29

Rahn hielt Wort - zumindest, was den ersten Teil seines Versprechens anging. Die Männer, die am nächsten Tag zu ihr kamen, um ihr Essen und Wasser zu bringen (es waren nicht Jamu und sein Kamerad, die sie kannte), behandelten sie zwar nicht unbedingt freundlich, aber auch nicht mehr wie ein gefährliches Tier, und das Essen, das sie brachten, schmeckte zwar keinen Deut besser als zuvor, dafür fiel aber die Portion deutlich größer aus, sodass sie zum ersten Mal seit ihrem Erwachen in diesem steinernen Käfig vielleicht nicht wirklich satt war, aber auch nicht mehr das Gefühl hatte, verhungern zu müssen. Wasser zum Waschen wurde ihr nicht gebracht, und es schien auch so, dass Sarn und wen auch immer Nor aus dem Dorf hierher befohlen hatte, noch nicht in Goseg eingetroffen waren, denn der Tag ging zu Ende, ohne dass irgendjemand sie holte, und Rahn kam in der darauf folgenden Nacht nicht mehr zu ihr.

In der nächsten auch nicht.

Es vergingen noch zwei weitere Tage, bis sich etwas an der Eintönigkeit änderte, mit der die Zeit verstrich. Kurz nach Sonnenaufgang des dritten Tages seit ihrem Gespräch mit dem Fischer (Arri war mittlerweile übrigens sicher, dass Rahn alles war, nur kein Fischer) wurde die Tür ihres Gefängnisses unsanft aufgestoßen, und ihre beiden neuen Bewacher kamen herein. Sie brachten weder Essen noch Wasser, sondern bedeuteten ihr nur mit befehlenden Gesten, aufzustehen und ihnen nach draußen zu folgen.

Arri erhob sich zwar gehorsam und machte einen ersten, noch zögernden Schritt zur Tür hin, was ihr Knie mit einem scharfen Stich quittierte, blieb dann aber unvermittelt stehen, hob die linke Hand über die Augen und blinzelte geblendet in das grelle Licht des Morgens. Der Himmel war bedeckt, und allein der schneidende Wind, der ihr entgegenschlug und so spielend durch ihre Kleider drang, als wären sie gar nicht vorhanden, überzeugte sie davon, dass die Sonne am Himmel gar nicht so hell sein konnte, wie es ihr vorkam. Die Luft roch so intensiv nach Schnee, dass sie beinahe überrascht war, es nicht unter ihren nackten Füßen knirschen zu hören, als einer der beiden Männer sie mit einer unwilligen Bewegung aufforderte weiterzugehen. Doch ihre Augen hatten sich an das trübe Zwielicht des fast fensterlosen Gefängnisses gewöhnt, in dem sie so viele Tage verbracht hatte. So sehr sie es sich auch gewünscht hatte, die steinernen Wände ihres Kerkers mit bloßen Händen einreißen zu können, schien die ungewohnte Weite, in die sie nun hinaustrat, doch plötzlich von allen Seiten auf sie einzustürmen und ließ sie schwindeln.

Sie taumelte, griff unwillkürlich Halt suchend um sich und bekam tatsächlich etwas zu fassen; etwas, das warm und struppig war und mit einem unwilligen Laut auf die grobe Berührung reagierte. Im nächsten Augenblick spürte sie einen Schlag ins Gesicht, der nicht wirklich hart genug war, um wehzutun oder sie gar von den Füßen zu reißen, in seiner Bedeutung aber unmissverständlich war. Ihre neuen Bewacher mochten rücksichtsvoller sein als Jamu und sein Begleiter, doch auch ihre Langmut hatte Grenzen.

Arri fand mit einem raschen Schritt ihr Gleichgewicht wieder, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, um sich davon zu überzeugen, dass ihre Lippen nicht aufgeplatzt waren, und beeilte sich dann weiterzugehen, als der Mann, an dessen Haar sie sich gerade versehentlich festgehalten hatte, eine nun eindeutig zornige Geste machte. Immerhin hatte der kurze Zwischenfall ihren Augen Gelegenheit gegeben, sich an das grelle Licht zu gewöhnen, sodass sie nun nicht mehr das Gefühl hatte, ständig durch einen Schleier aus Tränen hindurchsehen zu müssen.

Was sie erblickte, war allerdings eher eine Enttäuschung. In jener Zeit ihrer Gefangenschaft, in der sie nicht mit dem Schicksal gehadert, über Rahn oder Nor nachgedacht oder sich gewünscht hatte, dass ihre Mutter kam, um diesem Albtraum endlich ein Ende zu bereiten, hatte sie sich vorzustellen versucht, was jenseits der undurchdringlichen Mauern ihres Gefängnisses liegen mochte. Aber die Wahrheit blieb selbst hinter ihrer vorsichtigsten Vorstellung zurück. Wenn das hier tatsächlich Goseg war, dann war es vollkommen anders, als sie es sich ausgemalt hatte. Es gab keine goldenen Türme und trutzigen Mauern, keine prachtvollen Straßen und Säulenhallen und gepflasterten Plätze wie die aus ihrer Heimat, von denen ihr Lea an einem stillen Abend erzählt hatte.

Das Haus, in dem sie eingesperrt gewesen war, befand sich auf der Schmalseite eines kleinen, halbrunden Platzes, dessen Abmessungen hinter denen ihres heimatlichen Dorfplatzes eindeutig zurückblieben. Das einzig Besondere hier war vielleicht, dass sämtliche Gebäude aus Stein errichtet waren, doch es war nur eine Hand voll, und sie waren eher klein - nicht deutlich größer als die Hütten, in denen die Menschen in ihrem Dorf lebten. Die Gucklöcher waren winzig, gerade handbreite Öffnungen, die wie furchtsam blickende Augen unter den weit überhängenden Dächern hervorlugten. Zwischen den einzelnen Gebäuden befanden sich nur schmale Lücken, kaum breit genug, um jemandem von ihrer Statur Durchlass zu gewähren, geschweige denn einem Erwachsenen, die dafür aber allen möglichen Unrat beherbergten, während der Platz selbst tadellos ordentlich und sauber wirkte.

Auf der anderen Seite lag eine etwas breitere Straße, die nach vielleicht einem oder zwei Dutzend Schritten vor einer mehr als mannshohen Palisadenwand aus angespitzten Baumstämmen endete, in der sich ein zweiflügeliges Tor befand, das im Augenblick allerdings geschlossen war. Ganz offensichtlich war Goseg umfriedet, aber das war auch schon alles, was sie darüber sagen konnte, und ihr blieb keine Zeit für einen zweiten, aufmerksameren Blick in die Runde, denn ihre Bewacher führten sie nicht fort, sondern nur geradewegs auf die andere Seite des Platzes und in ein weiteres, steinernes Gebäude.

Wie das Haus, in dem sie gefangen gewesen war, bestand es nur aus einem einzigen, rechteckigen Raum, der allerdings vier schmale Gucklöcher hatte - zwei auf jeder Seite - und nicht leer war. Arri erblickte eine erloschene Feuerstelle, deren weiße Asche noch nicht allzu lange erkaltet sein konnte, denn es war hier drinnen merklich wärmer als draußen auf dem Platz oder auch nur in ihrer Unterkunft, ferner eine niedrige Lagerstatt mit einer aus Gras geflochtenen Matratze, die sich in einem so erbärmlichen Zustand befand, dass Arri sie längst fortgeworfen und eine neue geflochten hätte, sowie mehrere wenig kunstvoll angefertigte Bastkörbe mit einem schweren Tongefäß unbekannten Inhalts, das mit einem ölgetränkten Lappen verschlossen war. Darüber hinaus gab es zwei hölzerne Eimer randvoll mit Wasser, zwischen denen ein niedriger, dreibeiniger Schemel stand, auf dem etwas lag, das Arri im ersten Moment für ein schmutziges Tuch hielt, bis sie erkannte, dass es ein Kleid war.

»Wasch dich«, sagte einer der beiden Männer. »Und zieh das andere Kleid an. So schmutzig kannst du nicht vor den Hohepriester treten.«

Arri drehte den Kopf und sah überrascht zu den beiden Wachen zurück. Sie war erschrocken, obwohl sie doch eigentlich hätte wissen müssen, warum man sie aus ihrem Gefängnis holte. Dann nahm Erstaunen dem Platz des Schreckens ein, als die beiden ohne ein weiteres Wort nicht nur das Haus verließen, sondern auch die Tür hinter sich schlossen. Jamu und sein Begleiter hätten wohl eher das genaue Gegenteil getan und ihr in aller Ausführlichkeit dabei zugesehen, wie sie sich auszog und wusch. Anscheinend hatte Rahn tatsächlich mit dem Herrn von Goseg gesprochen.

Sollte sie das beruhigen? Arri dachte einen Moment lang ernsthaft über diese Frage nach, kam aber zu keiner Antwort, und was hätte es ihr auch genutzt? Sie hob die Schultern, trat dichter an den Schemel heran und nahm das Kleid in Augenschein, das darauf lag. Es war ihr viel zu groß und von einem Schnitt, der sie weit mehr an einen Sack denken ließ denn an etwas, das man anziehen konnte.

Achselzuckend ließ sie das Kleid wieder sinken. Auch darüber nachzudenken war reine Zeitverschwendung, denn ihr war klar, dass ihre beiden Bewacher darauf bestehen würden, dass sie es anzog. Also überzeugte sie sich mit einem raschen Blick noch einmal davon, dass die Tür auch tatsächlich geschlossen und sie unbeobachtet war, und streifte dann mit einer raschen Bewegung ihre Kleider ab.

Erst, als sie sie zu Boden warf, sah sie, wie hoffnungslos verdreckt und an zahllosen Stellen zerrissen sie tatsächlich waren. Aber genau genommen bot sie selbst auch keinen sehr viel besseren Anblick. Auch sie starrte vor Schmutz, und nun, einmal an der frischen Luft gewesen, konnte sie Rahns Bemerkung, über die sie sich mehr geärgert hatte, als sie zugeben mochte, sehr viel besser verstehen.

Er hatte Recht gehabt.

Aber es war nicht nur der Schmutz. Arri sah noch einmal und aufmerksamer an sich herab und verzog die Lippen zu einer Grimasse. Unter all dem Dreck hatte sie noch immer zahllose Schrammen, mehr oder weniger verschorfte Wunden und blaue Flecken. Auch, wenn ihr Bein mittlerweile kaum noch wehtat und sie nur noch ganz leicht humpelte, so war es doch noch immer deutlich angeschwollen, und unter der Kniescheibe zeichnete sich eine halbmondförmige, dunkelblaue Verfärbung ab, die sie in jedem Fall sofort von ihrer Mutter hätte behandeln lassen. Es war seltsam, aber gerade der Anblick der Schwellung ließ sie ihre Mutter so schmerzlich vermissen, dass sie fast aufgeschluchzt hätte.

Da sie nicht glaubte, dass ihre Bewacher ihr allzu viel Zeit lassen würden, und sie ihnen auch nicht die Genugtuung geben wollte hereinzuplatzen, während sie noch nackt dastand und sich wusch, ließ sie sich rasch vor einem der beiden Eimer in die Hocke sinken und schöpfte sich zwei Hände voll eiskalten, klaren Wassers ins Gesicht. Es war so eisig, dass sie sofort eine Gänsehaut am ganzen Körper bekam und mit den Zähnen zu klappern begann. Dennoch wiederholte sie die Prozedur noch drei- oder viermal, bis sie das Gefühl hatte, wenigstens halbwegs sauber zu sein, dann schöpfte sie weitere Hände voll Wasser und trank solange, bis sie einfach nicht mehr konnte.

In Ermangelung eines Tuches tauchte sie ihr zerrissenes Kleid in den Eimer, wrang den Stoff unter Wasser aus, so gut sie konnte, und reinigte damit anschließend ihren Körper von all dem eingetrockneten Schmutz, Blut und Schweiß; wenigstens an den Stellen, die sie selbst erreichen konnte, und so gut es ging.

Es war eine anstrengende und schmerzhafte Prozedur, aber Arri biss die Zähne zusammen, verbrauchte das ganze Wasser, das man ihr bereitgestellt hatte, und suchte anschließend nach einem trocken gebliebenen Stück des Kleides, um sich damit abzutrocknen. Als sie sah, wie verdreckt der Stoff wirklich war, verwarf sie den Gedanken wieder. Sie hätte sich allerhöchstens wieder schmutzig gemacht. Stattdessen streifte sie sich mit den flachen Händen das Wasser von der Haut, so gut es ging, und schlüpfte anschließend in das Kleid, das man ihr hingelegt hatte. Sein Schnitt blieb so unvorteilhaft, wie er war, und zu allem Überfluss fühlte sich der Stoff so rau an, als hätte sie sich in grobem Sand gewälzt. Jede Bewegung in diesem Albtraum von Kleid musste zur schieren Qual werden. Aber immer noch besser, dachte sie, als in einem blutbesudelten Fetzen vor den Herrn von Goseg zu treten.

Ihre Überzeugung, vollkommen unbeobachtet und sicher zu sein, bekam dann doch einen gehörigen Knacks, als sie sich zur Tür wandte und die Hand hob, um zu klopfen, denn diese wurde aufgerissen, noch bevor Arri sie erreichte, und einer der beiden Krieger winkte sie mit einer herrischen Bewegung heraus. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos, aber auf dem des anderen zeigte sich dafür ein umso breiteres Grinsen, das jede weitere Frage Arris überflüssig machte.

Zu ihrer eigenen Überraschung spürte sie, wie sie rot wurde.

Sie warf dem Krieger einen giftigen Blick zu - sein Grinsen wurde noch breiter -, warf mit einer trotzigen Bewegung den Kopf in den Nacken und trat so gelassen zwischen den beiden Männern hindurch, wie sie nur konnte. »Wohin bringt ihr mich?«, fragte sie.

Sie rechnete nicht mit einer Antwort und war fast selbst überrascht, als sie sie bekam.

»Zu Nor. Und jetzt schweig und geh schneller. Der Hohepriester wartet nicht gern.«

Arri beschleunigte ihre Schritte tatsächlich. So lange sie Acht gab, machte ihr Bein ihr nicht allzu viel zu schaffen, aber sie spürte, dass sich das bei der geringsten unvorsichtigen Bewegung sehr schnell ändern würde. Ihre Begleiter wirkten wenig begeistert, ersparten sich aber jede weitere Bemerkung und beließen es dabei, sie mit unwilligen Gesten vor sich herzuscheuchen. Doch sie rührten sie nicht an.

