28

Arri bekam hinlänglich Gelegenheit, sich über ihre eigenen, dummen Worte zu ärgern, aber auch über das nachzudenken, was Rahn gesagt hatte - und so ganz nebenbei auch ihr Knie auszukurieren. Sie erwachte am nächsten Morgen erst eine ganze Weile nach Sonnenaufgang, und sie fühlte sich unausgeschlafen und müder als zuvor und mindestens so hungrig und durstig wie vor Rahns Besuch. Trotz der hämmernden Schmerzen in ihrem Bein quälte sie sich auf die Füße, humpelte zur Tür, hämmerte mit den Fäusten dagegen und schrie so lange, bis sie nahezu heiser war und ihre Kehle schmerzte, aber niemand kam, um nach der Ursache des Lärms zu sehen oder sich gar nach ihrem Befinden zu erkundigen.

Erst gegen Mittag ging die Tür ihres Gefängnisses auf, und zwei in schwarze Fellmäntel gekleidete Krieger traten ein. Während sich der eine drohend mit seinem Speer aufbaute und dabei ein so grimmiges Gesicht machte, dass Ari wahrscheinlich laut aufgelacht hätte, wäre da nicht zugleich etwas in seinen Augen gewesen, was ihr klarmachte, dass er nur nach einem Vorwand suchte, um sie auf der Stelle zu töten, brachte ihr der andere zwei flache hölzerne Schalen, die er so weit von ihr entfernt auf den Boden stellte, wie es hier drinnen überhaupt nur möglich war, bevor die beiden sich fast fluchtartig wieder zurückzogen und die Tür hinter sich verrammelten.

Und das war dann auch schon so ziemlich alles, was an diesem Tag geschah. Die beiden Schalen enthielten ein paar Schlucke brackig schmeckendes Wasser und eine kleine Portion desselben Breis, den Rahn ihr in der vergangenen Nacht gebracht hatte; gerade genug, um ihren Magen wieder daran zu erinnern, dass er ja eigentlich schon beim Aufwachen geknurrt hatte, und auf gar keinen Fall genug, um ihren Hunger zu stillen.

Niemand kam, um die leeren Schalen zu holen, und es kam auch niemand, um ihr eine zweite Mahlzeit oder auch nur einen Schluck Wasser zu bringen.

Rahn kehrte erst lange nach Dunkelwerden wieder zu ihr zurück. Arri hatte schon ungeduldig auf ihn gewartet, und er hatte die Tür noch nicht einmal ganz hinter sich geschlossen, da bestürmte sie ihn schon mit Fragen, in die sie die schüchternen Versuche einer halbherzigen Entschuldigung einfließen ließ. Rahn sagte jedoch nichts dazu. Er machte auch keine Anstalten, irgendeine der Fragen zu beantworten, mit denen sie ihn überfiel, und er tat ihr auch nicht den Gefallen, auf ihren flehenden Ton und die fast verzweifelten Blicke zu reagieren, die sie ihm zuwarf, sondern stellte nur die beiden Schalen, die er mitgebracht hatte, vor ihr auf dem Boden ab, hob stattdessen die beiden geleerten Behältnisse, die von ihrem kümmerlichen Mittagsmahl übrig geblieben waren, auf und verschwand dann ohne ein weiteres Wort.

Arri sah ihm mit einer Mischung aus Enttäuschung und Zorn hinterher, wobei der Zorn zwar zum allergrößten Teil ihr selbst galt, ein bisschen aber auch ihm. Sie hatte wirklich Zeit genug gehabt, um einzusehen, wie dumm und kindisch sie sich benommen hatte. Ganz gleich, was Rahn auch wirklich im Schilde führen mochte: Er war vermutlich der einzige Verbündete, den sie hier in Goseg und möglicherweise sogar auf der ganzen Welt hatte, und es war, wenn schon nicht undankbar, so doch zumindest dumm, es sich mit ihm zu verderben. Er hatte jedes Recht, beleidigt zu sein.

Zugleich ärgerte sich Arri aber auch über sein Verhalten. Er musste doch spüren, wie Leid ihr die Worte von gestern Nacht taten! Aber statt die ausgestreckte Hand zu ergreifen, die sie ihm hinhielt, maß er sie nur mit einem kühlen Blick und ließ sie dann ohne ein einziges Wort wieder allein.

Arri betätigte sich eine Weile damit, nach Kräften zu schmollen, dann aber erinnerte sie ihr knurrender Magen wieder daran, warum er eigentlich gekommen war, und sie humpelte zu ihrem Platz unter dem Fenster zurück und machte sich über die beiden Schalen her. Genau wie in der vergangenen Nacht hatte er ihr auch jetzt wieder eine Schale mit Wasser gebracht und eine zweite, etwas größere, die mit dem Arri schon zur Genüge bekannten grauen Brei gefüllt war. Sie hatte sich schon an den eigentlich gar nicht vorhandenen Geschmack gewöhnt und war diesmal klug genug, sich etwas von dem Wasser aufzusparen, um mit dem letzten Schluck das klebrige Zeug aus ihrem Mund zu spülen. Als sie fertig war, waren die beiden Schalen so säuberlich geleert, als hätte sie sie gerade mit großer Sorgfalt gereinigt, aber sie hatte immer noch Durst, und auch ihr Magen knurrte kein bisschen weniger als zuvor.

Und so ging es weiter. Die Nacht schien kein Ende zu nehmen. Arri fiel irgendwann in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie immer wieder entweder von Albträumen oder einem heftig pochenden Schmerz in ihrem Knie und manchmal von beidem zugleich hochfuhr. Auch der darauffolgende Tag bot keine andere Unterbrechung als den Besuch der beiden Krieger, die kamen, um ihr Wasser und Nahrung zu bringen. Arri versuchte jetzt nicht mehr, sie anzusprechen, sondern zog sich gehorsam in ihre Ecke unter dem Fenster zurück und stand schweigend da, während der eine Krieger sie mit seinem Speer bedrohte und der andere die beiden leeren Schalen gegen volle austauschte. Sie hatte jetzt keine Angst mehr. Solange sie keine unbedachte Bewegung machte oder die Männer gegen sich aufbrachte, das spürte sie, würde ihr nichts geschehen.

Stattdessen betrachtete sie die beiden aufmerksam. Der Krieger mit dem Speer kam ihr vage bekannt vor. Im allerersten Moment überlegte sie, ob er zu denen gehörte, gegen die ihre Mutter gekämpft hatte, und ob die Erinnerung an diesen Kampf der Grund für die noch immer schwelende Wut in seinem Blick war. Dann aber meinte sie, ihn tatsächlich schon einmal gesehen zu haben, allerdings nicht vor zwei Nächten draußen jenseits des verbotenen Waldes, sondern vor sehr viel längerer Zeit. Doch sie vermochte sich nicht wirklich an ihn zu erinnern und fragte sich, woher der Hass in seinen Augen kam.

