Der Raum war winzig, hatte nur ein einziges, kaum handbreites Guckloch, das ganz oben unter der aus schweren Balken gefertigten Decke angebracht war, und bestand - abgesehen von dieser Decke und dem Fußboden aus festgestampftem Lehm - vollkommen aus Stein. Arri hatte noch niemals ein Haus gesehen, das zur Gänze aus Stein erbaut war, aber dieses hier war es; zumindest der Raum, in den man sie gebracht hatte, vermutlich aber das ganze Haus.
Das war ungewöhnlich genug. Doch mindestens ebenso ungewöhnlich wie das Baumaterial, aus dem die kahlen Wände bestanden, die sie umschlossen, war auch die Art seiner Verarbeitung. Mauern aus Stein oder auch zumindest zum Teil gemauerte Wände hatte sie bereits in Targans Haus gesehen, noch nie aber solche wie hier. Die Erbauer dieses sonderbaren Hauses hatten sich nicht damit begnügt, mehr oder weniger passende Steine aufeinander zu schichten und irgendwie miteinander zu verbinden; die Wände bestanden aus gewaltigen, sorgsam behauenen Blöcken, von denen jeder einzelne länger war als ihr ausgestreckter Arm und so dick wie vier übereinander gelegte Hände mit gespreizten Fingern. Was schon ein einzelner dieser gewaltigen Brocken wiegen mochte, das konnte sich Arri nicht einmal vorstellen, geschweige denn, wie man ihn hierher gebracht und so sorgsam bearbeitet hatte. Die Oberfläche der Steine war glatt wie raues Eis, und die Zwischenräume schienen kaum breit genug, um einen Fingernagel hineinzuschieben.
Das Allerungewöhnlichste vielleicht aber war die Tür. Arri hatte - abgesehen vom Haus der Bergleute und Händler - noch nie zuvor eine Tür gesehen, die diesen Namen wirklich verdiente. Die meisten waren kaum stabil genug, um einem Wintersturm zu trotzen. Diese Tür hier aber war mindestens ebenso massiv wie die Decke: schwere Balken, dicker als eine Handspanne, die ebenso sorgsam bearbeitet waren wie die Steine, aus denen die Wände bestanden, und auch fast ebenso schwer sein mussten. Es gab weder einen Riegel noch irgendeine andere Möglichkeit, diese Tür zu öffnen; zumindest nicht von dieser Seite.
Oder, um es anders auszudrücken: Sie war gefangen.
Nicht, dass sich in dieser Hinsicht etwas geändert hätte, ganz im Gegenteil. Verglichen damit, was sie in den zurückliegenden anderthalb Tagen durchgemacht hatte, ging es Arri jetzt geradezu gut. Immerhin hatte man ihr nicht nur die groben Stricke abgenommen, mit denen ihre Hände bisher auf dem Rücken zusammengebunden gewesen waren, sondern ihr auch den stinkenden Sack vom Kopf gezogen, der sie nicht nur vollkommen blind gemacht, sondern ihr auch nahezu ununterbrochen das Gefühl gegeben hatte, ersticken zu müssen. Und die allergrößte Erleichterung war, dass sie nicht mehr laufen musste.
Ihr geprelltes Knie schmerzte immer noch unerträglich, obwohl sich Arri mit dem Rücken an die Wand gelehnt und dabei so hingesetzt hatte, dass sie das Bein ausstrecken konnte. Auch wenn sie es wohlweislich nicht wagte, den Rock hochzuschieben und ihr Knie zu betrachten, spürte sie, dass es nicht nur gut auf das Doppelte seines gewöhnlichen Umfangs angeschwollen sein musste, sondern wohl auch in allen Farben des Regenbogens schimmerte. Dabei war die Verletzung nicht einmal besonders schlimm gewesen und nichts im Vergleich zu dem, was sie sich in der Mine und bei dem Brand in Targans Haus zugezogen hatte. Dass sie ihre verletzte Hand überhaupt noch bewegen konnte, verdankte sie wohl dem Verband, den ihre Mutter ihr angelegt und den sie vor ihrem Aufbruch abgenommen hatte. Dagegen war die Prellung am Knie eigentlich nur eine Kleinigkeit, die sie wahrscheinlich jetzt schon nicht mehr spüren würde, hätte sie nur die Gelegenheit gehabt, ihr Bein zu schonen.