Während sie den Platz - diesmal in Richtung des Palisadenzaunes - überquerten, fiel Arri auf, wie still es war. Die Sonne war schon vor einer geraumen Weile aufgegangen, und der Platz hätte vom geschäftigen Treiben von Menschen, von ihren Stimmen und ihrem Lachen, von ihren Schritten und den Geräuschen, die sie bei ihrer Arbeit verursachten, widerhallen müssen, doch sie hörte nichts; nicht einmal aus einem der Häuser drang auch nur der geringste Laut. Dieser sonderbare Ort, dachte sie, hatte entweder keine Bewohner - oder sie waren allesamt fort.

Arri konnte nicht sagen, welche dieser beiden Vorstellungen ihr größeres Unbehagen bereitete.

Auch der schmale Weg, der zu dem geschlossenen Tor in der Umfriedung dieses steinernen Ortes führte, wurde von gemauerten Gebäuden ganz ähnlicher Größe und Schlichtheit flankiert. Ein eigentümliches Gefühl ergriff von ihr Besitz. Sie hatte Häuser wie diese noch nie gesehen, aber das war es nicht. Die Welt war schließlich voll von Dingen, die sie noch nie gesehen hatte. Diesen versteinerten Hütten jedoch haftete etwas Gespenstisches an, etwas auf nicht in Worte zu fassende Weise... Uraltes.

Vielleicht waren es auch gar nicht die Wände aus gewaltigen, sorgsam aufeinander gesetzten Steinquadern und die ungewohnt eckige Bauweise, deren scharfe Linien und Kanten regelrecht in den Augen zu schmerzen schienen, sondern viel mehr die unheimliche Stille, die über der ganzen Anlage lag. Arri hatte das bedrückende Gefühl, sich mit jedem Schritt tiefer in eine Welt hineinzubegeben, die untergegangen war, lange bevor es Menschen wie sie überhaupt gegeben hatte. Der Anblick berührte etwas in ihr, und für einen Moment war sie sicher - so verrückt ihr der Gedanke auch selbst vorkommen mochte, aber sie war es! -, sich an etwas zu erinnern, was sie niemals gesehen hatte.

Hatte die untergegangene Welt jenseits des Meeres, von der ihre Mutter ihr so oft erzählt hatte, so ausgesehen? Arri verspürte ein kurzes, aber heftiges Frösteln, als hätte sie ein eisiger Windstoß getroffen. Wenn es so war, dann war sie beinahe froh, sie niemals mit eigenen Augen gesehen zu haben.

Unwillkürlich verlangsamte sie ihre Schritte, als sie sich dem geschlossenen Tor im Palisadenzaun näherten, und wollte auch ein Stück zur Seite treten, um den Männern hinter sich Platz zu machen, damit sie an ihr vorbeigehen und das Tor öffnen konnten. Einer der beiden gab jedoch nur ein unwilliges Grunzen von sich, und nachdem Arri ihm über die Schulter hinweg einen verwirrten Blick zugeworfen hatte und sich wieder nach vorne wandte, erlebte sie eine Überraschung: Als sie sich dem Tor bis auf acht oder zehn Schritte genähert hatten, erscholl ein dumpfer, knirschender Laut, und einer der beiden übermannsgroßen Flügel begann sich ächzend zu bewegen und schwang ein Stück weit auf.

Arri war nur kurz wirklich überrascht; dann wurde ihr klar, dass es irgendwo dort draußen ein verborgenes Seil geben musste, an dem einer oder auch mehrere genauso verborgene Männer zogen. Nichts als eine List, um Eindruck zu schinden, dachte sie spöttisch. Doch trotz dieses Wissens verfehlte der Anblick des gewaltigen Tores, das sich scheinbar wie von Geisterhand bewegte, auch auf sie ihre Wirkung nicht völlig.

Das Tor öffnete sich gerade weit genug, um sie und ihre beiden Begleiter hindurch zu lassen. Auf der anderen Seite empfing sie nichts Dramatischeres als eine sanft abfallende Grasebene, die nach ein paar Dutzend Schritten in einen Wald überging, dessen Bäume zwar so dicht an dicht standen, dass ein Durchkommen Arri beinahe unmöglich erschien, die zugleich aber allesamt auf seltsame Weise verkrüppelt aussahen, von niedrigem Wuchs und mit zu vielen, nahezu blattlosen Ästen, gichtig verkrümmten Fingern gleich, die die Dunkelheit im Innern des Waldes festzuhalten versuchten. Etwas wie ein eisiger Hauch schien von diesem Wald zu Arri herüberzuwehen, eine Kälte, die nichts mit den äußeren Temperaturen zu tun hatte und denselben Teil ihrer Seele berührte, der gerade schon vor dem Anblick der versteinerten Stadt zurückgeschreckt war.

Sie schüttelte den Gedanken ab (oder versuchte es zumindest) und ließ den Blick in die entgegengesetzte Richtung schweifen. Auch dort erstreckte sich die Wiese ein gutes Stück weit, nun ebenso sanft ansteigend wie auf der anderen Seite abfallend. Trotz des schon fortgeschrittenen Morgens lag noch ein zarter Hauch von Raureif auf dem Gras, und Arri bemerkte, dass es von hier bis zur Kuppe des Hügels tatsächlich nur Gras gab und keinen einzigen Baum, keinen Busch, nicht einmal Unkraut, das nennenswert höher wuchs als das Gras - was nur bedeuten konnte, dass sich jemand mit großer Sorgfalt darum gekümmert hatte, dass das so war. Weiter oben auf der Hügelkuppe selbst erhob sich so etwas wie der große Bruder des Palisadenzaunes, den sie gerade durchschritten hatten: ein gewaltiges Gebilde aus mindestens dreifach mannshohen Baumstämmen, die ebenso sorgsam ausgesucht wie bearbeitet waren, denn sie alle waren ausnahmslos gerade gewachsen und von gleicher Höhe. Eine zweite, umfriedete Stadt aus versteinerten Häusern?, dachte sie. Ihrer Meinung nach machte das keinen Sinn...

... aber es macht auch keinen Sinn, sich unnötigerweise den Kopf darüber zu zerbrechen, denn der schmale Trampelpfad, auf den ihre Bewacher sie schoben, führte in fast gerader Linie zu diesem sonderbaren Bauwerk hinauf, sodass sie es in wenigen Augenblicken ohnehin aus nächster Nähe sehen würde. Wenn dies das berühmte Heiligtum von Goseg war, so stellte sein Anblick zumindest eine Enttäuschung dar. Seine schiere Größe war gewiss beeindruckend, aber letzten Endes war es doch nicht mehr als ein Zaun, wenn auch ein großer.

Der Wind drehte sich, als sie die halbe Entfernung zurückgelegt hatten, und für einen Moment trug er ein leises, aber unverkennbares Durcheinander genau der Geräusche mit sich heran, die sie bisher vermisst hatte: menschliche Stimmen, Lachen, ein helles Klingen und Hämmern, aber auch den ganz schwachen Geruch von brennendem Holz und frischem Mist, bevor er sich abermals drehte und die Geräusche wieder mit sich davontrug. Erneut hüllte sie Stille ein, aber nun wusste sie wenigstens, wo all die Menschen waren, die sie bisher vermisst hatte. Auf der anderen Seite des Hügels musste es ein zweites, ganz offensichtlich bewohntes Dorf geben. Das Rätsel um all diese leer stehenden, steinernen Gebäude hinter ihr wurde dadurch eher noch größer, und obwohl sie sich wohl kaum auf dem Weg zu Menschen befanden, die ihr wohl gesonnen waren, hatte der Gedanke trotzdem etwas Beruhigendes.

Vielleicht, weil sie das, was sie gerade gesehen hatte, so sehr beunruhigte...

Auch aus der Nähe betrachtet, gab der gewaltige Palisadenzaun, der den Hügel krönte, sein Geheimnis nicht preis, falls er überhaupt eines hatte. Der einzige Unterschied zu der Umfriedung hinter ihr schien darin zu bestehen, dass es auch durch diesen Zaun einen Durchlass gab, aber offensichtlich kein Tor, sondern nur eine schmale Lücke zwischen den hoch aufragenden Stämmen, hinter der sich jedoch keine Gebäude zu befinden schienen, so weit Arri erkennen konnte, sondern anscheinend nur ein weiterer hölzerner Zaun. Eine sonderbare Konstruktion, die keinerlei Sinn zu ergeben schien und sie trotzdem an etwas erinnern wollte, ohne dass sie auch nur im Entferntesten hätte sagen können, woran.

Ihre Begleiter ließen ihr jedoch keine Zeit, sich das riesige Bauwerk genauer anzusehen. Der gewundene Pfad, dem sie folgten, führte nicht direkt zu der Bresche im Palisadenzaun hinauf, sondern machte ein gutes Stück davor einen scharfen Knick nach links und verschwand dann auf der anderen Seite des Hügels, und je näher sie dem Zaun kamen, desto eiliger schienen es die beiden Männer auf einmal zu haben. Mehr noch als ihre plötzliche Ungeduld aber verrieten Arri die unruhigen Blicke und die plötzlich unsicheren kleinen Bewegungen und Gesten der beiden Krieger, wie unwohl sie sich in der Nähe des hölzernen Ungetüms fühlten.

Arri blieb stehen und drehte sich ganz zu ihnen herum. »Wohin gehen wir?«, fragte sie mit einer Stimme, die zwar fest war, aber nicht so fest, wie sie es sich gewünscht hätte.

Im ersten Moment glaubte sie, einen Fehler begangen zu haben, denn das Gesicht des Größeren der beiden verfinsterte sich, doch der andere antwortete in ruppigem Ton: »Geh weiter, und du erfährst es noch früh genug.«

Er klang beunruhigt, fand Arri, mindestens ebenso beunruhigt wie sie selbst, und vielleicht sogar ein bisschen furchtsam. Statt seinem Befehl zu gehorchen, deutete sie zu der riesigen hölzernen Wand über sich und fragte: »Ist das... das Heiligtum?«

»Ja, und jetzt hör auf zu reden und geh weiter«, antwortete der Mann unwillig. Arri entging nicht, dass sich sein Blick weiter verfinsterte, und sie beeilte sich, rasch weiterzugehen. Trotzdem nutzte sie die Gelegenheit, noch eine entsprechende Geste in die Richtung zu machen, aus der sie gekommen waren, und in bewusst beiläufigem Ton zu fragen: »Und was ist das da?«

»Die Heilige Stadt«, antwortete der Mann widerwillig. »Nor und die anderen Priester wohnen dort, und...«

»Schweig endlich still«, fiel ihm sein Begleiter ins Wort. »Was redest du überhaupt mit ihr? Du weißt, was Nor gesagt hat!«

Arri wusste es nicht, aber es fiel ihr auch nicht besonders schwer, es sich zu denken. So, wie sie Nor einschätzte, hatte er den Männern wahrscheinlich erklärt, dass sie sich die Ohren zuhalten müssten, sobald sie auch nur den Mund aufmachte, damit sie sie nicht mit ihren Hexenkräften verzauberte.

Dann aber begegnete sie dem Blick des Kriegers, und was sie darin las, war ganz und gar nicht das, was sie erwartet hätte. Natürlich war der Mann sehr aufmerksam. Mehr als einer der zahllosen Fluchtpläne, die sie in der endlosen Zeit ihrer Gefangenschaft ersonnen hatte, fußten auf der Hoffnung, dass ihre Bewacher sie für geschwächt und verwirrt halten und somit unterschätzen würden, in welchem Fall sie die eine oder andere unangenehme Überraschung für sie bereit gehabt hätte.

Aber das war ganz und gar nicht der Fall. Ganz im Gegenteil: Wenn sie etwas im Blick des dunkelhaarigen Mannes las, dann, dass er nicht nur ganz genau wusste, wer sie war und vor allem, wozu sie imstande war. Wenn überhaupt, dann würde dieser Mann sie allenfalls über- und nicht unterschätzen. Doch was sie wirklich erschreckte, das war etwas, was nur für einen ganz kurzen Moment in seinen Augen aufblitzte, gerade lange genug, bis er erkannte, wie deutlich sie ihm seine wahren Gefühle ansah, und den Ausdruck hastig aus seinem Blick verbannte.

Es war nichts anderes als Mitleid.

Der Anblick verstörte Arri so sehr, dass sie mitten im Schritt innehielt, den Mann anstarrte und erst weiter ging, als er ihr einen derben Stoß gegen die Schulter versetzte.

Arri stolperte hastig vorwärts, und auf dem Gesicht des Mannes, der sie gestoßen hatte, erschien ganz kurz ein fast schuldbewusster Ausdruck, der aber ebenso rasch wieder verschwand wie der mitfühlende Blick, mit dem er sie zuvor gemustert hatte. Ohne den mächtigen Palisadenzaun zu ihrer Rechten auch nur mit einem einzigen Blick zu bedenken, scheuchte der Krieger sie vor sich her, dann hatten sie das gewaltige Gebilde halb umrundet, und Arri konnte sehen, was auf der anderen Seite des Hügels lag.

Eigentlich war es schon eher ein kleiner Berg, der die Bezeichnung Hügel nicht mehr wirklich verdiente. Der Blick reichte von hier aus ungehindert und weit über das von einem nahezu geschlossenen Wald bedeckte Land, bevor er sich im Dunst des kalten Vormittages verlor. Ganz instinktiv sah Arri nach Süden, in die Richtung, in der sie ihr heimatliches Dorf wusste, und ein Gefühl abgrundtiefer Enttäuschung ergriff von ihr Besitz, als sie es nicht entdeckte. Dabei wusste sie doch, dass sie gut anderthalb, wenn nicht zwei Tagesmärsche von ihrer Heimat entfernt war.

Sie senkte den Blick und war im ersten Moment verwirrt, keinen weiteren Palisadenzaun oder irgendeine andere Art von Befestigung zu sehen. Dennoch war die mit Raureif überpuderte Ebene am Fuße des Hügels nicht leer. Neben ein paar windschiefen Schuppen schien ein gewaltiges Langhaus geradewegs aus dem Boden zu wachsen, und auf seiner anderen Seite, an zwei Seiten vom Wald begrenzt, erstreckte sich ein hölzernes Gatter, in dem ein Dutzend struppiger Rinder missmutig an hart gefrorenen Grashalmen zupften.