Ein weiteres Rätsel, auf das sie - zumindest für die nächsten Tage - keine Antwort fand.

Auch dieser Tag verging, ohne dass auch nur irgendetwas geschah, und schon lange, bevor das Licht in dem kleinen Spalt unter der Decke wieder zu verblassen begann, lernte Arri einen neuen und ihren vielleicht bisher ärgsten Feind hier in Goseg kennen: die Langeweile. Sie war allein mit sich und ihren Gedanken, und so sehr sie auch versuchte, es nicht zu tun, kreisten eben diese Gedanken doch um nichts anderes als um die Frage, was sie hier erwarten würde.

Nicht eine einzige der Antworten, die sie sich selbst auf diese Frage gab, gefiel ihr.

Sie war davon ausgegangen, dass man sie rasch zu Sarn oder auch gleich zu Nor bringen würde, dem uneingeschränkten Herrscher nicht nur über dieses Heiligtum, sondern auch über das Land und alle Dörfer im weiten Umkreis, und sie hatte sich diesen Moment - natürlich - hundertfach und in den schwärzesten Farben ausgemalt. Aber rein gar nichts geschah. Lange Zeit, nachdem es dunkel geworden war, schlich sich Rahn wieder in ihre Kammer, brachte ihr zu essen und Wasser, und er ging auch diesmal wieder, ohne ein einziges Wort gesagt oder auch nur eine ihrer Fragen beantwortet zu haben. Arri schlief auch in dieser Nacht mit knurrendem Magen, schrecklichem Durst und dumpfem Schmerz im Knie ein.

Auf diese Weise verging auch noch der nächste Tag. Die Krieger kamen und brachten ihr - viel zu wenig - Essen und Wasser, und Arri verbrachte die Zeit bis zum Sonnenuntergang damit, das graue Rechteck unter der Decke anzustarren und sich selbst in Gedanken mit einer erstaunlichen Vielfalt von Flüchen, Verwünschungen und Beleidigungen zu belegen, von denen sie zum Teil selbst nicht gewusst hatte, dass sie sie überhaupt kannte.

Endlich wurde es dunkel. Das graue Herbstlicht hinter dem Fenster wich dem mit zahllosen, hell funkelnden Sternen übersäten Nachthimmel der ersten wolkenlosen Nacht, seit man sie hierher gebracht hatte. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis Rahn kam, und heute, das nahm sie sich fest vor, würde sie ihn nicht wieder einfach so gehen lassen. Immerhin hatte er jetzt zwei Nächte Zeit gehabt, den zu Unrecht Verletzten zu spielen, und was genug war, war genug. Wenn sie ihren Stolz herunterschlucken musste, um ihn zum Reden zu bringen, nun, dann würde sie das eben tun.

Allein - Rahn kam in dieser Nacht nicht.

Die Zeit schlich dahin, und wie immer, wenn man auf ihr Verstreichen wartete, schien sich plötzlich jeder Atemzug zu einer kleinen Ewigkeit zu dehnen.

Arri stand mit trotzig verschränkten Armen und gegen die Wand gelehnt da, starrte den Sternenhimmel über dem Fenster an und wartete darauf, dass die Tür aufging und Rahn hereinkam, aber er kam nicht.

Der Nachtzenit war bereits überschritten.

Rahn kam immer noch nicht.

Arri wartete weiter, bis ihr Rücken und vor allem ihr Bein so heftig schmerzten, dass sie es einfach nicht mehr aushielt und sich wieder in ihrem Winkel unter dem Fenster zusammenkauerte. Irgendwann verlangten Erschöpfung und Müdigkeit ihren Preis, und sie schlief ein, um am nächsten Morgen mit schmerzendem Kopf und Nacken und vollkommen niedergeschlagen wieder aufzuwachen; und so hungrig, dass ihr schon beim bloßem Anblick der beiden leeren Schüsseln von gestern beinahe übel wurde.

Warum war Rahn nicht gekommen?

Hatten ihn die Wachen überrascht, als er versucht hatte, sich zu ihr zu schleichen? Arri dachte ernsthaft über diese Möglichkeit nach, entschied sich aber dann für ein klares Nein als Antwort. Sie hätte etwas davon mitbekommen, da war sie sich sicher. Wachen machten schließlich wenig Sinn, wenn sie nicht vor der Tür oder zumindest in unmittelbarer Nähe des Gebäudes standen, und hätten sie Rahn ergriffen, während er versuchte, zu ihr zu gelangen, dann hätte sie es ganz bestimmt gehört. Die dicken Mauern und die kaum weniger dicke Tür verschluckten zwar nahezu jeden Laut, der von draußen hereindringen wollte, aber es war trotzdem nicht vollkommen still. Dann und wann hörte sie Stimmen, Wortfetzen oder ein entferntes Gelächter, einmal das jämmerliche Quietschen eines Schweins, das wahrscheinlich gerade geschlachtet wurde, und während der Nacht hatte sie geglaubt, so etwas wie Gesang zu vernehmen, der aber zu schnell wieder verstummt war, als dass sie sicher sein konnte.

Einen Streit oder gar die Geräusche eines Kampfes unmittelbar vor der Tür hätte sie ganz bestimmt gehört.

Die andere Möglichkeit, die sich unweigerlich aus dieser Antwort ergab, gefiel ihr allerdings noch viel weniger: nämlich die, dass Rahn in der vergangenen Nacht nicht hatte kommen wollen. Hatte sie ihn mit ihren unbedachten Worten so sehr verletzt? Arri konnte sich das nicht vorstellen, schon gar nicht angesichts dessen, was sie am ersten Abend in seinen Augen gelesen hatte... aber schließlich war Rahn ein Mann, und man wusste nie, auf welch kruden Pfaden sich die Gedanken eines Mannes bewegen mochten.

