Drei Tage und drei Nächte lang rang Kron mit dem Tod und mit ihm das ganze Dorf; schließlich gewann er diesen Kampf, auch wenn er nie wieder derselbe Mann sein sollte, als der er zusammen mit seinen Brüdern weggegangen war. Für Arri war es, als wollten diese Tage kein Ende nehmen. Unentwegt hallte das Dorf vom dumpfen Dröhnen der Trommeln wider, die Sarn schlagen ließ, um Mardan gnädig zu stimmen, und je nachdem, wie der Wind stand, konnte man die schrille Altmännerstimme des Schamanen hören, dessen Singsang so wenig eine Pause fand wie das Trommelschlagen und die gemurmelten Gebete der anderen, die nicht auf den Feldern waren und die überreiche Ernte dieses Sommers einbrachten.
Auch Arri fand kaum Schlaf in dieser Zeit. Zwei oder drei Mal jeden Tag schickte ihre Mutter sie mit frischen Kräutern und Heiltränken zur Hütte des Jägers, wo sie darauf achtete, dass ihm die Tinkturen auch zuverlässig eingeflößt, sein Verband ebenso regelmäßig erneuert wie die Wunde sauber gehalten wurde. Die ersten ein oder zwei Mal konnten sich Sarn - und vor allem natürlich Rahn! - eine böse Bemerkung nicht verkneifen. Einmal erntete sie sogar eine wütende Beschimpfung des jungen Fischers, die sie aber ebenso wenig zur Kenntnis nahm, wie sie so tat, als fielen ihr das Getuschel und die verstohlenen Blicke der anderen nicht auf, die sie ihr immer dann zuwarfen, wenn sie glaubten, sie merke es nicht. Bald jedoch verstummten die boshaften Kommentare, und Sarn beließ es dabei, sie mit eisigen Blicken zu messen und die Gaben ihrer Mutter wortlos entgegenzunehmen.
Arri glaubte jedoch nicht, dies könne etwa daran liegen, dass sich Sarns Groll ihrer Mutter und auch ihr gegenüber allmählich legte. Vielmehr verfiel der Schamane immer stärker in einen Zustand vollkommener körperlicher und geistiger Erschöpfung, denn er schien sich vorgenommen zu haben, so lange über Krons Lager zu wachen, bis dieser entweder starb oder die Augen aufschlug. Am Ende des dritten Tages hätte Arri nicht mehr darauf gewettet, welcher der beiden zuerst die beschwerliche Reise in das ewige Reich des Todes antreten würde.
Sie erlebte jedoch noch etwas anderes, was ihr neu und auf erschreckende Weise unangenehm war: Zum allerersten Mal, solange sie sich zurückerinnern konnte, brach ihre Mutter ihr Wort. Sie hatte versprochen, sich selbst um den verletzten Jäger zu kümmern, doch sie verließ ihre Hütte kein einziges Mal, und als Grahl am Mittag des zweiten Tages zu ihr kam und sie bat, sich um seinen Bruder zu kümmern, dessen Zustand sich offenbar dramatisch verschlechtert hatte, schickte sie ihn mit ein paar groben Worten und der Bemerkung fort, dass es nichts in ihrer Macht Stehendes mehr gab, was Sarn und seine Götter, die er ununterbrochen anwimmerte, nicht besser könnten. Arri verstand diese Äußerung ihrer Mutter nicht, auch wenn sie sie kaum noch überraschte. Seit dem Tag, an dem sie den Streit zwischen ihr und Nor belauscht hatte, hatte sich ihre Mutter verändert, und diese Veränderung war weder abgeschlossen, noch war es eine Veränderung zum Guten.
An dem Abend, der der Rückkehr der Jäger folgte, gingen sie nicht wieder hinaus in den Wald, und auch nicht an dem danach, doch in der dritten Nacht wurde Arri von ihrer Mutter weit vor Sonnenaufgang mit den Worten geweckt, dass sie sich nun genug ausgeruht habe und es an der Zeit sei, ihre Ausbildung fortzusetzen. Obwohl Arri noch immer jeder Knochen im Leib wehtat und ihr Muskelkater eher schlimmer als besser geworden war, freute sie sich innerlich darauf, war zugleich aber auch beinahe erschrocken; nach allem, was durch den Angriff auf die Jäger geschehen war und vielleicht noch geschehen würde, kam es ihr irgendwie unangemessen vor, jetzt einfach so weiterzumachen, als wäre nichts passiert; und sie fühlte sich auch ein bisschen schuldig, weil ihr allein der Gedanke, wieder mit ihrer Mutter hinaus in den Wald zu gehen, Freude bereitete, wo doch über das Dorf ein so großes Unglück gekommen war.
Dennoch folgte sie Lea widerspruchslos, als sie sie zu der kleinen Lichtung im Wald führte, in deren Mitte die Quelle entsprang. Dort angekommen, wollte sie den Rock abstreifen und sich nach dem Ast bücken, der noch immer genau dort lag, wo sie ihn fallen gelassen hatte, aber ihre Mutter schüttelte den Kopf und zog einen drei Finger breiten Streifen aus gegerbtem Leder aus dem Ausschnitt ihres Kleides. »Heute üben wir etwas anderes«, sagte sie. »Dreh dich um.«
Arri sah sie verwirrt und auch etwas beunruhigt an, gehorchte dann aber, und ihre Mutter trat hinter sie, verband ihr mit dem Lederstreifen die Augen und knotete ihn nachlässig an ihrem Hinterkopf fest. »Jetzt zähl langsam bis dreißig.«
»Dreißig?«, wiederholte Arri verständnislos.
Ihre Mutter seufzte. »Ja, das habe ich wohl auch versäumt«, murmelte sie. »Also gut: Zähl bis zehn, so weit, wie du Finger an beiden Händen hast, und das dreimal hintereinander. Kannst du das?«
»Natürlich«, antwortete Arri. »Und... dann?«
Darauf bekam sie keine Antwort. Die Schritte ihrer Mutter entfernten sich rasch und waren kurz darauf gar nicht mehr zu hören. Arri bekam es ein bisschen mit der Angst zu tun, beruhigte sich aber selbst damit, dass ihre Mutter schon wissen würde, was sie tat, und zählte schließlich in Gedanken langsam bis zehn und dann noch einmal und noch einmal, bis sie schließlich die Hände hob und den Streifen von ihren Augen riss.
Mit klopfendem Herzen sah sie sich um. Sie war nicht überrascht festzustellen, dass ihre Mutter verschwunden war, aber aus dem unangenehmen Gefühl, das sie die ganze Zeit über gehabt hatte, wurde nun eindeutig Furcht, ganz gleich, wie angestrengt sie auch versuchte, sich selbst zu belügen und das Gegenteil zu behaupten. Dabei war es nicht einmal besonders schwer zu erraten, was ihre Mutter nun von ihr erwartete. Ganz offensichtlich hatte sie die Zeit genutzt, sich irgendwo versteckt, und sie, Arri, sollte sie nun suchen. Das war zwar möglicherweise eine echte Herausforderung, aber Arri war nicht nach Versteckspielen zumute; sie überlegte sogar ganz ernsthaft, ob sie jetzt einen Grund hatte, eingeschnappt zu sein. Schließlich war sie kein kleines Kind mehr. Dann aber zuckte sie mit den Schultern und machte sich auf die Suche.
Anfangs war es nicht einmal besonders schwer. Bis zum Sonnenaufgang musste es noch eine gute Weile hin sein, wenn nicht mehr, aber das Gras war trotzdem schon feucht vom Tau, sodass ihre Schritte deutlich sichtbare Abdrücke darin hinterließen - und die ihrer Mutter natürlich auch. Von der Stelle hinter ihr, an der sie gestanden hatte, führten sie zur Quelle, bogen dann scharf nach rechts ab und verschwanden geradewegs im Wald, und das wortwörtlich.
Neumond war erst seit einem Tag vorbei, doch der Himmel war wolkenlos, und das Licht der Sterne reichte aus, um Leas Fußspuren im Gras deutlich erkennen zu können. Zwischen den Bäumen jedoch herrschte fast vollkommene Dunkelheit, und auch nachdem sie die Augen geschlossen und ein gutes Dutzend Herzschläge lang abgewartet hatte, dass sie sich an die veränderten Lichtverhältnisse hier im Wald gewöhnten, wurde es nicht viel besser. Sie erkannte ihre Umgebung jetzt zumindest schemenhaft, doch es war trotzdem viel zu dunkel, um der Fährte eines Menschen zu folgen. Ganz davon abgesehen, dass es hier zwischen den Bäumen kein Gras gab, sondern nur Moos und Flechten und dürres Unterholz.
Arris Mut sank, aber nur für einen Moment. Ihre Mutter verlangte oft Dinge von ihr, die schwer waren und mit denen sie sich nicht selten überfordert fühlte, aber sie hatte nie etwas Unmögliches von ihr erwartet. Die Aufgabe musste also zu lösen sein. Dieser Gedanke half. Furcht und Niedergeschlagenheit verschwanden, und eine kribbelnde Erregung ergriff von Arri Besitz. Zweifellos stand ihre Mutter irgendwo gut verborgen in den Schatten des Waldes und beobachtete sie, und sie hatte nicht vor, sie zu enttäuschen. Behutsam ließ sie sich in die Hocke sinken, tastete mit den Fingerspitzen über den von der Sommerhitze ausgetrockneten und rissig gewordenen Boden und strengte die Augen an, um in dem schwachen Licht so viel wie nur möglich zu erkennen.
Nach einer Weile hatte sie Erfolg. Nur ein kleines Stück vom Waldrand entfernt entdeckte sie einen Ast mit einer frischen Bruchstelle und in gerade Linie dahinter ein niedergetretenes Mooskissen. Mit einem zufriedenen Lächeln richtete sie sich auf, folgte der Spur und entdeckte weitere, verräterische Hinweise darauf, dass jemand kurz vor ihr hier gewesen war: noch mehr geknickte Äste, noch mehr niedergetretenes Moos und eine frische Schleifspur im trockenen Laub, das den Waldboden bedeckte. Ein grimmiges Lächeln breitete sich auf Arris Zügen aus, als ihr klar wurde, wie wenig Rücksicht ihre Mutter auf ihrem Weg zwischen den Bäumen hindurch genommen hatte; aber die Erkenntnis ärgerte sie auch ein wenig. Sie kannte ihre Mutter nun wahrlich gut genug, um zu wissen, dass sie es ihr nicht absichtlich leicht machen würde. Vielmehr bewies die schon fast überdeutliche Spur, der sie tiefer in den Wald hinein folgte, wie gering ihre Mutter ihre Fähigkeiten einschätzte.
Plötzlich verhielt sie im Schritt. Im allerersten Moment wusste sie selbst kaum, warum, dann wurde ihr klar, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Die Spur aus geknickten Ästen und achtlos beiseite gefegtem Laub führte geradeaus weiter, was nichts anderes bedeutete, als dass ihre Mutter sich irgendwo dort vorne verbarg, und doch hatte sie für einen winzigen Moment das eindringliche Gefühl, beobachtet zu werden. Langsam drehte sie sich einmal im Kreis, sah sich dabei aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen um und setzte ihren Weg schließlich fort, als sie nichts anderes als Schatten und Dunkelheit gewahrte.
Sie hatte noch keine drei Schritte getan, als es über ihr in der Baumkrone raschelte. Erschrocken fuhr Arri herum, aber ihre Bewegung kam zu spät. Ein Schatten stürzte aus den Ästen des Baumes herab, unter dem sie gerade hindurchgegangen war, und ihr blieb nicht einmal Gelegenheit für einen überraschten Ausruf, da wurde sie auch schon getroffen und so wuchtig zu Boden gerissen, dass ihr schwarz vor Augen wurde. Als sie wieder sehen konnte, lag sie lang ausgestreckt auf dem Rücken, und ihre Mutter kniete auf ihr und drückte ihr einen fingerlangen, abgebrochenen Stock gegen die Kehle. »Wenn das hier ein Messer wäre, dann wärst du jetzt tot«, sagte sie ernst.
Arri hätte ihr gern geantwortet, aber sie wagte es nicht. Lea hielt zwar eindeutig kein Messer in der Hand, aber das zersplitterte Ende des Astes war kaum weniger scharf als eine Klinge, und sie drückte es mit solcher Kraft gegen ihren Hals, dass es wirklich wehtat. Alles, was sie als Reaktion wagte, war ein angedeutetes Kopfnicken.
Ihre Mutter hielt die Astspitze gerade lange genug gegen ihre Kehle, dass es wirklich unangenehm wurde, dann stand sie mit einer fließenden Bewegung auf, ließ den Ast fallen und streckte ihr die Hand hin, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Ganz instinktiv wollte Arri danach greifen, aber dann siegte ihr Stolz, und sie erhob sich aus eigener Kraft. Lea sah ihr mit unbewegtem Gesicht zu, aber Arri meinte trotzdem, so etwas wie einen zufriedenen Ausdruck in ihren Augen zu erkennen.
»Weißt du, warum es mir gelungen ist, dich zu überraschen?«, fragte sie.
»Du hast dich in den Ästen versteckt.«
»Und du hast es gemerkt«, antwortete Lea. »Habe ich Recht?«
Arri erinnerte sich an das Gefühl, beobachtet zu werden, und antwortete mit einer Bewegung, die eine Mischung aus einem widerwilligen Nicken und einem Schulterzucken war. »Mmm.«
»Du hast es gemerkt«, beharrte ihre Mutter. »Warum bist du trotzdem weitergegangen?«
»Weil deine Spur in den Wald hineingeführt hat«, erwiderte Arri. Sie bemühte sich, ein möglichst zerknirschtes Gesicht zu machen.
»Ah ja, meine Spur.« Lea schüttelte den Kopf. »Eine ziemlich auffällige Spur, findest du nicht? Ich musste mir richtig Mühe geben, um sicher zu sein, dass du sie auch siehst. Du bist nicht auf die Idee gekommen, dass niemand, der nicht wie ein blindwütiger Ochse durch den Wald trampelt, eine so auffällige Spur hinterlassen würde? Es sei denn, er will, dass du sie siehst?«
»Nein«, gestand Arri zerknirscht.
»Und du bist auch nicht auf die Idee gekommen, dass ich genau auf dieser Spur zurückgehen und mich im Hinterhalt auf die Lauer legen könnte?«, fuhr Lea fort.
Diesmal antwortete Arri gar nicht, sondern sah sie nur betroffen an.
