14

Ihre Mutter kehrte erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück, und sie war weder in einer Stimmung, in der es Arri angeraten schien, sie auf die Ereignisse vom Nachmittag anzusprechen, noch hätte sich die Gelegenheit dazu ergeben. Achk war zurück und hatte sie während der ganzen Zeit, die sie gemeinsam auf Leas Rückkehr gewartet hatten, aufs Übelste beschimpft, weil sie ihm nichts zu essen gegeben hätte - was nicht stimmte. Arri hatte aufgetragen, was sie im Haus hatten - einen erst gestern von Grahl erlegten und von ihrer Mutter bereits angebratenen Hasen, frische Möhren und Erbsen aus ihrem Garten und zwei dünne Scheiben Fladenbrot - und Achk hatte gut die Hälfte davon in sich hineingestopft, bevor er zuerst behauptet hatte, es sei ungenießbar, und nur wenige Augenblicke später, sie wolle ihn mit dem »bereits stinkenden Hasenfleisch« vergiften. Und kaum war ihre Mutter zurück, erdreistete er sich sogar zu der Lüge, sie hätte ihm gar nichts zu essen gegeben. Arri setzte zu einem geharnischten Protest an, aber ihre Mutter ließ sie erst gar nicht zu Wort kommen, sondern brachte sie mit einem ebenso stummen wie vorwurfsvollen Blick zum Schweigen und ging wieder hinaus, um aus der verbliebenen Hasenkeule und dem, was Arris Garten hergab, eine Mahlzeit für den Blinden zuzubereiten.

Arri war empört. Dass Achk sich so benahm, wie er sich nun einmal benahm, überraschte sie nicht wirklich; der Alte war nun einmal verrückt und hatte allenfalls in der vergangenen Nacht so etwas wie einen lichten Moment gehabt. Aber dass ihre Mutter ihr nicht einmal die Gelegenheit gab, sich zu verteidigen, war einfach ungerecht. Hatte sie selbst ihr nicht immer und immer wieder erklärt, dass Gerechtigkeit vielleicht das Höchste aller Güter war, beinahe so wertvoll wie Freiheit, und vielleicht sogar wertvoller, denn wie konnte es Freiheit ohne Gerechtigkeit geben?

Für eine - nicht allzu lange - Zeit saß sie einfach nur da und starrte wütend abwechselnd den blinden Schmied und die Tür an, durch die ihre Mutter verschwunden war, dann aber sprang sie auf und folgte ihr. Achk rief ihr irgendeine Beleidigung hinterher, auf die sie gar nicht mehr achtete. Ihre Füße berührten nur zwei der fünf Stufen, bevor sie den Boden erreichte und sich mit weit ausgreifenden, fast schon rennenden Schritten dorthin wandte, wo sie ihre Mutter hantieren hörte.

Sie fand Lea in dem kleinen Verschlag hinter dem Haus, in dem sie seit vergangener Nacht ihr Lager aufgeschlagen hatte, um in der Hütte Platz für ihren (zumindest so weit es Arri betraf) unwillkommenen Gast zu schaffen. Sie stand mit dem Rücken zur Tür und schien etwas zu suchen. Ihre Bewegungen waren hektisch und fahrig.

»Wenn du das übrig gebliebene Essen von gestern suchst, dann spar dir die Mühe«, sagte Arri zornig. »Es ist nicht mehr da.«

Lea drehte mit einem so wutentbrannten Ruck den Kopf, dass Arri einen erschrockenen Schritt zurückwich, bevor ihr wieder einfiel, warum sie eigentlich gekommen war. »Dein neuer Freund hat es gegessen«, sagte sie. »Kurz bevor du gekommen bist.«

Ihre Mutter schwieg dazu. Arri versuchte vergebens in ihrem Gesicht zu lesen. Es war zu dunkel dazu. Aber sie konnte den Aufruhr, der hinter ihrer Stirn tobte, regelrecht spüren, und das war seltsam. Nach dem, was sie vorhin mit angesehen hatte, hätte sie erwartet, sie glücklich zu sehen, oder zumindest zufrieden, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Ihre Mutter war so aufgewühlt, dass es sie große Kraft zu kosten schien, sie nicht anzuschreien. Irgendetwas war geschehen, nachdem Arri sie draußen im Wald aus den Augen verloren hatte. Wusste sie vielleicht, dass Arri sie und den Unbekannten hinter den Büschen gesehen hatte?