Die Zeit, bis die Wachen kamen, um ihr zu essen zu bringen, schien kein Ende zu nehmen. Arri wich hastig in ihren Winkel unter dem Fenster zurück, als sie das Scharren des schweren Riegels hörte, doch als sie die beiden nur halb gefüllten Schalen sah, die der zweite Krieger neben der Tür auf den Boden stellte, konnte sie nicht länger schweigen; auch wenn sie das Gefühl hatte, schreien zu müssen, um das Knurren ihres eigenen Magens zu übertönen. »Was soll das?«, begehrte sie auf. »Wollt ihr mich verhungern lassen? Das reicht ja nicht einmal, um einen Säugling satt zu machen!«

Der Krieger, der die Schalen gebracht hatte, beließ es nur bei einem verächtlichen Blick und wollte sich zum Gehen wenden, aber sein Kamerad nutzte den Vorwand, den Arri ihm mit ihrer Beschwerde geliefert hatte, um nicht nur drohend mit seinem Speer in ihre Richtung zu stochern, sondern sie mit der Spitze aus scharf geschliffenem Feuerstein in den Oberarm zu pieksen. »Halt den Mund, du dummes Ding!«, fuhr er sie an. »Sei froh, dass du überhaupt etwas bekommst! Wenn es nach mir ginge...«

»... würdest du mich verhungern lassen?«, fiel ihm Arri ins Wort. Sie lachte böse. »Seltsam, aber wieso habe ich seit ein paar Tagen eigentlich das Gefühl, dass ihr genau das tut?«

In den Augen des Kriegers blitzte es noch wütender auf, und Arri schluckte den Rest dessen, was ihr eigentlich auf der Zunge lag, vorsichtshalber herunter und biss sich auf die Unterlippe. Die Stelle, an der sie die Speerspitze getroffen hatte, blutete zwar nicht, aber sie tat ziemlich weh, und vielleicht war es besser, wenn sie ihm keinen weiteren Vorwand lieferte, seine Waffe noch einmal und vielleicht mit etwas mehr Nachdruck in ihr Fleisch zu bohren. Sie funkelte ihn einfach nur herausfordernd an, konnte aber trotz allem nicht verhindern, dass ihr Blick immer wieder zu den beiden Schalen neben der Tür irrte. Ihr war schlecht vor Hunger.

»Komm jetzt«, sagte der andere Krieger von der Tür aus. Er wirkte angespannt. »Du weißt, was Nor gesagt hat. Er ist auch so schon zornig genug.«

Arri zog es vor, nicht über die genaue Bedeutung dieser Worte nachzudenken, und es wäre ihr wohl auch schwer gefallen, denn ihre ganze Konzentration galt plötzlich der Speerspitze, die nun nicht mehr auf ihre Seite gerichtet war, sondern langsam nach oben wanderte und schließlich ihre Kehle berührte.

»Hör damit auf«, sagte der Mann von der Tür aus. Er klang jetzt mehr als nur beunruhigt, fast schon ängstlich, aber Arri wollte den Grund für diesen Stimmungswandel gar nicht so genau wissen.

»Warum?«, fragte der Krieger. Er machte ein anzügliches Geräusch. Die Speerspitze glitt an Arris Hals hinauf, strich an ihrer Wange entlang und näherte sich ihrem Auge. Arri hielt unwillkürlich den Atem an. Sie wäre noch weiter vor der Waffe zurückgewichen, aber sie stand bereits ganz in der Ecke und hatte Schultern und Hinterkopf so fest gegen den Stein gepresst, wie sie nur konnte. Sie wagte es nicht einmal mehr zu atmen. Noch eine Haaresbreite näher, und der Speer würde sich in ihr Auge bohren oder sie gleich töten. Ihr Herz hämmerte so rasend, als wollte es in ihrer Brust zerspringen.

Endlich senkte der Krieger den Speer und trat zurück; allerdings nur einen halben Schritt weit und nicht einmal lange genug, um Arri Zeit für ein erleichtertes Aufatmen zu lassen. Dann hob er seinen Speer erneut. Die gezackte Spitze glitt unter den Saum ihres Rocks und schob ihn in die Höhe, wobei sie gewiss nicht aus Zufall einen dünnen, aber höllisch brennenden Kratzer auf ihrer Haut hinterließ. Dann ließ er den Speer sinken, doch nur, um ihn erneut anzusetzen und jetzt in Arris Bluse zu bohren und auch sie anzuheben. Sein Blick folgte der Spur, die die Speerspitze auf ihrer Haut hinterließ, bis er den Stoff fast bis zu ihrer Brust hochgeschoben hatte, und Arri machte eine neue, selbst in diesem Moment überraschende Erfahrung: Sie hatte geglaubt, die Berührung von Rahns grabschenden Händen auf ihrem Leib sei widerwärtig gewesen, aber nun musste sie erkennen, dass Blicke mindestens genauso unangenehm sein konnten.

»Eigentlich ist sie gar nicht einmal so hässlich«, fuhr der Krieger fort und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Wenigstens für eine wie sie.«

»Hör endlich damit auf, Jamu«, sagte sein Kamerad hastig. »Nor wird...«

»Nichts wird Nor«, unterbrach ihn der andere. »Weil er nämlich nichts davon erfahren wird. Oder willst du es ihm erzählen?«

»Nein«, antwortete der Mann unwillig. »Aber sie vielleicht. Was willst du Nor sagen, wenn er dich fragt, warum du seinen Befehl missachtet hast?«

»Vielleicht gar nichts, wenn er es nicht erfährt«, sagte Jamu noch einmal. »Wir könnten sagen, dass sie uns angegriffen hat und wir sie töten mussten, um uns vor ihrer Magie zu schützen.«

Der Speer in seinen Händen zitterte noch heftiger, als er den Druck auf die Waffe verstärkte, und diesmal floss Blut, wenn auch nur einige wenige Tropfen, und Arri sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und wappnete sich gegen den Schmerz, der nun kommen musste - aber dann zog der Krieger den Speer mit einem Ruck zurück, spie angeekelt vor Arri auf den Boden und drehte sich abrupt um. Als er den Raum verließ, ähnelte es mehr als alles andere einer Flucht - was ihn allerdings nicht daran hinderte, noch im Hinausgehen mit seinem Speer die Schale mit dem mitgebrachten Brei umzustoßen.

Arri atmete so erleichtert auf, dass es wohl noch auf der anderen Seite der dicken Tür zu hören sein musste. Plötzlich zitterten ihre Knie so heftig, dass sie sich nicht mehr halten konnte und an der Wand entlang in die Hocke sank, wo sie mit hämmerndem Herzen und keuchendem Atem eine geraume Weile sitzen blieb. Ganz plötzlich hatte sie das Gefühl, dem Tod gerade um Haaresbreite entgangen zu sein, und vielleicht um weniger als Haaresbreite. Jamu hatte sie auf genau die Art angestarrt, wie sie für Männer seines Schlags üblich war, aber unter der Gier in seinen Augen - nicht sehr tief darunter, und auch nicht besonders gut versteckt - war noch etwas anderes gewesen. Jamu hatte sie töten wollen. Nicht weil er Angst vor ihr hatte oder wegen des Unsinns, den Nor ihm über sie oder ihre Mutter erzählt haben mochte. Was sie in seinen Augen gelesen hatte, war blanker, unverhohlener Hass gewesen.

