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»Es wird nichts mehr so sein, wie es einmal war.« Die Worte ihrer Mutter hallten in Arris Kopf wider, während sie aus der alten, halb zerfallenen Schmiedehütte trat und zu der rotgolden glitzernden Zella zurückblickte, in deren ruhig dahingleitenden Fluten sich die Abendsonne spiegelte. Sie wusste nicht, was plötzlich in ihre Mutter gefahren war. Sie ohne ein weiteres Wort zum Fluss zu schicken, um dem eigensinnigen Rahn einen fangfrischen Fisch abzuschwatzen, obwohl sie noch genug zu essen im Haus hatten, war schon ungewöhnlich genug. Doch die Hast, in der es geschehen war, und das ungeduldige Stirnrunzeln, mit dem sie beobachtet hatte, wie ihre Tochter mit den schnell zusammengeklaubten Essensresten die schmale Holzstiege hinabgeeilt war, hatten Arris Verwunderung in ein banges Vorgefühl umschlagen lassen.

»Sag deiner Mutter, sie soll mir demnächst etwas Anständiges zu essen schicken«, keifte der blinde Schmied hinter ihr her. »Das Fladenbrot ist steinalt, und die Pilze schmecken, als hätte eine Wildschweinfamilie ihre Notdurft darüber verrichtet.«

Arri stieß einen leisen Seufzer aus und umklammerte die fangnasse Äsche so fest, als könne sie ihr aus der Hand flutschen wie in dem Moment, in dem sie den zappelnden Fisch in Empfang genommen hatte. Sie hätte dem Schmied erklären können, dass ihre Mutter es zwar duldete, wenn sie ein wenig Essen für ihn abzweigte, ihm aber niemals von sich aus regelmäßig mehr als die karge Ration hätte zukommen lassen, welche die Dorfgemeinschaft ihm zugestanden hatte. Ein blinder Schmied war ein nutzloser Schmied, und wenn Achk nicht vor dem ersten Schnee irgendeine Tätigkeit fand, drohte ihm, dass ihn Sarn mit Schimpf und Schande aus dem Dorf vertreiben ließ. Dabei machte es keinen Unterschied, dass Achk sein Augenlicht verloren hatte, während er damit beschäftigt gewesen war, nach den Anweisungen von Arris Mutter für die Gemeinschaft eine ganz neue Art von Metall zu schmelzen, das angeblich viel härter und widerstandsfähiger war als Kupfer oder Bronze. Das Dorf konnte keine nutzlosen Esser brauchen, selbst jetzt nicht, wo die Ernte eingefahren wurde und die Jäger so reiche Jagdbeute wie schon lange nicht mehr mit nach Hause brachten. Arri konnte das zwar verstehen, aber sie fand es ungerecht; vielleicht umso mehr, weil sie wusste, dass ihre Mutter nicht ganz unschuldig an dem Unglück war, das Achks Gesicht verheert und ihn fast getötet hatte.

Das Schimpfen des undankbaren Alten ging in ein unverständliches Brabbeln über. In letzter Zeit geschah das immer öfter. Im gleichen Maße, in dem der blinde Schmied sonderbarer und streitlustiger wurde, schien nicht nur seine Hütte zu verfallen, die er ohne Augenlicht nicht mehr instand halten konnte, sondern auch sein Geist. Gewiss würde ihm jetzt kein einziges vernünftiges Wort mehr zu entlocken sein, und so machte Arri, dass sie von hier wegkam. Sie hatte sich den Umweg über die Schmiede für den Rückweg aufgespart, um von hier aus den schmalen, nach Süden führenden Pfad zu wählen, vorbei an wuchernden Bärentrauben, Haselnuss- und Gagelsträuchern, die von den Feuchtwiesen her dem Wald entgegenwuchsen und die wenigen Felder einrahmten, die die Sippe auf dieser Dorfseite dem Boden abgetrotzt hatte. Es war der alte, abseits gelegene Steinkreis, der Arri geradezu unwiderstehlich anzog, vielleicht, weil etwas Düsteres, Geheimnisvolles von ihm ausging. Nur ganz flüchtig blitzte in ihr der Gedanke auf, dass ihre Mutter ihr streng verboten hatte, je allein und ohne ihre ausdrückliche Aufforderung diesen geheimnisumwitterten Ort aufzusuchen.

Arri sah nicht die geringste Veranlassung, dieses Verbot ernst zu nehmen. Schließlich hatte ihre Mutter sie ja sogar selbst letzten Vollmond mit hierher genommen. Nachdem sie ganz in der Nähe, am Saum der Sumpfwiesen, Kräuter gesammelt hatten, hatten sie sich gemeinsam an den Rand des Kreises gesetzt, und ihre Mutter hatte zu erzählen begonnen, von den alten und neuen Zeiten im Dorf und was das alles mit ihr zu tun hätte. Arri hatte kaum mehr als die Hälfte davon verstanden, aber es war ein Gefühl vager Beunruhigung in ihr verblieben, das sich jetzt beinahe zu etwas wie Furcht steigerte. Trotzdem ging sie weiter, getrieben von einer Neugier, die stärker war als ihre Vernunft.