Aber diese Zeit hatten ihr Rahn und die Krieger nicht gelassen.
Ganz im Gegenteil. Arri wusste zwar, dass es nicht stimmte, aber sie hatte trotzdem das hartnäckige Gefühl, dass sie noch immer in Bewegung war.
Nachdem man ihr den Sack übergestülpt und ihr die Hände auf dem Rücken zusammengebunden hatte, hatte sie jemand - vermutlich Rahn - grob umgedreht und ihr dann einen groben Stoß zwischen die Schulterblätter versetzt, der sie haltlos hatte stolpern lassen, und es kam ihr so vor, als hätten sie seit jenem Moment nicht mehr angehalten.
Selbstverständlich hatten sie es - sie hatten zweimal Rast gemacht, um zu schlafen und zu essen, wobei sie nur, was das Schlafen anging, auf ihre Kosten gekommen war; ihre Beteiligung am Essen hatte sich darauf beschränkt, den Kau- und Schmatzgeräuschen der Männer und dem Knurren ihres eigenen Magens zu lauschen, denn zu essen hatte man ihr nichts gegeben.
Und dennoch hatte sie das Gefühl, als wäre sie endlos und ohne Pause unterwegs gewesen.
Wie ihre Mutter immer gesagt hatte: Es spielte keine sonderliche Rolle, was wirklich gewesen war; wichtig war, was man daraus machte. Und ihr Körper machte das Schlimmste daraus. Ihr Knie pochte, und sie war überall wund, was an der Behandlung der letzten Tage liegen mochte oder, zumindest teilweise, an den Brandverletzungen, die sie sich zuvor zugezogen hatte. In jedem Fall gab es keine Stelle an ihrem Leib, die nicht wehtat. Alles in ihr schrie danach, einfach die Augen zu schließen und einzuschlafen, aber das konnte und wollte sie nicht. Sie musste herausfinden, wo sie war, und vor allem, wie sie von hier verschwinden konnte.
Was ihren Aufenthalt anging, so war sie sich ziemlich sicher; sie hatte das Wort Goseg mehr als einmal aufgeschnappt, während sie unterwegs gewesen waren. Und auch was das Verschwinden anging, hatte sie mindestens ein Dutzend guter Pläne, von denen etliche durchaus Aussichten auf Erfolg hatten, die unglückseligerweise aber auch alle eines voraussetzten: dass sie laufen konnte, und das noch dazu ziemlich schnell. So, wie sich ihr Knie anfühlte, würde sie in den nächsten Tagen nicht einmal mehr kriechen können, geschweige denn rennen. Hätte sie dem Schmerz gestattet, Gewalt über sie zu erlangen, dann hätte er ihr längst die Tränen in die Augen getrieben.
Arri spürte, dass sie auf dem besten Wege war, ganz genau das zu tun, ganz einfach, indem sie nur daran dachte, und so verscheuchte sie den Gedanken hastig.
Vielleicht nur, um sich abzulenken, drehte sie sich umständlich so im Sitzen um, dass sie die schmale Öffnung unter der Decke betrachten konnte. Ihr Knie quittierte die Bewegung mit einer Woge wütender Schmerzen, die bis in ihre Hüfte hinaufschossen, aber Arri biss die Zähne zusammen und achtete nicht weiter darauf. Das Guckloch dort oben war von grauem, unsicherem Zwielicht erfüllt, aber da sie weder die Sonne sehen konnte noch wusste, in welcher Himmelsrichtung dieser Spalt lag, konnte sie nicht sagen, ob es die Morgen- oder Abenddämmerung war. So, wie sie sich fühlte, musste es die Abenddämmerung sein; und zwar die Dämmerung des längsten Tages, den die Welt jemals gesehen hatte. Sie würde einfach abwarten müssen, ob dieses Licht nach einer Weile heller wurde oder in ein paar Augenblicken gänzlich erlosch.