Aber warum? Was hatte sie ihm getan?

Sie wartete, bis ihr Herz aufgehört hatte, wie verrückt von innen gegen ihre Rippen zu hämmern, dann ließ sie sich nach vorn auf beide Hände und das unversehrte Knie sinken und kroch zur Tür, um die Schale aufzuheben, die Jamu im Hinausgehen umgestoßen hatte.

Die Schale war nahezu leer und ihr ohnehin kümmerlicher Inhalt auf dem Boden verschüttet.

Wenigstens hatte er ihr das Wasser gelassen. Einen Tag ohne Essen würde sie aushalten, aber einen ganzen Tag ohne Wasser - und vielleicht auch noch eine ganze Nacht, falls Rahn auch heute nicht kam - vielleicht nicht. Arri war mittlerweile fast sicher, dass man ihr nicht zufällig nur gerade so viel zu essen und zu trinken gab, dass sie am Leben blieb, aber ganz bestimmt nicht mehr. Ohne das bisschen zusätzliche Essen, das Rahn ihr heimlich gebracht hatte, wäre sie vielleicht schon jetzt kaum noch in der Lage gewesen, aus eigener Kraft zu stehen. Wollte man sie vielleicht aushungern, um sicherzugehen, dass sie auch ganz bestimmt auf die Knie fiel, wenn man sie irgendwann zu Nor brachte?

Vorsichtig und mit beiden Händen ergriff sie die Wasserschale und trank einen großen Schluck. Ihre Vernunft sagte ihr, dass sie besser daran täte, sich die paar jämmerlichen Schlucke einzuteilen, denn es konnte gut sein, dass es bis zum nächsten Tag dauern würde, bevor sie wieder etwas bekam. Aber Vernunft war eine feine Sache, so lange man sie sich leisten konnte, und sie pflegte rasch an Macht zu verlieren, wenn man nur durstig genug war; und Arri war mittlerweile sehr durstig. Sie zögerte noch einen letzten Atemzug, dann zuckte sie seufzend mit den Schultern und leerte die Schale bis auf einen winzigen Rest, den sie sich für den Moment aufsparen wollte, wenn der Durst gar zu übermächtig würde.

Anschließend hob sie die umgekippte Schale Brei auf und leckte den kümmerlichen Rest heraus, der darin verblieben war, und sie ertappte sich tatsächlich bei der ernsthaften Überlegung, den verschütteten Brei vom Boden noch irgendwie aufzusammeln, um ihn sich einzuverleiben. Die Vorstellung war ziemlich widerlich, aber vielleicht letzten Endes nicht so schlimm wie der Gedanke, bis zum nächsten Tag hungern zu müssen.

Doch noch war ihr Stolz stärker als der Hunger, der in ihren Eingeweiden wühlte, und sie war nicht einmal sicher, dass der Krieger die Schale nicht sogar auf Nors ausdrücklichen Befehl hin umgestoßen hatte, und zwar aus keinem anderen Grund als dem, sich davon zu überzeugen, wie weit ihr Wille und ihr Stolz schon gebrochen waren.

Auch dieser Tag endete, ohne dass noch irgendetwas geschah oder jemand kam, und als die Nacht hereinbrach und die Zeit verrann und die Tür ihres Gefängnisses nicht aufging, um Rahn einzulassen, wuchs Arris Verzweiflung ins Grenzenlose. Vielleicht hatte sie sich ja getäuscht. Vielleicht wollte man sie ja tatsächlich verhungern lassen, nur eben nicht schnell und in wenigen Tagen, und die Männer brachten ihr ganz bewusst gerade so viel zu essen, dass sich ihre Qual schier endlos lange dahinziehen musste.

Natürlich war dieser Gedanke vollkommen unsinnig. Wenn Nor sie tatsächlich quälen wollte, dann standen ihm dazu sicher ganz andere, wirkungsvollere und vor allem brutalere Methoden zur Verfügung. Unglückseligerweise war es gerade diese Überlegung, die ihre Phantasie dazu anregte, sich in vollkommen übertriebene Schreckensbilder hineinzusteigern.

Es musste schon wieder auf den Nachtzenit zugehen, als sie ein Geräusch an der Tür hörte und hochfuhr. Sie hatte es selbst nicht gemerkt und war ganz im Gegenteil davon überzeugt gewesen, die ganze Zeit über hellwach dagesessen und auf das Verstreichen der Zeit gewartet zu haben. So ganz konnte das nicht stimmen, denn sie hatte zwar das Geräusch der Tür gehört, aber es war das Geräusch, mit dem sie geöffnet wurde, damit jemand den Raum verlassen konnte.

»Rahn?«, fragte sie. Der Schatten vor der Tür zögerte fast unmerklich, und Arri setzte sich erschrocken auf und sagte noch einmal und lauter: »Rahn? Bitte bleib!«

Tatsächlich erstarrte die Gestalt, die sich schwarz auf schwarz vor dem Hintergrund eines jetzt wieder wolkenverhangenen Nachthimmels abzeichnete, drehte sich dann zu ihr um, und die Dunkelheit auf der anderen Seite des Raumes wurde wieder so vollständig, als hätten Mardans Schattendämonen ihre dunklen Schleier über die Türöffnung gezogen, statt dass nur jemand die Tür mit einem kaum hörbaren Knarren wieder schloss.

»Ich wusste nicht, dass du wach bist«, sagte Rahn.

Arri atmete erleichtert auf. Sie war sich nicht ganz sicher gewesen, ob es sich bei dem Eindringling wirklich um Rahn handelte. »Ich habe nicht geschlafen«, sagte sie mit einer Stimme, die belegt und schlaftrunken genug klang, um die Behauptung selbst in ihren Ohren einfach nur lächerlich klingen zu lassen.

»Natürlich nicht«, antwortete Rahn denn auch unüberhörbar spöttisch, während er mit leise raschelnden Bewegungen näher kam. »Ich nehme an, du schnarchst immer so laut, dass man es noch auf der anderen Seite des Hauses hören kann, wenn du wach bist.«

»Also gut, vielleicht ein bisschen«, gestand Arri zerknirscht.