Es dauerte nicht lange, bis Arri den Steinkreis erreicht hatte, der wie verzaubert in dem von den Wiesen aufsteigenden Dunst lag. Wie immer, wenn sie hierher kam, überlief sie ein kalter, fast ehrfürchtiger Schauder beim Anblick der mannshohen behauenen Steine, die aussahen, als hätte sie ein Riese im Vorbeigehen achtlos niederfallen lassen. Es war kein regelrechter Kreis, auf dessen Eingang sie jetzt mit langsamer gewordenen, fast verhaltenen Schritten zuging; die massigen, blaugrauen Ungetüme waren eher wie die Krallen einer offen daliegenden Bärentatze angeordnet, welche Arri zu umschließen schien, kaum dass sie ihren Fuß über die Brandspur der letzten Zeremonie gesetzt hatte. Ihr Herz begann heftig zu klopfen, ein Geräusch, das ihr lauter vorkam als das ferne Blöken der Schafe und das Rauschen des Windes, der in die wenigen dürren Bäume fuhr, die den Kreis umstanden.

Das hier war der Ort, an dem Sarn und seine Sippe den alten Göttern huldigten, ein Platz voller Erinnerungen an alte Riten und Zeremonien, dessen beeindruckender Ausstrahlung sich Arri noch nie hatte entziehen können, fest umfasst von den stummen Steinriesen, die nur im Norden, Südwesten und Südosten einen Spalt ließen, welcher groß genug war, um dort hindurchzugehen. Schon sehr bald würde sich das ganze Dorf hier auf Geheiß des Schamanen versammeln, um das Jagd-Ernte-Fest zu feiern und den Göttern den ihnen zustehenden Anteil der Ernte zu opfern. Arri dachte voller Unbehagen an den letzten Herbst und das zwei Tage dauernde Fest zurück, an die mit frischem Ochsenblut bemalten Gesichter der Männer und Frauen, die im Rhythmus der Trommeln mit nackten Oberkörpern das Feuer umtanzt hatten, an den dumpfen Singsang der vom Pilzgenuss Berauschten, an die Selbstvergessenheit, mit der sich die Menschen ihren Göttern hingegeben hatten. Gleichgültig, wie alt sie waren und ob sie zuvor auf den Feldern gearbeitet, Rinder oder Schafe gehütet, Braunbären, Elche, Auerochsen, Hasen und Wildgeflügel gejagt, Äschen, Rotaugen und Forellen gefischt hatten; in diesen zwei Tagen waren sie alle eine verschworene Gemeinschaft gewesen, in der es keine Unterschiede gegeben hatte. Vielleicht war es ihr damals zum ersten Mal aufgefallen, wie anders sie und ihre Mutter waren, wie wenig sie im Grunde mit den Menschen gemein hatten, die sie in ihren Kreis aufgenommen hatten, ohne sie je wirklich willkommen zu heißen.

Mit langsamen, fast zögerlichen Schritten ging sie nun zu der Stelle hinüber, an der sie erst vor kurzem mit ihrer Mutter gesessen hatte. Der Boden unter ihren nackten Füßen war feucht und kalt, aber sie merkte es kaum. Inmitten des aufkommenden Abendnebels war da etwas, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog und ihren Herzschlag abermals beschleunigte. Ein einzelner Sonnenstrahl brach zwischen zwei wie drohend aufgerichteten Steinen hervor und brachte den Dunst, durch den er flirrte, scheinbar zum Kochen. Arri hatte davon gehört, dass die Sonne an ganz bestimmten Tagen ein verwirrendes Spiel in dem Steinkreis spielte, einen strahlenden Finger zu dem Heiligtum ausstreckte und ihn durch einen Spalt wandern ließ, bis er über ein eigens dafür hergerichtetes Blutopfer strich. Aber sie war noch nie Zeuge eines solchen Schauspiels geworden. Es stand allein dem Schamanen und seinen Helfern zu, die Zeremonie einzuleiten, die dann nötig war, um böse Geister zu beschwichtigen und den blutrünstigen Göttern zu huldigen, die Arri mit all ihren harten Gesetzen fremd blieben, obwohl sie fast ihr ganzes Leben in ihrer Obhut zugebracht hatte.

Der Sonnenstrahl war kaum breiter als ihr Arm, aber er glitzerte und leuchtete so stark, dass es Arri fast in den Augen wehtat. Sie blieb stehen und folgte dem Lichtfinger, der wie von dem zornigen Nachtgott Mardan herabgeschickt auf den Boden fiel, fast genau auf die Stelle, wo sie vor einer knappen Mondwende gesessen hatte. Ihr Atem stockte, als sie begriff, was sie da außerdem noch vor sich sah. Wie gebannt hing ihr Blick an dem kleinen Stofffetzen, der in einer Steinspalte eingeklemmt war, von dem einzelnen Strahl auf geradezu unnatürliche Weise beleuchtet. Im ersten Augenblick konnte sie die Farbe und Beschaffenheit des Fetzens kaum erkennen, doch als sie sich ihm näherte, wurde ihr mit jähem Schrecken klar, dass er dem Stoff verdächtig ähnlich sah, aus dem ihr eigener Wickelrock gefertigt war. Sie legte den Fisch beiseite, ging in die Hocke und zog den Fetzen hervor. Er fühlte sich ganz fein und trotzdem fest zwischen ihren Fingern an, genau so, wie es von den Fasern zu erwarten war, die ihre Mutter aus Brennnesseln gesponnen hatte.