Die Rinder wurden als Fleischvorrat für den Winter wohl auch dringend benötigt, denn in dem Langhaus fanden wahrscheinlich mehr Menschen Platz als in ihrem ganzen Dorf; und so, wie es sich anhörte, schienen sich auch jetzt mehr darin aufzuhalten. Das zertrampelte Gras und der aufgeweichte Boden vor dem Eingang machten klar, wie emsig das Kommen und Gehen hier sein musste. Natürlich war es schwer, so etwas zu schätzen, aber Arri nahm dennoch an, dass dieses ungewöhnliche Haus mindestens so groß wie Targans sein musste, wenn nicht größer, sich ansonsten aber vollständig von diesem unterschied, denn es hatte nur ein einziges Stockwerk, und seine Wände waren nicht aus Stein, sondern aus lehmverputzten Flechtwerkwänden erbaut. Das reetgedeckte Dach zog sich an drei Seiten fast bis zum Boden hinab, und mit Ausnahme eines einzigen Rauchabzuges, aus dem sich eine fast weiße Qualmwolke trotz des böigen Windes beinahe senkrecht in die Luft erhob, konnte Arri auch keine anderen Öffnungen erkennen und schon gar keine Gucklöcher oder Fenster.

Dafür war die Schmalseite des Gebäudes, auf die sie von der Höhe des Hügels hinabsehen konnte, umso beeindruckender. Hier gab es Fenster, deren Größe über die Entfernung hinweg schwer einzuschätzen war, die aber nahezu mannshoch sein mussten und eine gewaltige Tür flankierten, breit genug, um einen Ochsenkarren hindurchzulassen, und fast doppelt so hoch wie ein groß gewachsener Mann. Eine solche Tür (von den Fenstern gar nicht zu reden), dachte Arri, machte überhaupt keinen Sinn, denn schließlich war es der Sinn eines Hauses, Kälte und Wind draußen zu halten und die Wärme drinnen, was bei so absurd großen Löchern in den Wänden eigentlich unmöglich war. Aber das war lange nicht alles, was an diesem sonderbaren Haus nicht stimmte.

»Geh weiter«, sagte der Mann hinter ihr grob. »Der Hohepriester wartet auf dich, und er ist kein sehr geduldiger Mann.«

Sie folgte der Aufforderung, kam aber nun auch ohne zu trödeln nur noch langsam von der Stelle. Der Hang war abschüssiger, als es von oben den Anschein gehabt hatte, und der weiße Schimmer auf dem Gras schien wohl doch nicht nur Raureif zu sein, denn sie hatte mehr als einmal das Gefühl, um ein Haar auszurutschen, sodass sie sich schließlich nur noch mit vorsichtigen kleinen Schritten bewegte und die Arme seitlich ausstreckte, um nicht zu stürzen. Als sie schließlich die grasbedeckte Ebene erreicht hatten, konnte Arri noch keine Worte verstehen, aber sie hörte das typische, an- und abschwellende Raunen einer großen Menschenmenge, die vergebens versucht, völlige Ruhe zu bewahren, dann und wann unterbrochen vom scharfen Tonfall eines Befehles, der aber allenfalls für einige wenige Atemzüge tatsächlich für Ruhe sorgte.

Ihr Herz begann zu klopfen, als sie sich der gewaltigen Tür in der Schmalseite des Langhauses näherten, und obwohl sie nicht zu ihnen zurücksah, spürte sie doch, dass auch ihre Begleiter in zunehmendem Maße angespannter wurden. Aber wieso? Sicherlich war Nor ein mächtiger und gefürchteter Herrscher, bei dessen bloßem Anblick auch die Herzen noch viel tapfererer Krieger schneller zu schlagen begannen; aber diese beiden lebten hier und sollten eigentlich hinlänglich Gelegenheit gehabt haben, sich an seine Nähe zu gewöhnen. Wenn sie trotzdem so sichtlich beunruhigt waren, wenn sie zu ihm gingen, dann sagte das Arri eine Menge über Nor und die Art, auf die er seine Untertanen behandelte. Genau genommen sogar eine Menge mehr, als sie eigentlich wissen wollte.

Erst jetzt fiel Arri auf, dass dieses gewaltige Langhaus nicht ebenerdig erbaut worden war, sondern auf einem wahren Wald halb mannshoher, armdicker Stützen stand, sodass Ungeziefer und die Kälte des Bodens im Winter es schwer hatten, in sein Inneres zu kriechen. Vier breite, aus nur flüchtig gehauenen Baumstämmen gefertigte Stufen führten zu der gewaltigen Tür hoch, die aus der Nähe betrachtet noch viel größer war, als Arri ohnehin geglaubt hatte. Auch die beiden Fenster rechts und links davon hatten eigentlich die Größe und Abmessung von Türen, nur, dass sie nicht direkt auf dem Boden angebracht waren, und nun sah Arri noch etwas, das ihr Unbehagen weiter schürte: Von weitem hatte es den Anschein gehabt, als würde die Tür von zwei wie erstarrt dastehenden, hoch gewachsenen Kriegern flankiert, die sich schwer auf ihre Speere stützten und runde, bronzene Schilde trugen, aber jetzt erkannte sie, warum die Männer vollkommen reglos dastanden.

Sie konnten sich gar nicht bewegen, denn es waren gar keine Männer, sondern lebensgroße, kunstvoll aus Holz geschnitzte Statuen, die mit echten Waffen, echter Kleidung und wie Arri mit einem Anflug kalten Entsetzens feststellte, echten Haarschöpfen ausgestattet waren, deren unglückselige Besitzer ihre Haarpracht sicherlich nicht freiwillig hergegeben hatten. Ihre Gesichter waren nur grob geschnitzt, doch der unbehagliche Blick, mit dem Arri sie aus den Augenwinkeln musterte, machte ihr fast sofort klar, dass es sich dabei nicht um Nachlässigkeit, sondern ganz im Gegenteil um Absicht handelte, denn die grob angedeuteten Züge und starren Augen verliehen diesen stummen Wächtern etwas ungemein Bedrohliches.

Und noch etwas geschah, das ihr ebenso unerklärlich blieb wie vieles von dem, was sie an diesem Morgen schon gesehen hatte, ihr aber dennoch einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ: Genau wie beim Anblick des versteinerten Dorfes vorhin hatte sie das Gefühl, etwas zu betrachten, das nicht hierher gehörte, sondern Teil einer Welt war, die es hier niemals gegeben hatte. Obwohl diese beiden Statuen ganz sicher aus nichts anderem als Holz und Stoff und Leder und Farbe bestanden, schien von ihnen doch zugleich etwas Wildes auszugehen, etwas, das einen erwarten ließ, sie im nächsten Augenblick aus ihrer ewigen Starre erwachen zu sehen, damit sie sich auf den frechen Eindringling stürzen konnten, der es wagte, die Ruhe dieses heiligen Ortes zu stören.

So abwegig dieser Gedanke auch sein mochte, es gelang Arri nicht, ihn vollends in die unaufgeräumte Ecke ihres Bewusstseins zu verbannen, die für Unsinn, Ammenmärchen und Geschichten von jener Art vorbehalten war, mit denen man im Allgemeinen kleine Kinder erschreckte; oder auch schon einmal größere, auch wenn diese das niemals zuzugeben pflegten. So stark war der unheimliche Eindruck, von diesen leblosen, geschnitzten Augen angestarrt zu werden, dass sie ihren Schritt spürbar verlangsamte, während sie zwischen den beiden stummen Wächtern hindurchging und über die Schulter hinweg fragte: »Was bedeuten diese Figuren?«

»Das weiß niemand«, antwortete der Mann, der schon mehrmals mit ihr gesprochen hatte. »Sicher nichts Gutes. Nor hat sie von einer seiner Reisen mitgebracht. Und jetzt geh schneller und schweig still!«

Arri gehorchte beiden Befehlen; sie hatte es plötzlich sehr eilig, dem Blick dieser toten Augen zu entrinnen und durch die Tür zu eilen. Anders als in Targans Haus gab es hier keine Fenster, mit Ausnahmen der beiden Öffnungen rechts und links der Tür, sodass alles, was weiter als wenige Schritte jenseits des Eingangs lag, nur vom Schein einiger weniger, dafür aber heftig rußender Fackeln erhellt wurde, die längst der Wände brannten. Arri konnte auch jetzt kaum mehr als Schatten erkennen, doch selbst wenn sie vollkommen blind gewesen wäre, hätte sie wahrscheinlich gespürt, dass sich eine große Menschenmenge hier drinnen versammelt hatte. Dabei war das Raunen und Stimmengemurmel schlagartig und fast vollkommen verstummt, kaum dass sie eingetreten war, und obwohl Arri nur sehr wenige der zahlreichen Gesichter erkennen konnte, die sich in ihre Richtung gedreht hatten, spürte sie doch, dass sie jede einzelne Person hier drinnen anstarrte.

Es war kein schönes Gefühl.

Schlimmer noch als das Gefühl jedoch, mit zu vielen Menschen in einem viel zu kleinen Raum eingepfercht zu sein, war der Gestank, der ihr entgegenschlug. Es roch nach Rauch und Schweiß, nach Vieh und Mist und trockenem Mehl und nassem Stroh, aber auch nach Abfällen und schlecht gewordenem Obst, und ganz leicht auch nach etwas, das Arri sehr wohl im allerersten Moment erkannte, aber schlichtweg nicht wollte: nach Blut. Ihr Herz schlug plötzlich noch schneller, und dann, ohne Warnung und von einem Atemzug zum anderen, war die Angst da.

Trotz allem hatte sie bisher keine wirkliche Angst verspürt. Furcht, ja. Unbehagen und Unsicherheit und selbstverständlich Angst vor dem, was sie hier erwarten mochte, aber es war eine sonderbar verstandesmäßige Art von Furcht gewesen, die sie trotz allem nicht wirklich berührte. Sie hatte ihren Verstand in Aufruhr versetzt und - selbstverständlich - ihre Vorstellungskraft.

Nun aber nahm etwas ganz anderes von ihr Besitz, etwas Uraltes und Machtvolles, das wie eine eisige Klaue nach ihrer Seele griff, ihren Magen zusammenpresste und ihr die Luft abschnürte. Plötzlich begannen ihre Knie zu zittern, sodass es ihr immer schwerer fiel, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und ihr Herz schien mit einem Mal irgendwo ganz oben in ihrer Kehle zu klopfen und ihr zusätzlich den Atem zu nehmen. Ein Gefühl von... Endgültigkeit streifte sie, das sie so noch niemals gespürt hatte, nicht einmal in jenen schrecklichen Momenten in der Mine, als sie felsenfest davon überzeugt gewesen war, sterben zu müssen. Ihr Leben, das bisher wie ein zwar unbekannter, aber endlos langer Pfad vor ihr gelegen hatte, schien ihr mit einem Male endlich; der Weg, hinter dessen Biegungen so viele unbekannte Dinge, manche davon vielleicht erschreckend, manche schlimm, andere aber auch wunderbar, warten mochten, führte nicht weiter. Irgendetwas sagte ihr mit unerschütterlicher Gewissheit, dass er endete, nicht irgendwann und irgendwo, sondern heute, jetzt und hier, in diesem Haus.

Der Mann hinter ihr versetzte ihr einen sachten Stoß zwischen die Schulterblätter, als ihre Schritte immer langsamer wurden und sie stehen zu bleiben drohte. Arri stolperte, obwohl die Berührung nicht einmal kräftig genug gewesen war, um sie tatsächlich aus dem Gleichgewicht zu bringen, sondern allenfalls so etwas wie eine Warnung gewesen war. Sie ging wieder schneller und versuchte gleichzeitig, die unsinnige Angst niederzukämpfen, die in immer stärkerem Maße von ihren Gedanken Besitz ergreifen wollte.

Natürlich erreichte sie damit eher das Gegenteil. Ihr Herz klopfte noch heftiger, und ihre Knie zitterten jetzt so stark, dass es sie tatsächlich alle Mühe kostete, sich noch auf den Beinen zu halten. Sie wünschte sich, ihre Mutter wäre hier, um diesem Albtraum ein Ende zu machen.

Flankiert von den beiden Männern, die nun so dicht zu ihr aufgeschlossen hatten, dass Arri ihre Nähe geradezu körperlich spüren konnte, näherte sie sich dem hinteren Teil des großen Raumes, der tatsächlich das gesamte Innere des Langhauses zu beanspruchen schien. So riesig das Gebäude auch war, wirkte es im Moment trotzdem beengt, denn es quoll geradezu über vor Menschen. Nor musste all seine Untertanen zusammengerufen haben, damit sie an dieser Unterredung teilnehmen konnten, und auch diese Erkenntnis trug nicht unbedingt zu Arris Beruhigung bei. Es waren Dutzende - Männer, Frauen, Kinder, Greise, aber auch Krieger und Mütter, die ihre Säuglinge auf den Armen trugen, und was Arri in den Gesichtern der Menschen las, die nur widerwillig vor ihr und ihren Begleitern zur Seite wichen, das war überall und fast ausnahmslos dasselbe: Eine Mischung aus Neugier und jener Scheu, mit der man vielleicht ein exotisches und gefährliches Tier betrachten mochte, allerdings eines, das sicher in einem Käfig eingesperrt war und somit keine Gefahr mehr darstellen konnte, aber auch etwas wie eine boshafte Schadenfreude, Häme und Zorn, und nur zu oft blanken Hass. Was hatte Nor über sie und ihre Mutter erzählt?

Und schließlich stand sie Nor selbst gegenüber. Einer der beiden Männer hinter ihr legte ihr die Hand auf die Schulter, damit sie stehen blieb, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Arri erstarrte mitten in der Bewegung, als sie sich dem Herrn von Goseg gegenüber sah, und für einen Atemzug spülten der aufflammende Zorn und die Wut ihre Furcht einfach davon. Nor - sie erkannte auch sein Gesicht nur schemenhaft, denn auch der hintere Teil des Hauses war unzureichend beleuchtet, was Arri mittlerweile aber nicht mehr für einen Zufall hielt - saß nicht etwa auf dem Boden, wie sie erwartet hatte, sondern hatte auf einem hochlehnigen Stuhl mit geflochtenen Arm- und Rückenlehnen Platz genommen, den Arri nur zu gut kannte.