Sie war also in Goseg. Arri dachte den Gedanken kühl und ohne die geringste Wertung. Eigentlich sollte sie dieses Wissen erregen, trotz allem, hatte sie doch zeit ihres Lebens davon geträumt, das sagenumwobene Heiligtum, von dem nicht nur Sarn allen Ernstes behauptete, es sei der Sitz der Götter, mit eigenen Augen zu sehen. Natürlich hätte sie sich niemals träumen lassen, als Gefangene hierher gebracht zu werden, aber dennoch hätte da zumindest eine Spur von Neugier in ihr sein sollen. Aber sie empfand... nichts. Nicht einmal die lautlos flüsternde Stimme ihrer Vernunft, die noch immer in ihr war und die versuchte, ihr die Zukunft in den schwärzesten nur möglichen Farben auszumalen, vermochte sie wirklich zu berühren. Es kam ihr so vor, als wäre in jener Nacht im Wald etwas in ihr erloschen und hätte nur eine harte, aber nicht mehr schmerzende Narbe auf ihrer Seele zurückgelassen.
Aber vielleicht war sie einfach zu müde, um einen klaren Gedanken zu fassen. Im Augenblick war sie damit zufrieden, keinen Sack mehr über dem Kopf zu haben und nicht mehr laufen zu müssen. Außerdem hatte sie schrecklichen Durst.
Arri versuchte, in eine einigermaßen erträgliche Haltung zu rutschen - was ihr nicht gelang -, löste widerwillig den Blick von dem vom grauen Zwielicht erfüllten Rechteck unter der Decke und fuhr sich mit der Zungenspitze über die rissigen Lippen. Sie hatte während der zurückliegenden anderthalb Tage auch nichts zu trinken bekommen. Jemand - sie nahm an, dass es Rahn gewesen war, konnte aber natürlich nicht sicher sein - hatte ihr ein paar Mal ein mit Wasser getränktes Mooskissen gegen das Gesicht gedrückt, sodass sie die Feuchtigkeit durch den Sack hindurch hatte aufsaugen können, was ihren allerschlimmsten Durst zwar gelöscht, aber auch einen widerwärtigen, fauligen Geschmack im Mund hinterlassen hatte, der einfach nicht vergehen wollte. Aber das war auch alles gewesen. Einen Moment lang überlegte sie, so laut zu rufen, bis jemand kam, der ihr Wasser bringen konnte, entschied sich aber dann dagegen. Schon der Gedanke, die Stimme zu heben, kam ihr mühsam vor - ganz abgesehen davon, dass sie vermutlich nur ein jämmerliches Krächzen hervorgebracht hätte - und so elend sie sich auch fühlen mochte, noch war ihr Stolz stärker als ihr Durst.
Jetzt, als sie ruhiger saß, machte sich eine wohltuende Entspannung in ihr breit, die rasch, aber fast ohne dass sie selbst es merkte, in eine bleierne Schwere überging, welche ihre Glieder und kurz darauf auch ihre Gedanken ergriff.
Obwohl es so ziemlich das Letzte gewesen war, womit sie selbst gerechnet hätte, musste sie wohl doch eingeschlafen sein, denn mit einem Mal fand sie sich in fast vollkommener Dunkelheit wieder. Der pochende Schmerz in ihrem Knie war zu einem dumpfen, zwar beständigen, aber eigentlich nur noch unangenehmen Druck geworden, und sie hatte Kopfschmerzen, die sich bis in ihren Nacken und die Schultern zogen; eine Folge der unnatürlichen, verspannten Haltung, in der sie sitzend an der Wand eingeschlafen war. Mühsam - und kein bisschen überrascht, plötzlich das Gefühl zu haben, als hätte sie eine Hand voll spitzer Dornen verschluckt, die nun mit aller Macht versuchten, sich durch ihren Nacken und die Schultern einen Weg nach außen zu bahnen - drehte sie den Kopf und sah wieder zu der Mauerlücke hoch.
Immerhin hatte sie jetzt Gewissheit. Das graue Zwielicht, das sie beobachtet hatte, war die Abenddämmerung gewesen, denn hinter dem Spalt war nun nichts mehr als Schwärze zu erkennen, allenfalls durchwoben von einem sachten, blassroten Hauch. Irgendwo dort draußen brannte ein Feuer.