»Du musst wirklich noch viel lernen«, seufzte ihre Mutter. »Deine Sinne sind scharf, sonst hättest du nicht gespürt, dass ich dich beobachte, aber du weißt so erbärmlich wenig darüber, wie du sie benutzen musst.«
»Ich verstehe das nicht!«, begehrte Arri auf. »Was tun wir hier? Warum soll ich das alles lernen? Ich werde es ja trotzdem nie auch nur mit einem einzigen von Nors Kriegern aufnehmen können, wenn sie kommen sollten, um mich zu holen!«
»Darum geht es auch gar nicht. Ich will dir beibringen, am Leben zu bleiben. Ich...« Lea brach ab, biss sich auf die Unterlippe und schüttelte dann heftig den Kopf, als hätte sie sich selbst eine Frage gestellt und auch beantwortet. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme deutlich sanfter. »Bitte verzeih. Ich weiß, ich verlange zu viel von dir. Es ist nicht deine Schuld, dass ich zu lange die Augen vor der Wahrheit verschlossen habe. Aber ich fürchte, uns bleibt nur noch wenig Zeit, und da ist so viel, was du noch lernen musst.« Plötzlich erschien ein fast mildes Lächeln auf ihren Zügen. »Sag es ruhig, wenn ich wieder zu viel von dir verlange.«
»Du verlangst nicht zu viel«, antwortete Arri, Worte, die schon allein ihr Stolz ihr gebot. »Ich würde nur gern verstehen, was wir überhaupt hier tun. Ist es wirklich wegen Nor? Oder doch eher wegen der fremden Krieger, von denen Grahl erzählt hat?«
Wieder antwortete ihre Mutter nicht gleich, sondern sah sie abschätzend an. Dann hob sie die Schultern. »Grahl ist ein Dummkopf und ein Großmaul. Es würde mich nicht wundern, wenn die Krieger, von denen er erzählt hat, in Wahrheit auf vier Hufen laufen und Hauer im Gesicht tragen.«
»Krons Arm sah nicht aus, als wäre er von einem Wildschwein verletzt worden«, gab Arri zu bedenken, doch ihre Mutter lachte nur leise.
»Du hast noch nie gesehen, wozu ein wütender Keiler wirklich fähig ist, wie?«, fragte sie kopfschüttelnd. »Aber wahrscheinlich hast du Recht. Ich vermute, sie sind tatsächlich angegriffen worden - auch wenn ich eher glaube, dass es Jäger eines anderen Stammes waren, in deren Gebiet Grahl und seine Brüder gewildert haben.«
»Und warum dann das alles hier?«, fragte Arri.
»Weil Nor nicht mehr zurück kann und mich zu einer Entscheidung zwingen muss, wenn er nicht vor seinen Priestern das Gesicht verlieren will. Selbst wenn wir es bis zum Frühling herauszögern können: Irgendwann müssen wir hier weg.«
»Und du glaubst, wir werden wie Männer kämpfen müssen, dort, wo wir hingehen?«, fragte Arri besorgt.
»Als ich damals hierher kam, musste ich es«, antwortete ihre Mutter ernst. »Ich hoffe, du wirst nichts von alledem brauchen, was ich dir beibringen werde, aber...«
Sie brach abermals mitten im Wort ab, legte den Kopf auf die Seite und lauschte einen Moment lang mit halb geschlossenen Augen. Arri wollte eine Frage stellen, doch Lea hob rasch und erschrocken die Hand und gebot ihr zu schweigen. Ein konzentrierter, aber auch leicht erschrockener Ausdruck lag plötzlich auf ihren Zügen. Für eine kleine Ewigkeit, wie es schien, stand sie vollkommen reglos da, atmete nicht einmal, und drehte sich schließlich einmal um sich selbst. Der Anteil an Sorge in ihrer Miene schien größer geworden zu sein, als sie sich wieder zu ihrer Tochter umwandte.
»Was hast du?«, fragte Arri beunruhigt.
»Nichts«, antwortete ihre Mutter. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört, aber ich muss mich wohl getäuscht haben. Vielleicht ein Tier«, fügte sie mit wenig überzeugend gespielter Leichtigkeit hinzu.
Bei dem Tier, dachte Arri, das ihrer Mutter solch unübersehbare Angst machte, musste es sich um einen ausgewachsenen Bären handeln oder um ein Rudel Wölfe. Plötzlich begann auch ihr Herz schneller zu schlagen. Hatte ihre Mutter sie nicht erst vor ein paar Tagen vor Wölfen gewarnt, die sich angeblich genau in dieser Gegend herumtreiben sollten?
Beinahe als hätte sie ihre Gedanken gelesen und versuchte sie nun mit aller Macht zu beruhigen, machte ihre Mutter eine besänftigende Geste und deutete mit der anderen Hand in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Ich glaube, du hast deine Lektion für heute gelernt«, sagte sie lächelnd. »Morgen zeige ich dir, wie man auch Spuren findet, die der andere nicht absichtlich hinterlassen hat, aber jetzt sollten wir zurückgehen.«
Ihr Versuch war gut gemeint, bewirkte aber eher das Gegenteil. Sie war voll innerer Unruhe, und sie hatte sich nicht gut genug in der Gewalt, dass Arri es nicht gemerkt hätte. Was immer sie gehört hatte, es musste sie überaus beunruhigen. Arri sagte jedoch nichts dazu, sondern drehte sich gehorsam um und ging los, und sie tat auch so, als falle ihr nicht auf, dass ihre Mutter ein paar Mal fast unmerklich stockte und sich immer wieder hastig umsah, während sie sich dem Waldrand näherten. Auch sie lauschte konzentriert, doch alles, was sie hörte, war das Geräusch des Windes, der in den Baumkronen über ihren Köpfen spielte, und das Schlagen ihres eigenen Herzens, das so wild wie ein Trommelwirbel klang.
Erst als sie den Waldrand erreicht hatten und auf die Lichtung heraustraten, wurde ihr klar, dass sie tatsächlich den Klang einer Trommel hörte. Der Wind hatte sich gedreht und trug nun das Trommeln vom Dorf heran, und sie glaubte darunter den monotonen Singsang zu hören, den die Sippe auf Sarns Befehl hin angestimmt hatte, um Mardan und die anderen Götter gnädig zu stimmen. Mitten im Schritt blieb sie stehen und wandte den Kopf, um in das Gesicht ihrer Mutter hinaufzusehen, und sie war nicht besonders überrascht, als sie ihr ärgerliches Stirnrunzeln bemerkte. »Sie beten noch immer«, sagte sie.
»Ja«, antwortete Lea. »Und das Schöne ist, dass die Götter am Ende immer Recht behalten, weißt du? Wenn Kron stirbt, dann hat er sich ihrer Gnade als nicht würdig erwiesen, und wenn er es übersteht, dann haben sie ein Wunder bewirkt und ihm das Leben geschenkt.« Ihre Stimme war ganz leise, aber so voller Verachtung, dass Arri schon wieder ein kaltes Frösteln verspürte, das ihr über den Rücken lief.
»Warum hasst du ihre Götter so?«, fragte sie.
»Ihre Götter?«, wiederholte Lea mit einem sonderbaren, bitteren Lächeln. »O nein, du irrst dich. Ich hasse sie nicht. Es gibt keine Götter, weißt du? Weder hier noch sonst wo auf der Welt. Sollte es sie geben, dann wäre es besser für sie, sie gingen mir aus dem Weg.«
Ganz gewiss, dachte Arri, meinte ihre Mutter das nicht so. Sie selbst glaubte nicht an Nors oder Sarns Götter - und wie auch? -, und trotzdem war ihr klar, dass es Götter geben musste. Die Welt mit all ihren unvorstellbaren Wundern und Schrecknissen und ihrer schier endlosen Größe konnte schließlich nicht von selbst entstanden sein, und es musste auch jemanden geben, der die Geschicke der Menschen lenkte. Vielmehr war sie sicher, mit ihrer Frage etwas in ihrer Mutter berührt zu haben, vielleicht den Grund, aus dem sie so selten über dieses Thema sprach, einen alten Schmerz, den sie schon unendlich lange mit sich herumtrug, der aber offensichtlich noch immer nicht vernarbt war. »Gibt es dort, wo du herkommst...« Sie biss sich auf die Lippen und verbesserte sich, als sie neu ansetzte: »Gibt es dort, wo wir herkommen, keine Götter?«
Sie hatte nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet, aber sie bekam eine. »Doch.« Die Stimme ihrer Mutter wurde noch leiser und bitterer. »Es gab sie. Wir haben ihnen gehuldigt, ihnen Tempel gebaut und ihnen Opfer dargebracht. Sie waren nicht so grausam wie Sarns. Unsere Götter waren weise und gütig, und wir mussten ihren Zorn nicht fürchten, sondern glaubten ganz im Gegenteil, dass sie uns beschützen und über uns wachen würden.«
»Aber das haben sie nicht getan«, vermutete Arri.
»Nein«, sagte ihre Mutter. »Wenn es sie gab, dann haben sie all die Jahre über nur mit uns gespielt. Sie haben uns das Paradies gezeigt. Sie haben uns wissen lassen, wie Menschen wirklich leben können, nur, um es uns dann in einem einzigen Augenblick wieder wegzunehmen. Aber ich glaube nicht, dass es sie wirklich jemals gegeben hat.«
Tief in sich, das spürte Arri, glaubte sie es doch. Sie spürte den Schmerz ihrer Mutter, und sie fühlte sich wieder schuldig, weil sie mit ihrer Frage an diese alte Wunde gerührt und sie aufgerissen hatte, und dennoch raffte sie all ihren Mut zusammen und fragte: »Was ist passiert? Du hast mir niemals erzählt, was mit unserer Heimat geschehen ist.«
»Sie ist untergegangen«, antwortete Lea. Plötzlich wurde ihre Stimme hart und spröde. »In einer einzigen Nacht. Und das ist alles, was du darüber wissen musst.«
»Aber warum?«, fragte Arri. »Wenn es dort so anders war als hier und... und so viel besser, warum erzählst du mir dann nichts davon?«
»Weil es nicht mehr existiert«, erwiderte ihre Mutter. »Warum soll ich dir von etwas erzählen, das du niemals sehen wirst? Ich könnte dir von Wundern berichten, die über alles hinausgehen, was du dir überhaupt vorstellen kannst. Von Menschen, die glücklich und ohne Angst vor dem Morgen gelebt haben, die keinen Hunger kannten und keinen Schmerz. Aber wozu? Das wäre so, als berichtete ich dir von einem Traum, den wir niemals erreichen können.«
»Aber warum denn nicht?«, fragte Arri. Plötzlich musste sie an ihren eigenen Traum denken, den sie träumte, so lange sie sich erinnern konnte und der immer wiederkam. Nur, dass es kein schöner Traum war. »Vielleicht können wir ja dorthin zurückkehren. Ich meine... auch, wenn der Weg weit ist und gefährlich, wir könnten...«
»Nein, das können wir nicht«, unterbrach sie ihre Mutter. Arri hörte das Zittern in ihrer Stimme, und ihr entging auch nicht das Aufblitzen von Zorn und Schmerz in ihren Augen - doch dann wurde Leas Stimme plötzlich ganz weich, und auch die Härte in ihrem Blick erlosch. Sie lächelte traurig. »Nein«, sagte sie noch einmal, jetzt aber in verändertem, nicht einmal mehr bitteren, sondern nur noch auf eine verzeihende Art traurigen Ton. »Das können wir nicht. Unsere Heimat existiert nicht mehr. Du und ich, wir sind die Letzten unseres Volkes. Es ist untergegangen, so wie das Land, in dem es gelebt hat, und mit mir wird auch die Erinnerung daran verschwinden.«
»Aber wie kann ein ganzes Land untergehen?«, fragte Arri zweifelnd. »Was ist denn passiert?«
»Ich weiß es nicht«, gestand ihre Mutter. »Vielleicht waren es tatsächlich die Götter. Vielleicht haben wir sie erzürnt, ohne es zu wissen. Aber vielleicht haben wir auch einfach nur Pech gehabt.« Sie hob die Schultern. »Ich weiß nicht, was geschehen ist. Die Erde brach auf und spie Feuer, aus dem Himmel regneten Flammen, und wer dem Feuer und dem Rauch entkam, den verschlang das Meer.«
»Ich weiß«, sagte Arri.
Einen Moment lang sah ihre Mutter sie erstaunt an, aber dann nickte sie. »Dein Traum«, sagte sie.
»Es ist kein Traum, habe ich Recht?«, flüsterte Arri.
»Nein«, gestand Lea. »Es ist kein Traum. Es war die letzte Nacht. Die Nacht, in der ich dich zum Hafen getragen habe. Alle sind dorthin gelaufen, ohne zu ahnen, dass auch dort nur der Tod auf sie wartete. Du warst noch zu klein, um zu laufen, und dein Vater und ich haben dich abwechselnd getragen, bis...« Ihre Stimme versagte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Welch einen unvorstellbaren Verlust musste sie erlitten haben, dachte Arri, dass der Schmerz sie selbst nach all den Jahren noch so überwältigte?
»Mein Vater?«, murmelte sie. Sie hasste sich selbst dafür, diese Frage zu stellen. Ihre Mutter hatte nie über ihren Vater geredet, und den Grund dafür sah Arri jetzt nass in ihren Augen schimmern, und dennoch konnte sie nicht anders, als fortzufahren: »Wer war er?«
Ein sonderbares Gefühl überkam Arri, als sie Lea so vor sich stehen sah. Niemals zuvor hatte sie ihre Mutter so ernst erlebt; zornig, ja, aufbrausend, übellaunig und nachtragend und oft genug auf eine verletzende Art vorwurfsvoll, die ihr das Gefühl gegeben hatte, ganz allein die Schuld an allem zu tragen, was ihrer Mutter in ihrem Leben widerfahren war. Aber niemals auf eine so... nein, es gelang ihr nicht, das Gefühl wirklich in Worte zu kleiden.
Sie antwortete auch nicht gleich. Ein einziges, schlichtes Ja, ein Kopfnicken, und ihre Mutter würde ihr die Antwort auf all die unzähligen, quälenden Fragen geben, die sie zeit ihres Lebens beschäftigt hatten, ohne dass sie es jemals gewagt hätte, auch nur eine einzige davon auszusprechen. Sie würde endlich erfahren, wer sie war, wer ihre Mutter war und woher sie kam. Und dennoch zögerte sie. Sie war sich nicht sicher, ob sie tatsächlich das Recht hatte, diese Fragen zu stellen. Noch vor wenigen Tagen hätte sie es getan, ohne auch nur einen Herzschlag lang zu zögern, aber nun blickte sie in die Augen ihrer Mutter und las einen Schmerz darin, der nichts mit den Tränen zu tun hatte, die ihr noch immer über das Gesicht liefen, sondern der all die Jahre über in ihr geschwelt hatte, mühsam unterdrückt und verborgen, aber niemals besiegt. Sie fragte sich, ob sie das Recht hatte, in der alten Wunde zu rühren. »Erzähl mir von meinem Vater«, bat sie.