Rahn lachte. »Ach? Und wie schläft man ein bisschen?« Sie sah, wie er sich halb in Richtung der Tür umdrehte und den Kopf auf die Seite legte, wie um zu lauschen, und als er sich wieder direkt an sie wandte und fortfuhr, war seine Stimme leiser geworden und klang auch deutlich unwillig. »Was willst du?«

Arri überlegte sich ihre Antwort sehr genau. Sie konnte es sich auf gar keinen Fall leisten, ihn noch einmal zu verjagen oder ihn einfach nur gehen zu lassen, ohne mit ihm geredet zu haben, und dies ganz und gar nicht nur, weil er möglicherweise der Einzige war, der noch zwischen ihr und einem qualvollen Hungertod stand. Während all der endlosen Zeit, die sie auf ihn gewartet hatte, hatte sie sich ganz genau das immer und immer wieder eingeredet, doch nun begriff sie, dass das nicht stimmte. Auch wenn sie sich selbst vergebens fragte, warum eigentlich - Rahn bedeutete ihr etwas. Sie wusste nicht was, und sie verstand dieses Gefühl nicht im Geringsten, aber es war so.

»Mit dir reden«, sagte sie.

»Reden?«, wiederholte Rahn. »Und worüber? Ich meine: Im Grunde hast du bereits alles gesagt, was es zu sagen gibt.«

»Rahn, bitte«, sagte Arri. »Es tut mir Leid. Wirklich. Ich wollte dir nicht...«

»... Gemeinheiten an den Kopf werfen?«, fiel ihr Rahn ins Wort und beantwortete seine eigene Frage sogleich mit einem heftigen Kopfschütteln. »Doch. Ganz genau das wolltest du.«

Seine Worte, vielleicht eben deshalb, weil sie so viel Wahrheit enthielten, ärgerten Arri schon wieder so sehr, dass ihre Vernunft gerade noch mit Mühe und Not die Oberhand behielt und sie daran hinderte, mit einer neuen Bosheit zu antworten. Sie hob stattdessen nur die Schultern und versuchte, möglichst schuldbewusst auszusehen - aber nicht, ohne mit zusammengekniffenen Augen nach dem Essen Ausschau zu halten, dass er wahrscheinlich mitgebracht hatte.

»Also?«, fragte er. »Was willst du? Ich habe nicht viel Zeit. Die Wachen sind misstrauisch geworden. Hast du ihnen etwas erzählt?«

»Nein!«, antwortete Arri erschrocken. Warum sollte sie etwas so Dummes tun?

»Also, was willst du dann?«

»Ich... ich wollte mich bei dir entschuldigen.« Die Worte schienen Arri nur widerwillig über die Lippen zu kommen. »Was ich gesagt habe, tut mir Leid«, fuhr sie leise fort. »Es war dumm.«

»Ja«, stimmte ihr Rahn zu. »Das war es.« Plötzlich lachte er leise auf. »Aber um ehrlich zu sein, habe ich nichts anderes von dir erwartet. Schließlich bist du die Tochter deiner Mutter.«

Was sollte das denn jetzt schon wieder heißen?, fragte sich Arri. »Meine Mutter ist nicht dumm!«

»Nein«, sagte Rahn. »Aber sie neigt dazu, alle anderen für dumm zu halten - und sie auch so zu behandeln.« Er seufzte. »Ich nehme an, ich erzähle dir nichts Neues, wenn ich dir sage, wie ähnlich du ihr bist?«

Arri wusste nicht genau, was sie darauf sagen sollte, und so fuhr sie sich nur mit der Zungenspitze über die rissigen Lippen und reckte den Kopf, um die Dunkelheit hinter Rahn mit Blicken zu durchdringen. »Hast du...?«

»... etwas zu essen mitgebracht?«, führte Rahn den Satz zu Ende. Statt die Frage zu beantworten, sah er rasch in die Dunkelheit auf der anderen Seite des Raumes und tauchte nur einen Herzschlag später wieder daraus auf, zwei flache, hölzerne Schalen in den Händen haltend. »Sicher. Warum hätte ich sonst kommen sollen?«

Arri hatte das sonderbares Gefühl, dass er eine ganz bestimmte Antwort auf diese Frage erwartete, doch statt irgendetwas zu sagen, stemmte sie sich halb in die Höhe und riss ihm die Schale mit Wasser regelrecht aus der Hand. Sie war so gierig, dass sie einen gut Teil der kostbaren Flüssigkeit verschüttete, bevor ihre Vernunft wieder die Oberhand gewann und sie die letzten Schlucke bedächtig und ganz bewusst langsam trank. Und auch mit dem Brei erging es ihr nicht sehr viel besser. In Windeseile löffelte sie die Schüssel mit den Fingern leer und leckte sie anschließend so gründlich und lange aus, bis Rahn ihr die Schale aus den Fingern nahm und den Kopf schüttelte.

»Nicht, das du am Ende noch Splitter in der Zunge hast«, sagte er spöttisch. »Sie ist auch so schon spitz genug.«

»Danke«, sagte Arri.

»Sie geben dir nicht genug zu essen«, vermutete Rahn.

»Nein«, sagte Arri. Warum stellte er diese Frage? Wäre er der Meinung gewesen, es wäre anders - warum hätte er dann das Risiko auf sich nehmen sollen, sich hier hereinzuschleichen?

»Ich werde Nor davon berichten«, murmelte Rahn. Er klang verärgert. »Das verspreche ich dir.«

»Wahrscheinlich lassen sie mich auf Nors Befehl allmählich verhungern«, erwiderte Arri, aber nun schüttelte Rahn heftig den Kopf und wirkte noch ärgerlicher.

»Nein!«, beharrte er. »Ich weiß, dass er den ausdrücklichen Befehl erteilt hat, dir genug zu essen und Wasser zu bringen und auch sonst dafür zu sorgen, dass dir kein Leid geschieht.« Er machte ein ärgerliches Geräusch. »Wahrscheinlich behalten die Wachen den größten Teil deiner Ration für sich und geben dir nur gerade genug, damit du am Leben bleibst.«

»Wenn du wirklich glaubst, dass ich genug zu essen bekomme, warum bist du dann überhaupt hier?«

Rahn lachte. Es klang nicht ganz echt. »Wann hätte ein Mädchen in deinem Alter jemals genug zu essen bekommen, um satt zu werden?«

»Und warum sollte Nor so um mein Wohl besorgt sein?«, beharrte Arri. »Ausgerechnet er?«

Wieder lachte Rahn, aber jetzt war es ein Geräusch, das die genau gegenteilige Wirkung auf Arri hatte. »Ganz bestimmt nicht, weil er dich so sehr ins Herz geschlossen hat, Arianrhod.« Arianrhod? Arri sah den breitschultrigen Schatten über sich verwirrt an. Wieso gebrauchte Rahn ihren wirklichen Namen? Und woher kannte er ihn überhaupt? »Warum dann?«, fragte sie.