»Er sagt, er sei hungrig.« Leas Stimme klang schleppend, als fiele es ihr schwer, sich auf die Antwort zu konzentrieren.

»Er hat gelogen«, sagte Arri. »Er ist ein böser alter Mann. Wie lange muss er noch bei uns bleiben? Er beschimpft mich unentwegt, und er lügt.«

»Er ist ein verbitterter alter Mann, dem wehgetan wurde«, antwortete Lea unerwartet sanft. »Und deshalb tut er anderen weh.«

»Er ist ein Lügner«, beharrte Arri. Sie war nicht bereit, irgendwelche Einwände zu Achks Gunsten zu akzeptieren. Noch einmal: »Wie lange bleibt er bei uns?«

»So lange es nötig ist«, antwortete Lea. Ihre Augen funkelten aus dem Halbschatten heraus, in dem ihr Gesicht verborgen lag. Sie versuchte Schärfe in ihre Stimme zu legen, aber es gelang ihr nicht. »Er braucht Hilfe. Wir können sie ihm geben, also geben wir sie ihm.«

»Warum?«, fragte Arri feindselig. »Weil du glaubst, ihm etwas schuldig zu sein!«

»Weil ich ihm etwas schuldig bin«, antwortete Lea betont, schüttelte aber zugleich den Kopf. »Aber das spielt keine Rolle. Ich würde ihm auch helfen, wenn ich ihm nichts schuldig wäre. Weil es das ist, was uns von diesen Menschen hier unterscheidet, weißt du?«

Noch gestern hätten Arri diese Worte vermutlich beeindruckt oder doch zumindest nachdenklich gestimmt, aber jetzt machten sie sie nur noch zorniger. »Nein, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er schlecht riecht, verrücktes Zeug brabbelt und überall seinen Dreck hinterlässt, wenn er mich nicht gerade belügt oder mir Beschimpfungen hinterher ruft.«

»Naja, zumindest sind es keine anzüglichen Blicke«, sagte Lea kühl. »Du willst mir nicht erzählen, dass dich die Worte eines harmlosen alten Mannes wirklich treffen.« Sie zog die Augenbrauen zusammen und wartete vergebens auf eine Antwort. »Er wird nicht mehr lange bleiben«, fuhr sie fort. »Nur noch wenige Tage... bis Rahn die Schmiede wieder aufgebaut hat...«

»Rahn«, unterbrach Arri sie scharf, »wird kaum Zeit haben, um die Schmiede wieder aufzubauen. Er ist voll und ganz damit beschäftigt, den ganzen Tag lang hinter mir herzuschnüffeln. Sollte er sich nicht besser um seine schuppigen Brüder und Schwestern kümmern, die sich in der Zella tummeln?«

»Rahn schnüffelt dir nicht hinterher«, antwortete Lea sanft. »Ich habe ihn gebeten, auf dich aufzupassen, wenn ich nicht da bin.«

»Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst«, protestierte Arri. Es gelang ihr einfach nicht, ihre Mutter aus der Ruhe zu bringen, und das machte sie noch wütender.

»Ich weiß«, gab Lea zu. »Aber vielleicht brauche ich jemanden, der mir Rahn vom Leib hält. Wenigstens dann und wann.«

Ja, und ich kann mir auch denken, warum, dachte Arri böse. Sie behielt diesen Gedanken vorsichtshalber für sich, aber ihre Mutter schien trotzdem zu spüren, dass sie aus diesen Worten etwas anderes heraushörte als das, was sie eigentlich gemeint hatte, denn ihr Stirnrunzeln vertiefte sich noch, und sie trat vollends aus der Tür heraus und hob die Hand, um sie an der Schulter zu berühren.

Arri prallte einen halben Schritt zurück. Sie wusste selbst nicht, warum sie das getan hatte, aber ihr Herz klopfte, und ihre Hände zitterten plötzlich so stark, dass sie sie zu Fäusten ballen musste, um es zu verbergen.

»Was ist los mit dir, Liebling?« Lea ließ den Arm wieder sinken, aber ihre Stimme wurde hörbar sanfter, und aus dem ungeduldigen Zorn auf ihrem Gesicht wurden Betroffenheit und Sorge. »Stimmt etwas nicht?«

Ob etwas nicht stimmte? Wäre Arri nicht schier zum Heulen zumute gewesen, sie hätte vermutlich laut aufgelacht. Nichts stimmte mehr. Ihr Leben war aus den Fugen geraten, und das gründlicher und schneller, als sie es sich vor wenigen Tagen auch nur hätte vorstellen können.