Wieder schwieg ihre Mutter eine ganze Weile, und auch danach antwortete sie nicht sofort, sondern wandte sich um und ging mit langsamen Schritten auf die kleine Felsgruppe in der Mitte der Lichtung zu. Arri folgte ihr. Das Echo der Trommelschläge wurde im Rhythmus des böigen Windes lauter und leiser, ohne jemals ganz abzubrechen, und auch ihr Herz schlug jetzt immer rascher, als wolle es sich dem Takt der Trommeln anpassen. Als sie die Quelle erreicht hatten, nahm ihre Mutter auf einem kniehohen Felsen Platz und schlug mit der flachen Hand auf den Stein neben sich.
Arri gehorchte und setzte sich neben sie, ihre Mutter aber schlang den Arm um sie und drückte sie an sich. Das war etwas, was Arri nicht gewohnt war und von dem sie bisher selbst angenommen hatte, dass sie es gar nicht mochte. Sie hatte schon früh begriffen, dass ihre Mutter die körperliche Nähe anderer Menschen scheute, selbst die Nähe ihrer eigenen Tochter, und daraus geschlossen, dass daran irgendetwas Unangenehmes sein musste. Umso überraschter war sie, als sie nach einem allerersten Moment des Widerstandes spürte, dass das genaue Gegenteil der Fall war. Außer den wirren Träumen, in denen die starken Arme ihrer Mutter sie vor dem Feuer beschützten, das vom Himmel fiel, hatte sie sich noch niemals so behütet und sicher gefühlt wie jetzt.
»Dein Vater war ein Seemann«, begann ihre Mutter mit leiser Stimme, in der noch immer ein sonderbar trauriger Unterton mitzuschwingen schien, aber nun kein Schmerz mehr und auch keine Bitterkeit. »Fast alle unsere Männer fuhren zur See. Wir lebten auf einer Insel, weißt du? Einer sehr großen Insel, aber trotzdem einer Insel, die an allen Seiten vom Meer umgeben war. Unsere Männer waren Händler und Entdecker, und ein paar von ihnen sicher auch insgeheim Abenteurer, auch wenn sie das niemals laut zugegeben hätten.« Sie lachte leise. »Ich glaube, dein Vater war auch ein Abenteurer. Er hat oft von seinen Reisen erzählt, und so, wie er es getan hat, hat es sich stets wie ein einziges großes Spiel angehört. Aber er war noch mehr. Von manchen seiner Fahrten hat er Narben zurückgebracht, ohne jemals zu erzählen, wie er sie sich zugezogen hat.«
»Dann war er ein großer Krieger?«, vermutete Arri.
Da sie den Kopf an die Schulter ihrer Mutter gelegt hatte, konnte sie den Ausdruck auf deren Gesicht nicht erkennen, aber sie spürte, wie sie heftig und fast erschrocken den Kopf schüttelte. »Nein. Wir waren kein Volk von Kriegern. Wir verstanden uns zu verteidigen, das ist wahr, und viele unserer Schiffe waren mächtig und gefürchtet, aber nur bei denen, die dumm genug waren, in ihnen eine vermeintlich leichte Beute zu sehen und sie anzugreifen. Unsere Flotte ist auf allen Meeren gefahren und hat Handel mit den Völkern hinter dem Horizont getrieben, aber wir waren keine Krieger.«
So, wie sie das sagte, musste diese Feststellung für sie von großer Bedeutung sein, auch wenn ihre Worte nicht recht zu dem zu passen schienen, was Arri erlebt und zum Teil mit eigenen Augen gesehen hatte. So hervorragend, wie ihre Mutter mit dem Schwert umzugehen verstand, konnte sie es ohne Mühe selbst mit dem stärksten Mann im Dorf, ja selbst mit Nors bestem Krieger aufnehmen. Sie schwieg und wartete darauf, dass ihre Mutter weitersprach, doch dann fiel ihr etwas ein, das noch viel weniger zu dem passen wollte, was sie erzählte.
»Du hast gesagt, wir wären die Letzten unseres Volkes«, sagte sie. »Nur du und ich. Aber wie kann das sein? Wenn unsere Schiffe alle Meere befahren haben, dann muss es doch noch andere Überlebende geben.«
Lea nickte. »Schiffe, die auf Reisen waren, die in fremden Häfen vor Anker lagen oder durch unbekannte Gefilde kreuzten, meinst du.« Wieder lachte sie, aber diesmal klang es eindeutig bitter, fast wie ein Schluchzen. »Ja. Wäre es an irgendeinem anderen Tag geschehen, dann hättest du Recht. Wenn es die Götter tatsächlich gibt, dann haben sie sich einen ganz besonders grausamen Tag für ihre Rache an uns ausgesucht.«
»Und wieso?«
Der Wind drehte, und das Dröhnen der Trommeln wurde wieder lauter; es kam Arri auch so vor, als würde der Klang plötzlich hektischer und bedrohlicher, wie um den Worten ihrer Mutter den gebührenden Nachdruck zu verleihen.
»Es war der Tag der Sommersonnenwende«, sagte Lea leise. »Unser größtes und heiligstes Fest, das unser ganzes Volk immer gemeinsam gefeiert hat. An diesem einen Tag im Jahr kehrten alle Schiffe in den Hafen zurück, kamen alle Reisenden nach Hause und unterbrachen alle Abenteurer das, was sie gerade taten, um das Fest mit ihrer Familie zu begehen.« Sie lächelte; Arri konnte es spüren, obwohl sie sie immer noch nicht ansah. »In der Nacht der Sommersonnenwende zwei Jahre zuvor wurdest du gezeugt, Arianrhod. Am Tag danach verließ das Schiff deines Vaters den Hafen und kam erst zurück, als du schon drei Mondwenden alt warst.«
»Dann hat er mich nur ein einziges Mal gesehen?« Der Gedanke bekümmerte Arri, obwohl sie selbst nicht genau sagen konnte, warum.
Ihre Mutter schüttelte jedoch den Kopf. »Zweimal. Sein Schiff kehrte am Abend des Sonnenwendfestes zurück, als allerletztes. Uns blieb nicht einmal mehr Zeit, ein letztes Mal...« Sie brach ab, schwieg einen Moment und setzte dann neu und in verändertem, um Sachlichkeit bemühtem Ton an. »Er hatte mir versprochen, nicht wieder zur See zu fahren, wenigstens in der nächsten Zeit. Ich war so glücklich an diesem Abend. Sein Schiff war schwer beladen mit Handelsgütern und Reichtümern aus fernen Ländern, und da war so viel, was er mir erzählen und zeigen wollte, doch wir dachten ja, wir hätten Zeit. Er wollte bleiben, um dabei zuzusehen, wie du heranwächst, aber dann...«
Ihre Stimme versagte endgültig, und diesmal war Arri nicht in der Lage, eine weitere Frage zu stellen. Auch ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Obwohl sie sich um Fassung bemühte, war der Schmerz in der Stimme ihrer Mutter so stark, dass er etwas in ihr berührt und ausgelöst hatte, wie die Erinnerung an ein Gefühl, das sie noch nicht kannte. Erst jetzt begriff sie wirklich, was ihre Mutter vorhin gemeint hatte, als sie gesagt hatte, dass es nichts Schlimmeres gebe, als einem Traum nachzujagen, den man niemals erreichen könnte. Anders als ihre Mutter hatte sie selbst diese untergegangene Welt niemals gesehen, und dennoch empfand auch sie plötzlich ein Gefühl von Verlust, das fast unerträglich war. Mit einem Mal war sie fast froh, nach ihrem Vater gefragt zu haben und nicht nach ihrer Heimat.
Ihre Mutter versuchte es noch einmal, aber auch jetzt reichte ihre Kraft nur für wenige Worte, bevor die Stimme ihr endgültig den Dienst versagte. »Alles ging so schnell. In dem einen Augenblick waren wir alle zusammen und glücklich. Wir haben gefeiert und Pläne geschmiedet, und im nächsten...«
Sie sprach nicht weiter, und sie musste es auch nicht, denn Arri wusste, was geschehen war. Ihr Traum war plötzlich wieder da, diesmal im Wachen, und vielleicht dadurch umso schlimmer. Sie wurde durch die Straßen einer brennenden, untergehenden Stadt getragen, eingekeilt in eine gewaltige, panisch flüchtende Menschenmenge, unter einem schwarzen Himmel, aus dem es Steine und Blitze und Feuer regnete, sie hörte die Schreie und spürte die Angst der Menschen, fühlte, wie sich die Straße unter ihr hob und senkte, und vernahm das furchtbare Geräusch, mit dem Häuser einstürzten und ihre Bewohner unter sich begruben... das Heulen des Sturms, der mit jedem Atemzug an Gewalt zunahm und dem sie trotzdem entgegenrannten, das dumpfe Donnern der Wellen, die sich an der Küste brachen und Menschen und gewaltige Schiffe gleichermaßen durch die Luft schleuderten und am Ufer zerbersten ließen.
Da sie nun wach war und nicht träumte, hätte sie sich gegen diese Bilder wehren können, doch so schrecklich sie auch waren, so wollte sie zum ersten Mal wirklich sehen, was da geschah. Es war kein Traum. Es waren ihre frühesten Erinnerungen, mit Sicherheit verfälscht durch die lange Zeit, die vergangen war, und dennoch unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt. »Und wie...« Sie schluckte mühsam und musste sich mehrfach mit der Zunge über die Lippen fahren, bevor sie weiter sprechen konnte, »wie sind wir entkommen?«
»Dein Vater hat uns gerettet«, antwortete Lea. »Sein Schiff war das Letzte, das an diesem Abend in den Hafen eingelaufen war, und lag somit am weitesten draußen vor den Klippen, fast noch im Meer. Ein Teil der Besatzung war an Bord geblieben, und irgendwie... haben wir es geschafft, es zu erreichen. Wir konnten den Hafen verlassen, trotz des Sturms und der Wellen, die doppelt so hoch waren wie unser Mast. Aber dann...« Sie hob die Schultern. »Ich weiß nicht mehr, was geschehen ist. Plötzlich war ich im Wasser und hielt dich in den Armen, und überall rings um uns herum waren Trümmer und ertrinkende Menschen. Ich war sicher, dass auch wir sterben würden. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist eine Planke, an die ich mich geklammert habe. Als der Sturm endlich vorüber war und es hell wurde, waren wir allein. Dein Vater war fort, und alle anderen auch, und da war nur das endlose Meer und dieses Stück Holz, an das ich mich klammern konnte. Irgendwann hat mich die Strömung ergriffen und mit sich getragen. Wir sind viele Tage auf dem Meer getrieben. Ich weiß nicht mehr, wie viele, aber ich weiß, dass wir fast verdurstet wären, obwohl rings um uns herum nichts als Wasser war. Ich wollte nicht mehr leben, damals. Meine Heimat war untergegangen, jeder einzelne Mensch, den ich kannte, und auch dein Vater war mir genommen worden. Wozu sollte ich noch leben? Alles, was ich wollte, war loslassen und ertrinken. Es ist ein schneller Tod, weißt du? Man sagt, er sei qualvoll, aber es geht schnell.«
»Aber du hast es nicht getan«, sagte Arri. »Warum?«
Sie wusste die Antwort, aber es erfüllte sie dennoch mit einem warmen Gefühl, die Worte zu hören.
»Deinetwegen. Du warst noch am Leben. Ich habe dich mit einem Fetzen meines Kleides auf der Planke festgebunden und dich tagsüber mit meinem Körper vor der Sonne geschützt. Ich war sicher, dass du sterben würdest. Du warst so klein und zart, und so schwach, und du hast die ganze Zeit keinen Laut von dir gegeben. Ich wollte sterben, aber wie konnte ich das, so lange du am Leben warst?«
»Du hast darauf gewartet, dass ich sterbe.« Die Worte erschreckten Arri, aber zugleich hörte sie selbst, dass kein Vorwurf oder gar Zorn darin war. Es war eine reine Feststellung.
Ihre Mutter nickte, und ihre Hand schloss sich fester um Arris Schulter. »Ja. Ich war dumm, damals. Der Schmerz war zu groß, um ihn zu ertragen, und ich glaubte, kein Recht zu haben, als Einzige weiter zu leben. Ich meinte es den anderen schuldig zu sein, ebenfalls zu sterben. Es brauchte ein kleines Kind, um mir zu zeigen, wie dumm das war. Du warst so tapfer, und du hast dich mit solcher Macht an dieses Leben geklammert, dass ich es nicht über mich gebracht habe, einfach aufzugeben. Irgendwann hat uns die Strömung an die Küste gespült, und barmherzige Menschen haben uns aus dem Wasser gezogen und gesund gepflegt.«
»Hier?«, fragte Arri.
Ihre Mutter lachte ganz leise. »Nein, nicht hier. Weit oben im Norden, an einem Ort, dessen Namen ich vergessen habe. Ich bin geblieben, bis ich wieder gesund und bei Kräften war, und dann habe ich mich auf die Suche nach anderen Überlebenden unseres Volkes gemacht. Doch ich habe keine gefunden, weil es keine gab.«
»Und warum sind wir dann hier geblieben?«, wollte Arri wissen. »Wenn dieser Ort so schlimm ist und Nor und Sarn und all die anderen auch, warum bist du dann nicht weiter gezogen?«
»Weiter?«, wiederholte ihre Mutter. Sie nahm den Arm von Arris Schulter und straffte sich, bevor sie den Kopf schüttelte.
