr Leben flehend vorzufinden, dann enttäuschte sie ihn gerne. Sie war vernünftig genug, um sich selbst zu sagen, dass sie noch früh genug wimmern und schreien würde, aber zumindest würde sie es nicht vor Angst tun. Und schon gar nicht vor ihm.
»Was starrst du mich so an, Hexenkind?«, fragte Jamu, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Vermutlich sah man sie ihr sehr deutlich an.
»Ich versuche dich zu verzaubern«, antwortete Arri böse. »Immerhin ist es mir schon einmal gelungen, oder etwa nicht? Ich meine: Es muss doch so gewesen sein - es sei denn, du hättest tatsächlich Angst vor einem Mädchen mit einem Steinmesser gehabt.«
Jamus Augen wurden schmal, aber er sagte nichts, und Arri konnte es sich einfach nicht verkneifen, in noch höhnischerem Ton hinzuzufügen: »Oder warum sonst bist du deiner Aufgabe als Beschützer des Hohepriesters so schlecht nachgekommen?«
Diesmal war sie fast sicher, dass Jamu sie schlagen würde. Er drehte tatsächlich den Oberkörper ein wenig zur Seite, wie um auszuholen, brach die Bewegung dann aber wieder ab und schüttelte stattdessen mit einem breiten, bösen Lächeln den Kopf. »O nein. Ich weiß, was du vorhast. Aber du wirst mich nicht dazu bringen, dich gleich hier auf der Stelle zu erschlagen. So einfach mache ich es dir nicht.«
Seine Worte ließen Arri einen eisigen Schauer über den Rücken laufen, denn sie passten nur zu gut dem, was sie zuvor gedacht hatte, aber sie gab sich alle Mühe, ihre Furcht zu überspielen, und antwortete stattdessen mit einer Stimme, deren Ruhe und Gefasstheit sie beinahe selbst in Erstaunen versetzte: »Oder hast du vielleicht Angst, dir könnte etwas entschlüpfen, was in die falschen Ohren gerät?«
Jamu sah sie ehrlich verblüfft an, aber dann lachte er und trat rückwärts gehend zwei Schritte aus Arris Gefängnis hinaus, wo er stehen blieb und sich mit übertriebenen Gebärden nach rechts und links umsah. »Wer sollte uns hören? Es ist niemand da.«
»Du bist allein gekommen?«, entfuhr es Arri überrascht.
Jamu hob geringschätzig die Schultern. »Ich mag vielleicht bei der Aufgabe versagt haben, meinen Herrn zu beschützen, aber mit einem vorlauten Balg werde ich immer noch fertig.«
»Und du hast wirklich keine Angst vor meinem Hexenkräften, die dich schon einmal verzaubert haben?«, erwiderte Arri.
Jamus Grinsen wurde noch böser. »Du hast keine Macht mehr über uns. Sarn hat mit den Göttern gesprochen, und sie haben ihm die Kraft verliehen, deinen bösen Zauber zu brechen.«
»Und deshalb bist du allein gekommen«, nickte Arri. »Nicht etwa um sicherzugehen, dass ich auch ja mit niemandem über etwas rede, was besser keiner hören sollte.«
»Wer würde dir schon glauben?«, gab Jamu mit unerwarteter Offenheit zurück und schüttelte den Kopf.
»Niemand«, antwortete Arri. »Aber trotzdem... du weißt, wie die Leute sind. Sie hören die Worte und glauben sie vielleicht nicht, aber sie behalten sie im Gedächtnis, und vor allem, sie reden darüber. Gerüchte entstehen schnell, und manchmal sind sie sehr hartnäckig. Vor allem, wenn sie wahr sind.«
»Rede du nur.« Jamu lächelte unerschütterlich weiter, aber Arri erschien dieses Lächeln mit einem Mal etwas zu sicher. Möglicherweise hatte sie einen wunden Punkt getroffen, und möglicherweise war es nicht besonders klug gewesen. Jamu mochte ein schlechter Mensch sein, tückisch und voller Bosheit, aber ebenso wie Sarn war er nicht dumm. Mit ihrer Vermutung, warum er allein gekommen war, um sie abzuholen, musste sie der Wahrheit ziemlich nahe gekommen sein, und sie konnte regelrecht sehen, wie es hinter seinen buschigen Augenbrauen zu arbeiten begann. Vielleicht erinnerte er sich ja an Sarns Drohung von gestern Mittag, ihr die Zunge herausschneiden zu lassen.
Arri ging langsam auf ihn zu und fuhr dabei schnell, aber nicht hastig, fort. »Wenn wir wirklich allein sind und niemand uns hören kann, Jamu, beantwortest du mir dann eine Frage?«
»Welche?« Jamu blickte schon wieder misstrauisch, aber sie konnte auch sehen, wie ihm ein gewisser anderer Gedanke entglitt. Er war vielleicht nicht dumm, aber auch nicht sonderlich klug.
»Was hat Sarn dir versprochen, damit du mithilfst, Nor umzubringen? Sasa? Einen Platz an seiner Seite? Oder die Macht über einen Teil des Landes?«
»Vielleicht ein wenig von allem«, antwortete Jamu. »Und wer weiß? Vielleicht irgendwann alles.«
Arri war so verblüfft, dass sie innehielt und den Krieger einfach nur aus großen Augen anstarrte. Jamu konnte doch nicht wirklich glauben, dass er irgendwann...
Aber ein einziger Blick in seine Augen beantwortete ihre Frage. Er glaubte es. »Du bist verrückt«, murmelte sie.
»Mag sein«, erwiderte Jamu. »Aber immer noch besser verrückt als tot. Nor war ein alter Mann. Er hätte ohnehin nicht mehr lange gelebt, und es ist manchmal besser, sich frühzeitig nach einem neuen Herrn umzusehen, weißt du? Sasa war übrigens der gleichen Meinung.« Er machte eine spöttische Handbewegung, die beinahe etwas Ehrerbietiges hatte. »Kommst du nun freiwillig mit, oder muss ich dich an den Haaren schleifen?«
Da Arri keinen Moment lang daran zweifelte, dass er das mit großem Vergnügen tun würde, wenn sie ihm auch nur den geringsten Anlass dafür bot, beeilte sie sich, an seine Seite zu treten. Sie rechnete nun damit, wieder gepackt und grob vorwärts gestoßen zu werden, aber Jamu bedeutete ihr nur mit einer entsprechenden Geste loszugehen, und sie gehorchte. »Du wirst sie auch töten müssen«, sagte sie.
»Sasa?« Jamu wirkte ehrlich überrascht. »Aber warum sollte ich das tun?«
»Weil auch sie weiß, was wirklich passiert ist. Du könntest niemals sicher sein, dass sie dich nicht eines Tages verrät.« Arri hob die Schultern. »Dein neuer Herr wird nicht ewig leben. Und selbst wenn, dann wird es nicht lange dauern, und er wird ebenso viele und ebenso mächtige Feinde haben, wie Nor sie hatte.«
Zu ihrer Überraschung lachte Jamu. »Nor hatte Recht, und Sarn auch, weißt du? Du bist schon genauso verschlagen wie deine Mutter.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Sasa wird mich nicht verraten. Sie hatte unzählige Gründe, Nor zu töten. Einer davon ist, dass sie ein ziemlich vorlautes Mundwerk hatte, mit dem sie Nor mehr als einmal bis aufs Blut gereizt hat. Und im letzten Frühjahr hat sie es wohl etwas übertrieben, und er hat ihr die Zunge herausreißen lassen.«
Arri starrte ihn erschrocken an. »Er hat was?«
Jamu nickte heftig und machte dabei ein Gesicht, als spräche er von etwas ungemein Lustigem. »Er hat ihr die Zunge herausreißen lassen«, wiederholte er. »Du siehst also, selbst wenn sie so dumm wäre, die Wahrheit zu sagen und damit ihr eigenes Todesurteil heraufzubeschwören, sie könnte es gar nicht.«
Sie gingen eine kleine Weile schweigend nebeneinander her, bis sie das offen stehende Tor erreicht hatten. Die versteinerte Stadt lag auch jetzt wieder wie ausgestorben rings um sie herum da, aber Arri spürte, dass dieser Eindruck täuschte. Sie wurden beobachtet, und möglicherweise sogar belauscht. Vermutlich hatte Jamu keine Ahnung davon, und vielleicht hatte er sich bereits um Kopf und Kragen geredet, ohne es zu wissen, aber diese Vorstellung brach ihr nicht unbedingt das Herz.
Sie gingen nicht besonders schnell, und als sie das weit offen stehende Tor durchschritten hatten, wies Jamu nach links, den Hügel hinauf und zum Heiligtum, und sie wurden sogar noch ein wenig langsamer. Niemand war weit und breit zu sehen, doch das Gefühl, angestarrt und belauert zu werden, wurde mit jedem Atemzug stärker. Ihr kam zu Bewusstsein, wie verrückt ihre Situation im Grunde war. Für jeden, der nichts über sie und ihren Begleiter wusste, mussten sie den Anblick eines Paares bieten, das in vertrautem Nebeneinander einen Spaziergang unternahm und keine Eile hatte, sein Ziel zu erreichen.
Zumindest was sie anging, stimmte das ja auch.
So unauffällig, wie es ihr nur möglich war, sah sie sich um und suchte ihre Umgebung mit Blicken ab. Der Waldrand war nicht einmal besonders weit entfernt.
»Versuch es lieber nicht«, sagte Jamu. Arri sah mit gespielter Überraschung zu ihm hoch und erntete wieder dieses böse, schadenfrohe Lächeln. »Ich würde dich nach ein paar Schritten einholen und dir das Fußgelenk brechen, damit du nicht mehr laufen kannst.«
»Aber dann müsstest du mich tragen.«
»Oh, das tue ich gern«, behauptete Jamu, und es klang ganz so, als wäre es ernst gemeint. »Ich würde sogar großzügig sein. Du kannst dir aussuchen, welchen Fuß ich dir breche. Willst du es darauf ankommen lassen?«
Arri sagte nichts darauf, sondern schenkte ihm nur einen weiteren bösen Blick und schritt dann ein wenig schneller aus, als könnte sie es plötzlich gar nicht mehr erwarten, die Hügelkuppe und das Heiligtum zu erreichen. Sie hatte geglaubt, sich unauffällig genug umgesehen zu haben, doch Jamu war entweder ein weit besserer Beobachter, als sie angenommen hatte, oder sie hatte sich selbst - wieder einmal - überschätzt.