Außerdem war jemand bei ihr gewesen, während sie geschlafen hatte, denn als sich Arri bewegte, stieß ihre Hand gegen eine hölzerne Schale; sie hörte ein schwappendes Geräusch, und kalte Nässe benetzte ihre Finger.
Umständlich und mit zusammengebissenen Zähnen, um nicht vor Schmerz wimmern zu müssen, setzte sie sich weiter auf und wartete darauf, dass sich ihre Augen an das veränderte Licht gewöhnten. Es war nicht so vollkommen dunkel hier drinnen, wie sie im allerersten Moment angenommen hatte. Schon bald konnte sie einen blassen, mattgrauen Schimmer erkennen, in dem die steinernen Wände das kaum vorhandene Licht reflektierten, das durch die Mauerlücke hereinfiel. Behutsam streckte sie die Hand aus, tastete über den Boden und fühlte feuchtes Holz. Obwohl alles in ihr danach schrie, die Schale zu packen und ihren Inhalt gierig herunterzustürzen - allein das Wissen, dass es Wasser in ihrer Nähe gab, fachte ihren Durst zu nie gekannter Wut an -, zwang sie sich, die Schale mit beiden Händen und sehr vorsichtig zu ergreifen, um sie noch vorsichtiger an die Lippen zu heben, damit sie auch ja keinen Tropfen der kostbaren Flüssigkeit verschüttete, und begann zu trinken.
Das Wasser war eiskalt und schmeckte so köstlich, wie es wohl sonst nur der kostbare Wein aus ihrer Heimat tun konnte, von dem ihre Mutter ihr so oft vorgeschwärmt hatte, ohne dass Arri ihn jemals hätte kosten können oder auch nur genau gewusst hätte, was Wein überhaupt war. Obwohl ihre Lippen so ausgetrocknet und rissig waren, dass die ersten Tropfen, mit denen sie sie benetzte, wirklich wehtaten, so gewann ihre Gier doch nach dem ersten, noch vorsichtigen Schluck endgültig die Oberhand. Mit einem einzigen Zug leerte sie die Schale, ließ dann erschöpft und mit einem dankbaren Seufzen ihren Hinterkopf wieder gegen den rauen Stein sinken und saß einen Moment lang einfach nur so da und genoss das Gefühl, nicht mehr vor Durst schier den Verstand verlieren zu müssen. Sie war tatsächlich noch immer durstig; die wenigen Schlucke hatten keinesfalls ausgereicht, ihrem Körper die Menge an Flüssigkeit zurückzugeben, die sie in den vergangenen anderthalb Tagen verloren hatte. Aber immerhin hatte man ihr zu trinken gebracht, was bedeutete, dass ihre Wärter zumindest nicht vorhatten, sie verdursten zu lassen.
Wenn man ihr Wasser gebracht hatte, dann vielleicht auch etwas zu essen?
Arri ließ die Schale sinken, drehte sich halb um und tastete mit den Händen ein zweites Mal den Platz um sich ab. Das wenige Licht, das durch die schmale Öffnung hereindrang, reichte nicht aus, um auf dem Boden, auf dem unzählige Füße vielleicht hundert Jahre lang ihre Spuren hinterlassen hatten, mehr als Schwärze zu erkennen. Doch schon stießen ihre Finger erneut auf Widerstand. Sie griff zu, fand eine zweite, größere und schwerere Schale und als sie mit den Fingern hineingriff, spürte sie, dass sie mit einem klebrigen, kalten Brei gefüllt war.
Diesmal versuchte sie gar nicht erst, gegen ihre Gier anzukämpfen, sondern hob die Schale mit einer zitternden Hand ans Gesicht und schaufelte sich den Inhalt mit den Fingern der anderen Hand in den Mund. Sie wusste nicht, was sie da aß - irgendeine Art von kaltem Brei, der so gut wie geschmacklos war - und es war ihr auch vollkommen egal. Es war Nahrung, und das allein zählte. In diesem Moment hätte sie ihren Magen auch mit Blättern oder Gras gefüllt, hätte sie eines von beidem gehabt.