»Wohin? Hier ist es so gut oder so schlecht wie überall. Es ist nicht die Schuld dieser Menschen. Sie sind nun einmal, wie sie sind. Die Menschen fürchten das, was sie nicht kennen, und je einfacher sie sind, desto größer ist ihre Angst vor dem Unbekannten. Ich wusste stets, dass wir nicht für immer hier bleiben können, aber für eine Weile war es nicht der schlechteste Ort, trotz Nor und aller anderen. Ich fürchte nur, dass diese Zeit jetzt zu Ende geht.«
Sie erhob sich und sah mit einem aufmunternden Lächeln auf Arri herab. »Keine Sorge«, sagte sie, »noch nicht heute und auch nicht morgen. Vielleicht tatsächlich, kurz bevor der erste Schnee fällt, aber wenn wir Glück haben, noch nicht einmal dann. Ich glaube, der Winter wird hart, und wenn er gleich mit voller Kraft einsetzt, wird sich für uns vielleicht alles noch einmal zum Guten wenden.«
»Ein harter Winter soll gut für uns sein?«, fragte Arri fassungslos. »Aber dann ist doch die Gefahr umso größer, dass wir verhungern, oder sogar erfrieren, wenn wir das Dorf verlassen müssen!«
»Das ist das Druckmittel, das Nor in der Hand zu haben glaubt«, sagte ihre Mutter ungerührt. »Aber es wäre nicht das erste Mal, dass er sich in solch einem Punkt täuscht. Gosegs Einfluss sinkt im Winter mit jeder Handbreit Schnee, der auf das Land fällt. Wenn die Wege erst einmal unpassierbar sind, entscheidet nur noch Sarn über unser Schicksal. Auch wenn er uns aus tiefstem Herzen hasst, wird er sich doch hüten, uns unter Druck zu setzen. Je länger die dunkle Jahreszeit dauert, desto dringender wird das Dorf das brauchen, was ich ihm zu bieten habe, und die Menschen hier wissen das. Wir müssen nur irgendwie die Zeit des ersten Schnees überstehen.« Sie schnitt Arris nächste Frage, die ihr unwillkürlich über die Lippen kommen wollte, mit einer Geste ab, mit der sie sie zugleich auch aufforderte, ebenfalls aufzustehen. »Ich werde die Zeit bis dahin nutzen, um dir alles beizubringen, was ich weiß, aber für heute ist es genug. Lass uns ins Dorf zurückgehen und...«
Die Trommeln verstummten, und auch Lea brach erschrocken mitten im Wort ab und wandte mit einem Ruck den Kopf in die Richtung, aus der der Wind plötzlich nur noch Schweigen zu ihnen trug. Noch vor einem Atemzug hatte sich Arri nichts mehr gewünscht, als dass dieser quälende, unheimliche Trommelrhythmus endlich aufhörte. Aber die Stille, die sie nun umgab, war schlimmer. »Was mag passiert sein?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht.« Auch ihre Mutter klang besorgt, fast alarmiert. »Vielleicht ist Kron gestorben. Wir müssen zurück. Schnell.«
Obwohl sie sich beeilten und es bis Sonnenaufgang noch eine Weile hin sein musste, als sie das Dorf erreichten, kamen sie dennoch zu spät. Über dem kleinen, auf fast mannshohen Pfählen stehenden Haus, das Arri und ihre Mutter bewohnten, lastete noch immer die Dunkelheit der nahezu mondlosen Nacht, und über dem Fluss zeigte sich noch nicht einmal die Ahnung des ersten grauen Schimmers, der die Dämmerung ankündigen würde. Es war so still, als wären ihrer beider Atemzüge und die Geräusche, die Arris Schritte im Gegensatz zu den lautlosen Bewegungen ihrer Mutter auf dem Boden verursachten, die einzigen Laute auf der ganzen Welt, und dennoch schien ihre Mutter irgendetwas gehört zu haben, denn sie waren kaum aus dem Wald herausgetreten, da blieb sie stehen und hob erschrocken die Hand, sodass auch Arri mitten im Schritt verharrte.
Dann sah sie ihre Mutter an, aber sie war auch geistesgegenwärtig genug, nichts zu sagen und keine Frage zu stellen, und sie bemühte sich darüber hinaus sogar, möglichst flach zu atmen. Für einen winzigen Moment war es ihr, als hätte das Schlagen der Trommeln wieder eingesetzt, aber es war nur das Hämmern ihres eigenen Herzens, das sie hörte. So schwer es ihr auch fiel, gelang es ihr dennoch, sich zu gedulden, bis sie den Blick ihrer Mutter einfing, und ihre Augen stellten eine lautlose Frage, die Lea auf die gleiche Weise beantwortete. Sie hatte etwas gehört, auch wenn die Stille für Arris Ohren nach wie vor vollkommen schien. Das unheimliche Schweigen schien sogar noch zugenommen zu haben, seit sie die Lichtung verlassen hatten; als hätte der seit drei Tagen anhaltende Trommelschlag über dem Dorf alle anderen Geräusche vertrieben.
Es vergingen noch einige weitere, endlose Augenblicke, dann drang ein leises Klimpern an Arris Ohr, und unter der Stiege ihrer Hütte erschien ein Schatten, der vorsichtig mit dem Fuß nach der obersten Stufe tastete und mit beiden Händen nach sicherem Halt an der darüber liegenden Wand suchte, bevor er sich aufrichtete. Rahn?, dachte Arri überrascht. Es war zu dunkel, um selbst auf die geringe Entfernung das Gesicht der Gestalt zu erkennen, doch es gab nur einen Mann seiner Statur im Dorf.
»Was tust du da?«, schnitt Leas Stimme scharf durch die Dunkelheit.
Der junge Fischer fuhr so erschrocken zusammen, dass er auf dem schmalen halbierten Baumstamm um ein Haar das Gleichgewicht verloren und die Stiege heruntergestürzt wäre; er fing sich dann aber im letzten Moment wieder, bevor er Arri diesen Gefallen tun konnte, und aus der anderen Richtung sagte eine dünne, aber scharfe Stimme: »Rahn hat mich hierher begleitet. Es war mein Wunsch.«
Lea drehte betont langsam den Kopf und sah der zweiten, deutlich kleineren und gebückt gehenden Gestalt entgegen, die nun aus dem Schatten des Hauses auf sie zukam. Es war Sarn. Er musste vollkommen lautlos und womöglich sogar mit angehaltenem Atem dort in der Dunkelheit gestanden und sie belauert haben.
»Und warum geht ihr in mein Haus, wenn ich nicht da bin, und ohne meine Erlaubnis?«, fragte Lea kühl.
Der Stammesälteste kam mit langsamen Schritten näher. Die Kette aus Muschelschalen und Tierzähnen, die er um den Hals trug, klimperte leise im Takt seiner schleppenden Schritte. »Eure Stiege ist steil und gefährlich. Und ich bin ein alter Mann und habe keine Lust, mir den Hals zu brechen.«
Arri spürte, dass ihre Mutter in diesem Moment dafür umso mehr Lust hatte, ihm diese Mühe abzunehmen, aber sie beherrschte sich mit bewunderungswürdiger Kraft und deutete nur eine Kopfbewegung an, die Sarn als zustimmendes Nicken deuten konnte, wenn ihm danach war - oder auch als alles andere. Sie machte einen halben Schritt zur Seite und zurück, sodass sie wie zufällig genau zwischen ihr und dem hünenhaften Fischer stand, der sich mit ungelenken Bewegungen mittlerweile die Stiege heruntergearbeitet hatte, und wollte dann etwas zu Sarn sagen, doch der alte Schamane kam ihr zuvor.
»Wo wart ihr, mitten in der Nacht?«, fragte er.
Die Blicke, mit denen Lea ihn bisher gemustert hatte, waren ohnehin schon nicht besonders freundlich gewesen, jetzt aber verdüsterte sich ihr Gesicht noch mehr. Wer glaubte Sarn zu sein, ihr eine solche Frage stellen zu dürfen, und noch dazu in diesem Ton? Umso erstaunter war Arri, als ihre Mutter sie beantwortete. »Arri und ich waren im Wald. Kräuter sammeln.«
»Kräuter?« Sarns Blick glitt betont langsam an Leas Gestalt entlang und verharrte dabei einen ganz kurzen, aber bezeichnenden Moment auf ihren leeren Händen. »Nachts?«
»Es gibt Kräuter, die man nur im Mondlicht pflücken sollte. So wie du auch manche Pilze nur nachts sammelst.«
»Aber ihr wart nicht erfolgreich?«
»Wie gesagt«, wiederholte Lea, »sie sind schwer zu finden.« Sie machte eine unwillige Handbewegung. »Was willst du hier? Es ist spät, und ich bin müde. Meine Tochter und ich würden gern noch ein wenig schlafen, bevor die Sonne aufgeht.«
»Kron verlangt nach dir«, antwortete Sarn.
»Kron?« Es gelang Lea nicht völlig, ihre Überraschung zu verbergen, und auch Arri riss ungläubig die Augen auf und starrte den greisen Schamanen an. Nachdem die Trommeln verstummt waren, hatte auch sie ganz selbstverständlich angenommen, dass das nur eines bedeuten konnte. »Er lebt?«
»Unsere Gebete und Opfer wurden erhört«, antwortete Sarn. »Er lebt, und er will mit dir reden. Ich weiß nicht, warum. Aber er verlangt unentwegt nach dir.«
Eine Spur von Misstrauen erschien in Leas Blick. »Warum?«
»Warum fragst du ihn das nicht selbst?«, mischte sich Rahn ein. »Nach allem, was du ihm angetan hast, wärst du ihm das vielleicht schuldig.«
Seine Worte empörten Arri, aber ihre Mutter machte sich nicht einmal die Mühe, den Fischer anzusehen. Ihr Blick blieb unverwandt auf Sarn gerichtet, der seinerseits sie anstarrte, und das auf eine Art, die Arri immer weniger gefiel. Rahn und er waren nicht nur hierher gekommen, um dem Wunsch eines sterbenden Mannes zu entsprechen.
»Also gut«, sagte Lea schließlich. »Wahrscheinlich hast du Recht, und ich sollte nach ihm sehen. Arri, geh und hol meinen Lederbeutel. Den großen braunen.«
Arri trat zwar gehorsam hinter ihrer Mutter hervor und eilte die Stiege hinauf, aber sie tat es mit einem schlechten Gefühl, und sie sah sich allein auf dem kurzen Stück in die Hütte dreimal nach ihrer Mutter und den beiden anderen um. Ihr war nicht wohl dabei, sie allein in Sarns Gesellschaft zurückzulassen, und schon gar nicht in der Rahns, obgleich sie spätestens seit der Nacht vor drei Tagen wusste, dass ihre Mutter sich auch ohne ihr Schwert nicht vor einem Mann wie Rahn fürchten brauchte. Rasch durchquerte sie den Raum, tastete in vollkommener Dunkelheit nach dem Lederbeutel, nach dem ihre Mutter verlangt hatte, und machte sich auf den Rückweg, blieb jedoch dann noch einmal stehen und sah sich verwirrt um. Irgendetwas war hier nicht so, wie es sein sollte, auch wenn sie zuerst nicht sagen konnte, was. Es verging ein kurzer Augenblick, bis sie es bemerkte: Es war das Schwert. Es hing an seinem angestammten Platz an der Wand, aber nicht so, wie es sollte. Jemand hatte es von der Wand genommen und offensichtlich in aller Hast wieder zurückgehängt, ohne sich seine genaue Position gemerkt zu haben. Rahn!
Arri war nicht einmal überrascht, dass Rahn der Verlockung, das berühmte Schwert ihrer Mutter zu berühren, nicht hatte widerstehen können, sie war nur einigermaßen empört - ein Gefühl, das nahezu augenblicklich in ein schadenfrohes Grinsen überging, als sie näher trat und die frischen dunklen Flecken erkannte, die im blassen Sternenlicht hier drinnen fast schwarz auf der Klinge glitzerten. Möglicherweise würde sich Rahn länger an diese Tat erinnern, als ihm recht war.
Sie hörte ihre Mutter draußen rufen und beeilte sich, zu ihr zu kommen. Rahn starrte ihr finster entgegen, und selbstverständlich sorgte Arri dafür, dass ihm das schadenfrohe Funkeln in ihren Augen nicht entging, ebenso wie sie gerade eine Winzigkeit zu lange auf seine rechte Hand starrte, die er, auf der Hüfte aufgestützt, zur Faust geballt hatte. Rahns Augen wurden noch schmaler, aber er schluckte herunter, was ihm so sichtlich auf der Zunge lag, und bedeutete ihr mit einer groben Kopfbewegung, vor ihm herzugehen.
Ihre Mutter und Sarn hatten mittlerweile schon den halben Weg den Hang hinauf hinter sich gebracht, sodass Arri kräftig ausschreiten musste, um zu ihnen aufzuschließen. Trotzdem holte sie sie erst ein, als sie die Hütte des Schmieds schon passiert hatten und auf den Dorfplatz traten. Vollkommen anders, als zu dieser frühen Tageszeit üblich, war das lang gestreckte Oval von einem halben Dutzend Feuer fast taghell erleuchtet.
Ein sonderbarer, süßlicher Geruch lag in der Luft, bei dem nicht nur Arri überrascht die Stirn runzelte, sondern sich auch der Blick ihrer Mutter viel sagend noch weiter verfinsterte. Es war nicht nur der Geruch nach brennendem Holz und Torf, sondern auch nach etwas, das einen leicht schwindelig machte, wenn man es zu tief einatmete; ein Gemisch aus Kräutern und Blütenpollen, das Sarn gern benutzte, um sich in den Zustand zu versetzen, in dem er mit seinen Göttern sprechen konnte. Es hatte eine berauschende Wirkung, aber die Visionen, zu denen es führte, waren nicht immer angenehm, und von ihrer Mutter wusste sie, dass dieser Rauch auch nicht ungefährlich war. Sie selbst hatte ihn einmal - versehentlich - eingeatmet und noch Tage danach unter heftigen Kopfschmerzen gelitten.
Gewöhnlich verwendete Sarn diesen Rauch nur in seinem eigenen Haus, und auch das erst, nachdem er sich mit schier endlosem Gesang und Tanz bereits an den Rand des körperlichen Zusammenbruchs gebracht hatte; jetzt aber schlug ihnen der süßliche Geruch aus jeder einzelnen Feuerstelle entgegen, die am Rand des Dorfplatzes brannte. Was hatte der Schamane vor?, fragte sich Arri verstört. Wollte er die ganze Sippe in einen Rauschzustand versetzen, und warum dann ausgerechnet hier und nicht im Steinkreis, wie es den alten Sitten gemäß schon sehr bald zum Jagd-Ernte-Fest der Fall sein würde?
Sie stellte diese Frage nicht laut, aber sie konnte ihrer Mutter ansehen, dass es ihr ebenso erging, und wäre es nach den Blicken gegangen, die sie Sarn zuwarf, hätte der greise Schamane das andere Ende des Platzes wohl nicht mehr lebend erreicht.