Noch immer in der Hocke und mit zitternden Fingern zog sie den Saum ihres Rockes hoch und begutachtete ihn, bis sie fand, wonach sie Ausschau gehalten hatte: die zerrissene Stelle, aus der der Fetzen zweifellos stammte. Ihre Mutter würde mit ihr schimpfen, dass sie so unaufmerksam gewesen war. Aber viel schlimmer als die Tatsache, dass sie sich den kostbaren Rock eingerissen hatte, war, dass es hier im Steinkreis geschehen war und dass der Fetzen - ein Teil von ihr - fast für die Dauer eines Mondwechsels hier verblieben war... auf diesem den alten Göttern geweihten und mit dem Blut unzähliger Opfertiere getränkten Grund, von dem es hieß, dass er in den alten Zeiten auch das Blut menschlicher Götteropfer zu trinken bekommen hatte.

Ein Geräusch schreckte sie aus ihren düsteren Gedanken auf, und sie wollte hochfahren, aber es war zu spät. Eine knorrige Hand griff nach ihr, packte ihr Handgelenk und hielt es fest umklammert. Arri stieß gegen ihren Willen einen spitzen Schrei aus und wollte sich unwillkürlich aus dem Griff lösen, bis sie begriff, mit wem sie es zu tun hatte: mit Sarn, dem Schamanen des Dorfes und Oberhaupt der Gemeinschaft, die er selbst seine Sippe nannte - und der ihre Mutter im gleichen Maße hasste, wie sein Einfluss seit ihrem Auftauchen im Dorf geschrumpft war. Der Alte stand schräg hinter ihr, sodass sie nicht mehr als den Schatten seiner dürren, altersgebeugten Gestalt sehen konnte, aber sie fragte sich verzweifelt, wie es ihm überhaupt gelungen war, sich ihr unbemerkt zu nähern. Sie musste stärker in Gedanken versunken gewesen sein, als ihr lieb sein konnte.

»Was machst du hier, du dummes Gör?«, herrschte er sie mit seiner unangenehm schrillen Stimme an, und sie spürte seinen heißen Atem in ihrem Nacken. »Weißt du nicht, dass es euresgleichen verboten ist, hier unerlaubt hinzukommen? Und noch dazu an einem Tag wie diesem!«

Arri wollte sich zu ihm umdrehen, aber der Alte ließ ihr Handgelenk los und versetzte ihr gleichzeitig einen so heftigen Stoß in den Rücken, dass sie ein paar Schritte vorwärts stolperte und fast gestürzt wäre. »Mach, dass du nach Hause kommst.«

In Arris Kopf herrschte heller Aufruhr. Sie verfluchte sich dafür, dass sie hinter dem Rücken ihrer Mutter hierher gekommen war und nicht gleich wieder kehrtgemacht hatte, als sie den einzelnen Sonnenstrahl bemerkt hatte, der durch den Dunst gebrochen war. Und dann ihre Unvorsichtigkeit! Sarn war vielleicht schon hier gewesen, verborgen hinter einem der alten heiligen Steine, und wenn er zuvor noch nicht gewusst hatte, wem der Stofffetzen gehörte, den auch ihm der Lichtfinger offenbart haben musste, dann hatte sie es ihm mit ihrer unbedachten Handlung offenbart. Sie hatte keine Ahnung, welche Folgen es haben würde, wenn der Schamane wusste, dass sie hier schon einmal gewesen war. So aufgewühlt, wie sie war, war sie nicht in der Lage, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Sie wollte einfach weg hier.

Ohne sich auch nur noch einmal umzusehen, lief sie los, auf den Pfad zu, der zur Hütte ihrer Mutter führte. Aber sie kam nicht weit, ohne von Sarn nicht noch einen Gruß hinterher geschickt zu bekommen.

»Und hier, dass du mir das nicht vergisst!«, schrie er. Etwas sauste durch die Luft und klatschte ein paar Schritte vor ihr in den Dreck. Es war der Fisch, den sie nahe der Stelle hatte liegenlassen, an der sie den Stofffetzen gefunden hatte. Arri bückte sich rasch und hob die Äsche auf, und ohne sich auch nur noch einmal umzusehen, hetzte sie weiter, dem gewundenen Pfad folgend, der sie weg von dem Heiligtum und dem alten Schamanen brachte und hin zu der Hütte, die ihr Schutz war, so lange sie denken konnte. Erst nachdem sie eine Wegkehre zwischen sich und den Steinkreis gebracht hatte, wurde sie langsamer und blieb schließlich ganz stehen. Mit der rechten Hand fuhr sie sich durch die Haare, während sie mit der Linken den verdreckten Fisch umklammert hielt, als fürchtete sie, er werde sich sonst selbstständig machen.

Sie hörte keine Schritte hinter sich, weder Sarn noch irgendjemand anderer schien ihr gefolgt zu sein. Ob das gut war oder nicht, vermochte sie nicht zu beurteilen. Jedenfalls wusste sie, dass sie ihrer Mutter nicht in einem solch aufgelösten Zustand unter die Augen treten durfte - zumindest nicht, wenn sie keine misstrauischen Blicke und bohrenden Nachfragen riskieren wollte, denen sie kaum würde standhalten können, so tief, wie ihr der Schreck in den Gliedern steckte und der Nachhall des ekelhaften Gefühls, von Sarns dürrer Greisenhand umklammert worden zu sein. Ihrer Mutter auch nur irgendetwas zu verbergen war fast unmöglich, und sie wollte es ihr nicht auch noch leichter machen. Vor allem hatte sie überhaupt keine Lust, ihr zu erklären, was sie bei dem Steinkreis gewollt hatte - und was das alles mit dem Riss in ihrem Rock zu tun hatte.