Etwas raschelte, und auf der anderen Seite der kleinen Kammer bewegte sich ein Schatten, den sie bisher noch gar nicht bemerkt hatte.
»Wer... wer ist da?«, fragte Arri erschrocken. Ihr Herz fing an zu pochen.
Der Schatten bewegte sich erneut, blieb aber ohne klare Form oder Umrisse. »Du solltest nicht so hastig essen«, erklang Rahns Stimme. »Sonst wird dir am Ende noch schlecht, und es wäre schade um das gute Essen. Ich meine, wer weiß, wann du wieder etwas bekommst? Es war gar nicht so leicht, sich an den Wachen vorbeizuschleichen.«
Langsam ließ Arri die Schale sinken. »Rahn?«, fragte sie, während sie vergeblich versuchte, die Schwärze auf der anderen Seite des Raumes mit Blicken zu durchdringen. »Bist du das?«
Diesmal bestand die Antwort aus einem kehligen Lachen, und wieder bewegte sich der Schatten. »Weißt du noch jemanden hier in Goseg, der dir wohlgesonnen genug ist, um dir Wasser und etwas zu essen zu bringen?«
Arri blinzelte. Ihre Finger waren noch immer voller Brei, der nun auf ihren Rock zu tropfen drohte. Hastig wischte sie sie am Rand der Schale ab. »Du hast mir das Essen gebracht?«
Rahns Stimme klang belustigt, auch wenn sie glaubte, einen leicht enttäuschten Unterton darin zu vernehmen. »Nun Überschlag dich nicht gleich. Ein einfaches Danke reicht vollkommen.«
»Danke«, sagte Arri. Bevor sie weitersprach, leckte sie die Finger der Linken sorgfältig ab, um nichts von der kostbaren Nahrung zu verschwenden, und bedauerte es zugleich, das Wasser so gierig heruntergeschluckt zu haben. Was immer sie gerade gegessen hatte, es verklebte ihre Zähne und ihren Gaumen wie Honig. »Warum?«
»Stell dir vor, weil ich mir eingebildet habe, du könntest hungrig sein«, antwortete Rahn. Sie hörte, wie er eine hastige Geste machte, um ihr das Wort abzuschneiden, als sie antworten wollte. Sehen konnte sie es nicht. Rahn blieb eine Stimme ohne Körper.
»Sprich bitte nicht so laut. Wenn die Wachen hören, dass jemand hier ist, dann schauen sie nach.«
»Und du bekommst Ärger?«
Sie konnte Rahns Achselzucken hören. »Zumindest bekomme ich keine Gelegenheit mehr, dir noch einmal etwas zu essen zu bringen. Wenn du also gern hungerst...«
»Ich bin sowieso zu dick«, antwortete Arri patzig. »Das gute Leben ohne Hunger, welches das Dorf meiner Mutter verdankt, weißt du?«
Rahn machte sich nicht die Mühe, überhaupt zu antworten, und Arri kamen ihre eigenen Worte nicht nur albern und überflüssig vor, sie fragte sich auch - vergebens -, warum sie das überhaupt gesagt hatte; und vor allem erschreckte sie der unbeherrschte Ton, der plötzlich in ihrer Stimme war. Dass sie Rahn überhaupt erst bemerkt hatte, als er sich freiwillig zu erkennen gegeben hatte, sagte ihr nicht nur eine Menge über ihren eigenen Zustand, sondern machte sie auch wütend, und dass diese Wut zum Großteil ihr selbst galt, machte es allenfalls schlimmer.
»Und jetzt erwartest du, dass ich dir vor lauter Dankbarkeit um den Hals falle, wie?«, fragte sie herausfordernd.
»Nur, wenn ich vorher deine Hände sehen kann«, antwortete Rahn, »um mich davon zu überzeugen, dass du kein Messer darin hast, um mir die Kehle durchzuschneiden.«
»Nur keine Sorge«, erwiderte Arri boshaft. »Anderen hinterrücks ein Messer an die Kehle zu setzen überlasse ich dir. Du hast schließlich mehr Übung darin.«
Sie bedauerte die Worte schon, bevor sie ganz über ihre Lippen gekommen waren. Nicht, weil sie Rahn nicht verletzen wollte - ganz gewiss nicht -, aber ganz gleich, ob er sich nun darüber ärgerte (was sie inständig hoffte) oder auch nicht: Mehr als alles andere mussten ihm ihre Worte ihre Schwäche klarmachen. Dabei hatte sie sich fest vorgenommen, sich nicht herausfordern zu lassen, auch und schon gar nicht von Rahn.