Das Haus, in dem Kron lebte, lag ein gutes Stück jenseits des Dorfplatzes und schon fast unten an der Zella, und es war größer als die meisten anderen, denn Kron hatte eine große Familie und nicht nur gleich zwei Frauen, sondern auch fast ein Dutzend Kinder, mit denen er sich die Hütte teilte. Vielen im Dorf erging es so. Arri wusste es natürlich nur aus den Erzählungen ihrer Mutter, doch es musste wohl so sein, dass früher sehr viele Kinder gleich nach der Geburt oder spätestens im ersten Winter, der darauf folgte, gestorben waren, und nur zu oft ihre Mütter gleich mit ihnen. Seit Lea und sie hier lebten, hatte sich das geändert. Es starben viel weniger Kinder, was die Frauen im Dorf aber nicht davon abhielt, sich (nach den Worten ihrer Mutter) weiter wie die Karnickel zu vermehren. Mit dem Ergebnis, dass sämtliche Häuser im Dorf allmählich zu klein wurden.
Vor dem des Jägers hatte sich eine ansehnliche Menschenmenge versammelt; sicherlich nicht das gesamte Dorf, aber doch nahezu jeder erwachsene Mann und eine Menge Kinder und Halbwüchsige. Die Gesichter, die sich in ihre Richtung wandten, als die Menge auseinander wich, um dem Schamanen und ihnen Platz zu machen, wirkten zum größten Teil übernächtigt und grau, und der Ausdruck darauf war eher der von Erschöpfung als von Misstrauen oder Zorn. Manches Augenpaar wirkte trüb, was Arri auch gut verstehen konnte, als sie hinter ihrer Mutter durch den Eingang trat. Allein der Geruch, der ihr entgegenschlug, löste wiederum ein leises, aber sehr unangenehmes Schwindelgefühl hinter ihrer Stirn aus.
Im Innern der Hütte herrschte ein solches Gedränge, dass Arri Mühe hatte, Kron überhaupt zu entdecken. Der Jäger lag auf einem aus kostbaren Bären- und Wolfsfellen errichteten Bett, das nicht nur von seiner Familie, sondern auch von seinem Bruder und dessen gesamter Familie umlagert wurde. Der Geruch nach betäubenden Dämpfen war hier drinnen fast übermächtig, wurde aber auch von etwas anderem, Unangenehmerem durchdrungen. Es roch nach Krankheit und Fieber und Schmutz und nach dem Schweiß zu vieler Menschen, die zu lange hier drinnen gewesen waren. Wenn schon nicht vor ihnen, so wichen die Menschen doch zumindest vor dem Schamanen respektvoll zur Seite - so weit das in der Enge des Raumes möglich war, hieß das -, sodass es ihnen schließlich irgendwie gelang, sich an Krons Krankenlager heranzuschieben.
Wie Sarn gesagt hatte, war der Jäger wach. Er saß halb aufgerichtet auf seinem Lager. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß und war sehr bleich, und er starrte ebenso vor Schmutz wie der von braun eingetrocknetem Blut durchtränkte Verband um seinen Armstumpf. Arri verzog angewidert das Gesicht, als ihr klar wurde, dass die Quelle des üblen Geruchs vor allem Kron selbst war, während sich der Blick ihrer Mutter schlagartig verdüsterte. Einen Moment lang starrte sie auf Kron herab, dann drehte sie mit einem Ruck den Kopf und maß Arri mit einem Blick, unter dem das Mädchen sich am liebsten zwischen den Ritzen der Fußbodenbretter verkrochen hätte. Sie sagte nichts, aber das war auch nicht nötig - schließlich hatte sie Arri eindringlich eingeschärft, dem Schamanen ihre Kräuter und Salben nicht nur zu bringen, sondern sich auch mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass Krons Verband mindestens zweimal am Tag gewechselt und die Wunde gesäubert wurde. Die Wahrheit war, dass Arri nur ein einziges Mal den Mut aufgebracht hatte, Krons Hütte tatsächlich zu betreten.
»Hatte ich euch nicht aufgetragen, die Wunde unbedingt sauber zu halten?«, wandte sich Lea in scharfem Ton an Sarn. »Dieser Verband ist mindestens drei Tage alt. Wozu habt ihr nach meinen Salben verlangt, wenn ihr sie nicht benutzt?«
Sarns vor Erschöpfung gesprungene und vereiterte Lippen verzogen sich zu einem überheblichen Lächeln. »Wir brauchen deine Hexenkunst nicht, wie du siehst«, stieß er hervor. »Mardan hat unsere Opfer angenommen und meine Gebete erhört.«
Arri sah, dass ihre Mutter zu einer geharnischten Antwort ansetzte, es sich dann aber im letzten Moment doch anders überlegte und es bei einem ärgerlichen Blick und einem angedeuteten Achselzucken beließ, bevor sie neben Krons Lager auf die Knie herabsank und gebieterisch die Hand ausstreckte. Arri hatte es plötzlich sehr eilig, ihr den Beutel mit ihren Utensilien auszuhändigen, und ihre Mutter griff hinein und zog ein in getrocknete Blätter eingewickeltes Päckchen heraus, ohne auch nur hinzusehen. »Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät«, murmelte sie düster. »Haltet ihn fest. Diesen eingetrockneten Dreck von seinem Arm zu entfernen wird ihm bestimmt wehtun.«
Sie wollte die Hände nach Kron ausstrecken, aber der Jäger prallte heftig zurück und fuhr sie an: »Rühr mich nicht an! Wenn du mich noch einmal berührst, töte ich dich. Ich habe zwar nur noch eine Hand, aber die wird schon reichen, um dir das Genick zu brechen!«
Lea blinzelte. »Wie?«
»Rühr mich nicht an«, wiederholte Kron. Sein Blick flackerte irr. »Du hast mir den Arm abgeschnitten! Du... du hast mich zum Krüppel gemacht!«
»Ich habe dir das Leben gerettet, Kron«, antwortete Lea, nicht nur in erstaunlich ruhigem Ton, sondern auch mit einem nahezu mütterlichen, verständnisvollen Lächeln, das Arri fast noch mehr überraschte als die Ruhe in ihrer Stimme. »Hätte ich es nicht getan, dann wärst du gestorben.«
Arri rechnete fest damit, dass Sarn die Gelegenheit zu einer spitzen Bemerkung ergreifen würde, aber er schwieg. Nur das boshafte Funkeln in seinen Augen verstärkte sich.
»Und wenn!« Kron hustete qualvoll und brauchte eine ganze Weile, um wieder zu Atem zu kommen, und Arri glaubte regelrecht zu sehen, wie seine Kräfte in dieser Zeit abnahmen. Seine Lider schienen so schwer zu werden, dass es ihm kaum noch gelang, sie offen zu halten. Irgendwann fand er die Kraft weiterzureden, aber seine Stimme war jetzt nur noch ein heiseres Flüstern. »Du hattest kein Recht. Ich kann nicht mehr für mich und meine Familie sorgen. Ich werde allen zur Last fallen. Du hättest mich sterben lassen sollen!«
»Es war meine Entscheidung, Kron.«
Nicht nur Arri hob überrascht den Kopf, auch ihre Mutter wandte sich verwirrt um. Sarns Augen aber wurden so schmal wie die einer angreifenden Schlange, und der Ausdruck darin ebenso tückisch. Arri hatte zwar schon beim Eintreten bemerkt, dass sich Grahl am Lager seines Bruders aufhielt, ihm aber keine weitere Beachtung geschenkt, und nach dem, was sie gerade erlebt hatte, hätte sie von ihm allerhöchstens weitere Vorwürfe erwartet. Zwar bedachte auch der jüngere Jäger ihre Mutter mit Blicken, die alles andere als freundlich oder auch nur dankbar waren, dennoch schüttelte er den Kopf, wartete, bis sein Bruder zu ihm hochsah, und sagte dann noch einmal: »Es war nicht ihre Schuld, Kron. Es war meine Entscheidung - und die Sarns.«
Der Schamane keuchte hörbar, und auch alle anderen in der Hütte ließen ein erstauntes wie auch ungläubiges, erschrockenes Raunen und Murren hören. Grahl ignorierte jedoch sowohl den Stammesältesten als auch Krons Familie, kniete neben seinem Bruder nieder und griff behutsam nach seiner unverletzten Hand. »Wenn du jemanden dafür hassen willst, dann mich.«
»Aber... aber warum hast du mir das... angetan?«, murmelte Kron. »Ich bin dein Bruder.«
»Gerade weil du mein Bruder bist«, antwortete Grahl. »Die Wunde war brandig, und das weißt du auch. Du wärst gestorben, hätten wir den Arm nicht abgeschnitten. Ich werde für deine Familie sorgen, solange du es nicht kannst, das verspreche ich. Du wirst wieder gesund, und dann finden wir eine andere Arbeit für dich.«
»Eine Arbeit für einen Krüppel?« Kron versuchte zu lachen, brachte aber nur ein halb ersticktes Krächzen zustande. »Wie soll die aussehen?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete sein Bruder. »Aber das ist im Augenblick auch gleich. Du bist stark. Du wirst gesund. Das allein ist wichtig.« Er wandte sich mit einem fast scheuen Blick an Lea. »Du wirst ihm helfen?«
»Die Götter werden ihm helfen«, mischte sich Sarn ein. »Ich werde weiter zu ihnen beten, und wir müssen ihnen noch mehr Opfer bringen.«
Sowohl Grahl als auch Arris Mutter achteten nicht auf ihn. »Du hast Recht«, sagte Lea. »Dein Bruder ist stark. Er wird es schaffen. Wenn wir diesen Dreck da möglichst schnell von seinem Arm herunterkriegen, heißt das.« Sie deutete zornig auf Krons Armstumpf und verzog angeekelt das Gesicht. Grahl wirkte noch einen Moment lang zögerlich, aber dann rang er sich zu einem Entschluss durch und nickte.
»Du zweifelst also an der Macht der Götter«, zischte Sarn, »und erdreistest dich, Mardan selbst herauszufordern?«
Grahl wollte auffahren, aber Lea legte ihm rasch die Hand auf den Unterarm und wandte sich mit einem Kopfschütteln und in besänftigendem Ton an den Schamanen. »Niemand bezweifelt die Macht deiner Götter, Sarn. Sie haben lange und gut über dein Volk gewacht, und sicher waren es auch deine Gebete und eure Opfer, die Kron die Stärke verliehen haben, den Kampf gegen das Fieber zu gewinnen. Aber auch du kennst die Kraft der Natur und ihrer heilenden Kräuter und Pflanzen. Manchmal sind Gebete allein nicht genug. Vielleicht erwarten die Götter zuweilen von uns, dass wir auch die Kräfte der Natur nutzen. Wozu sonst hätten sie sie uns gegeben?«
Sarns Augen wurden noch schmaler, und sein ohnehin unansehnliches Gesicht verzog sich endgültig zu einer verkniffen hässlichen Maske aus purem Hass. Er war nicht dumm. Er spürte die Falle, die Lea ihm stellte, aber anscheinend sah er keinen Weg, ihr zu entgehen. Schließlich stieß er mit einem Schnauben die Luft aus. »Du willst die Götter also auch noch verhöhnen, Weib?«, fuhr er sie an. »Sie werden dich damit nicht ungestraft davonkommen lassen! Du hast schon viel zu lange dein Unwesen hier getrieben.«
»Lass uns unsere Kräfte zusammentun, Sarn«, antwortete Lea unbeeindruckt. »Geh und bete zu Mardan. Bring ihm Opfer. Und lass mich tun, was in meiner Macht steht.«
Arri beobachtete Sarn und ihre Mutter abwechselnd und aus angstvoll geweiteten Augen. Sie spürte, wie dünn das Eis war, auf dem sich ihre Mutter bewegte. Der Schamane hatte ihre Mutter vom ersten Tag an gehasst, an dem sie ins Dorf gekommen war, und der Umstand, dass sie auch ihm das Leben gerettet hatte, hatte daran nichts geändert, sondern es eher noch schlimmer gemacht. Er wartete seit Jahren auf eine Gelegenheit, sie zu vernichten, und vielleicht war genau dies der Anstoß, den er brauchte. Sie verstand auch ihre Mutter nicht. Sicherlich hatte sie Recht - ein einziger Blick in Krons graues, von Fieber, Durst und Erschöpfung gezeichnetes Gesicht bewies das -, aber es gab keinen Grund, Sarn so zu provozieren. Nicht ausgerechnet jetzt.
Doch wenn dies der Augenblick war, auf den Sarn seit Jahren gewartet hatte, dann ließ er ihn ungenutzt verstreichen. Eine kleine Ewigkeit lang starrte er Lea noch hasserfüllt an, dann fuhr er auf dem Absatz herum und stürmte aus dem Haus. Eine von Krons Frauen und zwei oder drei seiner Töchter folgten ihm, der Rest der Familie jedoch blieb, auch wenn man ihren Gesichtern ansehen konnte, wie unwohl sie sich fühlten und wie verstört sie waren.