In einer vollkommen sinnlosen Geste glättete sie erst ihren Sommerrock und zupfte dann die von einer Bronzenadel zusammengehaltene Bluse zusammen, bevor sie sich noch einmal mit der Hand durchs Haar fuhr und dann den Fisch sorgfältig im feuchten Gras abwischte. Die ganze Zeit ging ihr der Lichtfinger nicht aus dem Kopf, der auf den Stofffetzen gedeutet hatte. Arri war sich sicher, dass dies etwas zu bedeuten hatte, aber so aufgewühlt wie sie immer noch war, kam sie auf keine vernünftige Erklärung. Ein Fingerzeig, den einer von Sarns Göttern dem alten Schamanen hatte geben wollen?

Sie schüttelte heftig den Kopf. Ihre Mutter würde sie auslachen, wenn sie ihr mit einer solchen Deutung käme. Sie ging langsam weiter, ohne diese Frage aus dem Kopf zu bekommen - und das unangenehme Gefühl, dass ihr die Begegnung mit Sarn bei anderer Gelegenheit noch sauer aufstoßen würde. Wahrscheinlich wäre es das Beste, ihrer Mutter doch davon zu erzählen.

Arri wälzte diesen Gedanken im Kopf hin und her und klopfte ihn aus allen Richtungen ab, um zu einer Antwort zu kommen, aber es gelang ihr nicht. Schließlich hatte sie den Fuß der schmalen Stiege erreicht, die zum Eingang ihrer auf kräftigen Pfählen ruhenden Hütte hinaufführte, und brach die Grübelei ab, ohne zu einem endgültigen Ergebnis gekommen zu sein. Vielleicht hatte sie ja Glück, und ihre Mutter erfuhr nichts von ihrem Zusammenstoß mit Sarn, und wenn doch, dann konnte sie immer noch behaupten, ein verirrtes Schaf habe sie zum Steinplatz gelockt. Das wäre zwar eine glatte Lüge, und es widerstrebte Arri zutiefst, ihre Mutter ohne Not anzulügen, auf der anderen Seite - warum sollte sie ihr unnötig Kummer bereiten?

Als sie den Fuß auf die obere der ohnehin nur aus fünf Stufen bestehenden Stiege setzte, hörte sie Stimmen aus dem Haus. Ihre Mutter hatte Besuch. Das war an sich nichts Besonderes. Ihre Mutter bekam oft Besuch. Meist von Männern und Frauen aus dem Dorf, die ihren Rat in all den praktischen Dingen suchten, von denen Lea so viel verstand, oder weil ein Familienangehöriger krank geworden war und sie ihre Hilfe benötigten. Manchmal kamen sogar - zumeist weibliche - Abgesandte anderer, weiter entfernt lebender Sippen, die Ähnliches von ihr wollten, und zwei oder drei Mal allein in diesem Sommer war auch Nor angereist, der weit über die Grenzen seines Einflussbereiches gefürchtete Hohepriester und Herrscher von Goseg.

Arris anfängliche Erleichterung, dass ihre Mutter beschäftigt war und gar keine Zeit hätte, ihr Vorhaltungen wegen des eingerissenen Rocks oder der Begegnung mit Sarn zu machen, wich einer geradezu trüben Stimmung, als sie die zweite Stimme tatsächlich als Nors erkannte. Auch wenn ihre Mutter es niemals laut ausgesprochen hatte, so wusste Arri doch, dass sie den Hohepriester noch sehr viel mehr ablehnte als Arri selbst, weshalb sie nach jedem seiner Besuche regelmäßig schlecht gelaunt und reizbar war. Arri hatte nicht hingehört und wusste daher nicht, worum es in dem Gespräch zwischen ihrer Mutter und dem Herrscher von Goseg ging, doch allein der Tonfall der durcheinander redenden Stimmen machte klar, dass es sich um einen Streit handelte - oder zumindest um etwas, das dem sehr, sehr nahe kam.

Sie zögerte kurz, den kunstvoll geflochtenen Muschelvorhang beiseite zu schlagen und einzutreten, begriff aber im nächsten Augenblick, dass ihre Mutter sie längst gesehen haben musste. Ganz gleich, wer zu Besuch kam und worum es ging - ihre Mutter saß stets mit dem Gesicht zum Eingang, und da es in der Hütte weit dunkler war als draußen, musste sich ihre Gestalt deutlich hinter dem Vorhang abzeichnen. Jetzt kehrtzumachen wäre verhängnisvoll gewesen und hätte ihrer Mutter allerhöchstens Anlass zu weiterem Ärger gegeben, denn ob sie Nor nun mochte oder nicht: Er war der mächtigste Mann weit und breit, mit dem man es sich besser nicht verdarb.

So schob Arri nach einem letzten Zögern sowohl ihre Bedenken als auch das ungute Gefühl beiseite und öffnete den Vorhang; die zahllosen Muschelstückchen, die in die Baststränge eingeflochten waren, klimperten hörbar und kündigten auf diese Weise jeden Besucher an, auch wenn es diesem vielleicht gar nicht recht war. Es fiel ihr nicht schwer, einen Ausdruck von Überraschung auf ihr Gesicht zu zaubern, als sie neben dem groß gewachsenen greisen Hohepriester von Goseg einen weiteren Besucher erblickte - einen in das dunkle, fast schwarze Wickelgewand der Krieger Gosegs gekleideten Mann, dessen Augen sich zu schmalen Schlitzen verengten, als er ihrer ansichtig wurde.