Der Fischer antwortete erst nach einer Weile - und vollkommen anders, als sie erwartet hatte. »Es tut mir Leid, wenn ich dir wehgetan habe«, sagte er ernst. »Das wollte ich nicht. Aber es war die einzige Möglichkeit.«
»Wofür?«, fragte Arri böse. »Mich ein bisschen zu begrabschen?«
»Dir das Leben zu retten«, antwortete Rahn.
»Ja, sicher«, erwiderte Arri höhnisch. »Wenn das deine Art ist, jemandem das Leben zu retten, dann kann ich ja wirklich froh sein, dass du nicht mein Feind bist, wie?« Allmählich verspürte sie das Bedürfnis, sich selbst zu ohrfeigen. Warum hielt sie nicht einfach den Mund? Auf dem Weg hierher, und nachdem ihre erste Wut verraucht war, war sie zu dem Entschluss gekommen, gar nichts mehr zu sagen, bis dieser Albtraum - so oder so - vorüber war, und auch keinerlei Fragen zu beantworten (es sei denn, man zwang sie dazu), was sicherlich ein sehr kluges Vorhaben war. Nun aber schien plötzlich jede Vernunft dahin. Sie wollte einfach um sich schlagen und jemandem wehtun. Am allerliebsten natürlich Sarn und noch lieber Nor, aber wenn gerade keiner der beiden bei der Hand war, tat es Rahn zur Not auch.
Vielleicht, um nicht noch mehr zu sagen, was ihr später wieder Leid täte (und um ehrlich zu sein, weil sie immer noch verdammt hungrig war), hob sie die Schale und fuhr fort, den Rest des klebrigen Zeugs in sich hineinzuschaufeln. Was sie nicht daran hinderte, mit vollem Mund und nahezu unverständlich fortzufahren: »Stopfst du alle deine Freunde in einen Sack und zwingst sie, tagelang mit einem gebrochenen Bein zu marschieren?«
»Sarn war sehr wütend darüber«, sagte Rahn.
»Worüber? Dass du mir nicht auch noch die Füße zusammengebunden und mich wie ein erlegtes Schwein hinter dir hergeschleppt hast?«
»Er hatte mir aufgetragen, dich zu töten«, antwortete Rahn. »Es war nicht leicht, ihn davon zu überzeugen, dass du lebend wertvoller für uns bist, solange deine Mutter noch am Leben oder zumindest in Freiheit ist. Sein Befehl lautete, dich zu töten, sobald wir deiner habhaft werden.«
Diesmal stopfte sich Arri so viel von dem klebrigen Zeug in den Mund, dass sie fast glaubte, daran ersticken zu müssen, nur damit sie auf gar keinen Fall antworten konnte. Das Schlimme war, dass sie Rahn glaubte, obwohl sie sich mit aller Kraft dagegen sträubte, und sie hätte in diesem Moment lieber ihre eigene Zunge verschluckt, bevor sie das zugab.
»Und um deine nächste Frage gleich zu beantworten«, fuhr Rahn fort, nachdem er offensichtlich eingesehen hatte, dass er keine Antwort mehr bekommen würde, »bisher ist es Nors Kriegern noch nicht gelungen, Lea einzufangen. Und ich bin auch ziemlich sicher, dass sie noch lebt.«
»Warum?«, fragte Arri gegen ihren Willen und schalt sich im gleichen Atemzug eine Närrin. Was für eine Frage! Selbstverständlich war ihre Mutter noch am Leben, schon weil sie eben ihre Mutter war und somit gar nicht sterben konnte, weil Mütter grundsätzlich unsterblich waren.
Arri hörte für einen Moment auf zu kauen. Was waren das für unsinnige Gedanken? Stirnrunzelnd musterte sie die fast geleerte Schale in ihrer Hand. Ob Rahn ihr etwas ins Essen gemischt hatte, das ihre Gedanken verwirrte?