Nichts war mehr so, wie es einmal gewesen war. Sie war nicht die, für die sie sich gehalten hatte. Ihre Zukunft - das ganze Leben, das noch vor ihr lag - würde vollkommen anders verlaufen, als sie erwartet hatte. Ihre Mutter war nicht die, für die sie sie gehalten hatte. Nichts von dem war vielleicht jemals so gewesen, wie sie geglaubt hatte, aber das war ihr einerlei, und es war ihr in diesem Moment auch vollkommen gleichgültig, ob sie etwas daran ändern konnte oder nicht. Sie wollte ihr altes Leben wieder haben, und sie wollte vor allem ihre alte Mutter wieder haben. Sie war doch alles, was sie überhaupt besaß!

»Ich verstehe dich so gut, mein armer Liebling«, fuhr Lea nach einer Weile fort, noch immer in diesem sonderbar sanften Ton, der Arri immer wütender machte, obwohl sie nicht einmal wusste, warum. Sie setzte erneut dazu an, die Hand nach ihr auszustrecken, brach die Bewegung aber dann schon im Ansatz ab, vielleicht, um ihr die Peinlichkeit zu ersparen, abermals ausweichen zu müssen. Ein Ausdruck vager Trauer erschien jetzt auf ihrem Gesicht.

»Ich wollte, ich könnte dir helfen, aber das kann ich nicht«, fuhr sie fort. »Das ist etwas, was du ganz allein durchstehen musst.«

»Was?«, fragte Arri. Die Feindseligkeit in ihrer Stimme erschreckte sie selbst, auch wenn sie allmählich begriff, dass dieses aus Hilflosigkeit geborene Gefühl in viel stärkerem Maße ihr selbst galt als ihrer Mutter. Sie war zornig, wütend wie noch nie zuvor in ihrem Leben, und sie wusste nicht einmal warum oder gar worauf.

»Die Zeit, die jetzt vor dir liegt«, antwortete ihre Mutter. »Es ist eine Zeit der Veränderungen, für dich in viel stärkerem Maße als für mich.« Arri sah ihre Mutter völlig verständnislos an, und Lea fuhr fort: »Du hast es mir vielleicht noch nicht verziehen, aber indem ich behauptet habe, du seist zwei Jahre jünger als du wirklich bist, habe ich dir diese zwei Jahre geschenkt. Jetzt ist diese Schonfrist abgelaufen. Künftig wirst du als eine Erwachsene behandelt werden, ob du das nun möchtest oder nicht.«

»Ich wusste nicht, was sich dadurch ändern sollte!«

Lea lächelte leicht und auf eine Weise, die Arris Trotz vollends entfachte. »Du wirst anfangen, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Du hast schon damit angefangen, habe ich Recht? Plötzlich ist alles anders, und du verstehst das nicht. Du beginnst zu zweifeln, an allem und jedem, sogar an mir. Vielleicht wirst du mich sogar hassen, für eine gewisse Zeit. Das ist vollkommen in Ordnung - so lange du die Grenzen des Anstands dabei nicht überschreitest.«

»Und wenn ich das nicht will?«

»Auch das ist ganz in Ordnung«, erwiderte ihre Mutter sanft. »Jeder fürchtet sich vor einer Veränderung, weil es leichter ist, an dem festzuhalten, was man kennt, statt sich dem Neuen zu stellen. Aber es geht nicht. Du kannst die Zeit nicht festhalten, ganz gleich, wie sehr du es auch versuchst.«

Sie kam nun doch näher, legte den Arm um Arris Schultern und drückte sie sanft an sich. Im allerersten Moment versteifte sich Arri unter ihrer Berührung, denn sie war ihr fast schon unangenehm. Um ein Haar hätte sie den Arm ihrer Mutter abgeschüttelt, auch wenn ihr klar war, wie sehr sie sie damit verletzen musste. Aber dann erinnerte sie sich, dass diese Berührung nicht unangenehm sein sollte; ganz im Gegenteil.