Sie wusste, dass er Recht hatte. Wäre sie ausgeruht und im Vollbesitz ihrer Kräfte gewesen, dann hätte sie sich zugetraut, ihm tatsächlich davonlaufen zu können, zumindest bis zum Waldrand, und dort, zwischen den dicht stehenden Bäumen und dem noch dichter wuchernden Unterholz, wäre sie ihm sogar ganz bestimmt entkommen, denn Jamu hatte den Großteil seines Lebens hier in Goseg verbracht und war allenfalls ein paar Mal auf der Jagd oder als Begleiter seines Herrn auf Reisen gewesen, während sie praktisch in den dichten Wäldern rings um ihr Heimatdorf aufgewachsen war. Aber ganz davon abgesehen, was Jamu ihr gestern angetan hatte, war ihr Knie immer noch nicht vollständig ausgeheilt, und so übel, wie ihr das Schicksal im Augenblick mitspielte, würde es ihr ganz bestimmt genau in dem Moment den Dienst aufkündigen, in dem sie am dringendsten darauf angewiesen war zu laufen. Außerdem war sie vollkommen erschöpft und konnte sich nach all der Zeit, die sie in der unbequemen Haltung an der Wand hockend zugebracht hatte, nur mühsam bewegen.
»Hast du eigentlich gar keine Angst, dass meine Mutter dich zur Verantwortung ziehen wird?«, fragte sie.
Jamu lachte. »Wie kann sie mich für etwas verantwortlich machen, was du getan hast?«, gab er in fast fröhlichem Ton zurück. »Selbst, wenn sie unseren Kriegern entkommt, wird sie nur erfahren, dass du hingerichtet worden bist, weil du den Hohepriester ermordet hast. Das ist ein schweres Verbrechen. Ich nehme an, selbst dort, wo ihr herkommt.«
Arri schwieg betroffen. Wenn überhaupt, so war ihr einziger, schwacher Trost in der zurückliegenden Nacht vielleicht der Gedanke gewesen, dass ihre Mutter und Dragosz furchtbare Rache für ihren Tod nehmen, zurückkehren und Goseg bis auf die Grundmauern niederbrennen würden - aber so schrecklich der Gedanke auch war, Jamu hatte Recht. Niemand außer ihm selbst und dem stummen Mädchen wussten, was wirklich geschehen war, und so würde ihrer Mutter nur genau das zu Ohren kommen, was er gerade gesagt hatte. Und als hätte er ihre Gedanken erraten und wollte ihre Verzweiflung noch ein bisschen schüren, fuhr er fort: »Und was die neuen Freunde deiner Mutter angeht... glaubst du wirklich, sie würden einen Krieg anfangen, nur um den Tod eines Mädchens zu rächen, das zur Mörderin geworden ist und das nicht einmal ihrem Volk entstammt?« Er schüttelte heftig den Kopf, um seine eigene Frage zu beantworten.
»Vielleicht kommen sie ja sowieso«, sagte Arri. Die Worte hatten böse klingen sollen, oder zumindest drohend, aber sie hörten sich selbst in ihren eigenen Ohren nur verzweifelt an.
»Dann sollen sie«, sagte Jamu überzeugt. »Sie wären nicht die Ersten, die in Goseg und seinen Verbündeten leichte Beute sehen und einen hohen Preis für diesen Irrtum zahlen. Wären sie wirklich ein Volk so gewaltiger Krieger, wie man es ihnen nachsagt, dann wären sie längst hier.«
»Grahl und seine Brüder...«
»... sind ihnen bereits begegnet, ich weiß«, fiel ihr Jamu ins Wort. »Aber sie haben sie nicht angegriffen.«
Arri blieb überrascht stehen, was Jamu aber diesmal nicht hinnahm, sondern ihr ganz im Gegenteil einen derben Stoß versetzte. »Woher weißt du das?«, fragte sie, während sie weiter stolperte und dabei ungeschickt versuchte, das Gleichgewicht zu waren.
»Von Kron«, gestand Jamu. »Er hat mir die Wahrheit gesagt. Nicht er und seine Brüder waren es, die angegriffen wurden, sondern dieser Fremde, mit dem deine Mutter herumbuhlt.« Er schüttelte den Kopf und zog eine Grimasse. »Diese drei Dummköpfe dachten wohl, sie hätten leichtes Spiel mit ihm. Er muss ein wahrhaft großer Krieger sein, das gebe ich zu.«
»Und du hast trotzdem keine Angst vor ihm und seinem Volk?«
»Vor ihm allein?« Jamu lachte. »Gewiss nicht. Er wäre dumm, allein hierher zu kommen. Und was sein Volk angeht...« Er zuckte ein paarmal mit den Schultern und tat so, als müsse er angestrengt nachdenken. »Die Geschichte dieser Fremden, die über die Berge kommen und nichts als Leid und Verwüstung hinterlassen, wird seit drei oder vier Sommern erzählt. Wenn sie so schlimm wären, wie man sagt, meinst du nicht, dass sie dann längst hier wären? Ich habe mit vielen gesprochen, die Geschichten über sie zu erzählen wissen und von ihnen gehört haben - aber mit keinem einzigen, der einem von ihnen begegnet wäre, von Kron einmal abgesehen.«
»Ist er noch hier? Er und Achk?«
»Sie sind gestern bei Sonnenuntergang fortgegangen, so wie es beschlossen war«, sagte Jamu gehässig. »Übrigens in Begleitung deines alten Freundes Rahn, der es sich nicht hatte nehmen lassen, bis zuletzt für sie Partei zu ergreifen. Jetzt kann er zusammen mit den anderen im Winter Schnee und Baumrinde fressen. Das geschieht dem Dummkopf ganz recht.«
Arianrhod war viel zu verdattert, um auf diese Neuigkeit angemessen eingehen zu können. »Nor hatte ihnen noch eine letzte Nacht an eurem Feuer versprochen«, sagte sie hilflos.
»Nor«, sagte Jamu betont, »ist tot. Sarn ist unser neuer Hohepriester, und er hat beschlossen, dass sie sofort gehen müssen.«
»Das ist grausam«, sagte Arri, was ihr selbst ein bisschen lächerlich vorkam angesichts dessen, was ihr vermutlich bevorstand.
Jamu lachte auch nur. »Es ist richtig. Sie sind zu nichts mehr nutze. Die Nahrung, die sie in dieser Nacht gegessen hätten, hätte uns vielleicht im nächsten Winter gefehlt, um ein Kind vor dem Verhungern zu bewahren. Wäre es nach mir gegangen, hätten wir sie auf der Stelle erschlagen, aber Sarn hat entschieden, Gnade walten und sie am Leben zu lassen. Vielleicht«, fügte er verächtlich hinzu, »ist das der Preis, den man zahlen muss, wenn man ein ganzes Volk führt. Man wird weich.«
Sie hatten die Hügelkuppe fast erreicht, und Arri wollte den Weg zum Heiligtum einschlagen, doch Jamu schüttelte nur den Kopf und deutete nach links, den schmalen Trampelpfad entlang, den sie schon am vergangenen Morgen mit ihren Bewachern genommen hatte. Arri fiel erst jetzt auf, wie still es war. Irgendwo, weit entfernt, hörte sie die Stimmen von Menschen, die Laute von Tieren und andere Geräusche, aus dem großen Palisadenbau jedoch drang nicht der geringste Laut. Vielleicht erwartete Sarn sie ja wieder unten im Langhaus.
Dann hatten sie die Hügelkuppe endlich erreicht, und als Arris Blick auf das Gelände an seinem jenseitigen Fuß fiel, blieb sie erschrocken stehen und sog die Luft zwischen den Zähnen ein. Die Menschenmenge, die unten auf sie wartete, war im Vergleich zum Vortag noch einmal um mindestens das Doppelte angewachsen. Sarn musste dem Beispiel seines Vorgängers gefolgt sein und Männer in alle umliegenden Dörfer ausgesandt haben, um möglichst viele Zuschauer herbeizubefehlen, die seiner endgültigen Machtübernahme beiwohnen sollten.
Vielleicht aber auch etwas anderem...
»Du bist überrascht, wie?«, fragte Jamu hinter ihr. Erstaunlicherweise verzichtete er darauf, die Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen und ihr einen weiteren, derben Stoß zu versetzen, der sie zweifellos kopfüber den Hang hinunterbefördert hätte. Als sich Arri zu ihm umdrehte, gewahrte sie schon wieder dieses hässliche, boshafte Grinsen auf seinen Zügen, das diesmal jedoch eine andere Qualität hatte und ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte.
»Du bist erstaunt, dass es so viele sind, nicht wahr?«, fragte er höhnisch. »Ich war selbst überrascht. Du musst entweder ganz besonders beliebt bei den Menschen sein oder ganz besonders verhasst. Jedenfalls sind sie nur deinetwegen gekommen.«
»Meinetwegen?«, wiederholte Arri verständnislos.
Jamu nickte heftig. »Sie sind gekommen, um deiner Hinrichtung beizuwohnen, Hexenkind. Was sonst?«
Arri verbot es sich, irgendwelche Anzeichen von Schrecken oder gar Furcht zu zeigen, aber dem zufriedenen Ausdruck auf Jamus Gesicht nach zu schließen, gelang es ihr wohl nicht ganz. Im Gegenteil: Was er sah, das schien ihm derart zu gefallen, dass er sogar darauf verzichtete, sie mit einem weiteren Stoß oder Fußtritt zum Weitergehen aufzufordern, sondern es bei einer knappen, fast schon freundlich wirkenden Geste beließ. Arri hatte plötzlich einen bitteren, harten Kloß im Hals, an dem sie fast zu ersticken glaubte, als sie ihn herunterzuschlucken versuchte, aber sie ließ sich auch davon nichts anmerken, sondern drehte sich rasch um und warf sogar noch trotzig den Kopf in den Nacken, als sie weiterging.
Sie tat zwar so, als sähe sie starr und ungerührt geradeaus, doch ihr Blick irrte insgeheim fahrig hin und her, und obwohl dies der denkbar ungünstigste Moment dafür sein mochte, erwog ein größer werdender Teil von ihr ganz ernsthaft den Gedanken, trotz allem einen Fluchtversuch zu wagen. Wenn es ihr gelang, Jamu irgendwie zu überraschen, wenn sie schnell genug war, und wenn ihr Bein und ihre verletzte Schulter ihr nur einen Moment lang die Treue hielten...