»Das tut mir Leid«, sagte Grahl leise. Er sah Lea dabei nicht an, aber seine Stimme klang ehrlich. »Ich wollte nicht, dass...«
»Es ist nicht deine Schuld«, unterbrach ihn Lea. »Ich hätte mein Wort halten und nach deinem Bruder sehen sollen, dann wäre es nicht so weit gekommen.« Sie konnte sich einen kurzen, vorwurfsvollen Blick in Arris Richtung nicht ganz verkneifen, während sie das sagte, ging aber dann zu deren Erleichterung nicht weiter darauf ein, sondern wandte sich ihrer Aufgabe zu. »Wir brauchen Wasser, und ich fürchte, ich werde deinem Bruder noch einmal Schmerzen zufügen müssen. Er ist zu schwach, als dass ich ihm von dem Mohnpulver geben dürfte.«
Das war das Stichwort, auf das Arri gewartet hatte. Sie erinnerte sich noch zu gut an den Anblick, den Krons Arm vor drei Tagen geboten hatte, um besonderen Wert auf eine zweite Kostprobe zu legen. Zumindest im Augenblick wäre ihr selbst Rahns Gesellschaft lieber gewesen als die ihrer Mutter, denn obwohl sie bisher kein einziges entsprechendes Wort gesagt hatte, waren ihre vorwurfsvollen Blicke doch mehr als genug, um Arri klarzumachen, dass auch sie einen nicht geringen Anteil an Krons schlechtem Zustand hatte. Sie wollte aufspringen und hinauseilen, um Wasser zu holen, doch Grahl kam dem zuvor, indem er eine befehlende Geste zu einem seiner Söhne machte. Der Junge sprang auf und war verschwunden, bevor Arri ihre Bewegung auch nur zu Ende führen konnte, und sie wollte sich schon wieder enttäuscht zurücksinken lassen, doch dann wandte sich ihre Mutter zu ihr um. »Geh hinaus und such nach Rahn. Ich habe etwas mit ihm zu besprechen. Geh und sag ihm, dass er auf mich warten soll.«
Arri erhob sich gehorsam und ging, wobei sie sich ganz ernsthaft fragte, ob ihre Mutter etwa ihre Gedanken gelesen hatte. Es erwies sich als nicht einmal einfach, die Hütte zu verlassen, und draußen wurde das Gedränge im ersten Moment eher noch schlimmer. Jetzt, wo der Morgen mit Riesenschritten nahte, wie ihr ein kurzer Blick auf den trübgrau gewordenen Himmel im Osten zeigte, schien tatsächlich das ganze Dorf auf den Beinen zu sein. Die Nachricht, dass sie und ihre Mutter hier waren, musste sich mit Windeseile herumgesprochen haben und hatte offensichtlich sogar dazu geführt, dass die Vorbereitungen für die Feldarbeiten und andere dringende Aufgaben sträflich vernachlässigt wurden - etwas, das Sarn unter normalen Bedingungen zu Zornesausbrüchen und wüsten Beschimpfungen veranlasst hätte, die alles, was sich auf den Beinen halten konnte, augenblicklich an die Arbeit getrieben hätten. Dass Sarn heute darauf verzichtete, war ein schlechtes Zeichen. Arri hoffte nur, dass es nicht der Zorn auf ihre Mutter war, der seine Sinne verdunkelte, sondern die schlechten Neuigkeiten, die Grahl und Kron von jenseits des großen Flusses mitgebracht hatten.
Vergeblich versuchte Arri, in den Gesichtern der Menschen zu lesen, zwischen denen sie sich nun hindurchquetschte. Sie entdeckte Rahn fast am anderen Ende der Menschenmenge und arbeitete sich sofort zu ihm durch, doch gerade als sie nahe genug war, um mit einem Winken seine Aufmerksamkeit erheischen zu können, bemerkte sie, dass der Fischer nicht allein war. Er war in eine erregte Auseinandersetzung mit Sarn verwickelt, bei der sich sein Part allerdings fast ausschließlich aufs Zuhören und ein gelegentliches zustimmendes Nicken beschränkte.
Arri ging langsamer und blieb schließlich stehen, obwohl sie im Grunde schon viel zu nahe war, um jetzt noch zurückzukönnen. Rahn brauchte sich nur umzudrehen, um sie zu sehen. Nachdem sie ihn mit dem Wasserkrug vor allen anderen gedemütigt hatte (was war da bloß in sie gefahren? Sie wusste doch, wie empfindlich der Fischer in dieser Beziehung war!), hegte er wahrscheinlich einen abgrundtiefen Groll auf sie. Ganz zu schweigen davon, dass sie jetzt ohne den Schutz ihrer Mutter einer Menschenmenge gegenüberstand, die Sarn in den zurückliegenden drei Tagen mit Sicherheit nach Kräften gegen sie aufgehetzt hatte. Aber sie hatte Glück. Sarn sprach noch zwei oder drei Sätze, machte dann eine abschließende, herrische Geste in Richtung des Fischers und fuhr herum, ohne auch nur einen einzigen Blick in ihre Richtung zu werfen. Während er nun davonstapfte, wirkte er plötzlich nicht mehr annähernd so müde und kraftlos wie noch vor ein paar Augenblicken in der Hütte, befand Arri.
Sie wartete, bis der Schamane außer Hörweite war, dann nahm sie all ihren Mut zusammen und trat auf Rahn zu. Der hünenhafte Fischer wirkte nicht überrascht, sie zu sehen, nur verächtlich und vielleicht auch ein bisschen heimtückisch. Noch bevor er etwas sagen konnte, wurde ihr klar, dass er sie schon eine ganze Weile beobachtet haben musste. Umso erstaunlicher, dass er den Schamanen nicht darauf aufmerksam gemacht hatte... Sarn hätte sich die Gelegenheit ganz gewiss nicht entgehen lassen, sie vor aller Ohren zu beschimpfen und zu erniedrigen.
»Was willst du?«, herrschte Rahn sie an.
»Meine Mutter will mit dir reden«, antwortete Arri. »Ich soll dir sagen, dass du hier auf sie warten sollst.«
»Und wie kommst du auf die Idee, dass sie mir etwas zu sagen hätte?«, gab Rahn übellaunig zurück.
Arri schluckte die scharfe Antwort herunter, die ihr auf der Zunge lag. Sie waren nicht allein, und Rahn gab sich nicht die geringste Mühe, leise zu sprechen. Arri konnte regelrecht spüren, wie die meisten der Umstehenden die Ohren spitzten, und sie sah auch, dass einige ganz unverblümt zu ihr und dem Fischer hinsahen. Ihre Mutter würde gewiss nicht begeistert sein, wenn herauskäme, dass sie schon wieder in einen Streit mit Rahn verwickelt gewesen war.
»Sie lässt dich bitten, auf sie zu warten«, sagte sie, mühsam beherrscht. »Ich weiß nicht, was sie von dir will, aber ich glaube, es ist wichtig.«
Rahn schürzte verächtlich die Lippen. »So, unsere selbst ernannte Heilerin und oberste Wetterprophetin hat also etwas Wichtiges mit einem einfachen Fischer wie mir zu besprechen. Nun, dann werde ich wohl besser auf sie warten. Wo kämen wir denn hin, wenn ein einfacher dummer Fischer wie ich es wagen würde, sich dem Wunsch einer so mächtigen Frau zu widersetzen?«
Diesmal fiel es Arri wirklich schwer, ihre Antwort für sich zu behalten. Rahn war auf Streit aus, was für sich genommen nichts Besonderes war; aber da war etwas in dem tückischen Glitzern in seinen Augen, das sie warnte. Vielleicht war sie besser beraten, wenn sie jetzt einfach gar nichts mehr sagte.
Sie schwieg, und zumindest erreichte sie damit eines, nämlich, dass Rahn sich ärgerte. Anscheinend hatte er fest damit gerechnet, dass sie widersprechen oder gar versuchen würde, ihn zurechtzuweisen, und sich bereits eine passende Antwort zurecht gelegt. Als er keine Gelegenheit bekam, sie loszuwerden, blitzte es in seinen Augen so wütend auf, dass Arri sich unwillkürlich spannte, dann aber verzog er nur noch einmal und noch verächtlicher die Lippen, drehte sich auf dem Absatz um und ging die paar Schritte zum Fluss hinunter. Arri blickte ihm unentschlossen nach. Ihr war ziemlich klar, was ihre Mutter jetzt von ihr erwartet hätte - nämlich, dass sie dem Fischer folgte und versuchte, ihn milder zu stimmen, oder dass sie sich gar für ihr Verhalten in den letzten Tagen ihm gegenüber entschuldigte. In einem plötzlichen Anflug seltener Vernunft war sie sogar nahe daran, ganz genau das zu tun, aber der Augenblick verging, ohne dass sie Gefahr lief, der Verlockung zu erliegen, und im nächsten Moment zupfte sie jemand am Ärmel. Arri fuhr verärgert herum, aber es war nur Osh, der zusammen mit einigen anderen Kindern aus dem Dorf hinter ihr aufgetaucht war. Der spöttische Ausdruck in seinen Augen verriet ihr, dass er ihr kleines Gespräch mit Rahn mit angehört hatte.
»Dem hast du es aber gegeben«, sagte er hämisch.
»Was willst du?«, fragte Arri unwirsch. Oshs Augen wurden schmaler, und Arri rief sich in Gedanken zur Ordnung. Sie musste Acht geben, ihren Ärger über Rahn - und vor allem natürlich über den Schamanen - nicht an dem Jungen auszulassen. Was Osh von ihr dachte oder über sie sagte, konnte ihr herzlich egal sein, aber angefangen von der Begegnung mit Sarn am Steinkreis, von der sie ihrer Mutter immer noch nichts erzählt hatte, hatte sie in den letzten Tagen wahrhaftig schon genug Schaden angerichtet. Etwas hatte sich geändert, grundlegend und unumkehrbar. Bisher hatte sich ihre Mutter selten eingemischt, wenn sie mit einem der anderen Kinder aus dem Dorf Streit hatte oder auch mit einem Erwachsenen, und sie allerhöchstens sanft zur Ordnung gerufen, wann immer sie der Meinung war, dass sie es zu toll trieb. Doch jetzt spürte sie, dass diese Zeiten vorbei waren. Vielleicht gehörte auch das zum Erwachsenwerden dazu, dachte sie; dass sie nicht mehr tun und lassen konnte, was sie wollte, und schon gar nicht sagen.
»Ist es wahr, was Sarn über deine Mutter und dich erzählt?«, fragte Osh, der seine Überraschung überwunden und erneut ein hässliches Grinsen aufgesetzt hatte.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Arri. Nicht, dass sie es sich nicht denken konnte. »Was sagt er denn über uns?«
Osh tauschte einen raschen, fast triumphierenden Blick mit den beiden dunkelhaarigen Jungen, die rechts von ihm standen, und Arri gemahnte sich im Stillen noch einmal und noch nachdrücklicher zur Ruhe. Osh und seine Freunde waren nicht zufällig gerade jetzt hier aufgetaucht, und sie waren zweifellos ebenso auf Streit aus, wie Rahn es gewesen war. Nur, dass sie Osh - so weit das überhaupt möglich war - für noch dümmer als den Fischer hielt. Vielleicht erfuhr sie ja von ihm, was hier eigentlich los war. Der Junge setzte zu einer Antwort an, aber Arri drehte sich fast gemächlich um und ging langsam zur ruhig dahinfließenden Zella hinunter; nicht direkt auf Rahn zu, aber doch ungefähr in seine Richtung. Wie sie erwartet hatte, folgten ihr Osh und die anderen. Ihr Herz schlug ein wenig schneller. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Jungen über sie herfallen würden - nicht jetzt und schon gar nicht hier, wo das ganze Dorf zusah -, aber man konnte schließlich nie wissen. Es war besser, sie blieb auf der Hut.
»Der Stammesälteste sagt, dass deine Mutter und du schuld an all dem Unglück seid, das uns getroffen hat«, beantwortete Osh ihre Frage, nachdem er mit einigen schnellen Schritten zu ihr aufgeholt hatte und gerade dicht genug neben ihr herging, dass ihr seine Nähe unangenehm wurde.
»So?«, meinte Arri. »Von welchem Unglück sprecht ihr denn? Von den besseren Ernten, die ihr habt, seit wir hier sind? Oder von all den Krankheiten, die meine Mutter geheilt hat? Oder den besseren Waffen und Werkzeugen, die ihr dank ihrer Hilfe herstellt?«
Sie sah Osh bei diesen Worten nicht an, sodass sie seine Reaktion darauf nicht auf seinem Gesicht ablesen konnte, doch der gehässige Unterton seiner Stimme nahm noch zu. »Achk hat sein Augenlicht verloren, und deine Mutter ist schuld daran.«
Arri blieb mitten im Schritt stehen und drehte sich so abrupt zu dem Jungen herum, dass er hastig einen halben Schritt vor ihr zurückwich und abwehrend die Hände hob. »Wer sagt das?«
»Sarn«, antwortete Osh verdattert. »Jeder weiß das.«
»Unsinn!«, erwiderte Arri. »Es war ein Unfall, für den niemand etwas konnte. Achk nicht und meine Mutter schon gar nicht.«
»Jeder weiß es«, beharrte Osh stur. »Und Sarn hat es auch gesagt. Achks Schmelzofen ist zerborsten, weil er die Künste seiner Väter verraten hat und dem falschen Zauber erlegen ist, den deine Mutter ihm eingeflüstert hat.«
Osh bewegte sich zielstrebig auf den Punkt zu, an dem er Bekanntschaft mit dem höchst realen Zauber von Arris rechter Faust machen würde. Vielleicht war der einzige Grund, aus dem sie sich noch beherrschte, der, dass sie in diesem Moment das Gefühl hatte, nicht so sehr Oshs Stimme zu hören, sondern vielmehr die des alten Schamanen. »Das hat Sarn gesagt?«
»Jeder weiß es.« Osh stülpte trotzig die Unterlippe vor. »Und was ist mit den fremden Kriegern? So etwas ist noch nie vorgekommen. Und jetzt, wo ihr hier seid...«
»Nach mehr als zehn Sommern«, sagte Arri spöttisch.
»... tauchen sie plötzlich wie aus dem Nichts auf und schleichen durch die Wälder«, fuhr Osh unbeeindruckt fort. »Vielleicht haben sie euch ja vorausgeschickt, um uns auszuspähen, und jetzt werden sie bald kommen, um uns alle zu töten oder uns noch Schlimmeres anzutun.«
Welch ein Unsinn!, dachte Arri. Sie wusste nicht, ob sie Osh einfach mit einem gezielten Hieb auf die Nase zum Schweigen bringen oder ihn auslachen sollte. Schließlich beließ sie es bei einem Kopfschütteln und einem mitleidigen Blick, den selbst dieser Dummkopf verstand. Aber da war noch etwas, das Osh gesagt und das sie im allerersten Moment gar nicht richtig begriffen hatte. »Was soll das heißen - sie schleichen durch die Wälder?« Plötzlich erinnerte sie sich wieder daran, wie seltsam sich ihre Mutter auf ihrem Weg nach Hause benommen hatte.
»Die Männer haben Spuren gefunden.« Osh deutete triumphierend auf Rahn, der nur wenige Schritte entfernt stand und nicht einmal in ihre Richtung sah. Dennoch erkannte Arri allein an seiner Haltung, dass er offenbar angestrengt lauschte.
»Sarn hat Rahn und ein paar von den anderen in die Wälder geschickt, um nach dem Rechten zu sehen. Sie sind auf Spuren gestoßen. Spuren von Fremden, die nicht hierher gehören.«
»Ist das wahr?«, wandte sich Arri direkt an den Fischer. Und fast hätte sie hinzugefügt: »Von Fremden oder von meiner Mutter?« Aber das ließ sie dann doch besser bleiben.
Aus Krons Hütte drang ein kurzes, aber schmerzerfülltes Brüllen zu ihnen, das sie alle herumfahren und in die entsprechende Richtung blicken ließ, aber diesem ersten Schrei folgte kein zweiter, nur das Weinen eines Kindes, das wohl über den Laut erschrocken war.