Die Umarmungen ihrer Mutter waren immer etwas ganz Besonderes für sie gewesen; vielleicht gerade, weil sie so selten waren und dadurch zu einem kostbaren Gut wurden, das sie möglichst lange festzuhalten trachtete. Obwohl ihr klar war, dass es nicht stimmen konnte, meinte sie sich an jede einzelne davon zu erinnern: Augenblicke voller köstlicher Wärme, in denen sie sich geborgen und sicher gefühlt hatte wie sonst niemals und von denen sie sich gewünscht hatte, sie mochten niemals enden.

»Das alles ist jetzt neu und verwirrend für dich«, fuhr Lea fort, »und es muss dich erschrecken, aber es ist nun einmal der Lauf der Natur. Keiner von uns hat die Macht, sie zu ändern.«

»Dann ist es dir... auch so ergangen?«, fragte Arri zögernd. Sie wusste nicht, warum, aber während sie diese Worte aussprach, schienen sie wiederum das Bild vor ihrem inneren Auge heraufzubeschwören, das sie am Nachmittag gesehen hatte: ihre Mutter, deren Beine den Leib des Mannes umklammerten, den sie für Rahn gehalten hatte, während sich ihre Fingernägel in seinen Rücken gruben und sie stöhnend den Kopf hin und her warf. Diesmal war ihr die Erinnerung nicht peinlich, sie fand die bloße Vorstellung abstoßend; als wäre das, was sie bei so vielen anderen mehr oder auch weniger heimlich beobachtet hatte, etwas vollkommen anderes und Unnatürliches, nur weil ihre Mutter es tat.

Lea lachte leise, bevor sie antwortete, als hätte sie eine ganz besonders naive Frage gestellt, aber es war nichts Verletzendes oder gar Abfälliges an diesem Lachen. »Natürlich. Jedermann macht es durch, auf die eine oder andere Weise.«

»Und wie... wie bist du damit umgegangen?«, fragte sie zögernd.

Diesmal verging spürbar etwas Zeit, bevor Lea antwortete, und ihre Stimme nahm einen sonderbaren, fast melancholischen Klang an. »Es ist so lange her, dass ich mich kaum noch erinnere. Ich glaube, ich war ziemlich unausstehlich, damals.«

»Also so wie heute?«, neckte sie Arri.

»Schlimmer«, antwortete Lea ernst. »Ich glaube, es gab ein paar Jahre, in denen ich meine ganze Umgebung fast in den Wahnsinn getrieben habe.« Sie entfernte sich mit langsamen Schritten von der Hütte, und da ihr Arm noch immer auf Arris Schulter lag, musste diese der Bewegung folgen, ob sie nun wollte oder nicht. »Aber ich fürchte, nicht das ist unser Problem. Es sieht eher so aus, als würden wir beide zusammen Sarn in den Wahnsinn treiben. Denn ob er will oder nicht - wir werden einen Weg finden, um bis zum Frühjahr hier zu bleiben, das verspreche ich dir.«

Während der nächsten beiden Tage geschah genau das, was Arri erwartet hatte: nämlich gar nichts. Ihre Mutter ging noch zwei- oder dreimal in den Wald, ohne sich die Mühe zu machen, sie über ihre Ziele aufzuklären oder ihr auch nur zu sagen, wann sie zurückkommen würde, und Arri ergab sich nach anfänglichem Murren in ihr Schicksal, das im Großen und Ganzen darin bestand, in der Hütte zu bleiben und Achks Beschimpfungen und Willkürlichkeiten zu ertragen.

Auch was sie über die Schmiede prophezeit hatte, erwies sich als nur zu wahr: Rahn rührte keinen Finger, um sie wieder aufzubauen, und verbrachte den Großteil seiner Zeit damit, am Waldrand herumzulungern und Leas Hütte zu beobachten; das Fischen hatte er offensichtlich ganz aufgegeben und den Einbaum auf Dauer trockengelegt, was mehr als merkwürdig war, da Sarn so etwas unter gewöhnlichen Umständen niemals geduldet hätte. Im Dorf herrschte eine sonderbare Stille, was aber vielleicht an der Jahreszeit lag. Alles, was auch nur halbwegs gehen und krauchen konnte und zu keinen anderen Arbeiten eingeteilt war, machte sich den Rücken mit der Ernte der letzten Felder krumm, die - Arris Mutter sei Dank - auch dieses Jahr wieder prächtig ausfallen würde. Nur ein einziges Mal kam Lea mit finsterem Gesicht aus dem Dorf zurück. Sie sagte nichts, aber sie strahlte einen solchen Zorn aus, dass Arri auch nicht fragen musste, um zu wissen, dass sie wieder einmal mit Sarn gestritten hatte.