Nein, entschied sie. So schlau war Rahn nicht.
Aber vielleicht ein anderer, der ihn geschickt hatte...
Trotzdem aß sie nach kurzem Zögern weiter. Vergiftet oder nicht, sie würde sowieso verhungern, wenn sie nichts aß, und es war letzten Endes egal, was sie umbrachte. Rahn lachte, als hätte er ihre Gedanken erraten und fände sie genauso kindisch wie sie selbst. »Weil ich es Nors Kriegern nicht zutraue, deine Mutter zu finden, wenn sie selbst es nicht will. Jedenfalls hoffe ich es, um ihretwillen. Außerdem ist deine Mutter viel zu stur, um zu sterben, so lange du nicht in Sicherheit bist. Du kennst sie.«
»Das habe ich nicht gemeint«, antwortete Arri. »Warum hast du mich nicht getötet, wenn Sarn es dir doch angeblich befohlen hat? Du tust doch sonst alles, was er von dir verlangt.« Das war schlichtweg nicht wahr, wie sie beide wussten. Außerdem überzeugte die Feindseligkeit in ihrer Stimme mittlerweile nicht einmal mehr sie selbst.
»Ich kann dich verstehen«, fuhr Rahn fort. »Ich an deiner Stelle würde mir wahrscheinlich genauso wenig trauen. Aber das solltest du. Ich bin nämlich der Einzige, der noch auf deiner Seite steht.«
»Sicher«, antwortete Arri spöttisch. »Deshalb hast du uns auch an Sarn verraten, nicht wahr? Oder hat er über Nacht das Spurenlesen gelernt?«
»Er nicht«, antwortete Rahn, so ruhig und unaufgeregt, als hätte er ganz genau diese Frage erwartet und sich die Antwort sorgsam zurechtgelegt. »Aber die Männer, die Nor zu seiner Unterstützung geschickt hat. Und es war auch nicht so schwer, eurer Spur zu folgen. Ich glaube, selbst ich hätte es gekonnt, wenn es nötig gewesen wäre. Deine Mutter wird allmählich nachlässig. Oder ihr wart wirklich in sehr großer Eile.«
Arri entging die verkappte Frage keineswegs, die sich in dieser scheinbar beiläufigen Feststellung verbarg, aber sie hütete sich, auch nur irgendetwas darauf zu sagen, sondern beugte sich tiefer über die Schale und tat so, als brauchte sie ihre gesamte Konzentration, um die einfache Aufgabe zu bewältigen, den zähen Brei aus der Schale in ihren Mund zu befördern - was der Wahrheit im Übrigen ziemlich nahe kam. Das bisschen Schlaf, das sie bekommen hatte, war keineswegs genug gewesen, um sie wirklich zu erfrischen, und ihre Gedanken bewegten sich immer mühsamer, statt allmählich in Schwung zu kommen, was sie doch eigentlich sollten.
»Du rechnest damit, dass deine Mutter zurückkommt, um dich zu befreien«, fuhr Rahn fort. »Aber darauf solltest du dich besser nicht verlassen.«
»Ach ja, und warum nicht?«
»Weil ich nicht glaube, dass sie dazu in der Lage ist.«
»Wieso?«
»Du weißt, wo wir hier sind?«, fragte Rahn, statt direkt zu antworten.
Natürlich wusste Arri das. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein.«
»Goseg. Und du weißt, was Goseg ist?«
»Nors Heiligtum«, antwortete Arri. »Der große Tempel, in dem er und die anderen Priester zu den Göttern sprechen.«
»Ja, auch das«, sagte Rahn. Seine Stimme klang plötzlich belustigt, allerdings auf eine Art, als halte er noch eine wenig angenehme Überraschung für Arri bereit und freue sich insgeheim schon darauf, sie ihr unter die Nase zu reiben. »Warst du schon einmal hier?« Arri wusste, dass er die Antwort auf diese Frage genauso gut kannte wie sie, aber sie tat ihm trotzdem den Gefallen, den Kopf zu schütteln. »Dann weißt du wohl auch nicht, dass Goseg zwar ein mächtiges Heiligtum ist, zugleich aber auch eine gewaltige Festung«, fuhr Rahn fort. »Deine Mutter kann dich hier nicht heraushauen.«
»Und?«, fragte Arri. Worauf wollte er hinaus?