»Also - wie war das mit den Spuren?«, hakte Arri nach, nachdem sie sich wieder dem Fischer zugewandt hatte. »Du hast sie gefunden?«
Rahn tat so, als hätte er ihre Frage gar nicht gehört oder zumindest nicht verstanden, dass sie ihm galt. Vielleicht hätte er mit dieser Taktik sogar Erfolg gehabt, dann aber beging er den Fehler, für einen Moment in ihre Richtung zu sehen, und als er Arris Blick begegnete, zerbröckelte sein Widerstand so schnell, dass man regelrecht dabei zusehen konnte - etwas, das Arri mehr als befremdend gefunden hätte, wäre es zum ersten Mal geschehen. Aber mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt, dass etliche Männer und Frauen im Dorf auf eine Weise auf sie reagierten, die höchstens ihrer Mutter gegenüber angemessen gewesen wäre, und sie hatte längst aufgehört, über den Grund dafür nachzugrübeln. Einen Moment lang druckste Rahn noch herum, dann rettete er sich in ein angedeutetes Schulterzucken und eine gemurmelte Antwort, die so leise war, dass Arri sie vermutlich nicht einmal dann verstanden hätte, hätte er sie ihr direkt ins Ohr geflüstert.
»Ich nehme an, das heißt nein«, vermutete sie.
»Da waren Spuren«, beharrte Rahn im trotzigen Tonfall eines Kindes, das bei einer Missetat ertappt worden ist und sich herauszureden versucht, obwohl es ganz genau weiß, wie wenig das fruchtet.
»Aber du hast sie nicht selbst gesehen«, bohrte Arri nach.
Rahns Blick war jetzt regelrecht hasserfüllt. »Nein«, gestand er widerwillig. »Aber die anderen. Warum sollten sie mich anlügen?«
»Vielleicht aus dem gleichen Grund, aus dem sie behaupten, meine Mutter wäre eine Hexe und brächte nur Unglück über euch alle«, antwortete Arri.
»Wer behauptet so etwas?«, fragte eine Stimme hinter ihr. Arri fuhr erschrocken zusammen, drehte sich um und zuckte dann noch einmal und noch heftiger zusammen, als sie ihre Mutter erkannte. Sie war so leise hinter ihr aufgetaucht, dass sie ihre Schritte nicht einmal gehört hatte, so wenig, wie sie sich des Umstands bewusst geworden war, dass sie nun praktisch allein am Flussufer standen. Die Menschenmenge vor Krons Hütte hatte nicht sichtbar abgenommen, doch die Männer und Frauen hatten eine Gasse für ihre Mutter gebildet, die sich bislang nicht wirklich geschlossen hatte, und auch jetzt waren die meisten Gesichter in ihre Richtung gewandt und nicht in die der Hütte. Arri bemerkte dies jedoch nur beiläufig, denn der Blick, mit dem ihre Mutter sie maß, entging ihr keineswegs.
Sie sprühte vor Zorn. Arri war erschrocken, aber auch verwirrt. Was hatte sie jetzt wieder falsch gemacht? Sie hatte das Gefühl, die Antwort auf ihre unausgesprochene Frage in den Augen ihrer Mutter lesen zu können, wenn sie nur genau genug hinsah, aber eigentlich wollte sie das gar nicht. Ohne die Frage zu beantworten, drehte sie sich wieder um und hielt nach Osh und den anderen Kindern Ausschau, aber sie waren ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie vorhin aufgetaucht waren.
»Ich danke dir, dass du auf mich gewartet hast«, fuhr ihre Mutter fort, nunmehr direkt an den Fischer gewandt und in deutlich versöhnlicherem Tonfall als soeben. Rahn reagierte auf seine gewohnte Art - mit einem trotzigen Blick in Leas Richtung -, beließ es darüber hinaus jedoch bei einem Schulterzucken, und Arris Mutter fuhr fort: »Ich habe eine Aufgabe für dich, Rahn - natürlich erst, nachdem du dich ausreichend erholt hast. Sarn hat mir erzählt, dass du die vergangenen Nächte fast ohne Pause an Krons Lager gewacht hast, wofür ich dir danke, denn es wäre eigentlich meine Aufgabe gewesen - oder die meiner Tochter.«
»Kron ist mein Freund«, antwortete Rahn in leicht verwirrtem Ton, während sein Blick unstet zwischen den Gesichtern Arris und ihrer Mutter hin und her wanderte.
»Trotzdem hätte das noch lange nicht jeder für ihn getan«, beharrte Lea. Sie kam näher. »Immerhin hast du deine eigene Arbeit vernachlässigt. Und dazu noch das, was Sarn von dir verlangt hat...« Sie schüttelte den Kopf und kleidete nicht in Worte, was sie davon hielt, wodurch sie es aber eigentlich nur umso deutlicher kundtat. Die Verwirrung auf Rahns Gesicht hatte mittlerweile ein Ausmaß angenommen, das Arri schon fast lächerlich erschien. Trotzdem hütete sie sich, eine entsprechende Bemerkung zu machen. Aus einem Grund, den sie immer weniger verstand, schien ihre Mutter mit jedem Moment wütender auf sie zu werden. Dabei hatte sie doch nur getan, was sie ihr aufgetragen hatte.
»Ich soll nicht mit dir reden«, sagte Rahn.
»Wer sagt das?«, erkundigte sich Lea. Diesmal antwortete Rahn nicht, aber das schien Lea auch gar nicht erwartet zu haben. Sie nickte nur wissend, und ein flüchtiges, resignierendes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie sah sich wie zufällig um, und obwohl dabei auf ihrem Gesicht nicht die mindeste Regung abzulesen war, folgte Arris Blick dem ihrer Mutter doch in eine ganz bestimmte Richtung, und sie war nicht überrascht, Sarn dort stehen zu sehen. Er wirkte erschöpft und hatte sich schwer auf seinen Stock gestützt, was ihn aber nicht daran hinderte, mit dem anderen Arm wild zu winken.
»Die Sonne geht bald auf, und du musst sehr müde sein«, fuhr ihre Mutter an Rahn gewandt fort. »Vielleicht ist es besser, du schläfst erst ein wenig und versuchst, zu Kräften zu kommen. Später würde ich mich dann gern mit dir unterhalten.«
Auch Rahn sah einen Moment lang unsicher in Sarns Richtung, dann aber schüttelte er heftig den Kopf. »Ich weiß nicht, was wir zu...«, begann er, brach dann aber mitten im Wort ab und riss die Augen auf. Arri blickte kurz zu ihrer Mutter und sah etwas matt und goldfarben zwischen ihren Fingern aufblitzen und sofort wieder verschwinden, während Rahn sichtbar um seine Fassung rang.
»Ganz, wie du meinst«, fuhr ihre Mutter fort. »Vielleicht hast du Recht. Es ist spät geworden. Wenn du es dir anders überlegst, dann komm einfach später zu uns.« Sie gab Arri einen Wink. »Komm. Lass uns zurückgehen. Ich muss ein neues Heilmittel für Kron zubereiten, und es gibt auch sonst noch eine Menge zu tun.«
Arri trat gehorsam an die Seite ihrer Mutter und ging mit ihr die Böschung zum Dorfplatz hinauf, doch sie konnte sich kaum beherrschen, bis sie halbwegs außer Hörweite der anderen waren. »Was habe ich jetzt schon wieder falsch gemacht?«, fragte sie in vorwurfsvollem Ton. »Ich habe ihm genau das ausgerichtet, was ich sollte.«
»Ich hatte dir aufgetragen, ihn um etwas zu bitten«, sagte ihre Mutter betont, »nicht, ihm etwas zu befehlen.«
Als ob es jemals irgendeinen Sinn gehabt hätte, Rahn um etwas zu bitten!, dachte Arri trotzig. Sie hütete sich aber, das auszusprechen. Ihre Mutter war in gereizter Stimmung, was seit einer Weile nun wirklich nichts Besonderes mehr war, und es war sicher besser, wenn sie schwieg. So schnell sie es gerade noch konnten, ohne dass es tatsächlich wie eine Flucht aussah, überquerten sie den Dorfplatz und nahmen den kürzeren Weg aus dem Dorf hinaus, den nach Süden in Richtung Schmiede - und des Steinkreises, wie sich Arri mit einem unangenehmen Frösteln bewusst wurde.
Schweigend passierten sie die Hütte des Blinden und bogen nach rechts ab, ohne dem uralten Kreis stummer, steinerner Wächter auch nur auf Sichtweite nahe zu kommen. Arri atmete erleichtert auf. Die Begegnung mit dem Schamanen kam ihr immer mehr wie ein ferner Traum vor, und hätte ihr jemand gesagt, dass ihr dort nicht Sarn aufgelauert hatte, sondern ein von ihm geschicktes Trugbild, sie hätte es wahrscheinlich geglaubt.
Sie verscheuchte den hässlichen Gedanken, erinnerte sich dafür aber plötzlich an etwas anderes, das sie auf ganz andere, aber nicht minder intensive Weise beunruhigte: an das goldfarbene Funkeln, das sie in der Hand ihrer Mutter gesehen hatte. Was konnte es nur gewesen sein? Ihre Mutter besaß kein Gold, und selbst wenn es sich anders verhielte - warum sollte sie es ausgerechnet Rahn zeigen? Das Einzige, was sie damit erreichen würde, wäre, dass er anfinge zu überlegen, wie er es ihr am besten stehlen könnte.
Sie machten sich an den kurzen Abstieg zurück zu ihrer Hütte, als es in den Büschen neben ihnen raschelte. Arri fuhr erschrocken zusammen, ihre Mutter jedoch blieb mit einer Bewegung stehen, die nicht die mindeste Überraschung verriet und noch weniger Furcht, und machte eine rasche, beruhigende Geste in ihre Richtung. Dann aber riss Arri überrascht die Augen auf, als ein Schatten aus dem Gebüsch neben ihnen trat und nach einem weiteren Schritt zu einem grimmig blickenden Rahn wurde.
»Das ging schneller, als ich dachte«, sagte ihre Mutter. »Wir gehen besser hinein.«
Rahn wandte sich nicht nur gehorsam um und ging, sondern eilte sogar voraus. Arri konnte ihre Neugier nun nicht mehr bezähmen. Während sie dem Fischer an der Seite ihrer Mutter folgte, fragte sie: »Was bedeutet das? Was hast du ihm gesagt?«
»Etwas, das eigentlich deine Aufgabe gewesen wäre«, erwiderte ihre Mutter, noch immer in demselben scharfen und für Arri nach wie vor unverständlichen Ton wie bisher. Als sie etwas erwidern wollte, fuhr Lea fort: »Still jetzt. Am Ende hört uns noch jemand. Wie ich diesen Dummkopf kenne, ist er auf direktem Weg hierher gekommen.«
Arri sah zwar nicht ein, was daran so schlimm sein sollte, beschleunigte ihre Schritte aber trotzdem, als auch ihre Mutter schneller ging. Sie holten Rahn ein, als er die Stiege erreicht hatte und sich zu ihnen herumdrehte. Er wollte etwas sagen, doch Lea gebot ihm mit einer herrischen Geste gleichzeitig zu schweigen und nach oben in die Hütte zu gehen, und der Fischer gehorchte. Er blieb aber so dicht hinter dem schmalen Eingang stehen, dass es Arri und ihrer Mutter unmöglich wurde, die Hütte zu betreten. Obwohl es drinnen so dunkel war, dass sie Rahn nicht einmal mehr als Schatten ausmachen konnte, geschweige denn sein Gesicht erkennen, glaubte sie doch die Verwirrung zu spüren, die von ihm ausging, zugleich aber auch ein mindestens ebenso großes Misstrauen und eine nunmehr mühsam unterdrückte Wut. Mit einem Mal bekam sie Angst. Vielleicht war es ein Fehler von ihrer Mutter gewesen, den Fischer hierher zu bestellen.
»Also, was willst du von mir?«, begann er, und das in einem Ton, der Arris Befürchtungen nicht nur neue Nahrung gab, sondern sie fast zur Gewissheit machte. »Sarn wird wütend auf mich sein, wenn er hört, dass ich hier gewesen bin.«
»Dann würde ich es ihm an deiner Stelle auch nicht verraten«, antwortete Lea gelassen. Sie wartete vergebens darauf, dass Rahn den Weg freigab, dann seufzte sie leise, ging weiter und schob ihn dabei einfach zur Seite; ruhig, aber doch so kräftig, dass er hastig einen Schritt zurückstolperte und mit den Armen ruderte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. »Mach Licht«, sagte sie, an Arri gewandt.
Nichts, was sie lieber getan hätte! Aus ihrer Verachtung für Rahn war schlagartig Furcht geworden, die nicht nachließ, sondern mit jedem Augenblick stärker wurde, den ihre Mutter und sie zusammen mit ihm hier drinnen waren. Sie war plötzlich sicher, dass es ein schrecklicher Fehler gewesen war, ihn hierher zu bestellen. Begriff ihre Mutter denn nicht, wie gefährlich dieser Mann war, auch wenn sie ihn für einen Dummkopf hielt - oder vielleicht gerade deswegen?
Rasch tastete sie sich im Dunkeln zur Feuerstelle, ließ sich in die Hocke sinken und blies hinein. Kurz darauf glomm in der grauen Ascheschicht ein winziger, dunkelroter Funke auf, mit dem es ihr gelang, einen trockenen Zweig in Brand zu setzen und mit diesem wiederum die Flamme einer kleinen Öllampe zu entzünden. Rahn fuhr unmerklich zusammen und blinzelte besorgt in das rasch größer werdende Flämmchen. Ihre Mutter hatte jedem im Dorf gezeigt, wie einfach die Herstellung einer solchen Lampe war und wie sicher ihr Betrieb, wenn man einige wenige grundlegende Dinge beachtete; dennoch war sie die Einzige hier, die eine solche Lampe besaß, und Rahns Blick verriet Arri eindeutig, dass er Angst davor hatte, warum auch immer.