Am dritten Morgen weckte sie ihre Mutter ungewöhnlich früh - noch deutlich vor Sonnenaufgang - und auf noch ungewöhnlichere Weise: Was sie weckte, war Leas Hand, die sich auf ihren Mund legte, und das Erste, was sie sah, als sie müde die Augen öffnete, war Leas andere Hand, deren ausgestreckter Zeigefinger über ihren Lippen lag und ihr auf diese Weise bedeutete, möglichst still zu sein. Arri deutete mit den Augen ein Nicken an, und ihre Mutter zog die Hand zurück, sodass sie wenigstens wieder atmen konnte, gab ihr aber mit einem Wink der anderen Hand noch einmal zu verstehen, dass sie nur keinen Laut machen solle.

Arri stemmte sich umständlich auf die Ellbogen hoch und drehte unwillkürlich den Kopf, um nach Achk zu schauen. Der blinde Schmied lag zusammengerollt auf seiner Matratze am anderen Ende des Zimmers und schnarchte so laut, dass sich Arri fast wunderte, nicht allein davon wach geworden zu sein. Aber das musste nichts bedeuten. Schließlich hatte sie selbst erlebt, dass Achk ganz offensichtlich gleichzeitig zuhören und schnarchen konnte.

Lautlos stand sie auf, schlüpfte in ihre Kleider und folgte ihrer Mutter. Lea hielt den Muschelvorhang zurück, damit es kein verräterisches Geräusch gab - Arri hatte niemals gelernt, so lautlos hindurchzuschlüpfen wie sie -, winkte ihr jedoch nur ungeduldig zu, als sie stehen bleiben und ihr einen fragenden Blick zuwerfen wollte. Erst als sie sich ein gutes Stück von der Hütte entfernt hatten - sicher aus der Hörweite der scharfen Ohren eines Blinden, schätzte Arri -, blieb sie wieder stehen. Sie wirkte übernächtigt und fahrig, als hätte sie in der zurückliegenden Nacht kein Auge zugetan, und Arri fiel erst jetzt auf, dass sie nicht nur ihr Schwert umgebunden hatte, sondern auch ihren warmen Kapuzenumhang trug.

»Was ist los?«, begann sie. »Ist etwas geschehen?«

»Nein«, antwortete Lea, eine Spur zu hastig für Arris Empfinden, und auch der schuldbewusste Ausdruck auf ihrem Gesicht besagte etwas anderes. Nach einem Moment zuckte sie unglücklich mit den Schultern und schränkte selbst ein: »Jedenfalls nichts Schlimmes. Ich... wollte dir nur etwas sagen.«

»Und das ist so geheim, dass du mich mitten in der Nacht aus der Hütte schleifen musst«, murmelte Arri verschlafen.

Lea warf einen bezeichnenden Blick in den Himmel hinauf. »Es ist zwar noch eine Weile hin bis Sonnenaufgang«, verbesserte sie sie, »aber nicht mitten in der Nacht. Und es ist nicht so geheim. Ich wollte Achk nur nicht wecken, das ist alles.«

»Wie rücksichtsvoll von dir«, sagte Arri spöttisch. »Wo er doch ein so lieber Gast ist, den man gar nicht mehr missen möchte.«

»Er ist vor allem ein alter Mann, der schon zu viele Enttäuschungen erlitten hat«, antwortete Lea ernst. »Noch eine weitere würde er vielleicht nicht verkraften. Deshalb ist es besser, wenn er nicht erfährt, was ich vorhabe.«

»Und was wäre das?«, fragte Arri. Das ungute Gefühl in ihr wuchs im gleichen Maße, in dem sie richtig wach wurde und sich ihre Gedanken klärten. Sie war nicht einmal sicher, ob sie die Antwort auf ihre eigene Frage überhaupt hören wollte.

»Ich muss für ein paar Tage weg«, antwortete Lea und fügte hastig hinzu: »Nicht allzu lange, keine Angst. In spätestens fünf, sechs Tagen bin ich zurück.«

Nein, diese Antwort hatte sie wirklich nicht hören wollen; aber sie war im Grunde nicht einmal überrascht. Ihre Mutter hatte zwar versprochen, dafür zu sorgen, dass sie bis zum Frühjahr hier bleiben konnten, aber vielleicht glaubte sie ja selbst nicht daran und machte sich jetzt trotz aller gegenteiligen Bedenken daran, eine andere Bleibe für sie zu suchen. »Ich soll mich also die nächsten Tage um Achk kümmern...«, begann Arri aufgebracht.