Es war der Korbstuhl ihrer Mutter. Offensichtlich hatte er ihn aus ihrem Haus bringen und hier aufstellen lassen. Es war nur ein Möbelstück, kostbar vielleicht, aber nichts gegen das, worum es hier wirklich ging, und doch versetzte der Anblick Arri für einen Moment in einen solch rasenden Zorn, dass sie sich am liebsten auf den greisen Schamanen gestürzt und mit Fäusten auf ihn eingeschlagen hätte.

Gottlob verrauchte ihr Zorn fast ebenso schnell, wie er aufgelodert war, sonst hätte sie möglicherweise wirklich etwas sehr Dummes getan; wobei sie mehr und mehr das ebenso ungute wie sichere Gefühl hatte, dass es absolut keine Rolle spielte, was sie tat oder sagte - oder auch nicht. Sie lenkte sich selbst damit ab, dass sie den Blick von dem Stuhl losriss, auf dem der Hohepriester saß, und ihre Aufmerksamkeit stattdessen dem Rest der regelrechten Versammlung zuwandte, die sie hier erwartete.

Rechts und links von Nors gestohlenem Thron saßen seine beiden jüngeren Frauen, keine davon auch nur einen Tag älter als Arri und beide ausgesprochen hübsch, wahre Schönheiten mit glatten, runden Gesichtern und kräftigen Gliedern und Leibern, denen man ansah, wie wohlgenährt sie waren. Keines dieser Mädchen wusste wahrscheinlich auch nur, was das Wort Hunger bedeutete (zumindest, seit Nor sie zu sich genommen hatte), doch Arri hatte auf dem Weg hierher in genug schmale, ausgezehrte Gesichter geblickt, um zu wissen, woher all das gute und reichhaltige Essen stammte, dem sie ihr gesundes Äußeres verdankten, und obwohl es wahrscheinlich der unpassendste aller Momente überhaupt war, erschienen in diesem Augenblick von ihrem inneren Auge ein paar sehr drastische Bilder, mit denen ihre Phantasie sich auszumalen versuchte, welche Gegenleistung dieser grausame alte Mann dafür verlangte; und sie fragte sich, ob ein stets voller Magen und der Platz an einem Feuer, das niemals erlosch, diesen Preis wirklich wert waren.

Fast als hätte sie ihre Gedanken gelesen, und vielleicht waren sie ja auch deutlich auf ihrem Gesicht zu erkennen, hob eine der jungen Frauen den Kopf und sah sie an. In ihren Augen blitzte etwas wie Trotz auf, dann blanker Zorn, den Arri sich zwar nicht erklären, den sie ebenso wenig aber auch wegleugnen konnte.

Hastig riss sie den Blick vom Gesicht der jungen Frau los und wollte einen halben Schritt zurückweichen, wurde aber von den beiden hinter ihr stehenden Männern daran gehindert. Obwohl sie nicht einmal eine Bewegung gemacht hatte, um Widerstand zu leisten oder gar wegzulaufen, ergriffen die Krieger sie nun an den Oberarmen und hielten sie fest.

»Arianrhod«, begann Nor. Der ungewohnte Name kam ihm nur schwer über die Lippen, und er sprach ihn noch dazu falsch aus, aber Arri war trotzdem beunruhigt. Woher kannte Nor ihren wirklichen Namen? Von ihrer Mutter ganz bestimmt nicht. Sie warf Rahn, der ein Stück links vom Priester und hinter ihm stand, einem ebenso fragenden wie vorwurfsvoll Blick zu, bekam aber nur ein angedeutetes Schulterzucken zur Antwort. Von mir nicht. Sie glaubte ihm.

»Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!«, sagte Nor scharf. Einer der Männer, die Arri hielten, verlieh seinem Befehl unaufgefordert Nachdruck, indem er den Druck auf ihren Oberarm so verstärkte, dass es wehtat, und Arri wandte sich hastig wieder dem Schamanen zu.

Nors tief in den Höhlen liegende Augen loderten vor Zorn, und auf seinem von Falten zerfurchten, vollkommen haarlosen Gesicht zeichnete sich ein noch viel größerer, brodelnder Zorn ab, eine Wut, die ganz gewiss nicht nur aus seinem Ärger darüber stammte, dass sie unverschämt genug war, nicht nur ihn anzusehen und bei seinem bloßen Anblick vor Ehrfurcht auf die Knie zu sinken. Erst jetzt, als Arri ihm direkt ins Gesicht sah, fiel ihr auf, wie sehr sich der Schamane seit ihrem letzten Treffen verändert hatte. In dem schwachen Licht und dem verwirrenden Spiel von Helligkeit und Schatten, das die Fackeln erzeugten, wirkte er deutlich gealtert, das jedoch nicht auf die Art, die man im Allgemeinen mit Begriffen wie Weisheit, Erfahrung oder gar Güte in Verbindung brachte, sondern ganz im Gegenteil auf eine harte, grausame Art.

Widerwillig musste sich Arri eingestehen, dass Nor tatsächlich Macht ausstrahlte, wenn auch jene Art von Macht, die aus Furcht und dem Wissen erwuchs, wozu dieser Mann fähig war, und nicht aus Ehrfurcht oder gar Vertrauen. Er trug auch jetzt wieder seinen mit bunten Federn und Fell geschmückten Umhang, der aber trotz der hier drinnen herrschenden Kälte offen stand, sodass man seine magere Brust sehen konnte. Um den Hals trug er eine Kette aus Bärenklauen und -fängen und den Hauern von Wildschweinen, die bei jedem anderen Mann seines unübersehbaren Alters einfach nur angeberisch gewirkt hätte, in Verbindung mit Nors trotz allem immer noch beeindruckender Gestalt aber nicht. Niemand wusste genau, wie alt Nor war, doch er wirkte selbst im Sitzen noch einschüchternd, und auch Arri, die nun wirklich keinen Grund hatte, gut über ihn zu denken, zweifelte nicht daran, dass er all diese Tiere, deren Zähne und Klauen er nun als Trophäen um den Hals trug, selbst erlegt hatte, als er noch jünger gewesen war.

Auch jetzt hatte er wieder seinen Stock bei sich, einen mannlangen Stab ganz ähnlich dem, den auch Sarn als Zeichen seiner Würde mit sich zu führen pflegte, den er aber nun fast nachlässig gegen die hohe Lehne des Stuhles gelegt hatte. Zusammen mit dem - ob nun gestohlenen oder nicht - Thronsessel, seinem barbarischen Kopfschmuck und der unnahbaren Härte in seinen Augen verlieh er der schmalen Gestalt des Schamanen eine Ausstrahlung von Macht, die Arri beinahe körperlich spüren konnte. Das Wort dieses Mannes war Gesetz, und schon die Bewegung seines kleinen Fingers reichte aus, um über Leben und Tod zu entscheiden. Und sie bildete sich ein, sich ihm widersetzen zu können? Lächerlich!

Arri spürte gerade noch im letzten Moment, wie nahe sie daran war, nun ebenfalls Nors Ausstrahlung zu erliegen, und gemahnte sich in Gedanken zur Vorsicht. Dass sie im Grunde sehr genau wusste, dass Nor diese Ausstrahlung bewusst aufgebaut hatte und mit großer Sorgfalt hütete und pflegte und dass sich hinter dieser Ausstrahlung vermeintlicher Macht und Allwissenheit nichts anderes als ein boshafter, gieriger alter Mann verbarg, änderte nichts daran, dass sie ihre Wirkung tat. Sie musste auf der Hut sein. Vielleicht hatte sie noch eine ganz geringe Aussicht, mit dem Leben davonzukommen, aber wenn, dann nur, wenn sie einen klaren Kopf behielt.

Arri straffte sich, reckte trotzig das Kinn vor und sah dem Schamanen so fest in die Augen, wie sie nur konnte. Der Zorn in Nors Blick loderte noch heller und verschwand dann, um einem Ausdruck kalter Verachtung Platz zu machen. Trotzdem hatte der winzige Moment gereicht, Arri endgültig klarzumachen, auf welch dünnem Eis sie sich bewegte. Sie wusste nicht genau, was Nor von ihr wollte. Sie wusste ja nicht einmal genau, warum sie überhaupt hier war, doch allein die große Anzahl von Menschen, die Nor zusammengerufen hatte, und die Krieger, die sie hielten, machten ihr klar, dass er nicht einfach nur mit ihr reden wollte. Viel mehr begriff sie plötzlich, dass sie Teil eines sorgsam vorbereiteten und für Nor zweifellos sehr wichtigen Rituals war, in dem sie eine ebenso wichtige Rolle spielte.

»Du sollst mich ansehen, wenn ich mit dir rede, du unverschämtes Kind!«, fuhr Nor sie an. Er machte eine wütende Geste zu den Männern hinter ihr. »Lehrt sie Gehorsam!«

Arri hatte ihn angesehen, und zwar so direkt, wie es überhaupt ging, und so konnte sie Nor jetzt einfach nur verwirrt anstarren und sich fragen, was er überhaupt von ihr wollte, doch in diesem Moment traf sie bereits ein harter Schlag in den Rücken, der sie nach vorn stolpern und auf die Knie fallen ließ. Irgendwie gelang es ihr, ihren Sturz abzufangen, sodass sie zumindest nicht mit dem Gesicht im Dreck landete, aber nun lag sie vor Nor auf den Knien, und wahrscheinlich war es ganz genau das, was er gewollt hatte. Ringsum wurde ein beifälliges Raunen laut, und die jüngere von Nors Frauen, die sie gerade schon so feindselig angeblickt hatte, verzog die Lippen zu einem schadenfroh Grinsen, bei dem sie zwei Reihen schmutziger und trotz ihrer Jugend bereits halb verfaulter Zähne offenbarte.

»Das wird dich vielleicht ein bisschen Respekt lehren«, fuhr der Schamane fort. »Aber was erwarte ich von einer wie dir?«

Arri schluckte mit Mühe die Antwort herunter, die ihr dazu auf den Lippen lag, aber sie spürte selbst, dass sie ihren Blick nicht annähernd so gut unter Kontrolle hatte wie ihr Gesicht. Das Mädchen neben Nor runzelte die Stirn, und auch die schmalen Finger des alten Schamanen schlossen sich einen Moment so fest um die Lehnen des Sessels, als wollte er sie zerbrechen. Dann aber entspannte er sich wieder und zwang stattdessen ein überhebliches Lächeln auf seine Lippen. Er würde ihr die Genugtuung nicht bieten, ihn hier und vor all seinen Untertanen wütend gemacht zu haben.

»Du weißt, warum du hier bist?«, fuhr er nach einer Weile fort. Da Arri nicht das Gefühl hatte, dass er tatsächlich eine Antwort auf diese Frage erwartete und ihm auch keinen Anlass geben wollte, sie erneut züchtigen zu lassen, sah sie ihn nur weiter fragend an. Nor verzichtete darauf, dieses Schweigen abermals zum Anlass zu nehmen, sie schlagen zu lassen, und fuhr fort: »Eigentlich wäre es deine Mutter, die hier vor uns stehen und sich für ihre Taten verantworten müsste. Aber da sie es vorgezogen hat, feige davonzulaufen und ihr einziges Kind seinem Schicksal zu überlassen, wirst du an ihrer Stelle sein.«

Arri erhob sich mühsam in eine zwar kniende, aber dennoch halbwegs aufrechte Haltung, wagte es aber nicht, gänzlich aufzustehen. Auf einen Wink Nors hin zerrte sie einer der beiden Männer grob in die Höhe. Sie stand kaum auf ihren Füßen, da ergriff der andere auch schon ihren anderen Oberarm und hielt ihn so derb fest, dass sie die Zähne zusammenbeißen musste, um einen Schmerzenslaut zu unterdrücken. Allem Anschein nach war einfach alles, was sie hier sagte oder tat, falsch. Sie tröstete sich damit, dass das weniger an ihr lag, als vielmehr daran, dass Nor das eben so wollte.

»Ich verstehe nicht, was Ihr überhaupt von mir wollt«, sagte sie, zwar laut, aber mit viel weniger fester Stimme, als sie beabsichtigt hatte. »Warum bin ich hier? Was werft Ihr meiner Mutter vor?«

Nor riss die Augen auf und ächzte, als hätte sie keine harmlose Frage gestellt, sondern ihn auf die unverschämteste Art beleidigt, die man sich nur denken konnte, und auch in der Menge hinter ihr wurde ein unwilliges Murren und Raunen laut, und ein paar Rufe, deren genaue Bedeutung sie lieber nicht verstand. Selbst Rahn, der hinter Nors Thron stand und sich bisher nach Kräften bemüht hatte, so zu tun, als wäre sie gar nicht da, fuhr zusammen und starrte sie erschrocken an.

»Was deine Mutter getan hat?«, ächzte Nor. Er beugte sich in seinem gestohlenen Stuhl vor und starrte sie aus plötzlich schmal zusammengekniffenen Augen an. »Was deine Mutter getan hat, fragst du?«, keuchte er noch einmal. »Bist du tatsächlich so dumm, wie du zu sein vorgibst, oder einfach nur unverschämt?«

Arri hütete sich, irgendetwas darauf zu antworten oder auch nur eine entsprechende Miene zu verziehen, die dazu angetan gewesen wäre, Nors Unmut anzustacheln. Es war ohnehin gleich, was sie sagte oder tat.

»Was deine Mutter getan hat, hat die Götter erzürnt, und wir sind hier zusammengekommen, um ihre Vergebung und ihre Gnade zu erflehen und über deine Mutter und dich Gericht zu sitzen.«

Arri musste sich auf die Lippen beißen, um darauf nicht die passende Antwort zu geben. Sie war sicher, dass die Hälfte der Männer und Frauen, die hier zusammengekommen waren, nicht einmal verstand, wovon der Schamane überhaupt sprach und mehr als die Hälfte der verbliebenen Hälfte nicht wirklich daran Anteil nahm.

»Aber gut«, fuhr Nor fort, »wenn du es möchtest, dann will ich dir gern antworten. Niemand soll mir nachsagen, ich wäre ungerecht oder hätte einer jungen Frau nicht die Gelegenheit gegeben, sich zu verteidigen.« Er legte eine kurze Pause ein, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, dann ließ er sich wieder zurücksinken und löste die rechte Hand von der Sessellehne, um sie in einer ebenso unbewussten wie Besitz ergreifenden Geste auf den Kopf des Mädchens zu senken, das neben ihm auf dem Boden hockte. Als er weitersprach, klang seine Stimme plötzlich ruhiger, aber auch sehr viel lauter, als wolle er sicher sein, dass auch der Letzte in dem großen Haus seine Worte hörte.