»Also«, begann er schließlich, unruhig und in jenem angriffslustigen Ton, hinter dem sich pure Angst verbarg. »Was willst du von mir?«
Ihre Mutter antwortete nicht gleich, sondern beobachtete einige Herzschläge lang scheinbar konzentriert das Größerwerden der Flamme, bis das milde Licht den gesamten Raum erfüllte und ihn in ein sonderbares Durcheinander aus warmer, gelber Helligkeit und huschenden Schatten tauchte, die man nur lange genug zu beobachten brauchte, um seltsame, gestaltlose Dinge darin zu entdecken. Und auch dann beantwortete sie Rahns Frage nicht sofort, sondern bedachte Arri mit einem zweiten, noch seltsameren Blick, unter dem diese sich immer unwohler zu fühlen begann. So wie schon draußen hatte Arri mehr und mehr das Gefühl, irgendetwas von großer Wichtigkeit verpasst zu haben. Etwas, das sie betraf.
»Vor allem möchte ich mich bei dir entschuldigen«, sagte Lea schließlich. »In letzter Zeit hat es eine Menge... Missverständnisse zwischen uns gegeben, die ich bedauere.« Sie warf Arri einen raschen, fast drohenden Blick zu. »Vor allem meine Tochter hat sich den einen oder anderen... Fehltritt geleistet. Es tut ihr Leid. Habe ich Recht?«
Die letzte Frage galt Arri, die mit einem verwirrten Blick und dann aber auch mit einem - wenn auch widerwilligen - Nicken in Rahns Richtung darauf reagierte. Die Augen des Fischers wurden schmal. Wenn sie jemals einen Ausdruck von Misstrauen auf dem Gesicht eines Menschen gesehen hatte, dann jetzt auf Rahns. Er sagte nichts. Auch Arris Mutter schwieg eine Weile und sah ihn nur erwartungsvoll an, dann wurde ihr klar, dass sie keine Antwort bekommen würde. Sie griff unter ihr Kleid, und als sie die Hand wieder hervorzog, lag eine schimmernde Perle aus Oraichalkos auf ihrer Handfläche. In dem flackernden gelben Licht, das die Öllampe verbreitete, schien der Stein leicht zu pulsieren, wie ein winziges schlagendes Herz, das mit geheimnisvollem Leben erfüllt war. Der Ausdruck von Misstrauen auf Rahns Gesicht blieb, nun aber mischte sich eine jäh aufflammende Gier hinein, die er kaum noch beherrschen konnte. Seine Hand zuckte, als wolle er nach dem Stein greifen, bewegte sich dann aber doch nicht.
»Du weißt, was das ist?«, fragte Lea.
Rahn starrte sie nur an. Ein weiterer Ausdruck gesellte sich zu dem Durcheinander von Gefühlen in seinem Blick: Verwirrung.
»Willst du ihn haben?«, fragte Lea geradeheraus.
Für einen kurzen Moment wurde die Gier in Rahns Augen fast übermächtig, dann aber trat er mit einer übertriebenen Bewegung zurück und schüttelte den Kopf. »Du machst dich über mich lustig.«
Arri konnte Rahns Reaktion durchaus verstehen. Auch wenn sie nicht viel von solcherlei Dingen verstand und sich auch nie wirklich dafür interessiert hatte, so wusste sie doch, von welch enormem Wert der Stein in der Hand ihrer Mutter war. Nors Halskette zierten mehrere und zum Teil deutlich größere Perlen aus Oraichalkos, doch selbst Sarn war nicht reich genug, auch nur einen einzigen dieser wertvollen Steine zu besitzen. Es hieß, dass man ihr Gewicht je nach Größe und Schönheit mit dem Drei- bis Fünffachen in Gold aufwog. Arri interessierte sich weder für Gold noch für Oraichalkos oder irgendetwas anderes, das sich zwar gewinnbringend eintauschen ließ, man aber weder essen noch zu irgendeinem anderen, wirklich nutzbringenden Zweck verwenden konnte. Selbst als Schmuck erschien es Arri nicht besonders reizvoll. Jede Kette aus bunten Sommerblumen, die sie sich umband oder ins Haar flocht, war hundertmal schöner. Dennoch war nicht zu übersehen, wie schwer es Rahn fiel, ihrer Mutter den Stein nicht einfach aus der Hand zu reißen.
»Ich meine es ernst«, beharrte Lea. »Du kannst ihn dir verdienen, wenn du es möchtest.«
In Rahns Gesicht arbeitete es. Einen Moment lang war er sichtlich hin und her gerissen zwischen Gier, Misstrauen und noch etwas anderem, das Arri nicht genau einordnen konnte, obgleich sie zu spüren glaubte, dass es von allen einander widerstrebenden Gefühlen das stärkste war. Dann jedoch schüttelte er noch einmal und noch entschiedener den Kopf. Es gelang ihm nicht wirklich, den Blick von der honigfarben schimmernden Versuchung auf Leas Handfläche loszureißen, doch er trat entschlossen einen weiteren halben Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, wie um seinen Händen die Gelegenheit zu nehmen, sich selbstständig zu machen und zu tun, wofür er nicht den Mut hatte. »Das ist eine Falle«, behauptete er.
Lea lachte leise. »Eine Falle?«, wiederholte sie kopfschüttelnd. »Warum sollte ich wohl etwas so Dummes tun? Und was könnte ich dir schon antun - selbst, wenn ich es wollte?« Sie schüttelte noch einmal den Kopf und schloss dann die Hand um den Stein, und wieder flackerte Gier in Rahns Augen auf. »Nein. Ich weiß, ich hätte es schon längst tun sollen, aber ich entschuldige mich noch einmal in aller Form für alles, was zwischen uns vorgefallen ist. Und vor allem für alles, was Arri gesagt und möglicherweise getan hat. Sie hat noch nicht ganz begriffen, dass Zurückhaltung mitunter eine Tugend sein kann, aber ich versichere dir: Das wird sie schon noch lernen.«
Rahn schwieg. Sein Blick tastete misstrauisch über Leas Gesicht, als suche er nach einer Spur von Verrat und Heimtücke darin, wollte aber auch immer wieder ihre Hand suchen, in der der verlockende Schatz verborgen war. Arri konnte ihm regelrecht ansehen, wie angestrengt er nach Worten suchte und sie nicht fand.
»Ich will dir nichts vormachen, Rahn«, fuhr Lea fort. »Es ist gewiss nicht so, als hätte ich dich plötzlich in mein Herz geschlossen, und ich erwarte auch umgekehrt nicht, dass du uns alles verzeihst und all das vergisst, was Sarn und ein paar von den anderen dir vielleicht über uns erzählt haben. Aber die Dinge haben sich geändert, und so, wie es aussieht, brauchen Arri und ich Hilfe. Die Hilfe eines Mannes, dem wir vertrauen können. Und wer wäre da besser geeignet als du?«
Rahn runzelte die Stirn, und Arri fragte sich besorgt, ob ihre Mutter den Bogen nicht überspannte. Rahn mochte ein Dummkopf sein, doch wie viele gerade nicht besonders intelligente Menschen besaß er ein feines Gespür dafür, wenn sich jemand über ihn lustig machte oder versuchte, ihn hinters Licht zu führen.
»Wobei?«, fragte er misstrauisch.
»Bei verschiedenen Dingen«, antwortete Lea. Sie schüttelte hastig den Kopf, wie um jedem Widerspruch des Fischers von vornherein zuvorzukommen. »Keine Sorge - niemand wird es erfahren, und selbst wenn, ich verlange nichts von dir, was dir oder irgendeinem hier im Dorf schaden würde.«
»Was gäbe es denn, was du und deine Tochter nicht allein viel besser könntet?«, erkundigte sich Rahn misstrauisch. »In all den Jahren habt ihr keinen von uns gebraucht.«
»Das ist wahr«, erwiderte Lea. »Aber die Dinge ändern sich. Ich verfüge über gewisse Fähigkeiten, die ihr nicht habt, und ich weiß manches, was ihr nicht wisst. Letzten Endes bin ich jedoch nur eine Frau, und meine Tochter bislang noch nicht einmal das. Ich brauche einen Mann für gewisse Tätigkeiten, zu denen ich selbst nicht in der Lage bin.« Sie hob wieder die Hand und ließ ihn den Stein sehen. »Du kannst diesen Stein haben, und wenn du alles zu meiner Zufriedenheit erledigst, bekommst du im nächsten Frühjahr einen zweiten dazu, sobald die Saat ausgebracht ist. Länger werde ich deine Dienste wahrscheinlich nicht benötigen.«
Rahn dachte angestrengt nach, aber schließlich - und ganz offensichtlich nicht nur zu Arris Überraschung - schüttelte er noch einmal den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich traue dir nicht. Und selbst wenn - was sollte ich damit? Sarn würde ihn mir ohnehin wieder wegnehmen.«
Lea starrte ihn einen Moment lang fast fassungslos an, und als sie dann endlich antwortete, umspielte ein kleines Lächeln ihre Lippen. »Du musst ihm nicht erzählen, dass du ihn hast. Du kannst diesen Stein und den anderen nehmen und in ein anderes Dorf gehen. Du wärst ein reicher Mann. Du könntest dir jede Frau aussuchen, die du haben willst, oder auch gleich mehrere, ganz wie es dir gefällt. Was erwartet dich hier?«
Sie war klug genug, nicht hinzuzufügen, dass er immer ein armer Fischer bleiben würde, dem die anderen nur deshalb nicht ganz offen ins Gesicht sagten, was sie von ihm hielten, weil sie seine Fäuste fürchteten; aber das schien auch gar nicht nötig zu sein. Für die Dauer von zwei, drei hämmernden Herzschlägen starrte Rahn sie so wütend an, als hätte sie es gesagt.
»Und was... müsste ich dafür tun?«, fragte er schließlich stockend.
»Nichts, dessen du dich schämen müsstest«, antwortete Lea, »oder das die anderen nicht erfahren dürften. Ich will, dass du Augen und Ohren für mich offen hältst und mir alles berichtest, was mit den Fremden zu tun hat. Ich will wissen, ob es diese Spuren wirklich gibt oder ob Sarn sie nur erfunden hat, um ein bisschen Angst zu verbreiten.«
»Dann hat er also Recht«, zischte Rahn. »Sie haben dich vorausgeschickt. Du gehörst zu ihnen und bist nur hier, um uns auszuspähen.«
So unsinnig dieser Vorwurf auch war, fand es Arri doch empörend, ihn aus Rahns Mund zu hören. Ihre Mutter jedoch lachte nur leise und schüttelte spöttisch den Kopf. »Dummkopf. Wäre es so, würde ich dann ausgerechnet dich bitten, mir zu helfen? Nein. Ich gehöre weder zu diesen Fremden, noch weiß ich, wer sie sind. Ganz im Gegenteil. Ich fürchte, dass Sarn die Gefahr unterschätzt - sollte es diese fremden Krieger tatsächlich geben. Jemand muss ihn warnen.«
»Und warum tust du es nicht selbst?«
»Weil er mir ganz gewiss nicht glauben würde«, erwiderte Lea.
Das gab Rahn für einige Augenblicke Stoff zum Nachdenken, während Arri ihre Mutter verwirrt ansah. Sie hatte ihr ja vor ein paar Tagen selbst gesagt, dass es an der Zeit war, sich einen Freund zu kaufen, aber warum ausgerechnet Rahn? Von allen im Dorf - Sarn selbst einmal ausgenommen - war Rahn womöglich derjenige, dem sie am allerwenigsten trauen konnten, vielleicht oder gerade weil sie ständig mit ihm zu tun hatten.
»Und was sonst noch?«, fragte Rahn. Wieder suchte sein Blick die schimmernde, goldgelbe Träne auf Leas Handfläche, und diesmal verharrte er lange genug darauf, um auch Arri klarzumachen, dass er seine Entscheidung im Grunde schon gefällt hatte und jetzt nur noch nach Gründen suchte, um sie vor sich selbst zu rechtfertigen.
»Nicht allzu viel«, antwortete Lea, »aber auch nicht wenig. Ein paar Botengänge, dann und wann. Vielleicht werde ich dich zu einem der anderen Stämme schicken, um das eine oder andere für mich zu holen. Das Wichtigste aber ist meine Tochter.«
Arri sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und starrte ihre Mutter aus aufgerissenen Augen an, und auch Rahn wirkte kaum weniger fassungslos. »Deine Tochter?«, wiederholte er verständnislos.
Arri wollte selbst etwas einwenden, aber ihre Mutter warf ihr einen so zornigen Blick zu, dass sie es nicht wagte, auch nur einen einzigen Ton von sich zu geben. »Ich möchte, dass du Arri beschützt. Du wirst ein Auge auf sie werfen, wann immer sie die Hütte verlässt und ich nicht bei ihr bin, und du wirst mir alles berichten, was andere über sie sagen. Insbesondere Sarn.«
»Aber...«, begann Arri.
»Schweig!«, herrschte ihre Mutter sie an. »Was immer du sagen willst, spare es dir.« Sie wandte sich wieder an den Fischer. »Sind wir uns einig? Du wirst Arri beschützen, und du weißt, was ich damit meine.«
Wieder verging eine kleine Ewigkeit, in der Rahn nichts anderes tat, als Arris Mutter anzustarren, aber dann nickte er, auch wenn man ihm ansehen konnte, wie schwer es ihm fiel. »Bis zum nächsten Frühjahr.«
»Bis die Saat ausgebracht ist«, bestätigte Lea. »Wenn das letzte Feld bestellt ist, bekommst du deinen Lohn und bist frei.«
Rahn nickte. Er sah nicht nur so aus, als begänne er jetzt schon seine Entscheidung zu bedauern, sondern wirkte auch verstörter als zuvor, was Arri nur zu gut nachempfinden konnte, denn ihr erging es nicht wesentlich anders. Was meinte ihre Mutter mit wenn das letzte Feld bestellt ist? Nor würde sie kaum so lange in Ruhe lassen!
»Dann geh jetzt«, sagte Lea. »Bevor noch jemand merkt, dass du hier bist. Ich werde Arri zu dir schicken, wenn ich dich brauche.«
Rahn ging so schnell, dass es zu nichts anderem als einer Flucht wurde, und Arri wartete nicht einmal, bis seine Schritte draußen auf der Stiege verklungen waren, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte und ihre Mutter anfuhr: »Was bedeutet das? Was soll das heißen, er soll auf mich aufpassen? Wieso ausgerechnet er? Und wieso brauche ich überhaupt jemanden, der über mich wacht?«
Die Reaktion ihrer Mutter war anders, als sie erwartet hatte. Unter gewöhnlichen Umständen hätte sie ihr einen so unverschämten Ton niemals durchgehen lassen, jetzt aber sah sie ihre Tochter nur einen Atemzug lang traurig an und sagte dann leise: »Rahn spioniert uns sowieso hinterher. Ist es dann nicht viel klüger, ihn für unsere Zwecke einzubinden?«