Ihre Mutter saß nicht auf dem Korbstuhl mit der hohen Lehne, auf dem sie Besucher gewöhnlich empfing, sondern stand an dem schmalen, nach Süden gerichteten Guckloch, hatte das Gesicht aber trotzdem dem Eingang zugewandt. Der kurze, fast schon mürrische Blick, den sie Arri zuwarf, machte klar, dass es um ihre Selbstbeherrschung vielleicht nicht ganz so gut bestellt war, wie sie bisher geglaubt haben mochte. Auch Nor, der offensichtlich gerade dazu angesetzt hatte, etwas zu sagen, unterbrach sich und wandte sich zum Eingang um. Der Anblick seines von Runzeln und Falten übersäten, aber vollkommen haarlosen Gesichtes, bei dem nicht nur Kopf- und Barthaar, sondern selbst die Augenbrauen fehlten und anstelle der Wimpern nur zwei Reihen kaum wahrnehmbarer, verkümmerter schwarzer Striche zu erkennen waren, jagte Arri einen kalten Schauer über den Rücken.

Nor maß Arri mit einem wenig freundlichen Blick, was aber nichts Außergewöhnliches war. Selbst bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen ihre Mutter nach einem Besuch des Hohepriesters nicht gereizt oder besorgt gewirkt hatte, hatte der alte Mann Arri niemals anders als unfreundlich angesehen. Aber vielleicht lag das auch an seinem nackten Schädel, dessen Anblick in all seiner abstoßenden Nacktheit für Arri fast unerträglich war, vielleicht um so mehr, weil sie gewohnt war, dass Männerköpfe weitaus haariger waren als die von Frauen, denn schließlich trugen alle anderen Männer, die sie kannte, lange Haare und dichte Bärte.

In der Tiefe ihres Herzens war Arri jedoch sicher, dass Nors abweisender Blick einen ganz anderen Grund hatte, einen Grund, der mit ihr selbst zusammenhing. Dass Nor ein gleichermaßen gefährlicher wie mürrischer Mann war, würde wohl kaum jemand, der es wagte, hinter seinem Rücken über ihn zu tuscheln, ernsthaft bestreiten wollen. Und doch glaubte sie in seinen Augen mitunter etwas zu lesen, das weit darüber hinaus ging; eine Mischung aus Zorn und... ja, beinahe Furcht, als sähe er in ihr sehr viel mehr als nur die Tochter ihrer Mutter, etwas, das für ihn gleichermaßen hassenswert wie fürchtenswert war.

Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass sie so hässlich war.

Zwar gewiss nicht seinem Alter, sehr wohl aber seinem Rang angemessen, hatte Nor drei Frauen, von denen zwei kaum älter als Arri und alle drei wahre Schönheiten waren, während sie sich selbst nicht im Entferntesten mit ihnen messen konnte. Es hatte schon Tage gegeben, an denen sie sich geweigert hatte, zum Fluss zu gehen und Wasser zu holen, aus Angst, ihrem Spiegelbild mit dem viel zu schmalen Gesicht zu begegnen.

Zumindest ersparte sich Nor an diesem Tag eine entsprechende Bemerkung - auch die hatte sie aus seinem Munde schon vernommen - und beließ es bei einem verächtlichen Runzeln seiner Stirn, bevor er sich mit einem unwilligen Laut wieder zu Arris Mutter umwandte. »Die Zeit ist nun endgültig gekommen, Lea, und es wird dir nichts nutzen, wenn du noch einmal versuchst hinauszuzögern, was schon vor zwei Jahren hätte geschehen müssen. Tu deine Pflicht. Das bist du den Menschen hier schuldig.«

Leas Lippen wurden schmal, was Nor vielleicht entging, für Arri aber ein untrügliches Anzeichen dafür war, wie schwer es ihrer Mutter fiel, noch die Fassung zu bewahren. In ihren dunklen, eine Spur zu großen Augen - die ebenso wie die ihrer Tochter gerade eine Winzigkeit zu weit auseinander standen, als dass die Dorfbewohner ihr Gesicht länger als ein paar Augenblicke ansehen konnten, ohne verunsichert den Blick zu senken - blitzte es zornig auf. Als sie antwortete, klang ihre Stimme jedoch kühl, fast schon teilnahmslos. »Wollt Ihr mir drohen, Nor?«

Der Hohepriester hob abwehrend die Hände. Für Arri sah es aus, als hebe ein Raubvogel seine dürren Klauen, um sich auf sein Opfer zu stürzen. »Nichts läge mir ferner. Du lebst nun schon so lange bei uns, Lea, und du hast so viel für die Menschen hier getan... auch für mich, das will ich gar nicht abstreiten. Denk an deine Tochter, wenn schon nicht an dich. Nicht alle meinen es so gut mit euch wie ich. Selbst in Goseg mehren sich die Stimmen, die meinen, dass du das Wissen, das dir die Götter geschenkt haben, nicht länger für dich behalten darfst.« Lea wollte widersprechen, doch Nor fuhr mit einem heftigen Kopfschütteln und leicht erhobener Stimme fort: »Ich weiß, dass all das nicht gerecht ist. Mancher in eurem Dorf wäre in den letzten Wintern verhungert ohne die Gaben, die du uns gebracht hast, und nicht nur hier. Deswegen will ich dir auch nicht befehlen, sondern appelliere an deine Einsicht. Aber ich muss dich auch warnen: Verspiele nicht meine Gunst, und reize nicht die Götter Gosegs, unter deren Schutz du hier bislang unbeschadet gelebt hast!«

Leas Gesicht verhärtete sich. Der Zorn war aus ihren Augen gewichen, aber er hatte einer Kälte Platz gemacht, die eindeutig schlimmer war. Bevor sie antwortete, löste sie sich von ihrem Platz am Fenster, trat mit drei raschen Schritten hinter Arri und legte ihr in einer ganz gewiss nicht zufälligen Geste beide Hände beschützend auf die Schultern. Arri war verwirrt und sogar ein bisschen erschrocken. Was sich draußen wie ein Streit angehört hatte, war tatsächlich einer; ja, sie war sogar sicher, dass sich die beiden einzig ihretwegen noch beherrschten, um nicht noch viel schlimmere Dinge zu sagen. Was ging hier nur vor?