Rahn kam wieder näher und ließ sich vor ihr in die Hocke sinken. Er stellte die beiden leeren Schalen ineinander, um eine Hand frei zu haben, griff dann unter seinen Mantel und förderte einen kleinen Apfel zu Tage, den er Arri zuwarf. »Das weiß ich nicht.«

Arri war so überrascht, dass ihr der Apfel durch die Finger glitt und zu Boden fiel. Hastig hob sie ihn auf, führte ihn ohne viel Nachdenken zum Mund und biss hinein. Er war winzig, verschrumpelt und braun und sah nicht nur so aus, sondern schmeckte auch irgendwie so, als wäre er nicht von der letzten, sondern von der vorletzten Ernte übrig geblieben, und dennoch hatte sie in diesem Moment das Gefühl, noch niemals etwas Köstlicheres gegessen zu haben. Eine Woge tiefer Dankbarkeit überflutete sie, und am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte Rahn in die Arme geschlossen, wäre sie nicht voll und ganz damit beschäftigt gewesen, zu kauen und das Gefühl zu genießen, endlich wieder etwas zwischen den Zähnen zu haben, was nicht breiig und ansonsten nach gar nichts schmeckte.

Als Arri fertig war, lächelte sie dankbar und schielte gierig auf Rahns Umhang, doch der Fischer schüttelte nur bedauernd den Kopf. »Das war alles. Mehr konnte ich nicht stehlen, ohne dass es aufgefallen wäre.«

»Stehlen«, wiederholte Arri. Sie lächelte oder versuchte doch zumindest, ihre gesprungenen Lippen zu etwas zu verziehen, was wie ein Lächeln aussah. »Ich wusste immer, dass du ein unehrlicher Mensch bist - aber ein Dieb?«

Rahn schien einen Moment lang ernsthaft über diese Worte nachdenken zu müssen, dann beschloss er wohl, dass es das Beste war, sie überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen. »Du hast mich gefragt, warum ich gekommen bin.« Arri nickte, und Rahn schwieg abermals für eine geraume Weile, in der er sehr aufmerksam und sehr nachdenklich wirkte. »Ich habe etwas von deiner Mutter gehört.«

»Von meiner Mutter?!« Arri setzte sich kerzengerade auf. »Wo ist sie? Wie geht es ihr?«

Rahn hob besänftigend die Hände. »Das weiß ich nicht«, sagte er rasch und bedeutete ihr gleichzeitig mit einer fast erschrockenen Bewegung, leiser zu sprechen. Arri hatte vor lauter Überraschung fast geschrieen.

Kaum einen Deut leiser als zuvor fuhr sie fort: »Aber gerade hast du doch gesagt, dass...«

»Nors Krieger suchen immer noch die Wälder im weitem Umkreis nach ihr ab«, fiel ihr Rahn ins Wort und winkte noch einmal und heftiger ab, wobei er das Gesicht verzog, als hätte er plötzlich Zahnschmerzen. »Es ist ihnen nicht gelungen, sie aufzuspüren, aber sie haben ihre Fährte entdeckt, und einer der Männer behauptet nicht nur, sie gesehen, sondern sogar, ihr gegenübergestanden zu haben. Ich glaube allerdings«, fügte Rahn mit einem angedeuteten Achselzucken hinzu, »dass er lügt.«

»Warum?«, fragte Arri.

»Weil er noch am Leben ist.« Rahns Versuch, einen Scherz zu machen, misslang kläglich, als er fortfuhr: »Es sei denn, dass es deiner Mutter wirklich nicht besonders gut geht. Aber dann«, fügte er eindeutig überhastet hinzu, »hätten Nors Krieger sie wahrscheinlich längst eingefangen. Sie sind gut, weißt du?«

»Nein«, antwortete Arri finster. »Immer wenn ich dabei war, hat meine Mutter sie besiegt.«

Rahn machte eine rasche, ungeduldige Handbewegung. »Auch wenn Lea besser mit dem Schwert umgehen kann, bedeutet das doch nicht, dass sie schlecht sind. Und schon gar nicht dumm. Nor sucht seine Männer sehr sorgfältig aus. Schließlich ist es eine Ehre, bei ihm zu dienen.«

»Du scheinst ja dein Herz an Nor verloren zu haben«, erwiderte Arri giftig. »Bist du hergekommen, um ein Loblied auf ihn zu singen?«

»Du solltest deine Feinde nie unterschätzen«, erwiderte Rahn ernst. »Schon gar nicht, wenn sie so mächtig sind wie Nor. Narren erringen selten große Macht. Und wenn doch, dann behalten sie sie nicht lange.«

»Und?«, fragte Arri misstrauisch. »Warum erzählst du mir das alles?«

»Ihr wart auf dem Weg in die Berge, nicht wahr«, fragte Rahn, statt ihre Frage zu beantworten, »um euch den Fremden anzuschließen?«

Arri sagte nichts dazu, aber sie fragte sich verwirrt, worauf Rahn überhaupt hinauswollte. Er kannte die Antwort auf seine eigene Frage ebenso gut wie sie. »Du warst doch dabei.«

Rahn machte eine unwillige Geste. »Ich will nicht wissen, was deine Mutter mir gesagt hat«, antwortete er scharf. »Stell dir vor, daran erinnere ich mich selbst. Ich will wissen, was ihr wirklich vorgehabt hattet.«

»Ich weiß auch nicht mehr als du«, sagte Arri störrisch. Was wollte er eigentlich von ihr hören? »Wir wollten zu Dragosz, um uns ihm und seinem Volk anzuschließen. Warum?«

»Genau das frage ich mich auch«, sagte Rahn.

»Wie?« Arri blinzelte verständnislos.

»Deine Mutter war in unserem Dorf vielleicht nicht sehr beliebt, aber ihr hattet ein gutes Leben«, antwortete Rahn. »Ihr hattet immer genug zu essen, und die Menschen haben euch respektiert.«

»Respektiert?« Arri ächzte übertrieben. »Das ist komisch. Irgendwie hatte ich immer ein ganz anderes Gefühl.«

»Du irrst dich«, behauptete Rahn. »Gleich, wie sehr Sarn sie auch aufzuhetzen versucht hat: Die Leute haben nicht vergessen, was deine Mutter für das Dorf getan hat.«

»Was sollte das schon groß sein?«, fragte Arri störrisch. »Sie hat eure Verletzten und Kranken gepflegt und euch ein paar Dinge beigebracht, auf die ihr wahrscheinlich im Lauf der Zeit auch von selbst gekommen wärt.«

»Ich glaube beinahe, du hast wirklich keine Ahnung.« Rahn schüttelte den Kopf. »Ich bin vielleicht nicht so viel älter als du, aber ich kann mich noch gut erinnern, wie es war, bevor ihr in unser Dorf gekommen seid. Die Alten erzählen oft genug davon, und auch ich kenne diese Zeit noch.« Er sah sie nachdenklich an. »Wann hast du das letzte Mal gehungert?«

»Heute«, antwortete Arri wahrheitsgemäß. Ihr Magen knurrte gehorsam, um ihre Behauptung zu unterstreichen, und Rahn lächelte flüchtig, wurde aber sofort wieder ernst.