Wenn. Arri schüttelte in Gedanken mutlos den Kopf und schalt sich selbst eine Närrin. Keines dieser Wenns würde funktionieren, und selbst wenn doch - wohin sollte sie sich schon wenden? Unter ihr war jetzt nichts als der freie Platz, das Langhaus mit den angebauten Stallungen, das Gatter - und hunderte von Menschen, die wahrscheinlich nur darauf warteten, dass sie ihnen einen Vorwand lieferte, um über sie herzufallen und sie zu zerreißen.
Vielleicht wäre das die einfachste Lösung, dachte sie bitter. Es würde schlimm sein, mit Sicherheit aber schnell gehen; ganz bestimmt schneller als alles, was sie erwartete, wenn sie sich widerstandslos wie ein Opfertier zu einer ritualen Tötung führen ließ. Und sie hätte es wenigstens versucht.
Während sie sich dem Haus am Fuße des Hügels näherten, fiel ihr auf, dass es in der Menschenmenge, die sich dort unten versammelt hatte, etwas wie eine schwerfällige, aber anhaltende Bewegung gab; ein Anblick wie schlammiges Wasser, das träge in eine bestimmte Richtung fließt. Die Menge bewegte sich auf den Waldrand zu, genauer gesagt auf das große Gatter, das ihr bereits am ersten Tag aufgefallen war. Zu Dutzenden drängten sie sich bereits gegen die grob aneinander gebundenen Baumstämme, und immer mehr und mehr strömten in dieselbe Richtung. Arri war noch zu weit entfernt, um Einzelheiten ausmachen zu können, aber immerhin fiel ihr auf, dass die Rinder, die sie noch am Vortag darin gesehen hatte, nun nicht mehr da waren. Dafür waren einige Männer emsig damit beschäftigt, irgendetwas aufzubauen, das sie nicht erkennen konnte. Das stimmte sie nicht gerade ruhiger.
Sie hatte damit gerechnet, von Sarn selbst oder zumindest einigen seiner Priester in Empfang genommen zu werden. Doch stattdessen wurde sie von einem halben Dutzend Kriegern am Fuß des Hügels erwartet, die ihr finster und voller kaum noch verhohlenem Hass entgegenblickten, hinter sich eine geifernde und zeternde Menschenmenge. Mit ihren Schilden mussten sie ein paar aufgeregte Männer zurückdrängen, die Arri schimpfend und unter wilden Drohgebärden entgegeneilen wollten, kaum dass sie ihrer angesichtig wurden. Von Jamu grob am Arm geführt, hatte Arri gerade ein paar Schritte mitten hinein in das Menschenbad getan, als ihr auch schon ein faustgroßer Erdklumpen entgegengeflogen kam, der sie mit solcher Wucht an ihrer verletzten Schulter traf, dass sie taumelte und nur mit Mühe einen Schmerzensschrei unterdrücken konnte. Sofort fuhr einer der Krieger herum und stieß mit dem stumpfen Ende seines Speeres nach dem Angreifer. Arri konnte nicht erkennen, ob er traf, aber sie hörte einen schrillen Schrei, und obwohl der Chor wütender Flüche und Verwünschungen, der ihren Weg begleitete, immer noch weiter zunahm, wagte es doch niemand mehr, etwas nach ihr zu werfen oder sie auf andere Art anzugreifen.
Es fiel ihr zunehmend schwerer, die Tränen zurückzuhalten. Der Schmerz in ihrer Schulter war schlimm, und wie um ihren Bedenken im Nachhinein Recht zu geben, meldete sich nun auch nach langer Zeit ihr rechtes Knie wieder mit einem leichten, aber penetranten Stechen zurück, doch nichts davon war der Grund für die brennende Hitze, die mit einem Mal ihre Augen füllte. Sie hatte Jamus Worten vorhin kaum Beachtung geschenkt, denn sie war davon ausgegangen, dass alles, was er sagte, nur dem Zweck diente, sie zu verhöhnen oder zu ängstigen. Und dennoch hatte er Recht gehabt. All diese Menschen hier hassten sie. Und dieses Gefühl tat weh. Sie hatte ihnen nichts getan.
So lange sie sich zurückerinnern konnte, hatte sie niemals das Gefühl kennen gelernt, allgemein beliebt zu sein, sondern allerhöchstens geduldet zu werden. Sie hatte geglaubt, dass ihr das nichts ausmachen würde, aber das stimmte nicht. Ihre Mutter war niemals müde geworden, ihr immer und immer wieder einzuhämmern, dass es ihr vollkommen gleichgültig sein konnte, was die Leute über sie dachten oder redeten, und auch das, begriff sie plötzlich, war ein weiterer Punkt, an dem sie besser an der Unfehlbarkeit ihrer Mutter gezweifelt hätte, denn es war ganz und gar nicht wahr. Für all diese Menschen hier, die ihr jetzt hasserfüllt nachstarrten, Fäuste in ihre Richtung schüttelten, ihr Verwünschungen hinterher riefen oder ausspieen, wenn sie vorüberging, war sie die Mörderin ihres Hohepriesters, und dieser Gedanke tat weh. Er sollte es nicht, denn sie kannte praktisch niemanden hier, und auch wenn es anders gewesen wäre, hätte es keine Rolle gespielt, aber er tat es. Vielleicht begriff Arri in diesem Moment zum allerersten Mal wirklich, was ihre Mutter gemeint hatte, wenn sie so oft davon gesprochen hatte, wie wichtig Gerechtigkeit im Leben der Menschen war.
Obwohl die Krieger sie nicht nur abschirmten, sondern mit ihren Speeren und Schilden nun auch ziemlich grob einen Weg durch die Menge für sie bahnten, kamen sie nur langsam voran. Auf den letzten fünfzehn oder zwanzig Schritten mussten sich die Männer regelrecht durch die Menschenmenge hindurchprügeln, sodass mehr als einer der Gaffer mit blutiger Nase oder schmerzverzerrtem Gesicht auf den Knien hockend zurückblieb, und Arri war regelrecht erleichtert, als sie endlich das an groben, ledernen Scharnieren hängende Tor in der Umzäunung erreicht hatten und hindurchtraten. Jamu schloss das Gatter hinter ihnen wieder, und die Männer, die bisher rechts und links von ihr gegangen waren, traten nun rasch hinter sie und bildeten eine lebende Mauer, deren bloßer Anblick vermutlich jeden davon abhielt, etwa über den Zaun zu steigen oder mit einem Stein nach ihr zu werfen.
Arris Erleichterung hielt gerade so lange an, bis sie die Gestalt im bunten Federmantel und -kopfschmuck erkannte, die auf sie wartete.
Sarn war nicht allein. Die Priester, die sie in den vergangenen Tagen an Nors Seite gesehen hatte, standen nun hinter ihm, wie auch die beiden jüngeren von Nors Witwen und weitere, schwer bewaffnete Krieger. Arri versuchte, einen verstohlenen Blick an Sarn und den anderen vorbei auf das zu werfen, was die Männer in der Mitte des großen, eingezäunten Platzes gebaut hatten, aber es gelang ihr nicht. Dafür blieb ihr Blick eindeutig länger an den scharf geschliffenen Speerspitzen und Schwertern der Männer hängen, die hinter den Priestern Aufstellung genommen hatten, und als es ihr endlich gelungen war, sich davon loszureißen, verfluchte sie sich in Gedanken dafür. Selbstverständlich war ihr Blick Sarn nicht entgangen, und sie hätte den bösen Triumph in seinen Augen nicht einmal mehr sehen müssen, um zu wissen, wie deutlich man ihr die Furcht ansah und wie sehr der greise Schamane diesen Anblick genoss.
Trotz und Wut spülten ihre Furcht für einen Moment davon. Sie schob kampflustig das Kinn vor und maß Sarn mit einem Blick, der so eisig war, wie sie es nur fertig brachte. Allzu eisig konnte er allerdings nicht gewesen sein, denn Sarn lächelte nur dünn und begann dann übergangslos: »Die Götter haben über dein Schicksal entschieden, Hexenkind.«
»Wie schön«, antwortete Arri kühl. »Nicht, dass es mich kümmert - aber ich vermute, du wirst es mir trotzdem sagen?«
Diesmal gelang es ihr immerhin, Sarn für einen ganz kurzen Moment aus der Fassung zu bringen - und die Männer hinter ihm für einen deutlich längeren. Unruhe kam auf, und Sarns Blick wurde wiederum hasserfüllt, dann aber schüttelte er nur den Kopf und schürzte geringschätzig die Lippen. »Du kannst mich nicht beleidigen, du dummes Gör. So wenig, wie es dir möglich ist, unsere Götter zu verspotten. Sie haben entschieden, was mit dir zu geschehen hat. Deine Zauberkräfte schrecken uns nicht mehr.«
Er machte eine Bewegung mit seinem Stock, die den Männern hinter ihr galt, und Arri fühlte sich von starken Händen an beiden Armen ergriffen und festgehalten. Der Schmerz war fast noch schlimmer als vorhin, als Jamu sie so grob in die Höhe gerissen hatte, doch Arri zuckte nicht einmal mit der Wimper. Sarn würde sie nicht wimmernd erleben.