»Du hast gefragt, was wir deiner Mutter vorwerfen. Ich will es dir sagen. Vor langer Zeit, als du noch ein kleines Kind warst, ist sie in unser Land gekommen. Sie war allein und hilflos, ohne einen Mann, ohne ein Ziel, ohne ein Volk oder Freunde. Sie hat uns um Hilfe gebeten, und wir haben ihr Gastfreundschaft und Schutz gewährt, wie es seit Urzeiten unser Brauch ist. Wir haben ihr erlaubt, sich bei uns niederzulassen und ein Haus zu bauen. Wir haben ihr zu essen gegeben, unseren Schutz und unser Land, und obwohl sie anderen Göttern huldigte als wir, haben wir nicht einmal verlangt, dass sie ihnen abschwört. Aber vielleicht war das ein Fehler, denn der Einfluss dieser Götter wurde stärker, mit jedem Sommer, den sie bei uns war.«

Arri begriff sehr wohl, worauf er hinauswollte, aber sie war im ersten Moment dennoch überrascht. Obwohl sie Nor ebenso verachtete, wie sie ihn hasste, beging sie doch nicht den Fehler, ihn zu unterschätzen. Nor mochte gierig und grausam sein, aber er war nicht dumm. Umso weniger verstand sie nun, warum er es ihr so leicht machte. Die innere Stimme, die sie schon so oft vergeblich zu warnen versucht hatte, meldete sich auch jetzt wieder zu Wort, aber Arri hörte nun weniger denn je auf sie, denn wenn ihr eines klar war, dann, dass Nor soeben ein schwerer Fehler unterlaufen war - und dass das vielleicht ihre einzige Gelegenheit war, noch einigermaßen unbeschadet aus dieser Geschichte herauszukommen.

Fast zu ihrer eigenen Überraschung hörte sie sich sagen: »Ihr meint, ungefähr im gleichen Maße, in dem eure Felder bessere Erträge abgeworfen haben, eure Jäger mehr Wild nach Hause gebracht haben und weniger von euren Frauen bei der Geburt ihrer Kinder gestorben sind, und Krankheiten und Wunden weniger Opfer gefordert haben?« Sie sah Nor herausfordernd an, und sie konnte das triumphierende Lächeln, das sich ohne ihr Zutun auf ihrem Gesicht ausbreitete, selbst spüren. »War es ungefähr das, was Ihr sagen wolltet, Nor?«

Rahns Augen weiteten sich, und der Ausdruck darin war nun pures Entsetzen. Auch einer der beiden Männer hinter ihr sog erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein, und den Ausdruck auf Nors Zügen vermochte sie nicht einmal mehr zu deuten. Aber plötzlich hatte sie das sehr ungute Gefühl, dass nicht Nor es gewesen war, der gerade einen schrecklichen Fehler begangen hatte, denn auch seine Augen leuchteten auf, aber es waren nicht Wut oder Bestürzung, die sie darin las, sondern... Triumph?

Nor antwortete nicht sofort, sondern sah sie einen Moment lang nachdenklich an, dann schüttelte er den Kopf, seufzte hörbar und fragte in unerwartet sanftem Ton: »Du armes Ding. Ist es das, was deine Mutter dir erzählt hat?«

Nein, aber das, was ich mit eigenen Augen gesehen habe, dachte Arri, aber zumindest diesmal war sie klug genug, ihre Gedanken für sich zu behalten.

Nors Hand streichelte den Kopf des schwarzhaarigen Mädchens neben sich, aber er tat es auf eine Art, die Arri an einen Hund denken ließ, den er in Gedanken tätschelte; und den er auch ohne die geringsten Gewissensbisse am Abend verspeisen würde. »Ich will dir nichts vormachen, Arianrhod«, fuhr er fort. »Ich bin kein Mann, der nicht ein offenes Ohr für die Nöte der Menschen hätte, die in meinem Schutz leben. Es gibt ein paar in eurem Dorf - nicht viele, aber einige doch -, die zu deinen Gunsten gesprochen haben. Anfangs wollte ich ihnen nicht glauben, denn was ich im Zwiegespräch mit den Göttern erfahren habe, war etwas anderes, und was meine Augen gesehen haben, auch. Dennoch frage ich mich, ob sie nicht vielleicht Recht hatten.«

Recht womit?, fragte sich Arri. Sie warf einen fast Hilfe suchenden Blick in Rahns Richtung, aber der vermeintliche Fischer sah starr an ihr vorbei ins Leere und tat wiederum so, als wäre sie gar nicht da.

»Manche von denen, die dich verteidigen«, fuhr Nor fort, »sagen, dass du nichts von den Schandtaten und der schwarzen Magie deine Mutter weißt. Es fällt mir schwer, das zu glauben, aber immerhin warst du bis vor kurzem noch ein Kind, und jeder weiß, wie leicht es ist, ein Kind genau das glauben zu machen, was man will.« Er nahm die Hand vom Kopf des Mädchens und beugte sich wieder leicht vor. »Du glaubst also wirklich, deine Mutter hätte in all der Zeit, in der sie bei uns gelebt hat, nur Gutes bewirkt?« Er beantwortete seine eigene Frage mit einem Kopfschütteln und einem tiefen, bedauernden Seufzen. »Dann musst du wirklich sehr gutgläubig sein. Oder sehr dumm.«

»Aber... wieso denn?«, murmelte Arri. Sie hatte doch nichts anderes gesagt als das, was jedermann hier wusste und mit eigenen Augen gesehen hatte! »Aber Ihr habt doch...«, begann sie.

Nor unterbrach sie mit einer herrischen Geste, die in krassem Gegensatz zu seinem eben noch so sanften Tonfall stand. Als er weitersprach, hatte sich daran allerdings nichts geändert; ganz im Gegenteil war plötzlich ein verständnisvoller, beinahe warmer Unterton darin, als spräche er mit einem kleinen Kind, das zwar einen schweren Fehler begangen hatte, aber aus Unwissenheit, die man ihm nicht wirklich vorhalten konnte.

»Es ist wahr, mein Kind«, sagte er. »Manches hat sich scheinbar zum Guten gewendet, seit deine Mutter bei uns ist. Ich will gern zugeben, dass auch ich der Versuchung erlegen bin, die deine Mutter gebracht hat. Ja, es waren Gaben, wertvolle Gaben, kostbarer als alles, was wir jemals zuvor bekommen haben... aber nicht jeder, der Gaben bringt, ist deswegen auch ein Freund.« Er schüttelte heftig den Kopf, und seine Stimme blieb so sanft, wie sie war, wurde aber zugleich lauter und auf unangenehme Art belehrend. »Es sind die Gaben fremder Götter, die deine Mutter uns gebracht hat, Arianrhod. Gaben, die keinem anderen Zweck dienten, als sich in unsere Herzen zu schleichen und den Glauben an unsere Götter, die uns so lange und so wohl bewacht und beschützt haben, zu ersticken. Sie waren süß, doch auch das Gift ist manchmal süß.«

Er beugte sich wieder vor und stützte sich auf die Stuhllehnen, als wolle er sich im nächsten Moment abstoßen, um sich wie ein angreifender Raubvogel auf sie zu stürzen. »Ja, es hat lange gedauert. Viel zu lange! Aber nun habe ich die Wahrheit erkannt. Die Götter haben mich erleuchtet, und noch ist es nicht zu spät, das Unheil von unserem Volk abzuwenden!«

»Aber Ihr... Ihr... irrt Euch«, murmelte Arri hilflos. »Meine Mutter hat niemals...«

»Niemals - was?«, unterbrach sie Nor. Seine Augen wurden schmal. »Niemals etwas getan, was unserem Volk geschadet hätte?«

»Nein!«, sagte Arri heftig. »Sie hat immer nur Gutes getan! Sie hätte nie auch nur einem Menschen geschadet!«

Sie hatte viel lauter gesprochen, als sie beabsichtigt hatte, mit Sicherheit lauter, als gut gewesen war; eigentlich hatte sie schon beinahe geschrien. Aber es war seltsam: Allein mit ihrer Antwort hatte sie Nor jeden Grund geliefert, den er sich nur wünschen konnte, sie zu bestrafen oder dieses lächerliche Verhör, dessen Sinn ihr mit jedem Augenblick weniger klar war, zu beenden. Doch stattdessen ließ er sich wieder gegen die Lehne des ächzenden Stuhls sinken und sah sie für drei, vier, fünf endlose schwere Atemzüge lang an, und er wirkte einfach nur... zufrieden?

Auch wenn Arri sich beim besten Willen nicht den geringsten Grund dafür denken konnte, so war sie doch plötzlich sicher, dass sie gerade ganz genau das gesagt hatte, was er von ihr hatte hören wollen. Sie war in eine Falle getappt, und doch erkannte sie sie nicht einmal jetzt, wo sie sich bereits unzweifelhaft in ihr verfangen hatte.

»Du verteidigst deine Mutter.« Nor klang immer noch überaus zufrieden. »Nun, das ist dein gutes Recht, und nicht weniger, als jede Mutter von ihrem Kind erwarten darf. Ich kann und will dir das nicht zum Vorwurf machen.«

Arri warf erneut einen fast verzweifelten Blick in Rahns Richtung, und obwohl er weiterhin starr ins Leere sah, war doch nicht zu übersehen, dass er ihren Blick spürte und sich immer unwohler darunter fühlte. Warum half er ihr nicht? Warum kam nicht endlich ihre Mutter, um sie zu retten, und warum hörte dieser Albtraum nicht endlich auf?

»Du glaubst also, deine Mutter hätte niemals etwas getan, um unserem Volk zu schaden?«, fuhr Nor in plötzlich lauerndem Ton fort. »Du glaubst wirklich, alles was sie getan hätte, wäre aus reiner Selbstlosigkeit geschehen, nur um den Menschen in eurem Dorf oder auch hier bei uns zu helfen?«

»Ja!«, antwortete Arri heftig.

»Dann musst du deine Mutter wirklich sehr lieben«, antwortete Nor, »oder sehr unbedarft sein.« Er hob die Hand. »Bringt Sarn und die Männer aus ihrem Dorf hierher.«

Rahn verschwand so schnell, als hätte er sich in Luft aufgelöst, und Arris Verwirrung stieg ins Grenzenlose. Warum machte sich Nor, der Hohepriester von Goseg und Herr über Leben und Tod, eine solche Mühe, um ihr die Schuld an etwas nachzuweisen, von dem sie beide wussten, dass es der blanke Unsinn war? Er hatte es nicht nötig, ihr irgendetwas zu beweisen - ihr oder sonst jemandem. Nor war der unumschränkte Herrscher über Goseg und jeden, der unter seinem Schutz stand. Er brauchte keinen Grund, um ihr anzutun, was immer er wollte!

Sie kam sich immer hilfloser vor, und was vielleicht das Allerschlimmste war: Sie hatte plötzlich das Gefühl, dass jeder in diesem Haus wusste, was das alles zu bedeuten hatte - nur sie nicht.

»Warum bin ich hier?«, wandte sie sich - unaufgefordert, was sichtlich Nors Missfallen erregte - an den Priester. Seine Antwort kam denn auch grob und ruppig und begleitet von einer ärgerlichen Geste. »Gedulde dich nur noch einen Augenblick. Vielleicht wirst du dann erkennen, wer deine wirklichen Freunde sind, Kind.«

Arri biss sich auf die Unterlippe, um sich die Antwort zu verkneifen, die ihr auf der Zunge lag. Freunde? Sie hatte hier keine Freunde. Bisher hatte sie, trotz allem, tief in sich gehofft, dass zumindest Rahn noch so etwas wie ihr Freund wäre, doch seit seinem Besuch in ihrem Gefängnis vor zwei Nächten war sie sich auch dessen nicht mehr sicher. Immerhin hatte er unumwunden zugegeben, dass Nor ihn geschickt hatte, um sie auszuspionieren. Es machte einen Verräter nicht unbedingt vertrauenswürdiger, wenn er zugab, ein Verräter zu sein.

Sie spürte, wie hinter ihr Unruhe aufkam, und warf einen Blick über die Schulter zurück, in der Erwartung, Rahn und die Männer zu sehen, die er holen sollte. Tatsächlich bildete sich hinter ihnen eine schmale Gasse in der dicht an dicht stehenden Menge, doch es waren nicht der Fischer und Sarn, sondern ihre beiden Bewacher aus den ersten Tagen. Arri fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, als sie den Ausdruck von mühsam zurückgehaltenem Triumph auf Jamus Gesicht erblickte. Wieder hatte sie das Gefühl, diesen Mann schon einmal zuvor gesehen zu haben, und wieder war sie sich nicht sicher, wo.

Vorsichtshalber wich sie zwei Schritt zur Seite, um die beiden Männer passieren zu lassen, denn nach allem, was sie mit Jamu erlebt hatte, war sie ziemlich sicher, dass er nicht zur Seite gehen, sondern die Gelegenheit ganz im Gegenteil nutzen würde, sie derb anzurempeln, doch ihr wurde schon bevor sie die Bewegung zu Ende gebracht hatte klar, dass sie schon wieder einen Fehler begangen hatte. In Jamus Augen blitzte es kurz und ebenso gehässig wie triumphierend auf, und Arri rief sich in Gedanken zur Ordnung. Hatte ihre Mutter ihr nicht oft genug erklärt, wie man sich in einer Lage wie dieser zu verhalten hatte? Sie durfte nicht das geringste Zeichen von Schwäche zeigen.

Nor winkte die beiden Krieger zu sich heran. Der, dessen Name Arri nicht kannte, blieb dennoch respektvoll drei oder vier Schritte vor ihm stehen, während Jamu weiterging und unmittelbar hinter Nors gestohlenem Thronsessel Aufstellung nahm. Sein Blick ließ Arri dabei die ganze Zeit nicht los, und was sie darin erkennen konnte, das ließ sie nur das Allerschlimmste befürchten.