»Ich meine wirklich gehungert«, beharrte er. »Nicht einen Tag oder einen Monat, sondern einen ganzen Winter lang? Kennst du das Gefühl, nicht zu wissen, ob du das nächste Frühjahr noch erleben wirst, weil der Hunger dir die Eingeweide zerreißt und die Vorräte schon längst verdorben sind? Weißt du, wie es ist, wenn du deine Brüder und Schwestern vor Hunger sterben siehst und dich fragst, ob du vielleicht der Nächste bist?«

»Nein«, sagte Arri.

»Woher auch?«, schnaubte Rahn. »Ich kenne es, und jeder, der älter ist als ich, kennt es auch. Die Alten erzählen von Jahren, in denen nur die Hälfte des Dorfes noch am Leben war, wenn der Schnee schmolz. Und weißt du, warum du diese Zeit nie erlebt hast?«

»Nein«, antwortete Arri, »und es kümmert mich auch nicht! Bist du nur hergekommen, um...«

»Weil es sie nicht mehr gibt, seit deine Mutter zu uns gekommen ist«, fuhr Rahn ungerührt fort. »Deine Mutter hat uns so viel Neues gelehrt. Die Felder bringen reichere Ernten ein, und die Jäger wissen stets, wo sie das meiste Wild erlegen können. Sie hat uns gelehrt, bessere Werkzeuge zu schmieden und die Saat stets zum rechten Zeitpunkt auszubringen...« Er schüttelte den Kopf, um klarzumachen, dass er die Aufzählung noch eine geraume Weile fortsetzen könnte, machte dann aber nur eine abschätzende Handbewegung. »Deine Mutter hat dem Dorf Wohlstand und Sicherheit beschert, Arianrhod, und die Leute wissen das.«

»Wenn es wahr ist, dann haben sie eine sehr seltsame Art, ihre Dankbarkeit zu zeigen«, sagte Arri spitz und fügte in Gedanken hinzu: dich eingeschlossen; vorsichtshalber aber wirklich nur in Gedanken. Dennoch sah Rahn sie so vorwurfsvoll an, als hätte sie genau diesen Gedanken laut ausgesprochen. Dann aber zog er nur die linke Augenbraue hoch und fuhr fort: »Manchmal ist es schwer, immer nur Dankbarkeit zu zeigen. Die Leute fühlen sich in der Rolle des ewigen Bittstellers nicht wohl.«

Arri sah ihn verständnislos an.

»Geht es dir nicht auch so?«, fragte Rahn. »Ich meine: Was ist dir lieber? Immer nur von einem Almosen leben zu müssen oder von deiner eigenen Hände Arbeit?«

Arri sah ihn nur mit noch größerer Verständnislosigkeit an, und Rahn seufzte leise und schüttelte den Kopf. Er wirkte enttäuscht.

»Warum erzählst du mir das alles?«, wollte Arri wissen.

»Vielleicht, damit du verstehst, warum die Menschen im Dorf so zornig auf euch sind«, antwortete Rahn ernst.

Diesmal musste Arri ihrer Verständnislosigkeit nicht einmal sehr spielen. »Sie sind zornig auf uns, weil sie uns Dank schulden?«, murmelte sie verwirrt. »Was ist denn das für ein Unsinn?«

»Seit ihr in unser Dort gekommen seid«, antwortete Rahn ruhig, »hat deine Mutter den Menschen gezeigt, um wie viel größer ihr Wissen ist. Sie ist es, denen sie bessere Ernten verdanken. Niemand muss mehr Angst haben, den nächsten Winter nicht mehr zu überleben oder zu sterben, weil er sich in den Finger geschnitten und die Wunde sich entzündet hat.« Er schüttelte heftig den Kopf, obwohl Arri gar nicht versucht hatte, zu widersprechen oder auch nur irgendetwas zu sagen, und fuhr lauter und in fast vorwurfsvollem Ton fort: »Aber sie hat ihr Wissen nie mit anderen geteilt. Sie behält es eifersüchtig für sich und hütet es wie einen Schatz. Die Menschen im Dorf wissen, dass es ihnen weiter gut geht, solange deine Mutter bei ihnen ist, und nun will sie gehen. Einfach so. Und du erwartest Dankbarkeit?«

»Was denn sonst«, gab Arri patzig zurück. »Aber wenn sie nicht wollen, ist es auch gut. Und dann ist es ja wohl sowieso das Beste, wenn wir euch nicht länger zur Last fallen. Ganz abgesehen davon, dass Sarn uns sowieso schon lange am liebsten mit Schimpf und Schande aus dem Dorf gejagt hätte und Nor uns unter Druck gesetzt hat.«

Rahn schüttelte entschieden den Kopf. »Es geht hier nicht um Sarn oder Nor. Die Menschen, die dich und deine Mutter vor vielen Jahren aufgenommen haben, können euch nicht einfach so gehen lassen. Was erwartest du? Deine Mutter ist ihnen etwas schuldig.«

»Ach, und was?«, erwiderte Arri höhnisch. »Was habt ihr für uns getan, dass wir euch etwas schuldig sind?«

Ein Ausdruck leiser Überraschung erschien in Rahns Augen, dann aber schüttelte er nur noch einmal und diesmal heftiger den Kopf.

»Ihr könnt nicht einfach irgendwo hingehen und die Leute die Brosamen von eurem Tisch aufsammeln lassen, solange es euch gefällt, und dann weiterziehen. Ich mag Nor nicht. Er ist ein grausamer Herrscher, ungerecht und selbstsüchtig. Aber er hat Recht.«

»Womit?«, fragte Arri.