Der frisch geweihte Hohepriester hob die Stimme, als er weitersprach, damit auch jedermann seine Worte hören konnte. Nicht, dass es nötig gewesen wäre; seit Sarn zu sprechen begonnen hatte, hatte eine fast schon unheimliche Stille von der Menschenmenge ringsum Besitz ergriffen. »Du wirst des heimtückischen Mordes an unserem Hohepriester beschuldigt, Hexenkind«, rief er. »Du hast dich in unser Vertrauen geschlichen, indem du deine Zauberkräfte benutzt hast, um unsere Sinne zu verwirren. Du und deine Mutter, ihr habt euch wie räudige Hunde an unsere Feuer geschlichen und euch mit Lügen und falschen Gaben unser Vertrauen und unser Wohlwollen erkauft, um es hinterher auf die schlimmste nur mögliche Art zu missbrauchen. Deshalb haben die Götter entschieden, dass du auch wie ein solcher sterben sollst.«
Es begann ganz langsam. Zuerst spürte Arri, wie ihre Finger zu zittern begannen, dann ihre Hände und Knie, schließlich ihre Unterlippe und ihr Kiefer. Sie wimmerte nicht - diesen winzigen Tribut an ihren Stolz brachte sie irgendwie noch auf -, doch sie zitterte am ganzen Leib, und ihr Herz schlug wie die verzweifelte Faust eines Ertrinkenden, der in der Reuse eines Fischers gefangen war, von ihnen gegen ihre Rippen. Fast wünschte sich Arri, dass es einfach ausgesetzt hätte und alles vorbei wäre. Sarn verzichtete auf die Gelegenheit, sie abermals zu verhöhnen, sondern wandte sich stattdessen mit einer neuerlichen, befehlenden Geste an die beiden Männer, die Arri gepackt hatten. »Bindet sie.«
Rasch, aber unerwartet rücksichtsvoll schoben die beiden Männer Arri vorwärts. Einen Moment lang sah es so aus, als wollten Sarn und die anderen einfach stehen bleiben und ihr den Weg verwehren, im allerletzten Augenblick jedoch trat der greise Hohepriester beiseite, und alle anderen vollzogen seine Bewegung getreulich nach; abgesehen vielleicht von Sasa, die zwar ebenfalls zurückwich, aber erst nach einem spürbaren Zögern und nach dem Sarn sie mit einem zornigen Blick bedacht hatte. Arri suchte vergeblich im Gesicht der jungen Frau nach einer Spur von Mitleid oder wenigstens Bedauern. Im Gegenteil. Mehr als je zuvor spürte sie, wie sehr dieses Mädchen sie hasste. Arri verstand es immer noch nicht - nach dem, was Jamu ihr über Sasas Schicksal erzählt hatte, sogar weniger denn je -, doch plötzlich wurde ihr klar, dass das Mädchen hundertmal lieber ihr als Nor eigenhändig die Kehle durchgeschnitten hätte.
Gefolgt von Sarn und den anderen, näherten sie sich der Mitte des umzäunten Geländes, und jetzt erkannte Arri auch, was die Männer dort aufgerichtet hatten: eine einfache Konstruktion, die aus zwei mannshohen, leicht schräg in den Boden gerammten Pfählen bestand, an denen zwei kräftige Stricke festgeknotet waren. Arris Verzweiflung wuchs. Ihr Herz hämmerte immer schneller, aber es war jung und kräftig und würde ihr nicht den Gefallen tun, einfach auszusetzen. Ihre Knie zitterten jetzt so stark, dass sie immer mehr Mühe hatte, einen Schritt nach dem anderen zu tun. Der Sinn dieser Konstruktion war ziemlich klar: Die Männer würden ihr die Stricke um die Handgelenke legen und sie mit ausgebreiteten Armen zwischen den beiden Pfählen festbinden, sodass sie hilflos alles über sich ergehen lassen musste, was auch immer Sarn ihr zugedacht hatte.
Als sie noch ein knappes Dutzend Schritte entfernt waren, verließ sie endgültig der Mut. Ihre Knie gaben unter dem Gewicht ihres Körpers nach, und sie begann leise zu schluchzen, aber natürlich nahmen die beiden Männer, die sie gepackt hatten, keine Rücksicht darauf, sondern schleiften sie einfach grob zwischen sich her, bis sie zwischen den beiden Pfählen angelangt waren. Zwei weitere Krieger traten hinzu, packten ihre Handgelenke und verknoteten die Enden der beiden Stricke darum, die daraufhin mit einem einzigen Ruck straff gezogen wurden, bis sie mit weit ausgebreiteten Armen aufrecht zwischen den Pfählen stand. Arri schrie gellend auf, als ein neuerlicher, noch viel grauenhafterer Schmerz durch ihre Schulter fuhr. Dann hörte sie ein helles, knackendes Geräusch, und trotz der grässlichen Schmerzen, die sie plagten, hätte sie am liebsten hell aufgelacht, als sie begriff, dass ihre Peiniger ihr, wenn auch ganz gewiss nicht absichtlich, das Schultergelenk wieder eingekugelt hatten. Wenigstens würde sie nicht als Krüppel sterben.
Die Männer traten zurück. Arri blinzelte die Tränen fort, und als sie wieder klar sehen konnte, erkannte sie, dass nur noch Sarn und Jamu bei ihr geblieben waren. Alle anderen strebten jetzt wieder mit raschen Schritten dem Tor entgegen, und auch die Männer, die bisher dort Wache gehalten hatten, schienen es plötzlich sehr eilig zu haben, das Gehege zu verlassen.
»Auch wenn du es nicht verdient hast, Hexenkind«, sagte Sarn jetzt wieder mit lauter, weithin verständlicher Stimme, »soll dir noch eine letzte Gnade gewährt werden.« Er machte eine befehlende Geste, auf die hin Jamu rasch auf sie zutrat und einen kurzen Dolch unter dem Mantel hervorzog. Arri erkannte überrascht, dass es dieselbe Waffe war, mit der Sasa Nor getötet hatte, eine Klinge aus Feuerstein, die zehnmal schärfer war als jedes Metall, abgesehen vielleicht vom Zauberschwert ihrer Mutter. Panik ergriff sie. Auch wenn sie unvorstellbare Angst vor dem hatte, was gleich mit ihr geschehen würde, und wenn ihr Verstand ihr noch so laut zuschrie, dass es tatsächlich eine Gnade wäre, wenn Jamu sie jetzt und hier mit diesem Dolch tötete, so wehrte sie sich dennoch verzweifelt gegen die Vorstellung, dass sie nun tatsächlich sterben sollte. Selbst wenn ihr Leben nur noch wenige weitere Augenblicke währen würde, und ganz gleich, wie unvorstellbar grauenhaft diese Augenblicke auch sein mochten, es wäre Leben, und unglaublich kostbar.
Verzweifelt warf sie sich zurück und riss und zerrte mit aller Gewalt an ihren Fesseln, ohne den wütenden Schmerz, der dabei durch ihre Schulter tobte, auch nur zu spüren, doch es war sinnlos. Die Stricke hielten. Sie versuchte nach Jamu zu treten, doch der Krieger schlug ihren Fuß nur mit einem abfälligen Grunzen beiseite, griff in den Ausschnitt ihres Kleides und schnitt es ihr mit einer einzigen Bewegung vom Leib, wobei er ihr einen langen, blutigen Kratzer vom Halsansatz bis fast zur Hüfte hinab zufügte. Dann trat er zurück, wickelte sich das zerrissene Kleid scheinbar achtlos um den Unterarm und nahm wieder an Sarns Seite Aufstellung.
»Dir wird noch eine letzte Gnadenfrist gewährt«, sagte der Hohepriester. »Du magst noch einmal zu deinen falschen Göttern beten, wenn du willst. Falls es sie wirklich gibt, dann werden sie deine Gebete ja vielleicht erhören und deine verkommene Seele zu sich nehmen.«
»Das werden sie bestimmt«, antwortete Arri. Sie wusste selbst nicht, woher sie die Kraft für diese Worte nahm, aber sie fuhr, zwar unter Tränen und schluchzend, dennoch aber mindestens ebenso laut wie Sarn gerade, wenn nicht lauter, fort: »Du solltest lieber zu deinen Göttern beten, damit sie dir deine Verbrechen vergeben. Ich jedenfalls tue es nicht. Ich verfluche dich, Sarn, dich und dein ganzes Volk! Meine Zauberkräfte werden dich verfolgen, so lange du lebst, und jeden verderben, der auf deiner Seite steht!«
Obwohl sie in der Mitte des großen Geheges stand, konnte sie das erschrockene Raunen der Menge hören, die ihre Worte ebenso deutlich verstanden haben musste wie Sarn, und sie sah, wie Jamu ganz leicht zusammenfuhr und vergeblich versuchte, den Schrecken zu verhehlen, den er bei dieser Drohung empfand. Sarn aber lächelte nur und schüttelte den Kopf, wie ein Erwachsener, der gerade einige besonders dumme Worte aus dem Munde eines einfältigen Kindes mit angehört hatte.
»Du dummes Ding«, sagte er, jetzt aber so leise, dass selbst Arri sich fast anstrengen musste, um die Worte überhaupt zu verstehen. Sie waren nur für ihre Ohren gedacht. »Verfluche uns ruhig, wenn du willst. Drohe ruhig mit deinen Zauberkräften. Alle anderen hier mögen es glauben, aber ich kenne das wahre Geheimnis eurer Zauberkräfte. Es ist keine Magie. Du bist so wenig eine Zauberin wie deine Mutter eine ist. Mögen alle anderen deinen Fluch hören und sich davor fürchten. Umso größer wird der Triumph unserer Götter sein, wenn sich dein Fluch nicht erfüllt.«
Wären ihr nicht sowieso schon die Tränen über das Gesicht gelaufen, Arri hätte vermutlich vor lauter Enttäuschung losgeheult. Es war, als hätte Sarn ihre Gedanken nicht nur gelesen, sondern vorausgeahnt, sodass er eine Antwort auf alles parat hatte, was immer sie auch sagen konnte. Noch einmal bäumte sie sich mit aller Kraft gegen ihre Fesseln auf, erreichte dadurch aber nicht mehr, als den Ausdruck von Zufriedenheit auf Sarns Gesicht noch zu schüren und sich selbst noch mehr Schmerz zuzufügen. Schließlich gab sie es auf und ließ sich zurücksinken, so weit es die straff gespannten Stricke zuließen, die ihre Arme hielten.
»Vergeude deine Kräfte nicht«, sagte der Schamane. »Du solltest die wenige Zeit, die dir noch bleibt, lieber nutzen, um mit dir selbst und deinen Göttern ins Reine zu kommen.«
Er sah aus, als erwarte er tatsächlich eine Antwort, doch Arri starrte ihn nur aus tränenverschleierten Augen und mit zusammengebissenen Zähnen an. Schließlich bedeutete er Jamu mit einem Wink, dass er gehen solle, und wandte sich selbst in der gleichen Bewegung ab, um seiner eigenen Aufforderung Folge zu leisten. Jamu hingegen trat noch einmal auf Arri zu, blieb so dicht vor ihr stehen, dass sie seinen Atem riechen konnte, und sah ihr einen Moment lang nachdenklich in die Augen. Dann, so schnell, dass sie die Bewegung nicht einmal richtig wahrnahm und erst begriff, was er getan hatte, als sie sich von einer neuerlichen Welle brennender Schmerzen überflutet fühlte, hob er sein Messer und versetzte ihr zwei tiefe Schnitte in die Oberschenkel, die sofort heftig zu bluten begannen. Arri stöhnte vor Qual, und noch mehr heiße Tränen liefen über ihr Gesicht, aber sie gönnte ihm trotzdem nicht die Genugtuung, sie schreien zu hören.