»Du erinnerst dich an Jamu hier?«, begann der Schamane. Arri nickte, obwohl sie immer noch nicht sagen konnte woher, und Nor fuhr fort: »Als ich das letzte Mal in eurem Dorf war, um mit deiner Mutter zu reden, da habe ich Jamu mitgebracht, damit er dich zum Weibe nimmt.«

Arri konnte gerade noch ein Zusammenzucken unterdrücken. Natürlich. Der Krieger hatte Nor begleitet, als er bei ihrer Mutter aufgetaucht war, um Lea unter Druck zu setzen, und als sie, Arri, danach aus der Hütte nach unten gegangen war, hatte sie diesen grobschlächtigen Mann hinter dem Holunderbusch stehen sehen. Jetzt verstand sie auch den Grund für die abschätzenden Blicke, mit denen er sie damals gemustert hatte. »Warum sollte mich jemand wie Jamu zur Frau nehmen wollen?«, sagte sie verächtlich. »Es gibt doch hier sicherlich genug andere Weiber, die viel mehr seinem Geschmack entsprechen.«

In Jamus Augen blitzte es wütend auf, während Nor eigenartigerweise abermals zufrieden wirkte. »Eine Vermählung zwischen einem aus unserem Volk und dir wäre Beweis genug gewesen, dass deine Mutter es ehrlich meint«, antwortete er sanft. »An Jamus Seite wärst du eine der Unseren geworden, und sie damit auch.«

Sie, und die Frau dieses... dieses Viehs?, dachte Arri entsetzt. Sie hütete sich, auch nur eine entsprechende Bemerkung zu machen, doch sowohl Nor als auch Jamu mussten ihre Gedanken wohl überdeutlich auf ihrem Gesicht abgelesen haben.

»Du glaubst, deine Mutter hätte dir damit einen Gefallen getan, habe ich Recht?«, fuhr Nor fort und schüttelte heftig den Kopf, um seine eigene Frage zu beantworten. Hinter ihr wurde zustimmendes Murmeln und Raunen laut. »Du armes Kind. Du verstehst nicht, dass deine Mutter auch dich nur für ihre Zwecke benutzt und missbraucht hat. Sag, all diese fremden Götter, die deine Mutter verehrt - hat sie auch dich gelehrt, sie anzubeten? Welche Opfer musstest du ihnen bringen?«

»Keine!«, antwortete Arri wahrheitsgemäß.

»Götter, die den Menschen solche Gaben bringen, und sie erwarten keine Gegenleistung dafür?«, zweifelte Nor.

Es lag Arri auf der Zunge, ihm wahrheitsgemäß zu antworten, dass sie zu gar keinen Göttern betete, aber diesmal war die Stimme der Vernunft in ihrem Kopf ausnahmsweise einmal stark genug, sie im letzten Moment zurückzuhalten. Sie sagte gar nichts.

»Dann müssen es wahrhaft verschlagene und grausame Götter sein, denen deine Mutter dient«, fuhr Nor fort. Arri war ziemlich sicher, dass er das so oder so gesagt hätte, ganz gleich, was sie auf seine Frage geantwortet hätte. Wieder wurde hinter ihr zustimmendes Murmeln laut, das Nor aber diesmal nicht mit einer entsprechenden Geste zum Verstummen brachte. Ganz im Gegenteil schien er es zu genießen. »Sag, mein Kind - kommt dir diese Großzügigkeit und Milde nicht selbst ein wenig seltsam vor?«

Arri verbiss es sich, Nor zu sagen, dass das Einzige, was ihr hier seltsam vorkam, er war. Sie starrte ihn weiter einfach nur an. Nor wartete einen Moment lang vergebens darauf, dass sie etwas sagte, dann richtete er sich kerzengerade in seinem Stuhl auf und klatschte zweimal hintereinander in die Hände. Aus der Menge hinter Arri traten vier Männer, die bisher verborgen darin gestanden und zugehört hatten und bei denen es sich offensichtlich ebenfalls um Schamanen und Priester handelte, denn sie trugen die gleiche Art von Kleidung wie er und stützten sich auf ähnliche knorrige Stäbe, nur dass beides weit weniger beeindruckend und verziert war als die zeremonielle Tracht des Hohepriesters. Auch sie waren alt, mindestens einer von ihnen noch deutlich älter als Nor, denn er benutzte seinen Stock tatsächlich, um sich mühsam darauf gestützt fortzubewegen.

Als folgten sie einem genau abgesprochenen Bewegungsablauf (Arri war sicher, sie taten es!), ließen sie sich in einen lockeren Halbkreis mit untergeschlagenen Beinen vor Nor auf den Boden sinken, sodass sie nun zu Arri und ihren Bewachern hinaufsehen mussten. Kaum hatten die Priester Platz genommen, da begannen sie auch schon, einen monotonen, an- und abschwellenden Gesang anzustimmen, bei dem sie keine Worte zu gebrauchen schienen, sondern einfach nur - zumindest in Arris Ohren - sinnlose Laute ausstießen. Keiner der Männer sah sie direkt an, aber sie spürte dennoch, dass sie irgendwie plötzlich noch mehr im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit stand.

Nor ließ die vier Priester eine Weile gewähren, dann hob er gebieterisch die rechte Hand, woraufhin Jamu rasch nach dem Stock griff, der am Rücken des Stuhles lehnte, um ihm diesen zu reichen. Schwer darauf gestützt, stemmte sich Nor in die Höhe, und wie auf ein Stichwort hin tauchte nun auch Rahn wieder auf.

Er war nicht mehr allein, sondern erschien in Begleitung Sarns und zweier weiterer Männer, bei deren Anblick Arri erneut erschrocken zusammenfuhr. Sarn hatte sie erwartet; wen sonst hätte Nor aus dem Dorf hierher befehlen sollen, um alle Schandtaten und Verfehlungen ihrer Mutter aufzuzählen, wenn nicht ihren ärgsten Feind? Wen sie nicht erwartet hatte, das waren Kron und Achk. Der einarmige Jäger hatte den blinden Schmied an der Hand ergriffen und führte ihn, damit er nicht stolperte. Arri konnte Achk ansehen, wie konzentriert er lauschte, um sich ein Bild von dem zu machen, was um ihn herum vorging. Krons Mine hingegen war wie versteinert. Arri versuchte, seinen Blick einzufangen, was ihr aber nicht gelang. Er sah überallhin, nur nicht in ihre Richtung, und Arris Beunruhigung steigerte sich weiter und grenzte nun an nackte Panik.

Nor erwartete Rahn und seine Begleiter hoch aufgerichtet und mit unbewegter Miene. Als sie heran waren, trat er einen halben Schritt zurück und machte mit der freien Hand eine einladende Geste in Richtung des Stuhles, auf dem er bisher gesessen hatte. »Nimm Platz, Sarn. Ich weiß, dass du eine anstrengende und gefährliche Reise hinter dir hast. Du musst müde sein.«

Sarn war von diesem Angebot sichtlich überrascht, denn er zögerte, Nors Aufforderung Folge zu leisten, dann aber ließ er sich schwer auf den gestohlenen Stuhl niedersinken, und das aus Holz und Weidengezweig geflochtene Möbelstück ächzte hörbar unter seinem Gewicht, was es gerade bei Nor nicht getan hatte, obwohl dieser deutlich größer und auch schwerer gebaut war; fast, als wolle es dagegen protestieren, von jemandem besetzt zu werden, der nicht das Recht dazu hatte.

Rahn nahm wieder am gleichen Platz Aufstellung, an dem er zuvor gestanden hatte, und starrte weiter mit steinernem Gesicht ins Leere. Kron blickte überall hin, nur nicht in Arris Richtung; Achk aber sah sich mit hektischen Kopfbewegungen aus weit aufgerissenen, erloschenen Augen um und wurde mit jedem Atemzug unruhiger. Arri war ziemlich sicher, dass er nicht einmal verstand, was mit ihm geschah.

»Nun, Sarn«, begann Nor, »erzähl uns, was du von den Taten der fremden Hexe und ihren falschen Göttern berichten kannst.«

Sarns Blick richtete sich für einen Moment auf Arri, bevor er antwortete. »Nicht mehr, als ihr alle schon wisst. Sie kam vor vielen Sommern in unser Dorf, und wir haben sie freundlich aufgenommen und ihr Obdach und Essen und einen Platz an unserem Feuer angeboten, wie es die Sitten und das Gesetz der Gastfreundschaft vorschreiben. Als Dank brachte sie uns Geschenke, doch es waren falsche Geschenke, mit denen sie sich in unsere Herzen und unsere Gedanken zu schleichen versucht hat, um sie zu verderben.«

»Aber das ist doch nicht wahr!«, protestierte Arri. »Sie hat niemandem geschadet! Ganz im Gegenteil!«

»Die Geschenke, die sie gebracht hat, waren falsche Geschenke!«, donnerte Nor. »Falsche Geschenke von falschen Göttern. Nimm endlich Vernunft an, du dummes Kind! Ja, deine Mutter hat uns gelehrt, die Felder besser zu bewirtschaften, und sie hat unseren Jägern gezeigt, die Spuren des Wildes genauer zu deuten. Doch um welchen Preis!« Er hob seinen Stab und deutete mit dem knorrigen Ende wie mit einer Waffe auf Achk. »Ist es etwa nicht ihre Schuld, dass unserem Schmied das Augenlicht genommen wurde?«

»Aber das... das war... ein Unfall«, stammelte Arri. »Ein schlimmes Unglück, für das niemand etwas konnte!«

»Dann erzähl uns von diesem Unglück, Achk«, wandte sich Nor an den blinden Schmied. »Berichte uns, was wirklich geschehen ist.«

Achks erloschener Blick irrte in die ungefähre Richtung, aus der er Nors Stimme hörte, ohne dass es ihm gelang, den Hohepriester wirklich zu fixieren. Er versuchte zu antworten, brachte aber nur ein hilfloses Stammeln hervor.

»Was ist damals geschehen?«, bohrte Nor weiter. »Hab keine Angst, Achk. Was geschehen ist, war nicht deine Schuld. Niemand hier denkt, dass du etwas Schlechtes getan hast.«

»Das habe ich auch nicht«, verteidigte sich Achk. »Ich habe nur getan...«

»... was dir die falsche Prophetin gesagt hat«, fiel ihm Nor ins Wort. Er lächelte beruhigend, was der blinde Schmied natürlich nicht sehen konnte, aber auch seine Stimme hatte einen besänftigenden Klang angenommen, den Achks Gehör, das sehr viel schärfer geworden war, seit er sein Augenlicht eingebüßt hatte, bemerken musste. Der Schmied nickte heftig und mehrmals hintereinander.

»Das ist wahr«, bestätigte er. Der Blick seiner leeren Augen suchte wiederum nach Nor. Als er weitersprach, wandte er sich an eine Stelle im Nichts ein Stück rechts von diesem, was seinen Worten etwas zugleich Unheimliches wie Lächerliches verlieh. Aber was er sagte, das ließ Arri einen eisigen Schauer über den Rücken laufen.

»Sie hat versprochen, mich das Schmieden von besserem Metall zu lehren. Sie hat mir ihr Zauberschwert gezeigt, und sie hat gesagt, sie würde mir beibringen, wie man Metall herstellt, das ebenso hart und stark ist.«

»Das hat sie dir versprochen?«, vergewisserte sich Nor.

»Das und viel mehr«, bestätigte Achk. Arri sah den blinden Schmied fassungslos an. Was ging hier vor? Sie war bei dem Gespräch dabei gewesen, von den Achk berichtete, und es hatte sich ganz und gar nicht so abgespielt. Nicht im Entferntesten!

»Und was ist dann geschehen?«, wollte Nor wissen.

»Ich habe alles ganz genau so gemacht, wie sie es mir erklärt hat«, antwortete Achk. »Von Anfang an schon kam es mir merkwürdig vor. Es hatte nichts mit dem üblichen Bronzegießen zu tun. Ich musste erst Erz und Holzkohle zum neuen Ofen bringen und dann die Beimischungen vorbereiten...«

»Erz, das sie dir gegeben hat?«, unterbrach ihn Nor und warf Arri einen raschen, fast triumphierenden Blick zu, bevor er sich wieder an den Blinden wandte. »Und fremde Beimischungen? Zutaten, die du nicht gekannt hast?«

Achk nickte heftig. Es war schwer, in seinem verbrannten Gesicht zu lesen, das fast nur aus Narbengewebe und hässlichen Geschwüren bestand, und doch sah Arri ihm an, wie wenig wohl er sich fühlte, fast als bereite ihm allein die Erinnerung an jenen schrecklichen Tag schon wieder Schmerzen. Doch vielleicht, dachte sie, hatte sein so sichtliches Unwohlsein ja auch einen ganz anderen Grund.

Sie sah zu Nor, und aus ihrem Verdacht wurde Gewissheit. Der Hohepriester sah äußerst zufrieden aus. Offensichtlich hörte er ganz genau das, was er hören wollte.

Dann wurde ihr klar, wie unsinnig dieser Gedanke war, und sie musste sich beherrschen, um nicht über ihre eigene Dummheit den Kopf zu schütteln. Sie hatte doch nicht wirklich geglaubt, dass Nor den blinden Schmied - noch dazu vor so vielen Zeugen! - verhören würde, ohne die Antworten auf die Fragen, die er ihm stellte, von vornherein zu kennen. Ganz gewiss war es so, dass Nor dem Schmied sorgsam eingeschärft hatte, was er antworten sollte. Dennoch fühlte sie sich für einen Moment von Achk verraten; auf eine Art und Weise, die wehtat und sie zugleich wütend machte, obwohl sie doch ganz genau wusste, wie ungerecht dieser Zorn war. Einen Herzschlag lang war sie fast froh, dass der Blinde den Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht erkennen konnte.

»Du hast das Schmieden von deinem Vater gelernt, nicht wahr?«, fuhr Nor fort. »So wie dieser zuvor von seinem Vater und der von seinem. Du warst ein guter Schmied. Die Werkzeuge, die du gemacht hast, waren wirklich gut, dein Schmuck hat jedermann entzückt, und deine Waffen waren scharf und haltbar.«

Achk nickte heftig. »So war es.«

»Und du hast zu den Göttern gebetet und ihnen geopfert, bevor du deine Arbeit begonnen hast, und auch hinterher noch einmal, um ihnen zu danken, habe ich Recht?«

»Ja«, bestätigte Achk.