»Nicht allein«, unterbrach Lea sie hastig und im Tonfall einer Verteidigung. »Rahn wird dir helfen. Und auch Kron wird dann und wann vorbeischauen und dir zur Hand gehen, wenn es sein muss.«

»Wenigstens zu einer Hand«, schimpfte Arri. »Wo willst du hin?«

»Das Feuer hat alles zerstört«, antwortete Lea. »Achks Werkzeug, sein Erz, der Blasebalg... es ist alles weg. Jemand muss Ersatz besorgen.«

Arri starrte ihre Mutter vollkommen fassungslos an. »Was soll das? Haben wir nichts Wichtigeres zu tun, als dafür zu sorgen, dass das Dorf wieder einen Schmied bekommt?«

»Ich wüsste nicht, was im Augenblick wichtiger wäre«, sagte ihre Mutter kühl. »Ich werde jedenfalls alles daran setzen, meine - und damit auch deine! - Position bis zum Wintereinbruch zu stärken.«

»Und dabei sollen dir ausgerechnet die zänkischen beiden Männer helfen?«, fragte Arri ungläubig. »Hast du vergessen, was beim letzten Mal geschehen ist?«

»Nein, dass habe ich nicht, genauso wenig wie Sarn, der mit Sicherheit die Finger dabei im Spiel hatte.« Lea warf einen unruhigen Blick in die Runde, als fürchte sie, jemand könne sie belauschen. »Vielleicht hast du es noch nicht gemerkt: Aber ich liefere mir einen erbitterten Kampf mit Sarn. Er will meine Position schwächen und ich sie stärken. Und letztlich geht es dabei um Nors Bedingung - und darum, dass ihn unser umtriebiger Schamane in diesem Punkt voll und ganz unterstützt. Es geht...«

»Um mich«, beendete Arri den Satz ärgerlich. »Das habe ich schon verstanden.«

Ihre Mutter brachte das Kunststück fertig, gleichzeitig zu nicken und den Kopf zu schütteln. »Nicht nur um dich. Vielmehr um mein Schwert und alles, was damit zusammenhängt.« Sie wischte den nächsten Einwand Arris mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite. »Lass mich nur machen. Ich habe einen Plan, und wenn der gelingt, dürfte es Nor kaum gelingen, uns in die Knie zu zwingen.«

»Das ist ja alles schön und gut«, meinte Arri, »aber warum musst du selbst weggehen? Warum kann Rahn das nicht machen, wie das letzte Mal?«

»Weil es nicht wie das letzte Mal ist.« In Leas Stimme war jetzt ein leicht ungeduldiger Klang, den Arri nur zu gut kannte. Dennoch beherrschte sie sich. »Das letzte Mal musste er nur ein paar Brocken Kupfererz, etwas Zinn und das notwendigste Werkzeug besorgen, und selbst da hat er so ziemlich alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann.« Sie schüttelte bekräftigend den Kopf. »Es ist nichts mehr davon da. Die Schmiede muss von Grund auf neu eingerichtet werden. Ich bin selbst nicht ganz sicher, dass ich dieser Aufgabe gewachsen bin. Rahn wäre jedenfalls hoffnungslos überfordert. Nein - ich muss selbst gehen.«

»Dann komme ich mit!«

»Das geht nicht«, erwiderte Lea. »Die Reise wäre viel zu anstrengend - und gefährlich. Und du würdest mich nur aufhalten. Ich bin viel schneller, wenn ich allein gehe.«

»Du willst sagen, dass ich dir lästig wäre?«

Sowohl Leas Stimme als auch ihr Gesicht wurden um mehrere Grade kühler. »Ich will sagen, dass ich keine Lust habe, mich mit dir auf irgendwelche Wortklaubereien einzulassen, Arianrhod.« Ihre linke Hand schmiegte sich um den Schwertgriff in ihrem Gürtel. »Du wirst hier bleiben«, fuhr sie in bestimmtem Ton fort. »Rahn wird dich beschützen, keine Angst.«

»Rahn?«, vergewisserte sich Arri in abfälligem Ton. »Bist du sicher, dass wir von demselben Rahn sprechen?«