»Nur, damit du dir keine falschen Hoffnungen machst, Kleines«, sagte er hämisch. »Sie haben gelernt, nicht sofort an die Kehle zu gehen.« Und damit wandte er sich um und ging mit schnellen Schritten davon, bis er Sarn eingeholt hatte und sich dem Tempo des langsameren alten Mannes anpasste.
Für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Arri kämpfte mit aller Macht gegen die drohende Bewusstlosigkeit an (wobei sie sich fragte, warum sie das eigentlich tat, statt die gnädige Ohnmacht willkommen zu heißen, die das Schicksal ihr senden wollte), blinzelte die Tränen weg, so gut sie konnte, und sah den beiden ungleichen Männern einen Atemzug lang hinterher. Vielleicht hatte sie tatsächlich für einen Moment das Bewusstsein verloren, denn Jamu und der Schamane schienen plötzlich ein gutes Stück weiter weg als zuvor. So gut sie es aus der unnatürlichen Haltung heraus konnte, die ihr die straff gespannten Stricke aufzwangen, sah sie an sich herab und versuchte die Wunden zu erkennen, die Jamu ihr beigebracht hatte. Sie hatten nur im ersten Moment wirklich wehgetan. Der Schmerz verebbte bereits und war nicht annähernd so schlimm wie das, was in ihrer Schulter tobte. Sie bluteten heftig, allerdings nicht so stark, dass sie in kurzer Zeit daran sterben würde. Warum also hatte Jamu das getan? Die naheliegendste Antwort, auf die sie kam, war natürlich, dass es dem Mann einfach Freude bereitete, sie zu quälen, aber irgendetwas sagte ihr, dass das nicht die ganze Wahrheit war.
Das plötzlich lauter werdende Murmeln und Raunen der Menge drang wie das Geräusch eines plötzlichen Windstoßes im Blätterdach des Waldes an ihr Ohr und ließ sie aufsehen. Sarn und sein Begleiter hatten das Tor in der Umzäunung fast erreicht. Eine Anzahl Krieger beeilte sich, das Gatter zu öffnen, und Sarn beschleunigte auch tatsächlich seine Schritte, als dieselben Männer, die Arri vorhin hierher eskortiert hatten, nun eine schmale Gasse für ihren neuen Herren bildeten. Jamu hingegen blieb dicht vor dem Tor stehen, und die lebende Gasse in der Menschenmenge schloss sich auch nicht gleich wieder hinter Sarn.
Erneut ging eine Woge sichtbarer Bewegung, untermalt von einem dumpfen Chor murmelnder, erschrockener oder gar begeisterter Ausrufe durch die Menge, und Arri sah, dass Sarn ebenfalls stehen geblieben war, sich umgedreht hatte und nun einen Schritt zur Seite trat, um zwei weiteren Männern Platz zu machen, die mit raschen Schritten näher kamen. Im allerersten Moment konnte Arri sie nicht wirklich erkennen, denn ihre Augen waren noch immer voller Tränen, und die Gestalt des Hohepriesters versperrte ihr zusätzlich den direkten Blick auf sie. Dann aber sog sie so erschrocken die Luft ein, dass sie sich an ihrem eigenen Speichel verschluckte und qualvoll zu husten begann.
Jeder der beiden Männer führte einen gewaltigen, struppigen Hund mit sich. Die Tiere waren größer als neugeborene Kälber und so massig, dass sie fast wie kleine Bären aussahen. Selbst über die große Entfernung hinweg konnte Arri ihre gewaltigen Gebisse erkennen, und sie zerrten und rissen so ungeduldig an ihren Stricken, dass selbst die beiden kräftigen Männer, die sie hielten, alle Mühe zu haben schienen, sie zu bezwingen. Ihr wütendes Knurren und Kläffen übertönte das aufgeregte Murmeln und Rumoren der Zuschauermenge.
Eine eisige Hand griff nach Arris Herzen und drückte es mit unbarmherziger Kraft zusammen. Für einen Moment bekam sie keine Luft mehr, und ihre Angst wurde so übermächtig, dass sie ihr abermals das Bewusstsein zu rauben drohte; alles begann sich um sie zu drehen, und von den Rändern ihres Gesichtsfeldes aus wuchsen graue Schatten rasch und lautlos heran. Diesmal wehrte sich Arri nicht gegen die Ohnmacht, sondern flehte sie nahezu herbei, und diesmal war es das Schicksal, das das Angebot ablehnte, das sie ihm machte. Ihr Herz hämmerte plötzlich wie wahnsinnig weiter, sie konnte wieder atmen, und auch die Nebel hoben sich wieder von ihren Augen.
Das also hatte Jamu gemeint, als er ihr zugeflüstert hatte, dass sie die Anweisung hätten, nicht sofort an die Kehle zu gehen.
Von allen Todesarten, die Arri sich ausgemalt hatte, war dies vielleicht nicht die Schlimmste, aber zweifellos die, vor der sie die größte Angst hatte. Sie hatte davon gehört, auch wenn es so lange her war, dass sie sich bis eben nicht einmal richtig daran erinnert hatte: ganz besonders wilde, blutrünstige Tiere, in deren Ahnenreihe sich eindeutig mehr Wölfe als zahme Hunde fanden und die schon als Welpen darauf abgerichtet wurden, Menschen anzugreifen und bei lebendigem Leibe zu zerreißen. In einigen dieser Geschichten, die besonders die Kinder aus dem Dorf gern erzählt hatten, hatte es geheißen, dass es eine geraume Zeit dauern konnte, bis sie ihre Opfer wirklich töteten, wenn es nicht das Glück hatte, vorher zu verbluten, und mehr als eines dieser Opfer dabei hatte zusehen müssen, wie es bei lebendigem Leibe aufgefressen wurde. Als sie diese Geschichten gehört hatte, war sie ein Kind gewesen, und sie hatte angemessenes Entsetzen verspürt, vor allem aber jenen wohligen Schauer, den solche Geschichten auslösen und der eigentlich der einzige Grund ist, aus dem man sie erzählt oder sich anhört.
Jetzt packte sie ein ganz anderes Entsetzen, kalt, lähmend und begleitet von einer Mischung aus Angst und Hilflosigkeit, wie sie sie trotz allem bisher noch nicht gespürt hatte. Mit einem Male wusste sie, dass all die grässlichen Geschichten wahr waren, die man sich über die Hunde aus Goseg und das, was sie ihren Opfern antaten, erzählte. Sie wollte schreien. Plötzlich war es ihr gleich, ob all diese Menschen hier ihr Wimmern und Kreischen und das verzweifelte Um-ihr-Leben-Betteln hörten, doch ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt; sie brachte nicht einmal mehr ein Keuchen zustande, sondern musste sich mit aller Macht konzentrieren, um überhaupt noch atmen zu können.
Die beiden Hundeführer traten nun auf Jamu zu. Die Tiere zerrten und rissen mit immer größerer Ungeduld an ihren Stricken. Vielleicht witterten sie trotz der großen Entfernung das Blut, das an Arris Beinen hinablief, doch die beiden Männer ließen sie noch nicht los, sondern zerrten sie mit sichtlichem Kraftaufwand weiter zu Jamu hin. Der schwarzhaarige Krieger ließ sich in die Hocke sinken und streckte die rechte Hand aus, und die beiden geifernden Ungeheuer, die sich noch gerade wie tollwütig gebärdet hatten, sprangen plötzlich auf ihn zu und leckten ihm schwanzwedelnd Hände und Gesicht ab. Jamu ließ sie eine kurze Weile gewähren, dann bedeutete er den Männern, die die Stricke hielten, loszulassen. Die beiden Krieger schienen es plötzlich sehr eilig zu haben, denn sie fuhren auf der Stelle herum und rannten die wenigen Schritte zum offen stehenden Tor zurück, während sich Jamu erneut vorbeugte und die Stricke aufknotete, die noch immer um die Hälse der Hunde lagen.
Eines der Tiere richtete sich spielerisch auf die Hinterläufe auf und versuchte erneut, ihm das Gesicht abzulecken, wobei er ihm ohne Anstrengung die Vorderpfoten auf die Schultern legte, das andere aber drehte plötzlich den Kopf und blickte in Arris Richtung. Sein Schwanzwedeln erlosch, und Arri konnte sehen, wie sich die gewaltigen Muskeln unter seinem struppigen Fell spannten. Dann aber rief ihm Jamu einen scharfen Befehl zu, und das Tier machte gehorsam einen Schritt rückwärts. Es entspannte sich sichtlich, aber sein Blick ließ Arri keinen Moment lang los.
Noch einmal verging eine kurze Weile, in der Jamu mit den beiden gewaltigen Hunden spielte, als wären es Welpen, dann sank er auf die Knie, wickelte das zerrissene Kleid ab, das er sich um den linken Arm geschlungen hatte, und ließ den Stoff plötzlich wie eine Peitsche knallen, um damit nach der empfindlichen Schnauze eines der Hunde zu schlagen. Das Tier stieß ein schrilles, überraschtes Heulen aus und prallte einen Schritt zurück, versuchte aber fast unmittelbar darauf, nach dem Stoff zu schnappen. Jamu zog ihn mit einer tausendfach geübten Bewegung weg und versetzte nun auch dem anderen Hund einen Hieb auf die Nase, der empfindlich wehtun musste. Dann stand er hastig auf, warf den Stofffetzen in die Höhe, und die beiden Hunde schnappten gleichzeitig danach und bekamen ihn an zwei Enden zu fassen. Ein wütendes Knurren und ein rasches, kraftvolles Kopfschütteln, und der zähe Stoff zerriss wie trockenes Laub. Einen Moment lang schüttelte jede der beiden Bestien noch ihr erbeutetes Stück, dann klatschte Jamu in die Hände und begann sich gleichzeitig rückwärts gehend und sehr schnell von den Hunden zu entfernen.