»So, wie es bei uns Brauch und Sitte ist und der Wille der Götter, so lange wir uns zurückerinnern können«, fügte Nor hinzu. Er hob ganz leicht die Stimme. »Bis zu jenem Tag, an dem die falsche Prophetin dir eingeflüstert hat, dass unser altes Wissen schlecht und unsere Handwerker dumm sind. Was hat sie von dir verlangt? Dass du zu ihren Göttern betest statt zu unseren, damit sie dir helfen, schärfere Dolche zu schmieden und bessere Pfeilspitzen?«

Achk druckste einen Moment herum, aber dann nickte er. »Ja.« Arri stockte schier der Atem.

»Und?«, wollte Nor wissen. »Hast du es getan?«

Wieder antwortete der Schmied nicht gleich. Er wand sich sichtlich, und sein erloschener Blick irrte hierhin und dorthin. Auf seinem zerstörten Gesicht erschien ein gequälter Ausdruck. »Nein«, murmelte er schließlich. »Das habe ich nicht getan. Ich habe ihr erzählt, dass ich es tue, aber das war nicht wahr.«

Nor wirkte sehr zufrieden. »Aber du hast das falsche Erz, das sie dir gebracht hat, und die verzauberten Zutaten benutzt, um daraus das Metall zu schmelzen, das sie dir versprochen hat?«

Diesmal verging noch mehr Zeit, bevor der Schmied antwortete, und er tat es auch nicht laut, sondern mit einem angedeuteten Nicken. Dieses Verhör kam Arri immer absurder vor - selbst der Dümmste hier im Hause musste doch sehen, wie eingeschüchtert Achk war und dass er nur das antwortete, was Nor von ihm hören wollte.

»Und was ist dann geschehen?«, fragte Nor, und mit einem Male wurde seine Stimme sanft, verständnisvoll; die Stimme eines Vaters, der mit seinem Sohn sprach, um ihn über ein großes Unglück hinwegzutrösten.

»Ich habe alles so gemacht, wie sie es mir gesagt hat«, antwortete Achk. »Zuerst musste ich einen Lehmofen auf der höchsten Stelle des Hügel hinter der Schmiede errichten.«

»Auf der höchsten Stelle?« Nor beugte sich ein Stück vor. »Ist das nicht ganz in der Nähe des Heiligtums?«

Achks Gesichtszüge schienen geradezu einzufrieren. »Ja«, flüsterte er dann kaum hörbar. Ein Raunen ging durch die Menge.

»Direkt neben dem Steinkreis, in dem ihr die alten Riten vollzieht - dort wollte deine Verführerin, dass du ein Feuer entfachst, heißer und verzehrender als alle Feuer, die du je zuvor entzündet hast?« Arri stockte schier der Atem, während Achk kaum merklich nickte. Sie wusste sehr genau, warum ihre Mutter darauf bestanden hatte, den Lehmofen dort zu errichten: damit der Wind das Feuer in dem kleinen, mit Holzkohle und Eisenerz gefütterten Ofen ungehindert anfachen konnte. Was Nor jetzt daraus machte, war ungeheuerlich!

»Und was tat sie dann noch, um die alten Götter herauszufordern?«, setzte Nor nach.

»Ich habe das fremde Erz genommen, das sie mir gegeben hat, und das Feuer entfacht, und ich habe zu den Göttern gebetet und die Mischung vorbereitet, und dann...« Seine Stimme stockte für einen Moment. Arri konnte sehen, wie er schauderte, als hätte ihn ein plötzlicher, kalter Windstoß getroffen. »Am Anfang war auch alles so, wie sie es gesagt hat. Aber dann ist mein Ofen geborsten. Alles hat gebrannt, und das heiße Metall ist mir ins Gesicht gespritzt und hat mich verbrannt und mir das Augenlicht genommen.«

Ein erschrockenes Murmeln und Raunen ging durch die versammelte Menschenmenge, ein Ausdruck von Mitleid und Schrecken, aber auch Zorn, den Nor eine genau berechnete Weile gewähren ließ, bevor er ihn mit einer kurzen Bewegung mit seinem Stab zum Verstummen brachte. Nur die vier Priester unterbrachen ihren monotonen Singsang nicht, der nun aber düsterer und auf schwer zu beschreibende Weise bedrohlich geworden war.

»Dann ist es so, wie ich es mir dachte«, sagte Nor. »Es war nicht deine Schuld, Achk. Sag mir, wann genau das Unglück geschehen ist.«

Der Schmied blickte nur verwirrt in die Richtung, aus der er Nors Stimme hörte, und wusste mit dieser Frage offensichtlich nichts anzufangen, doch der Hohepriester hatte ebenso offensichtlich auch gar keine Antwort erwartet, denn er drehte sich nun wieder zu Arri um und fuhr mit einem Ausdruck gespielter Anteilnahme, aber auch einem boshaften Funkeln in den Augen fort.

»Das Unglück geschah, als du zu unseren Göttern gebetet hast, habe ich Recht? Die falsche Prophetin hat dir gesagt, du sollst zu ihren Göttern beten und ihren Beistand erflehen, aber das hast du nicht getan. Stattdessen hast du getan, was jeder von uns getan hätte, und dich an unsere Götter gewandt, und es war die Strafe der fremden Götter, die dich getroffen hat, nicht dein eigenes Ungeschick.«

Arri starrte Nor fassungslos an, doch auch das schien etwas zu sein, womit Nor nicht nur gerechnet hatte, sondern das ihm auch größte Zufriedenheit bereitete, den nun reichte auch seine Selbstbeherrschung nicht mehr vollends aus, um das triumphierende Lächeln von seinen Lippen zu verbannen. Betont langsam wandte er sich wieder dem blinden Schmied zu. »War es nicht so, Achk?«

»Ja«, gestand Achk. »Genau so war es.«

Diesmal hielt das unwillige Murmeln und Raunen im Haus länger an.

»Aber das... das ist doch nicht wahr«, murmelte Arri. Sie hatte leise gesprochen und eigentlich nur zu sich selbst, doch Nor hatte ihre Worte offensichtlich gehört, denn er fuhr mit einer plötzlichen Bewegung herum und fauchte: »Woher willst du das wissen? Warst du dabei?«

»Nein«, gestand Arri. »Aber meine Mutter...«

»... hat es dir erzählt, habe ich Recht?«, unterbrach sie Nor und schüttelte heftig den Kopf. »Dann willst du Achk hier einen Lügner nennen?«

Einen Lügner vielleicht nicht, dachte Arri, nur einen Mann, der furchtbare Angst hat. »Aber meine Mutter hat ihm geholfen!«, protestierte sie. »Achk wäre gestorben, wenn sie sich nicht um seine Verletzungen gekümmert hätte!«

»Um seine Verletzungen gekümmert?« Nor spielte den Überraschten. »Aber wäre das nicht die Aufgabe eures Schamanen gewesen?« Er drehte sich zu Sarn um und maß ihn mit einem langen, strafenden Blick. »Sarn, die Götter und ich haben es dir übertragen, dich um die Menschen in eurem Dorf zu kümmern, ihre Wunden zu versorgen und ihre Krankheiten zu heilen. Warum musste sich die falsche Prophetin um Achks Verletzungen kümmern?« Seine Stimme wurde schärfer und nahm zugleich einen tadelnden Tonfall an. »Es wäre deine Aufgabe gewesen, ihm zu helfen!«

Wenn Sarn den Verweis überhaupt zur Kenntnis nahm, so schien er ihn nicht sonderlich zu beeindrucken. Er reckte nur trotzig das Kinn vor und verteidigte sich in kaum weniger scharfem Ton. »Weil ich ihn nicht heilen konnte!«, antwortete er mit seiner schrillen, fistelnden Altmännerstimme. »Niemand hätte das gekonnt!«

»Niemand außer meiner Mutter, meinst du?«, fragte Arri. Nor würdigte sie nicht einmal einer Antwort, aber Sarn schoss einen giftigen Blick in ihre Richtung ab.

»Niemand hätte ihn heilen können!«, beharrte er. »Sein Gesicht war verbrannt, als man ihn zu mir brachte. Die Götter hatten ihm das Augenlicht genommen, und er schrie vor Schmerzen. Wer hätte je gehört, dass ein Mann mit einer solch schweren Verletzung überlebt hätte? Nur schwarze Magie kann so etwas bewirken.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Es ist nicht der Wille der Götter, dass ein Mann blind und verbrannt am Leben bleibt, um den Seinen zur Last zu fallen.« Er machte ein abfälliges Geräusch. »Wozu ist ein solcher Mann noch gut? Er isst und trinkt, er braucht Kleidung und Feuerholz im Winter, aber er kann nicht dafür arbeiten.«

»Das hättest du meiner Mutter vielleicht sagen sollen, bevor sie dir damals das Leben gerettet hat«, sagte Arri böse.

Sarn wollte auffahren, doch Nor machte eine herrisch-befehlende Geste und trat mit einem raschen Schritt zwischen ihn und Arri, um den direkten Blickkontakt zwischen ihnen zu unterbrechen.

»Es ist wahr«, sagte er. »Deine Mutter hat Achk vielleicht gerettet, doch hat sie ihm damit einen schlechten Dienst erwiesen. Er war ein ehrlicher, aufrechter Mann, der seine Arbeit tat und die Götter fürchtete, so wie man es von uns allen erwartet. Sein einziger Fehler war vielleicht, den Einflüsterungen deiner Mutter zu erliegen - doch wenn es ein Fehler war, so einer, den viele von uns begangen haben, auch ich, wie ich gern zugeben will.« Er hob die Stimme noch weiter, und obwohl er sich nun scheinbar direkt an Arri wandte, wurde aus seinen Worten plötzlich eine flammende Rede, die viel weniger ihr als mehr den versammelten Männern und Frauen im Haus galt.

»Reichtum und Wohlstand haben mit deiner Mutter Einzug in unsere Dörfer gehalten«, fuhr er fort. »Die Menschen haben die Gaben angenommen, die die fremden Götter gebracht haben, welche zusammen mit dir und deiner Mutter zu uns gekommen sind, auch viele von uns hier, ja, selbst ich! Es hat lange gedauert, doch nun haben die Götter zu mir gesprochen, und ich habe die Wahrheit erkannt.«

»Welche Wahrheit?«, fragte Arri verächtlich. »Dass Sarn ein dummer alter Narr ist, der um seine Macht fürchtet?«

»Dass deine Mutter niemals in guter Absicht zu uns gekommen ist«, antwortete Nor ungerührt. Er wurde nicht wütend, sondern lächelte ganz im Gegenteil plötzlich. »Dass du es nicht glaubst, wundert mich nicht, mein Kind. Sie ist deine Mutter, und welches Kind würde wohl seine Mutter nicht verteidigen?« Er kam ihrem Protest zuvor, indem er fast sanft den Kopf schüttelte und mit deutlich milderer und - wie es schien - um Verständnis bittender Stimme fortfuhr: »Ich fürchte, es gibt nichts mehr, was ich noch für deine Mutter tun könnte. Sie hat ihre Seele den finsteren Göttern aus ihrer Heimat verschrieben, und schlimmer noch, sie hat sich mit unseren Feinden zusammengetan, um uns zu verderben.«

»Aber das ist doch nicht wahr!«, begehrte Arri auf. Unwillkürlich machte sie einen Schritt in Nors Richtung und hob die Arme, nicht um ihn anzugreifen, sondern einfach nur, um verzweifelt damit zu gestikulieren. Ihre beiden Bewacher schienen die Bewegung jedoch gründlich misszuverstehen, denn einer von ihnen riss sie grob an der Schulter zurück, während der andere ihr Handgelenk packte und Anstalten machte, ihr den Arm auf den Rücken zu drehen.

»Lasst sie los!«, sagte Nor scharf. Die beiden Männer, die Arri gepackt hatten, zögerten noch einen spürbaren Moment, dann aber ließ der eine ihre Schulter und einen Atemzug darauf der andere auch ihren Arm los. Arri machte einen taumelnden Schritt zur Seite, um ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen, und rieb sich ihr Handgelenk. Es tat so weh, als hätte der Kerl mit der festen Absicht zugegriffen, ihr den Arm zu brechen.

»Du glaubst also immer noch nicht, dass deine Mutter unser Verderben im Sinn hat?«, fuhr Nor fort. Arri hütete sich, darauf zu antworten. Nor seufzte. Ein Ausdruck von Trauer huschte über sein Gesicht, gerade schnell genug, dass jeder, der ihn sah, glauben musste, es sei gegen seinen Willen geschehen und er versuche seine wahren Gefühle und Absichten zu verbergen, damit niemand erkannte, wie Leid ihm das uneinsichtige Kind einer verderbten Mutter, das da vor ihm stand, in Wahrheit tat. Wenn schon nichts anderes, dachte Arri, so war Nor doch zumindest ein ausgezeichneter Schauspieler.

»Kron, warum erzählst du uns nicht, wie es dir und deinen Brüdern ergangen ist, als ihr die Fremden getroffen habt?«, fragte Nor.

Überrascht sah Arri zu dem einarmigen Jäger hin. Sie hatte sich schon gefragt, warum Nor auch ihn herbefohlen hatte, und sie hatte auch eine ungefähre Vorstellung gewonnen, aber mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet.

Kron sah nur ganz kurz in ihre Richtung und beeilte sich dann, sich nicht nur direkt an den Hohepriester zu wenden, sondern auch mit schneller, hastiger Stimme zu antworten, wobei er im Prinzip dieselbe unsinnige Geschichte erzählte, die Grahl und er damals nach ihrer Rückkehr zum Besten gegeben hatten; dass sie harmlos und ohne böse Absichten auf eine Gruppe Fremder gestoßen wären, die sie gänzlich ohne Grund angegriffen, seinen Bruder getötet und ihn schwer verwundet hätten, nur dass er sie diesmal mit noch mehr blutrünstigen und vollkommen unglaubwürdigen Einzelheiten ausschmückte. Als er fertig war, hätte man glauben können, er ganz allein habe eine wilde Horde in die Flucht geschlagen und sie nur deshalb nicht endgültig besiegt, weil sie unlauter gekämpft hätten und in großer Überzahl über ihn hergefallen wären. Arri hatte die Geschichte ein wenig anders in Erinnerung, und selbst Nor, der dem Einarmigen zweifellos Wort für Wort vorgegeben hatte, musste sich sichtlich beherrschen, um ihn gegen Ende nicht rüde zu unterbrechen. Anscheinend tat Kron entschieden zu viel des Guten. Die eine oder andere Heldentat, mit der er sich brüstete, hatte ihm Nor vielleicht doch nicht in solcher Ausführlichkeit vorgesagt. »Mein Bruder hat mich fast den ganzen Weg zurückgetragen«, schloss Kron. »Ohne ihn wäre auch ich jetzt nicht mehr am Leben.«

»Du wärst ohne meine Mutter jetzt nicht mehr am Leben!«, sagte Arri aufgebracht.