»Er wird dich beschützen«, beharrte Lea. »Wenn es sein muss, mit seinem Leben - schon, weil ich ihm klargemacht habe, dass ich ihn persönlich für alles zur Rechenschaft ziehen werde, was immer dir in meiner Abwesenheit auch widerfährt. Du bleibst einfach im Haus, bis ich zurück bin. Sollten Sarn oder irgendeiner der anderen Ärger machen, wendest du dich an Rahn um Hilfe.«

Arri spürte, dass es vollkommen sinnlos war, weitere Einwände anzubringen, aber sie versuchte es trotzdem. »Und wenn ich verspreche, dir nicht zur Last zu fallen?«, fragte sie. »Ich werde ganz still sein. Ich halte dich ganz bestimmt nicht auf!«

»Das tust du bereits«, antwortete Lea gereizt. »Ich habe keine Lust, mich mit dir zu streiten.« Sie nahm die Hand vom Schwert und seufzte. »Schade. Ich wollte es nicht so, aber wenn es denn sein muss, dann befehle ich dir, hier zu warten. Du wirrst tun, was nötig ist, und dich an Rahn und Kron wenden, wenn es Schwierigkeiten gibt.« Sie klang jetzt sehr bestimmt, zugleich aber auch enttäuscht, dass Arri nicht schneller einlenkte.

»Und wann willst du los?«, fragte sie.

»Heute«, antwortete Lea, zögerte einen Moment und verbesserte sich dann: »Jetzt.«

»So schnell?« Warum überraschte sie das? Dieses Gespräch wäre vollkommen sinnlos, wollte sie nicht jetzt aufbrechen.

»Ich möchte schon ein gutes Stück weg sein, wenn die anderen im Dorf wach werden.« Lea lachte heiser auf. »Ich glaube es zwar nicht, aber Sarn ist immer für eine Überraschung gut, und meist leider für eine schlechte. Ich möchte schon ein gutes Stück Weges hinter mich gebracht haben, bis er überhaupt merkt, dass ich weg bin.«

»Soll ich dein Kleid anziehen und unauffällig auf und ab gehen, damit er denkt, du wärst noch hier?«, fragte Arri. Es sollte ein Scherz sein, aber sie spürte selbst, wie gründlich er schief ging. Selbst in ihren eigenen Ohren klangen die Worte boshaft und verletzend. Leas Gesicht erstarrte endgültig zu Stein. Einen Moment lang blickte sie Arri noch mühsam beherrscht an, dann sagte sie ganz leise: »Ich bin so schnell zurück, wie ich kann«, drehte sich mit einem Ruck um und verschwand mit schnellen Schritten in der Dunkelheit.

Eine Weile lauschte Arri noch auf das Geräusch ihrer Schritte, dann war auch das verklungen, und Arri war nicht nur allein, sie fühlte sich auch so, unendlich allein und vor allem allein gelassen. Auf eine Art einsam, die fast schon körperlich wehtat. Ihre Augen füllten sich mit brennender Hitze. Sie wusste, dass sie ihrer Mutter wehgetan hatte, aber wieso begriff diese denn nicht, wie weh sie umgekehrt auch ihr tat? Fünf oder sechs Tage? Das kam ihr nicht nur so vor, das war eine Ewigkeit, länger als sie jemals zuvor allein gewesen war - und das ausgerechnet jetzt!

Ein paar Augenblicke lang spielte sie ernsthaft mit dem Gedanken, ihr einfach nachzugehen. Wenn sie erst weit genug vom Dorf entfernt waren, hatte ihre Mutter gar keine andere Wahl mehr, als sie mitzunehmen, wenn sie nicht einen gewaltigen Umweg in Kauf nehmen wollte.

Aber ihr war auch fast sofort klar, wie närrisch dieser Gedanke war. Sie bildete sich nicht ernsthaft ein, ihrer Mutter womöglich den ganzen Tag nachschleichen zu können, ohne dass sie es merkte. Und sie kannte ihre Mutter gut genug, um zu wissen, dass sie durchaus imstande wäre, kehrtzumachen und sie zurückzubringen, wenn sie nur wütend genug war.

Sie blieb noch eine geraume Zeit reglos in der Dunkelheit stehen und sah in die Richtung, in der ihre Mutter verschwunden war, aber schließlich drehte sie sich um und ging mit hängenden Schultern zur Hütte zurück.

Загрузка...