»Ihr habt eine sehr seltsame Art, Eure Dankbarkeit zu zeigen, Hohepriester«, fuhr ihre Mutter fort. »Oder ist es bei Eurem Volk üblich, diejenigen zu bedrohen, die Euch helfen, wo sie nur können?«

»Es tut mir Leid, wenn du meine Worte so verstanden hast, Lea«, antwortete Nor, wenn auch in einem Ton, der zumindest in Arris Ohren nach dem genauen Gegenteil klang. »Ich sage es gern noch einmal, und ich sage es auch laut, vor den Ohren des ganzen Dorfes, wenn du es willst: Ich weiß, was wir dir zu verdanken haben. Aber nicht alle denken so wie ich. Und jetzt, wo die Zeit mehr als überfällig ist und du endlich in unsere Gebräuche einwilligen musst, ob du es nun einsiehst oder nicht, werde selbst ich dich und deine Tochter nicht mehr beschützen können.«

Als er die Worte deine Tochter aussprach, verkrampften sich Leas Hände für einen Moment so fest auf Arris Schultern, dass es schon fast wehtat. Nor blieb das nicht verborgen. Ein Ausdruck von schlecht vertuschter Verletztheit huschte über sein nacktes, faltiges Gesicht, und plötzlich trat er näher, streckte die Hand aus und fuhr Arri damit flüchtig über das bis auf den Rücken reichende, glatte helle Haar. Er brachte es sogar fertig, dabei zu lächeln, aber es kostete ihn sichtliche Anstrengung. Nicht nur Arri spürte, dass er ihr ungefähr mit dem gleichen Vergnügen über den Kopf gefahren war, mit dem er eine hässliche Spinne oder ein missgestaltet geborenes Schwein gestreichelt hätte. Lea reagierte entsprechend, indem sie einen hastigen Schritt zurücktrat und ihre Tochter beinahe grob aus der Reichweite des Hohepriesters zerrte.

»Meine Antwort ist nein«, sagte sie, machte eine winzige, aber bedeutsame Pause und fuhr dann mit leicht erhobener Stimme und unmissverständlicher Betonung fort: »Richte das nur denen aus, die nicht so denken wie du. Und was deine Sorge um meine Zukunft und vor allem die meiner Tochter angeht, so kann ich dich beruhigen. Ich bin keine junge Frau mehr, aber ich bin auch noch nicht zu alt, um nicht zusammen mit meiner Tochter an einen anderen Ort zu gehen. Vielleicht an einen, an dem man unsere Gaben mehr zu würdigen weiß.«

Nor lächelte unerschütterlich weiter. Möglicherweise waren seine Züge aber auch einfach eingefroren - bei dem, was er da hörte. Etwas in seinen Augen erlosch jedenfalls. Er brachte es irgendwie fertig, die Wut in seinem Blick niederzukämpfen, aber weniger gut als sein Gesicht und seine Augen hatte er seinen Körper unter Kontrolle. Nor war ein uralter Mann, aber er war nach wie vor eine beeindruckende Persönlichkeit, was nicht nur an der Ausstrahlung von Macht und Autorität lag, sondern auch daran, dass er wesentlich größer als jeder andere Mann war und zudem ihre ungewöhnlich hoch gewachsene Mutter um einen halben Kopf überragte. Für einen Moment strahlte er einen solchen Zorn und eine solche Angriffslust aus, dass Arri erschrocken die Luft anhielt. Sie wäre nicht einmal überrascht gewesen, wenn der Hohepriester ihre Mutter gepackt und so lange geschüttelt hätte, bis sie ihm gab, was er von ihr wollte. Was immer es sein mochte.

Der Augenblick verging jedoch so schnell, wie er gekommen war. Der brodelnde Zorn, der dem alten Mann etwas von der Wildheit und Kraft zurückgegeben hatte, die vor unendlich vielen Sommern vielleicht einmal tatsächlich in ihm gewesen waren, erlosch, und Nor sackte regelrecht in sich zusammen. Sein nacktes Gesicht, eine Landschaft aus Falten, Runzeln und zahllosen, tief eingegrabenen Narben, erschlaffte ebenso wie seine Schultern, und er stützte sich schwer auf den knorrigen Stock, den er bisher eher lässig in der linken Hand gehalten hatte, als führe er ihn nur zur Zierde und als Zeichen seiner Macht mit sich - und nicht, um sich darauf zu stützen. »Ich wünschte, du würdest Vernunft annehmen, Frau. Nach all der Zeit, die wir uns nun kennen, mache ich mir nun langsam Sorgen um dich. Ich bin ein alter Mann, und ich weiß nicht, wie lange ich noch meine schützende Hand über dich und deine Tochter halten kann. Die jüngeren Männer bedrängen mich. Männer, die nicht so geduldig sind wie ich und sich womöglich mit Gewalt nehmen werden, wonach ihnen der Sinn steht - und wozu sie die alten Gesetze der Götter nicht nur berechtigen, sondern geradezu auffordern.«