Kron sah einen Herzschlag lang in ihre Richtung und senkte dann betreten den Blick, aber Nor fragte: »Ist das war? Hat ihre Mutter auch dir geholfen?«

»Ha!«, mischte sich Sarn ein. »Geholfen?« Er sprang auf und gestikulierte erregt mit beiden Händen. »O ja, sie hat ihm das Leben gerettet. Wie Achk war auch er mehr tot als lebendig, als Grahl ihn zurückbrachte. Sein Arm war brandig, und das Gift aus der Wunde hatte schon begonnen, seinen Körper zu verseuchen.«

Er fuhr mit einer so plötzlichen Bewegung auf dem Absatz herum und in Arris Richtung, dass sie erschrocken zusammenzuckte. »Geholfen hat deine Mutter diesem armen Mann?« Er fuchtelte jetzt noch aufgeregter mit den Armen, wobei er abwechselnd auf Kron und Arri deutete, und seine Stimme wurde schrill. »Zum Krüppel gemacht hat sie ihn! Den Arm abgeschnitten hat sie ihm, sodass er nicht mehr als Jäger ausziehen und seinen Lebensunterhalt verdienen kann!«

»Aber... aber er wäre gestorben, wenn sie das nicht getan hätte!«, protestierte Arri. »Das wisst ihr doch ganz genau!«

»Ja, vielleicht«, antwortete Nor an Sarns Stelle, »und vielleicht war es der Wille der Götter, dass er stirbt. Es liegt keine Schande darin, im Kampf gegen einen heimtückischen und übermächtigen Feind sein Leben zu geben. Krons Familie und Freunde hätten sein Andenken in Ehren bewahrt, und wir hätten seine Heldentaten in Liedern besungen und unseren Kindern und Kindeskindern davon erzählt. Aber deine Mutter hat ihm den Arm genommen und ihn zum Krüppel gemacht, so wie sie auch Achk zum Krüppel gemacht hat. Zwei Männer, die nicht mehr arbeiten können und den Ihren nur zur Last fallen.«

»Aber das... das ist doch... das ist doch nicht wahr!«, stammelte Arri. Das unwillige Murren und Erstaunen hinter ihr wurde noch lauter, und auch der monotone Singsang der Priester veränderte sich abermals und schien nun selbst ihrem Herzschlag seinen düsteren Takt aufzuzwingen. Verzweiflung machte sich in Arri breit. Sie wusste genau, worauf Nor hinauswollte. Sein Plan war so durchsichtig, dass es schon fast lächerlich war. Aber wie kam es dann, dass sie so vollkommen hilflos dagegen war? Wie konnte es sein, dass Nor alles, was sie sagte und tat, irgendwie ins Gegenteil verkehrte und gegen sie verwendete?

»Du leugnest es also immer noch«, sagte Nor. »Und du willst auch nicht zugeben, das deine Mutter mit den Fremden gesehen worden ist, die über die Berge im Osten kommen und uns alle bedrohen?«

»Sie ist...«, begann Arri, brach aber dann mitten im Satz ab und biss sich auf die Unterlippe. Sie wollte es nicht, aber ihr Blick löste sich für einen Moment von Nors Gesicht und glitt zu Rahn hin. Wie viel hatte er Sarn und Nor erzählt? Wussten sie von Dragosz, und wenn ja, was?

»Vielleicht war dies der Plan deiner Mutter, mein Kind«, fuhr Nor fort. »Ich will nicht bestreiten, dass sie uns allen Wohlstand und Reichtum gebracht hat, dass die Menschen zufriedener und glücklicher sind, seit sie bei uns ist. Doch vielleicht war das das Schlimmste ihrer Geschenke. Unsere Krieger sind schwach geworden. Unsere Aufmerksamkeit hat nachgelassen. Unsere Männer sind müde und ihre Weiber satt und zufrieden. Es war der Plan deiner Mutter, genau das zu erreichen. Wenn die fremden Krieger aus dem Osten kommen, dann werden sie leichtes Spiel mit uns haben. Noch ein weiterer Sommer wie der letzte, und unsere Krieger werden verlernt haben, wie man kämpft. Niemand wird mehr in der Lage sein, unsere Frauen und Kinder zu beschützen und um unser Land zu kämpfen, wenn die Feinde kommen, um es uns wegzunehmen. War es das, was deine Mutter wollte?«

»Nein!«, protestierte Arri. Sie konnte selbst hören, wie ihre Stimme zitterte und wie dicht sie davor stand, einfach in Tränen auszubrechen. Es waren Tränen der Wut und der Fassungslosigkeit, nicht der Furcht, aber das spielte für Nor keine Rolle. Wichtig war, dass alle anderen hier hörten, wie ihre Stimme zitterte.

»Ja, deine Mutter hat vielen von uns das Leben gerettet«, fuhr Nor fort. »Doch die Götter haben mir die Augen geöffnet und es mir ermöglicht, ihren Plan zu durchschauen.« Er hob seinen Stock und wies damit anklagend zuerst auf Achk, dann auf den einarmigen Jäger. »Es sind Männer wie sie, aus denen euer Volk nun zu einem Gutteil besteht. Krüppel und Kranke!«

Nicht nur Arri zog bei diesen Worten überrascht die Augenbrauen zusammen. Auch Kron wirkte im allerersten Moment irritiert und schien nicht wirklich zu verstehen, was Nor da gerade gesagt hatte, während Achk wie unter einem Peitschenhieb zusammenfuhr und dann hilfloser denn je aussah.

»Ja, euer Dorf erlebt eine Zeit der Blüte und des Wohlergehens«, fuhr Nor fort, nun wieder mit erhobener, fast beschwörender Stimme. »Unser Volk ist so zahlreich und wohlgenährt wie nie, aber was ist das für ein Volk? Die Götter haben uns erschaffen, damit wir stark sind, um uns die Welt Untertan machen und unsere Feinde zerschmettern zu können. Das Leben, das sie uns gegeben haben, ist voller Gefahren und hart, doch das ist auch gut so, denn nur so können wir stark genug sein, um zu überleben. Unser Volk war einst mächtig, und unsere Krieger überall gefürchtet. Und was sind wir heute, nur wenige Sommer, nachdem deine Mutter mit ihren falschen Gaben zu uns kam? Wer von unseren Feinden zittert heute noch vor uns?« Er stampfte mit seinem Stock auf. »Keiner! Unser Volk mag zahlreich sein wie nie, doch wir sind keine Krieger mehr, und unsere Feinde lachen über uns. Was sind das für Leben, die deine Mutter uns geschenkt hat? Die Schwachen und Kranken, von den Göttern dazu bestimmt, zu sterben! Die Krüppel und Hilflosen, die von der Arbeit der anderen leben und selbst nichts zum Wohl der Gemeinschaft beitragen können. Nur so wenige Sommer haben gereicht, um aus einem stolzen Volk leichte Beute für jeden zu machen, der es sich nehmen will.«

»Ihr wisst, dass das nicht stimmt«, sagte Arri, nun mit sehr leiser, aber auch sehr fester Stimme.

»Nein?«, wiederholte Nor lauernd. »Dann ist es nicht wahr, dass es deiner Mutter nicht gereicht hat, diese beiden tapferen Männer zu verkrüppeln?« Er wies wieder mit dem Stock auf Achk und den Jäger. »Nein, sie musste ihnen auch noch ihren Stolz nehmen und sie und damit uns alle zum Gespött unserer Nachbarn machen!«

»Aber wieso denn?«

»Ein Blinder und ein Einarmiger!«, antwortete Nor, verächtlich und laut. »Sie will aus zwei halben Männern wieder einen ganzen machen, der noch dazu die wichtigste Arbeit verrichten soll, die es gibt?« Er lachte böse. »Und während all dieser Zeit kommen die Feinde näher. Sei endlich vernünftig, Kind. Ich bin für meine Großmut und Gnade bekannt, doch auch ich stehe nicht über dem Willen der Götter. Ich kann mit ihnen sprechen und um dein Leben bitten, doch nur, wenn du dich von den falschen Göttern lossagst, die deine Mutter in dein Herz gepflanzt hat, und ihrer schwarzen Kunst abschwörst!«

Aber wie sollte sie denn Göttern abschwören, an die sie gar nicht glaubte?

Um ein Haar hätte Arri diese Antwort laut ausgesprochen, aber sie beherrschte sich im letzten Moment. Wahrscheinlich machte es keinen Unterschied, und doch wollte sie Nor zumindest nicht die Genugtuung geben, ihm auch noch in die Hände zu spielen.

Und - wer weiß? Vielleicht gab es die Götter ja doch. Dass Arri nicht an sie glaubte, bedeutete nicht, dass sie die Möglichkeit ihrer Existenz vollkommen ausgeschlossen hätte. Vielleicht war ja alles, was jetzt geschah, die Strafe dafür, dass sie sie so lange geleugnet hatte.

»Also gut«, seufzte Nor, als sie immer mehr Zeit verstreichen ließ, ohne auf seine Worte zu reagieren. Er schüttelte müde den Kopf. »Ich habe getan, was die Barmherzigkeit und das Verständnis mit einem Kind, das nicht weiß, was es tut, von mir verlangen. Jetzt...«

»Tötet sie!«, unterbrach ihn Sarn.

Nor runzelte verärgert die Stirn, und Arri war ihm nahe genug, um zu erkennen, dass dieser Ärger nicht gespielt war. Sarns Ausbruch gehörte nicht zu dem sorgsam abgesprochenen Verlauf dieser so genannten Verhandlung. Er ärgerte den Hohepriester; er ärgerte ihn sogar über die Maßen. »Schweig!«, sagte er scharf. »Die Götter werden entscheiden, was weiter mit ihr geschieht.«

Sarn schwieg nicht. Ganz im Gegenteil wandte er sich nunmehr ganz dem Hohepriester zu, und in seinen Augen blitzte es kampflustig.

»Waren sie denn nicht deutlich genug?«, fragte er herausfordernd. »Wir haben ihren Unmut erregt! Wir alle! Unser ganzes Dorf, ich, Ihr, jeder hier! Die Götter sind erzürnt, weil wir uns von ihnen abgewandt haben, und sie verlangen nach Blut wie in den alten Zeiten!«

Nors Lippen wurden schmal. Einen Moment lang war Arri fast sicher, dass er Sarn nun scharf in seine Schranken verweisen würde, doch er schüttelte nur leicht den Kopf, machte einen halben Schritt rückwärts und ergriff seinen Stab fester. »Dann werden wir die Götter fragen, was ihr Wille ist.«

Sarn setzte abermals dazu an zu widersprechen, doch Nor fuhr rasch und mit nun deutlich erhobener Stimme fort: »Du hast Recht, Sarn. Es hieße, vorschnell zu handeln und die Götter vielleicht noch mehr zu erzürnen, würde ich mir anmaßen, ihren Willen zu deuten, nur um das Leben eines unschuldigen Kindes zu retten, das mein Herz berührt hat.«

»Sind die Zeichen denn nicht deutlich genug?«, erwiderte Sarn verächtlich. Das kampflustige Funkeln in seinen Augen hatte nicht nachgelassen; ganz im Gegenteil. »Sie sind erzürnt, und es war seit jeher stets das Blut derer, die sich gegen sie vergangen haben, das einzig diesen Zorn besänftigen konnte!«

Nor lächelte plötzlich, doch obwohl Arri sein Gesicht nur im Profil erkennen konnte, sah sie doch, dass in diesem Lächeln etwas war, das es ins genaue Gegenteil verkehrte. Sarn starrte noch immer trotzig zu ihm hoch, aber das herausfordernde Funkeln in seinen Augen erlosch, und nur einen Augenblick später konnte Arri regelrecht sehen, wie jede Kraft aus ihm zu weichen schien. Auch er machte einen halben Schritt zurück. Seine Schultern sanken kraftlos herab, und dann gelang es ihm nicht einmal mehr, Nors Blick standzuhalten. »Ganz, wie Ihr es sagt, Hohepriester.«

Nor schüttelte, immer noch auf diese sonderbar kalte, Unheil versprechende Art lächelnd, den Kopf. »Nicht, was ich sage, ist wichtig. Heute Mittag, wenn die Sonne am höchsten steht, werden wir ins Heiligtum hinaufgehen und den Rat der Götter einholen.«

»Aber es ist noch nicht...«, begann Sarn.

»Es ist nicht an der Zeit, sie anzurufen«, sagte Nor mit kalter, keinen Widerspruch duldender Stimme. »Das weiß ich sehr wohl. Wir haben ihnen nicht geopfert, und die Zeit reicht auch nicht, ein Opfer vorzubereiten, wie es sich gehört. Und dennoch bin ich sicher, dass sie unserer Bitte um Erleuchtung nachkommen werden. Jedermann soll es sehen.« Er hob seinen Stock, als wäre das tatsächlich noch nötig, um sich der allgemeinen Aufmerksamkeit sicher zu sein. »Ich will, dass jeder Mann, jede Frau und jedes Kind, die in der Lage sind zu gehen, dabei sind. Du und ich, Sarn, wir werden die Götter gemeinsam anrufen, und es wird sich entscheiden, wer von uns im Recht ist.«

Sarn wirkte regelrecht erschüttert. Arri wusste nicht, was er mit seiner Herausforderung überhaupt beabsichtigt hatte - Gerüchte, dass Sarn Nor seine Stellung als Hohepriester von Goseg neidete und nur zu gern seinen Platz eingenommen hätte, gab es schon lange. Wenn dieser ungeplante Auftritt eine Kraftprobe zwischen ihm und Nor sein sollte, dann hatte er sich nicht nur den denkbar ungünstigsten Moment dazu herausgesucht; Nors Reaktion war offensichtlich vollkommen anders, als er erwartet hatte. Er wirkte verstört. Und auch deutlich erschrocken. Aber schließlich senkte er demütig das Haupt und trat einen weiteren Schritt zurück.

»So sei es«, sagte er.

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