Und die beiden Ungeheuer stürmten los.
Arri registrierte entsetzt, wie schnell sie waren. Vielleicht noch einen, höchstens aber zwei Atemzüge, und sie mussten heran sein. Ihre schrecklichen Fänge waren gebleckt, aber sie hatten aufgehört zu knurren und aufgeregt zu kläffen, sondern stürmten nun vollkommen lautlos heran, und ein allerletzter, zwar klarer, nichtsdestoweniger aber völlig unvernünftiger Gedanke blitzte hinter Arris Stirn auf: nämlich der, was für eine grausame Ironie des Schicksals es doch war, dass es nun so enden musste, wo es doch damit angefangen hatte, dass sie um ein Haar von einem Wolf zerrissen worden wäre. Aber vielleicht war das ja das Schicksal, das ihr zugedacht war, und dies war einfach der Preis, den sie für die Zeit bezahlen musste, die sie ihm abgetrotzt hatte, denn der Tod unter den Fängen des Wolfes wäre mit Sicherheit gnädiger gewesen als das, was diese beiden abgerichteten Ungeheuer ihr antun würden.
Sie versuchte die Augen zu schließen, als die beiden Tiere auf zehn oder zwölf Schritte heran waren, aber nicht einmal mehr das konnte sie. So kam es auch, dass sie den Speer, der aus dem nahen Waldrand herangeflogen kam und das vordere der beiden Tiere mitten im Sprung traf, es herumriss und regelrecht gegen den Boden nagelte, ebenso deutlich sah wie jeder andere hier.
Das Tier starb so schnell, dass ihm nicht einmal mehr Zeit für einen erschrockenes Jaulen blieb.
Dafür stürmte der zweite Hund umso schneller heran. Arri begriff nicht wirklich, was sie sah, ebenso wenig wie alle anderen hier, denn im gleichen Atemzug, in dem der Speer den Hund niedergeworfen hatte, war es nahezu vollkommen still geworden. Sie konnte nur den Hund anstarren, der immer schneller und schneller näher kam, seine gewaltigen, spitzen Fänge, die sich in ihr Fleisch bohren und es zerreißen mussten, noch bevor ihr Herz das nächste Mal geschlagen hatte, und erneut überkam sie ein Gefühl vollkommen absurder Heiterkeit, als ihr klar wurde, dass ihr Leben tatsächlich von dieser einzigen, lächerlich kurzen Zeitspanne abhängen sollte.
Die Pfoten des Hundes trommelten wie die Hufe eines durchgehenden Ochsen auf den Boden. Flockiger weißer Geifer sprühte aus seinem Maul, als er sich abstieß und in einem gewaltigen Satz auf sie zuflog.
Ein Schatten huschte so dicht an Arri vorbei, dass sie das helle Sirren seines gefiederten Endes zu hören glaubte, und riss den Hund im Flug herum.
Der Pfeil war nicht gut genug gezielt gewesen, um das Tier sofort tödlich zu treffen, aber seine Wucht hatte ausgereicht, um es aus der Bahn zu werfen, und die dreieckige Spitze aus Feuerstein grub eine blutige Furche quer über sein Gesicht und bohrte sich tief in seine Schulter. Mit einem schrillen Heulen stürzte der Hund zu Boden, überschlug sich zwei oder drei Mal und heulte noch lauter auf, als der Pfeil dabei abbrach und sich zugleich noch tiefer in sein Fleisch bohrte.
Und als wäre dieser Laut ein Signal gewesen, endete die atemlose Stille, die bisher über dem Platz gelegen hatte. Ein ganzer Chor ebenso erschrockener wie wütender oder auch ängstlicher Schreie gellte auf, und überall längs des dreiseitigen Zaunes schien gleichzeitig das Chaos loszubrechen. Das Tor flog auf, und Jamu und mehr als ein halbes Dutzend Krieger stürmten in das Gehege, doch Arri hatte nur Augen für den Hund.
Das Tier warf sich mit einem wütenden Heulen und Jaulen hin und her. Blut lief über sein Gesicht und tropfte aus seinem weit aufgerissenen Maul, während es immer wieder versuchte, nach dem abgebrochenen Schaft des Pfeils zu schnappen, der kaum noch auf der halben Länge eines Fingers aus seiner Schulter ragte. Der Pfeil hatte den Hund aus der Bahn geschleudert, aber er war keine drei Schritte von Arri entfernt, und wenn sie auch nur eine einzige, falsche Bewegung machte, dann würde er sich zweifellos auf sie stürzen, halb wahnsinnig vor Angst und Schmerz und Wut, wie er war. Sie erstarrte zur Reglosigkeit.
Aber vielleicht war es dazu schon zu spät. Jamu und seine Krieger stürmten heran. Der Großteil der Männer und auch Jamu selbst hatten Kurs auf den Waldrand genommen, von woher der Speer und auch der Pfeil gekommen waren, aber zwei oder drei Männer rannten auch mit gezückten Schwertern und weit ausgreifenden Schritten auf Arri zu, und als wäre das allein noch nicht genug, hörte die verwundete Bestie vor ihr plötzlich auf, nach ihrer eigenen Schulter zu schnappen, drehte mit einem wütenden Knurren und einem Ruck den Kopf in ihre Richtung und versuchte taumelnd in die Höhe zu kommen. Ihre Vorderläufe knickten unter dem Gewicht ihres eigenen Körpers weg, was sie mit einem neuerlichen, noch gequälteren Aufheulen quittierte, aber sie sprang sofort wieder hoch und stürzte sich auf sie.
Später, bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie über diese Momente sprach, sollte sie stets behaupten, es wäre kühle Überlegung und die Erinnerung an das gewesen, was ihre Mutter sie gelehrt hatte, aber die Wahrheit war, dass sie niemals ganz begriff, woher sie die Kaltblütigkeit genommen hatte, einfach nur ruhig dazustehen und abzuwarten, bis das tobende Ungeheuer genau in der richtigen Entfernung angekommen war. Dann riss sie das rechte Bein in die Höhe und trat ihm mit aller Gewalt, die sie aufbringen konnte, mit der Ferse gegen die Schnauze.
Das schrille Heulen des Hundes hörte wie abgeschnitten auf. Arri keuchte vor Schmerz, als einer seiner langen Reißzähne abbrach und sich wie eine Messerspitze tief in ihre Fußsohle grub, aber sie hörte zugleich auch den hellen, knackenden Laut, mit dem sein Genick brach.
Der Schwung seines angefangenen Sprunges riss den Hund noch weiter nach vorne, sodass er schwer gegen Arri prallte und sie abermals das Gefühl hatte, ihre Arme würden ihr aus den Gelenken gerissen, aber der erwartete Schmerz, mit dem sich seine Fänge in ihre Kehle graben mussten, blieb aus. Der Hund schlitterte noch ein gutes Stück weiter, wobei er sich mehrmals überschlug, dann blieb er vollkommen reglos liegen.
Dafür waren die Krieger, die in Arris Richtung stürmten, fast heran. Einer von ihnen hatte bereits sein Schwert erhoben, und Arri bezweifelte, dass er es getan hatte, um ihre Fesseln damit durchzuschlagen, denn sein Gesicht war eine einzige Grimasse des Hasses. Genau wie der Hund zwei Herzschläge zuvor schien er immer schneller zu werden, je näher er kam, aber der Pfeil, der ihn aufhalten sollte, war eindeutig besser gezielt. Das Geschoss traf seine Stirn genau zwischen den Augen und riss seinen Kopf zurück. Als hätte sein Körper noch nicht wirklich begriffen, was geschehen war, machten seine Beine noch einen weiteren, stolpernden Schritt, wodurch seine Schultern in einer fast schon grotesk anmutenden Bewegung nach hinten geschleudert und seine Arme hoch in die Luft geworfen wurden. Das Schwert flog davon, und der sterbende Krieger vollführte einen halben Überschlag, bevor er mit dem Gesicht nach unten auf dem aufgeweichten Boden aufschlug.
Auch seine Kameraden prallten erschrocken mitten im Schritt zurück. Mindestens zwei von ihnen waren Arri nahe genug, um sie binnen eines Atemzuges erreichen zu können und zu Ende zu bringen, was die beiden Hunde und ihr Freund angefangen hatten, aber das Schicksal ihrer Vorgänger schien sie doch ziemlich beeindruckt zu haben. Für einen einzigen, wenn auch endlos erscheinenden Moment standen sie unschlüssig und wie gelähmt da, dann fuhr der Erste herum und suchte sein Heil in der Flucht, und als wäre das ein Signal gewesen, folgten ihm seine Kameraden.
Arri begann immer verzweifelter an ihren Fesseln zu zerren. Ihre Handgelenke waren längst aufgeschürft und bluteten, und sie war nicht ganz sicher, was zuerst nachgeben würde - ihre rechte Schulter oder der Pfahl, an den ihre Arme gebunden waren, aber darauf nahm sie nun keine Rücksicht mehr. Das Wunder, auf das sie gehofft hatte, war geschehen, und ganz gleich, welchen Preis sie dafür bezahlen musste, sie musste hier weg. Arri entfesselte die ganze gewaltige Kraft, die ihr die schiere Todesangst verlieh, und zerrte und riss an den Stricken, bis sie spürte, dass sie vor lauter Schmerz die Besinnung verlieren würde, wenn sie auch nur noch einen Augenblick weitermachte. Die beiden Pfähle hatten noch nicht einmal eine Winzigkeit nachgegeben.
Auch, wenn es ihr wie eine geraume Weile vorgekommen war, so konnten seit dem Moment, in dem plötzlich alles anders wurde, doch nur wenige Herzschläge verstrichen sein, denn als sie verzweifelt den Kopf drehte und zum Waldrand sah, in der festen Erwartung, ihre Mutter zu erblicken, die zusammen mit Dragosz mit einem gewaltigen Heer unbesiegbarer Krieger gekommen war, um sie zu retten (sie war nicht da), erblickte sie Jamu. Die Männer in seiner Begleitung hatten gerade einmal die halbe Entfernung dorthin zurückgelegt. Alle hatten ihre Waffen gezogen und ihre großen Schilde gehoben, und zumindest einem der Männer half dieses Schild sogar - oder hätte ihm geholfen, wäre auch jetzt wieder aus dem Wald ein Pfeil geflogen gekommen.