Arris Mutter lachte leise; ein glockenheller Laut, in dem mehr Verachtung und Herablassung lagen, als hätte sie Nor eine schallende Ohrfeige versetzt. Der Krieger neben Nor spannte sich und machte einen Schritt in seinen aus Lederriemen gewickelten Gamaschen vorwärts, verhielt jedoch mitten in der Bewegung, als Nor mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung abwinkte. Obwohl Arri nicht zu ihr hochsah, spürte sie, wie der Blick ihrer Mutter an dem Krieger vorbei über die dem Eingang gegenüberliegende Wand tastete, wo das Zauberschwert hing - das Einzige, was sie außer ihrer Tochter und ihren Erinnerungen aus ihrer Heimat mitgebracht hatte.

»Ich weiß Eure Sorge um mich zu schätzen, Nor«, sagte sie mühsam beherrscht, »aber ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen. Dennoch danke ich Euch für Eure Warnung. Ich werde in Zukunft noch vorsichtiger sein und mir noch sorgfältiger überlegen, mit wem ich rede und worüber.«

Diesmal sah der Hohepriester aus, als hätte sie ihn geohrfeigt. Und irgendwie - obwohl sie kaum etwas von dem verstand, was sie gerade gehört hatte - hatte Arri das Gefühl, dass sie es tatsächlich getan hatte. Nor starrte ihre Mutter für die Dauer von drei endlosen, schweren Atemzügen an, dann fuhr er auf der Stelle herum und verließ die Hütte ohne ein Wort des Abschieds und so schnell er konnte, dicht gefolgt von dem Krieger, der zu Arris Verblüffung ihr selbst und nicht ihrer Mutter einen letzten, merkwürdig abschätzenden Blick zuwarf.

Arri wartete, bis der Muschelvorhang hinter ihnen zugefallen war, und ein ganz kleiner, boshafter Teil von ihr hoffte, dass der alte Mann auf den schmalen Stufen das Gleichgewicht verlieren würde und kopfüber hinunterstürzte; aber sie wusste zugleich auch, dass das nicht geschehen würde. Alt und gebrechlich mochte Nor ja sein, aber alles andere als ungeschickt oder gar unvorsichtig. Das bewies allein die Tatsache, dass er sich trotz seines hohen Alters nicht gescheut hatte, den weiten und anstrengenden Weg von Goseg über die Hügel hierher zurückzulegen, einen Weg, der sich auch auf kürzester Strecke nicht an einem einzigen Tag zurücklegen ließ, sondern ihn zwei, vielleicht sogar drei Tage gekostet haben mochte. Als die schlurfenden, vom dumpfen Klock, Klock seines Stockes begleiteten Schritte auf der Stiege abbrachen, glitt Arri unter den Händen ihrer Mutter hindurch und trat ans Guckloch.

Sie war schneller gewesen als Nor, denn es vergingen noch ein paar Momente, bis er in ihrem Blickfeld auftauchte. Er bewegte sich langsam und dennoch auf eine Art, die ebenso große Zielsicherheit wie Kraft verriet. Sein unzweifelhaft hohes Alter und das, was Arri sah, passten nicht zusammen. Obwohl er spüren musste, dass sie hier oben am Guckloch stand und ihn beobachtete, hob er kein einziges Mal den Blick, während er mit hängenden Schultern und schwer auf seinen Stock gestützt den gewundenen Weg zum Dorf hinaufging, den Arri vorhin so leichtfüßig heruntergehüpft war; ein zu groß geratener Vogel in seinem Umhang aus Federn und gefärbten Tierfellen, der komisch gewirkt hätte, hätte er nicht zugleich auch wie ein Raubvogel ausgesehen. Arri blieb am Guckloch stehen, bis er zwischen den Bäumen am Dorfrand verschwunden war.

Auf dem Gesicht ihrer Mutter lag ein Ausdruck tiefer Bestürzung, als Arri sich schließlich zu ihr umwandte - oder war es Furcht? Sie wusste es nicht. Alles, was sie wusste, war, dass sie ihre Mutter selten zuvor so aufgewühlt erlebt hatte; wenn sie es recht bedachte, eigentlich noch nie.

»Was wollte er von dir?«, fragte sie.

»Nichts«, antwortete ihre Mutter. Sie versuchte sich zu einem Lächeln zu zwingen, aber es misslang und geriet zu einem Ausdruck, der ihre Unsicherheit nur noch unterstrich. Dennoch schüttelte sie bekräftigend den Kopf und sagte noch einmal: »Nichts. Jedenfalls nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, die Arri ebenso wenig überzeugte wie das kläglich misslungene Mienenspiel. »Er ist ein alter Dummkopf, das weißt du doch. Ich glaube, er hat Recht mit dem, was er gesagt hat: Er wird nicht nur allmählich alt, sondern auch sonderbar.«

Als alten Dummkopf hatte sie ihn schon öfter bezeichnet, und doch war diesmal etwas anders: In Arris Ohren klang das Wort sonderbar ganz eindeutig so, als hätte ihre Mutter in Wahrheit gefährlich gesagt. Sie legte den Kopf auf die Seite und sah ihre Mutter fragend an - und noch etwas Neues geschah, das sie vielleicht nach allem Sonderbaren der letzten Augenblicke am allermeisten verwirrte: Ihre Mutter senkte den Kopf und wich ihrem Blick aus. Das war ganz eindeutig noch niemals geschehen.