»Mit dem, was er tut«, antwortete Rahn. Er hob die Schultern. »Man mag über die Art streiten, wie er seinen Willen durchzusetzen versucht, doch er hat Recht. Es wäre die verdammte Pflicht deiner Mutter gewesen, ihm das Geheimnis ihrer Magie zu verraten. Du kannst nicht irgendwo hingehen, eine Weile bleiben und tun, was immer du willst, und dann einfach wieder verschwinden, als wäre nichts geschehen!«

»Du bist wirklich nur hergekommen, um Nor zu verteidigen, wie?«, fragte Arri.

»Nein«, antwortete Rahn rundheraus. »Ich bin hier, weil Nor mir den Auftrag gegeben hat, mich in dein Vertrauen zu schleichen und dich auszuhorchen.«

Hätte Arri in diesem Moment noch einen Bissen des Apfels im Mund gehabt, er wäre ihr vermutlich im wahrsten Sinn des Wortes im Halse stecken geblieben. Aus aufgerissenen Augen starrte sie Rahn an und suchte - vergeblich - nach irgendeinem Anzeichen von Spott oder Hohn in seinem Gesicht, aber da war nichts. Er meinte diese Worte vollkommen ernst. »Und das... das... sagst du mir einfach so ins Gesicht?«, ächzte sie.

»Wäre es dir lieber, ich würde dich belügen?«, erwiderte Rahn.

»Du... du willst mich verhöhnen«, murmelte Arri. »Du sagst das nur, um...«

»... dir zu beweisen, dass du mir trauen kannst«, unterbrach sie Rahn.

Von allen verdrehten Gedanken, die er bisher geäußert hatte, fand Arri, war das der mit Abstand albernste. Dennoch sagte sie nichts dazu, und Rahn kam wieder ein Stück näher, hütete sich aber, den Abstand zu unterschreiten, mit dem ihr seine Nähe unangenehm hätte werden können. »Hast du wirklich geglaubt, ich könnte mich jede Nacht hier hereinschleichen, ohne dass die Wachen es merken?«, fragte er und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Goseg ist groß, aber doch nicht so groß, dass so etwas unbemerkt bliebe. Nor hat mich beauftragt, mit dir zu reden und dich auszuhorchen.«

»Und es mir zu sagen?«

Rahn lächelte, aber nur knapp. »Nein, das vielleicht nicht«, gestand er. »Ich bin ganz ehrlich zu dir, Arianrhod. Damit du begreifst, dass ich nicht dein Feind bin.«

»O ja, ich verstehe«, antwortete Arri verwirrt. »Du verrätst deinen Herren, um mir zu beweisen, dass ich dir trauen kann? Das macht Sinn.«

Ganz kurz huschte ein Ausdruck von Zorn über Rahns Gesicht, verschwand dann aber wieder. »Ich verrate ihn nicht«, behauptete er, »und Nor ist nicht mein Herr. Mein Leben gehört mir, wenn schon nichts anderes.«

»Und was erwartest du nun als Gegenleistung für deine große Ehrlichkeit?«, erkundigte sich Arri. »Dass ich jetzt meinerseits meine Mutter verrate?«

»Dasselbe«, sagte Rahn. »Dass du ehrlich zu mir bist. Ich war bereit, alles aufzugeben und mein Leben hinter mir zu lassen, um deiner Mutter und dir zu folgen. Als Dank hat sie mich verraten. Was erwartest du, wie ich darauf reagieren soll?«

»Ich weiß nicht, was du von mir willst«, antwortete Arri unwirsch. »Ich kann dir nicht mehr sagen, als du schon weißt.«

»Die Fremden«, beharrte Rahn. »Das Volk eures neuen Freundes... kennst du den Weg dorthin?«

»Nein«, antwortete Arri, was nicht nur die Wahrheit war - sie sah Rahn auch an, dass er ihr keine andere Antwort geglaubt hätte.

»Aber du weißt, wie man sie findet?«

»Und wenn ich es wüsste - warum sollte ich es dir sagen?«, gab Arri misstrauisch zurück. »Damit du zu Nor gehst und es ihm erzählst?«

»Du begreifst anscheinend immer noch nicht, in welcher Lage du dich befindest.«

»Mit dem Rücken an der Wand?«, erkundigte sich Arri.

»Das ist nicht witzig, Arianrhod!« Plötzlich war in Rahns Stimme ein Ernst, der das spöttische Lächeln auf ihrem Gesicht gefrieren ließ. »Sarn wollte dich töten. Nor ist klüger und hat erkannt, dass du uns lebend von größerem Nutzen bist als tot, aber das heißt nicht, dass er weniger gefährlich wäre. Ganz im Gegenteil. Er wird so oder so alles erfahren, was er von dir wissen will. Die Frage ist nur, wie schlimm es für dich wird.«

Wenn er es darauf angelegt hatte, ihr Angst zu machen, dachte Arri, dann war es ihm gelungen. Trotzdem zwang sie sich noch einmal zu einem Grinsen und fragte mit einem treuherzigen Augenaufschlag: »Wenn er glaubt, einer Hexe wie mir damit Angst machen zu können, hat er sich aber schwer getäuscht.«

Diesmal blitzte es eindeutig wütend in Rahns Augen auf, und sie sah, wie er zu einer entsprechenden Antwort Luft holte, es dann aber nur bei einem Seufzen und einem angedeuteten Kopfschütteln beließ. Plötzlich stand er auf. »Also gut«, sagte er, lauter und in verändertem Tonfall. »Du hast noch ein wenig Zeit, um nachzudenken. Aber nicht mehr allzu viel.«

»Wieso?«, fragte Arri. »Worüber nachzudenken?«

»Zum Beispiel über die Frage, was du den Menschen hier schuldig bist«, antwortete Rahn, »und sie dir. Nor hat einen Boten ins Dorf geschickt, der Sarn und den blinden Schmied nach Goseg bringen soll. Sobald sie eintreffen, werden sie zu Gericht über dich sitzen. Morgen, spätestens aber am Tag danach.«

»Über mich?«, wiederholte Arri verständnislos. »Aber wieso über mich? Ich... ich habe nichts getan!«

Rahn hob übertrieben die Schultern, wie um klarzumachen, dass ihn das nichts anging und auch nicht wirklich kümmerte. »Ich sorge dafür, dass du morgen etwas Anständiges zu essen bekommst«, sagte er, statt auch nur mit einer einzigen Silbe auf ihre Frage einzugehen. Dann wandte er sich um, machte einen Schritt in Richtung der Tür und blieb noch einmal stehen. Sein Gesicht war wieder im Schatten verschwunden, sodass Arri es nicht erkennen konnte, aber sie hörte, wie er übertrieben schnüffelte.

»Und einen Eimer Wasser«, fügte er hinzu. »Du stinkst, als hättest du drei Jahre in der Jauchegrube gelegen.«

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