Unglückseligerweise war es ein Speer, der den geflochtenen Schild so mühelos durchschlug, als wäre er gar nicht da, und sich in die Brust seines Besitzers bohrte. Der Mann taumelte mit einem keuchenden Schrei zurück und brach zusammen, und noch bevor er wirklich zu Boden gestürzt war, gab der Waldrand einen Pfeil frei, der sich mit unglaublicher Präzision in das Knie eines zweiten Kriegers bohrte, der zwar umsichtig genug gewesen war, seinen Schild in die Höhe zu reißen, dabei aber vielleicht des Guten ein wenig zu viel getan hatte. Wie ein gefällter Baum stürzte er zu Boden und wälzte sich im zertrampelten Gras, wobei er kreischend sein Knie umklammerte, und spätestens bei diesem Anblick verlor der Angriff der anderen Männer deutlich an Schwung. Sie waren immer noch sechs oder sieben, und sie waren dem Waldrand mittlerweile nahe genug gekommen, dass die allermeisten von ihnen das Unterholz wohl auch erreicht hätten, ohne von einem weiteren, tückischen Geschoss getroffen zu werden.
Allerdings schien keiner von ihnen besonders erpicht darauf zu sein, zu denen zu gehören, die es vielleicht nicht schafften. Einzig Jamu stürmte noch zwei oder drei Schritte weiter, bevor ihm aufging, dass er plötzlich fast allein war, dann blieb er stolpernd stehen, und ein besseres Ziel hätte er dem versteckten Schützen wahrscheinlich gar nicht mehr bieten können.
Vielleicht rettete ihm sein Zögern aber auch das Leben, denn der Pfeil, der auf ihn gezielt gewesen war, durchschnitt die Luft genau dort, wo er gestanden hätte, hätte er auch nur noch einen einzigen weiteren Schritt getan. Sein gefiedertes Ende streifte Jamus Gesicht, das aber mit solcher Wucht, dass es seine Wange wie eine Messerklinge aus Feuerstein aufschnitt und frisches, hellrotes Blut sein Gesicht und den Bart besudelte. Schreiend vor Wut und Schmerz fuhr er herum und suchte sein Heil in der Flucht, wobei er unwillkürlich einen wilden Zickzackkurs einschlug, um dem Schützen hinter ihnen kein Ziel zu bieten, und genau wie schon einmal war seine Flucht auch das Signal für die anderen, es ihm gleichzutun.
Zu Arris Überraschung verzichteten die geheimnisvollen Angreifer darauf, den flüchtenden Männern in den Rücken zu schießen, um die Anzahl der Gegner zu verkleinern, die ganz zweifellos zu einem Gegenangriff ansetzen würden, sobald sie ihren ersten Schrecken und die Überraschung überwunden hatten. Dafür jedoch wurde der Chor gellender Schreie und entsetzter Ausrufe vom anderen Ende des umzäunten Platzes plötzlich lauter.
Alarmiert wandte Arri den Kopf, konnte aber im allerersten Moment nichts weiter erkennen als ein Bild des reinen Chaos. Etliche der Zuschauer schienen vor Schreck einfach gelähmt zu sein und standen mit aufgerissenen Augen und Mündern da, die meisten aber waren längst herumgefahren und suchten ihr Heil in der Flucht - was bei der Masse der zusammengekommenen Menschen zur Katastrophe führen konnte. Wer schnell genug war oder die Kraft und Rücksichtslosigkeit dafür hatte, der rannte einfach los und schuf sich mit Fausthieben und Ellbogenstößen Platz, und wer nicht, der wurde eben niedergeschlagen oder -getrampelt. Vor allem hinter dem jetzt wieder weit offen stehenden Tor war ein heilloses Durcheinander ausgebrochen, doch Sarn gehörte - und auch das überraschte Arri über die Maßen - zu den wenigen, die nicht in Panik davonzurennen versuchten, sondern schrie ganz im Gegenteil mit schriller Stimme auf seine Krieger ein, sich nicht wie die Feiglinge zu gebärden und sich den Angreifern zu stellen.
Nicht wenige der Männer versuchten auch tatsächlich, seinem Befehl zu folgen, aber das Chaos war einfach zu groß. Viele wurden von den Flüchtenden zu Boden gestoßen oder einfach mitgerissen, andere prallten gegen ihre Kameraden, die sich von der allgemeinen Panik hatten anstecken lassen, verhedderten sich in ihre Leiber und Glieder und stürzten zusammen mit ihnen zu Boden oder wurden gegen den Zaun gedrückt, bis entweder ihre Knochen oder die dicken Holzstämme nachgaben. Meistens waren es wohl Rippen oder Arme und Beine der Männer, doch an mindestens drei Stellen brach die Umzäunung splitternd unter dem Ansturm der Masse zusammen, und plötzlich hallte der große Platz von zahllosen, gellenden Schmerzens- und Angstschreien wider.
Und trotzdem, und obwohl es eigentlich unmöglich war, konnte Arri Sarns Stimme immer noch hören. »Tötet das Hexenkind!«, schrie er. »Ihr müsst sie töten! Das ist die Strafe der Götter dafür, dass sie noch am Leben ist!« Niemand hörte auf ihn. Wahrscheinlich hörte ihn überhaupt niemand, außer Arri, und selbst sie war plötzlich nicht mehr sicher, ob sie die Worte tatsächlich hörte oder sich nur einbildete. Wie durch ein Wunder war der Hohepriester bisher noch nicht zu Boden geschleudert oder einfach von der Menge aufgesogen worden, auch, wenn das Chaos ringsum immer nur noch schlimmer wurde.
Allmählich begann sich Arri zu fragen, was überhaupt geschehen war. Der Angriff war überraschend und mit erschreckender Präzision erfolgt, aber so sehr sie Sarn und seine Krieger auch verachtete, wusste sie doch, dass die Männer keine Feiglinge waren. Und allein die Art des plötzlichen Überfalls machte sogar ihr klar, dass es sich bei den Angreifern vermutlich nicht um ein ganzes Heer handelte, sondern nur um einige wenige. Sarns Krieger mussten das ebenso erkannt haben wie sie, und doch wurde der Chor entsetzter Stimmen und das Durcheinander flüchtender, rennender Menschen zumindest an der westlichen Seite des Platzes, wo Sarn und seine Krieger standen, eher noch schlimmer.
Dann sah sie den Grund. Auch Sarn war plötzlich verschwunden, als das Chaos rings um ihn herum einen Grad erreichte, bei dem ihn nicht einmal mehr sein bunter Mantel und die Autorität seines Ranges schützen konnte, und Dutzende von Männern und Frauen, die bisher verzweifelt versucht hatten, in die entgegengesetzte Richtung zu fliehen, stürmten plötzlich durch das Tor und ins Innere des Geheges. Nicht wenige von ihnen stürzten und wurden einfach niedergetrampelt. Irgendjemand oder -etwas verfolgte die flüchtende Menge, aber es dauerte noch einmal endlose Augenblicke, bis Arri sah, was es war.
Es waren Wildschweine; kleine struppige Ungeheuer mit gefährlichen Hufen und tödlichen Hauern, Dutzende, die wie eine lebende, braunschwarz gestreifte Flut aus dem Wald herausbrachen und alles niedertrampelten, was sich ihnen in den Weg stellte. Die Tiere mussten halb wahnsinnig vor Angst sein, denn Arri wusste, dass selbst diese gefährlichen Kreaturen, die sehr wohl um ihre Kraft wussten und sie rücksichtslos einsetzten, gewöhnlich niemals gegen eine so große Menschenmenge vorgegangen wären. Das schrille Kreischen der heranstürmenden Schweine vermischte sich mit dem Chor entsetzter Schreckens- und Schmerzensschreie der Flüchtenden. Nur einer von Sarns Kriegern war tatsächlich so dumm, sich der lebenden braunen Flutwelle in den Weg stellen zu wollen und mit seinem Speer nach einem der Tiere zu stoßen, aber er bezahlte diesen Leichtsinn, den allerhöchstens er selbst mit Tapferkeit verwechselte, augenblicklich mit dem Leben. Seine Speerspitze rammte sich tief in den Leib eines Ebers, doch das Tier riss ihn noch im Todeskampf mit sich zu Boden, und er wurde von den nachfolgenden einfach niedergetrampelt. Von einigen der Tiere schien grauer Dunst oder Nebel aufzusteigen.
Arri bemerkte seltsam teilnahmslos, dass sich die durchgehende Wildschweinrotte genau in ihre Richtung bewegte. Sie hätte erschrecken müssen, aber wahrscheinlich fehlte ihr dazu mittlerweile einfach die Kraft. Ganz im Gegenteil war sie auf eine hysterische Art fast amüsiert, als ihr durch den Kopf schoss, dass sie vielleicht all das nur überlebt hatte, um von einer toll gewordenen Wildschweinherde zu Tode getrampelt zu werden. Falls Sarn zu den Überlebenden dieses Tages gehörte, dachte sie, dann wäre das für ihn vermutlich eine interessante Anregung, was das zukünftige Schicksal seiner Feinde anging.
Plötzlich durchschnitt ein einzelner, gellender Schrei das Chaos, so hoch und spitz und voller Entsetzen, dass für einen Moment jeder andere Laut bedeutungslos zu werden schien. Auch Arri hob mit einem erschrockenen Ruck den Kopf und sah wieder zum Tor hin, und ihre Augen weiteten sich ungläubig, als sie das riesige, schwarze Pferd sah, dass der Wildschweinrotte unmittelbar folgte. Seine Hufe schienen Funken aus dem Boden zu schlagen, und aus seinen Nüstern schoss brodelndes Feuer, das sich erbarmungslos auf die Tiere herabsenkte, die nicht schnell genug flohen.
Es war dieser schwarze Hengst, ein Ungeheuer wie ein lebendig gewordener Albtraum, der die gesamte Meute Wildschweine in Panik versetzt und aus dem Wald getrieben hatte, und die Wirkung, die er auf die Menschen hatte, die ihn sahen, war kaum weniger verheerend. Auch der Letzte der Krieger schleuderte seine Waffe davon und suchte sein Heil in der Flucht, und der Chor aus gellenden Schreien wurde noch lauter und verzweifelter. Die Erde bebte jetzt unter den Schritten hunderter von Menschen, die verzweifelt versuchten, sich irgendwie in Sicherheit zu bringen, und die Luft war erfüllt von dem Gestank von Angst und Blut, und das Ungeheuer wurde plötzlich noch schneller und schien wie ein Pfeil auf das offen stehende Tor zuzufliegen.