»Warum gibst du ihm nicht einfach, was er von dir will?«, fragte Arri.

Für einen kurzen Moment las sie nichts als Verwirrung auf dem Gesicht ihrer Mutter, als hätte sie die Worte zwar verstanden, wüsste aber nicht wirklich etwas damit anzufangen. Darauf folgte - ganz kurz, aber Arri sah es trotzdem - ein Ausdruck von Erschrecken, den sie jedoch ebenso schnell niederkämpfte, wie er gekommen war, und der dann einem milden, verstehenden Lächeln Platz machte, das Arri wie ein Faustschlag traf. »Ich fürchte, dass das nicht geht.«

»Und warum nicht?«, hakte Arri nach, fast schon ein bisschen frech. Das gönnerhafte Lächeln verblieb auf dem Gesicht ihrer Mutter und machte sie noch wütender. »Ich habe nicht alles gehört, aber ich weiß, dass er dich bedroht hat. Er wird dir Ärger machen, wenn du ihm nicht gibst, was er von dir will. Was ist es denn überhaupt?«

»Keine Sorge«, antwortete ihre Mutter. Sie hatte offensichtlich beschlossen, den letzten Teil von Arris Frage zu überhören.

»Er wird mir nichts tun. Er weiß genau, dass er das, was er von mir will, dann erst recht nicht bekäme.« Sie machte eine kleine, aber befehlende Geste mit der linken Hand, als Arri Luft holte, um erneut nachzuhaken. »Es ist jetzt gut. Geh zur Kochstelle und setz das Feuer in Gang. Ich werde uns etwas zu essen machen.«

»Jetzt schon?«, fragte Arri verblüfft. »Soll ich nicht erst noch in den Garten? Ich müsste dringend Unkraut zupfen.«

»Das Unkraut läuft dir nicht davon. Und außerdem möchte ich nicht, dass du dich heute Abend noch am Waldrand herumtreibst. Die Jäger haben erst gestern wieder Wolfsspuren im Wald gefunden. Gar nicht weit von hier.«

Als ob Wölfe so dumm wären, sich in die Nähe einer Hütte zu wagen, in der ein ständiges Kommen und Gehen herrschte. So etwas taten Wölfe nicht, die jagten eher verirrten Schafen hinterher. Aber Arri war klug genug, den gereizten Tonfall ihrer Mutter zu bemerken und diesen Gedanken für sich zu behalten. Wenn sie jetzt nicht gehorchte, dann würde es gleich wirklich unangenehm werden, und für einen einzigen Nachmittag, fand Arri, hatte sie schon genug in dieser Hinsicht erlebt. Es fehlte ihr noch, dass sie eine Abreibung bekam, nur weil ihre Mutter ihre schlechte Laune an niemand anderem als an ihrer Tochter auslassen konnte.

Als Arri immer noch keine Anstalten machte, ihrem Befehl nachzukommen, sondern einfach weiter dastand und sie anstarrte, wedelte ihre Mutter ungeduldig mit der Hand. »Geh endlich. Und beeil dich mit dem Feuermachen.«

Das war die unwiderruflich letzte Warnung, und nun beeilte sich Arri, fuhr auf der Stelle herum und trat so schnell durch die Türöffnung, dass sie um ein Haar die oberste Stufe verfehlt hätte und sich nur im allerletzten Moment an dem aus Eschenholz gefertigten Geländer festhalten konnte, das die Stiege zierte. Sie selbst hatte Tage damit zugebracht, nicht nur einen besonders gerade gewachsenen Stamm des seltenen Baumes zu suchen, sondern auch seine Rinde abzuschälen und ihn so lange mit feinem Sand und Blättern zu polieren, bis er so hart und glänzend wie ein sorgfältig abgekochter Knochen aussah und ihre Hände ganz rot und an manchen Stellen schon blutig gewesen waren. Und sie hatte ihre Mutter mehr als einmal in Gedanken dafür verflucht, ihr diese Arbeit aufgehalst zu haben, und sich gefragt, was sie sich eigentlich hatte zu Schulden kommen lassen, um derart bestraft zu werden. Keine andere Hütte im Dorf hatte ein Geländer, das zu nichts nutze war und nicht einmal schön aussah!

Während sie jetzt mit klopfendem Herzen dastand und darauf wartete, dass ihre Knie zu zittern aufhörten, nahm sie in Gedanken alles zurück und bedankte sich im Stillen bei ihrer Mutter. Dieses nutzlose, hässliche Ding hatte sie gerade vor einem üblen Sturz bewahrt.

Ein Rascheln hinter dem großen Holunderstrauch, aus dessen Früchten ihre Mutter einen schweißtreibenden, stärkenden Tee zu bereiten pflegte, schreckte sie aus den Gedanken auf. Schlich sich dort vielleicht gerade einer der Wölfe an, vor denen ihre Mutter sie gewarnt hatte? Arri war schon drauf und dran, wieder kehrtzumachen und die Stiege hinaufzueilen, als sie das bärtige Gesicht eines ihr nur flüchtig bekannten Mannes entdeckte und dann die dunklen Kleider zwischen den verkrüppelten Stämmen hindurchschimmern sah.

Es war der Krieger aus Goseg, der Mann, den Nor zu der Unterredung mit ihrer Mutter mitgebracht hatte. Er starrte sie noch eine Weile schweigend an, drehte sich dann um und verschwand mit weit ausgreifenden, fast ärgerlich wirkenden Schritten in Richtung Dorf.

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