Seine Nüstern spien immer noch Feuer. Eines der Wildschweine wurde getroffen und ging fast schlagartig in Flammen auf, um quiekend und brennend weiter zu rennen. Wer ihm nicht schnell genug aus dem Weg sprang, der wurde niedergetrampelt, falls er nicht das Pech hatte, dass seine Kleider und sein Haar ebenfalls Feuer fingen, und auch mindestens einer von Nors Kriegern war einfach nicht schnell genug und wurde von den Flammen erfasst, die das Dämonenpferd spie. Sein Mantel stand plötzlich in hellen Flammen, und er versengte und verbrannte noch andere, während er schreiend und verzweifelt versuchte, sich des Kleidungsstücks zu entledigen und gleichzeitig auf die Flammen einzuschlagen, die auch aus seinem Bart und seinem Haupthaar züngelten.
Der Anblick ließ Arri erstarren. War es das, was das Schicksal ihr zugedacht hatte? Hatte Sarn Recht gehabt, und sie war hier, um die gerechte Strafe seiner Götter entgegenzunehmen? Vielleicht hatten sie dieses Ungeheuer geschickt, diesen Dämon, der nicht nur gekommen war, um sie zu verderben, sondern auch Sarn und alle anderen hier nachhaltig daran zu erinnern, dass es grausame und unbarmherzige Götter waren, die sie anbeteten, nicht die nachsichtigen und sanften Götter, von denen ihre Mutter immer erzählt hatte. Viel zielsicherer als die Schweine, die sich nun in der Weite des Geheges wahllos verteilten, dabei aber auch immer noch alles niedertrampelten, was sich ihnen in den Weg stellte, raste der schwarzen Dämon auf sie zu, immer noch Feuer speiend und aufwirbelnden Hufen.
Aber irgendetwas an diesem Ungeheuer... stimmte nicht. Arri konnte das Gefühl nicht in Worte fassen - dafür hatte sie viel zu große Angst -, doch an diesem Pferd war etwas nicht so, wie es sein sollte. Es kam ihr auf unheimliche Weise... bekannt vor, fast wie Nachtwind, der Hengst ihrer Mutter, nur dass dieser so unglaublich groß und wild war und dass Feuer aus seinen Nüstern kam, aber da war auch noch etwas, das sie einfach nicht begreifen konnte. Das Ungeheuer näherte sich ihr weiter, zehnmal schneller, als die Hunde oder Sarns Krieger oder auch die Wildschweine es getan hatten. Einer der Männer, die sich noch auf ihrem verzweifelten Rückzug vom Waldrand befunden hatten, stolperte hastig zurück, um nicht von den hämmernden Hufen niedergetrampelt zu werden, und für einen Moment war das schwarze Pferd zwischen ihm und Arri.
Als der Augenblick vorüber war und sie ihn wieder sehen konnte, hatte er keinen Kopf mehr.
Arri keuchte vor Schrecken, als sie sah, wie der enthauptete Mann noch einen Moment stehen blieb und dann mit haltlos pendelnden Gliedern zur Seite kippte, während sein Kopf in die andere Richtung über das Gras rollte. Das Pferd stürmte weiter heran, und ein anderer von Jamus Begleitern, der aus dem Schicksal seines Kameraden gelernt hatte, brachte sich mit einem verzweifelten Sprung in Sicherheit, und dann, plötzlich, war das Ungeheuer da, und Arri, die immer noch hilflos gefesselt zwischen den beiden Pfählen hing, konnte nichts anderes tun, als hastig den Kopf zwischen die Schultern zu ziehen und zu hoffen, dass die wirbelnden Hufe sie verfehlen würden.
Sie schlugen nicht einmal nach ihr. Nachtwind - es war Nachtwind! - stieg unmittelbar vor ihr mit einem schrillen Wiehern. Seine wirbelnden Vorderbeine fuhren wie tödliche Äxte durch die Luft und sorgten dafür, dass niemand auch nur auf die Idee kam, sich in ihre Nähe zu wagen, dann schnitt etwas Helleres und Schärferes mit einem zischenden Laut durch die Luft und kappte das Seil, das ihren linken Arm hielt. Arri brach mit einem erschöpften Keuchen zusammen, aber sie erinnerte sich gerade noch rechtzeitig genug daran, dass sie immer noch mit der anderen Hand an den Pfahl gebunden war und der Ruck ihre verletzte Schulter wahrscheinlich nicht nur endgültig ruinieren, sondern der dazugehörige Schmerz sie vermutlich auch um den Verstand bringen würde, und sie fing ihren Sturz ungeschickt mit der plötzlich frei gewordenen Hand ab. Nachtwinds Vorderhufe peitschten immer noch durch die Luft, während sich der riesige Hengst halb auf der Hinterhand umdrehte, und erst in diesem Moment wurde Arri klar, was sie an seinem Anblick so gestört hatte.
Nachtwind war nicht durch einen Fluch in etwas Schreckliches verwandelt worden. Seine Hufe schlugen keine Funken aus dem Boden, und aus seinen Nüstern kam auch kein Feuer.
Ebenso plötzlich, wie die Vision sie ergriffen hatte, gewann der Hengst seine normale Größe zurück, und sie sah die schlanke, hell-haarige Gestalt, die sich mit einem Bein und einem Arm an seinem Rücken und Hals festklammerte, während ihre freie Hand ein blitzendes Schwert schwang, dass sich schnell und zielsicher wie ein eingefangener Sonnenstrahl auf Arris andere Fessel herabsenkte und sie so dicht über dem Handgelenk kappte, dass sie tatsächlich den Luftzug spüren konnte, den die Waffe verursachte.
Ihre Kräfte versagten nun endgültig. Arri brach zusammen, aber ihre Mutter bewegte sich plötzlich mit einer Schnelligkeit, an der nichts Natürliches mehr zu sein schien. Ohne das Schwert loszulassen, gelang es ihr irgendwie, Arris Handgelenk zu packen, sich gleichzeitig ganz auf Nachtwinds Rücken hinaufzuschwingen und den Schwung dieser Bewegung zu nutzen, um auch sie zu sich heraufzuziehen; selbstverständlich an ihrem verletzten Arm.
Wenn sie bisher gedacht hatte, die Grenze dessen erreicht zu haben, was ein Mensch ertragen konnte, so sah sie sich getäuscht. Der Schmerz war so grässlich, dass sie aufbrüllte und ihr schwarz vor Augen wurden. Sie spürte kaum, wie Lea sie rücksichtslos weiter zu sich heraufzerrte, sie irgendwie vor sich auf den Rücken des Pferdes hievte und es gleichzeitig auch noch fertig brachte, die Fackel, mit der sie die Schweine vor sich hergetrieben hatte, ins Gesicht eines Mannes zu schleudern, der klug genug gewesen war, die Wahrheit ebenso zu erkennen wie Arri, zugleich auch dumm genug, sie angreifen zu wollen. Der Krieger reagierte blitzschnell, zog den Kopf ein und entging so dem brennenden Holz, bewegte sich dabei aber so ungeschickt, dass einer von Nachtwinds Hufen seinen Schädel traf und diesen auf der Stelle zertrümmerte.
»Halt dich fest!«, schrie Lea.
Irgendwie brachte es Arri fertig, tatsächlich auf ihre Worte zu reagieren. Alles drehte sich um sie. Die Welt war zu einem Durcheinander aus zusammenhanglosen Bildern, Geschrei, Gestank und Schmerz geworden, sie hatte das Gefühl, in Stücke gerissen zu werden, und ihr war unvorstellbar übel; trotzdem klammerte sie sich instinktiv mit den Schenkeln an Nachtwinds Flanken, und ihre Hände gruben sich tief in seine schwarze Mähne. Wie in einem Traum gefangen, bemerkte sie, wie ihre Mutter den Hengst in einer harten Bewegung herumzwang, ihm fast gleichzeitig die Fersen in die Seiten stieß und das Tier mit einem protestierenden Schnauben losgaloppierte.
Vielleicht stellten sich ihnen noch weitere Männer in den Weg, vielleicht auch nicht. Arri hörte nur Schreie, das Klirren von Waffen und die schrecklichen Geräusche, die sterbende Menschen von sich geben, dann waren sie irgendwie durch das Tor und auf der anderen Seite und pflügten durch eine Menschenmenge, die einfach nicht so schnell vor ihnen zurückweichen konnte, wie sie es wollte. Mehr als einer wurde unter Nachtwinds wirbelnden Hufen zu Tode getrampelt, und die wenigen, die dumm oder verzweifelt genug waren, sich ihrer Mutter entgegenzustellen, fielen unter den wuchtigen Hieben ihres Schwertes.
Und dann war es vorbei. Plötzlich, von einem Atemzug auf den anderen, war niemand mehr da. Die Schreie wurden leiser und hörten dann ganz auf, und als hätte die Wirklichkeit plötzlich Löcher bekommen, über die der riesige Hengst einfach hinwegsetzte, waren mit einem Male auch das Gehege und das Langhaus verschwunden, und sie sprengten, schnell wie ein fliegender Pfeil, einen gewundenen Weg hinab, der sich zwischen dicht an dicht stehenden Bäumen und wucherndem Unterholz hindurchschlängelte.
»Halt dich fest!«, schrie ihre Mutter noch einmal. »Wir haben es gleich geschafft!«
Die Welt begann sich immer schneller um Arri zu drehen. Barmherzigerweise erloschen die Schmerzen in ihrem Körper nach und nach, nicht aber die Übelkeit, und sie spürte eine große, allumfassende Dunkelheit, die langsam unter ihren Gedanken heranwuchs. Es fiel ihr immer schwerer, sich mit Beinen und Händen an Nachtwind zu klammern. Irgendetwas stimmte mit ihren Augen nicht, denn sie sah plötzlich nur noch verschwommen, und was sie sah, hatte doppelte oder gar dreifache Umrisse. Dann erlosch auch die Angst. Alles wurde leicht.
»Kannst du noch?«, fragte Lea alarmiert.
»Selbstverständlich, mach dir keine Sorgen«, antwortete Arri und fiel in Ohnmacht.