»Du verstehst es immer noch nicht, wie?«, seufzte Rahn. »Nicht einmal deine Mutter kann dich hier gewaltsam herausholen. Dazu brauchte sie ein ganzes Heer. Und wir waren einen ganzen Tag und fast zwei Nächte unterwegs, um hierher zu gelangen. Wenn deine Mutter also in der Lage wäre, dich zu befreien, dann hätte sie es wohl auf dem Weg hierher getan, statt abzuwarten, bis die Männer dich in Nors Festung brachten.«
Arri starrte ihn finster an. »Du willst mir Angst machen.«
»Ich will nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst«, sagte Rahn. »Deine Mutter wird nicht kommen, um dich zu retten. Jedenfalls nicht schnell genug.«
»Hast du nicht gerade erst lang und breit versucht, mich vom Gegenteil zu überzeugen?«, fragte Arri. Ob Rahn es nun beabsichtigt hatte oder nicht: Er hatte ihr Angst gemacht.
Weil er nämlich Recht hatte.
»Ich bin sicher, dass deine Mutter noch lebt.« Rahns Kleider raschelten, als er sich bewegte. »Aber sie wird nicht kommen, um dich zu retten.«
»Und warum erzählst du mir das?«, fragte Arri patzig. »Wirst du mir gleich anbieten, mich laufen zu lassen, wenn ich dafür alles tue, was du verlangst?«
Rahn seufzte. Der Laut klang... enttäuscht. »Selbst wenn ich so dumm wäre, das zu versuchen, würden wir nicht besonders weit kommen, fürchte ich.« Nach einem kurzen Moment und mit einem leisen Lachen, von dem Arri nicht sagen konnte, ob es nun boshaft oder einfach nur spöttisch klang, fügte er hinzu: »Außerdem: Warum sollte ich für etwas bezahlen, was ich mir sowieso jederzeit nehmen kann, wenn ich es will?«
Das Rascheln, das Arri schon mehrmals gehört hatte, wiederholte sich und wurde nun deutlicher, und gleichzeitig bewegte sich der Schatten heftiger. Arri schielte unauffällig über den Rand ihrer Schale in Rahns Richtung und spannte sich zugleich, falls er sich auf sie zu stürzen gedachte, aber sie wusste auch, wie wenig sie Rahn entgegenzusetzen hatte. Er war doppelt so stark wie sie - mindestens -, und dass all die kleinen hinterhältigen Tricks, die ihre Mutter ihr beigebracht hatte, nicht jeden Unterschied in Kraft und Entschlossenheit wettmachen konnten, das hatte ihr Rahn vor gar nicht allzu langer Zeit schließlich auf ziemlich schmerzhafte Art und Weise deutlich gemacht.
Und selbst, wenn es anders gewesen wäre - wie sollte sie sich wohl gegen ihn verteidigen, hier drinnen und mit einem Bein, das schon unerträglich wehtat, wenn sie es nicht belastete? Trotzdem versuchte sie sich unauffällig in eine Lage zu bringen, in der sie ihm wenigstens symbolisch Widerstand leisten konnte. Im allerersten Moment ging es sogar, dann bohrte sich ohne jede Warnung eine glühende Nadel aus reinem Schmerz durch ihr Knie, und Arri schrie auf, ließ die Schale fallen und krümmte sich.
»Nicht so laut, habe ich gesagt!«, zischte Rahn. »Die Wachen!«
Zugleich sprang er endgültig auf die Füße und war mit einer einzigen, fließenden Bewegung bei ihr, noch immer kaum mehr als ein Schatten, aber jetzt immerhin ein Schatten mit einem Gesicht. Einem Gesicht, auf dem Arri zu ihrem Erstaunen einen Ausdruck echter Sorge zu erkennen glaubte.
Sie prallte erschrocken ein Stück weit von ihm zurück... wenigstens wollte sie es, doch der harte Stein in ihrem Rücken ließ es nicht zu. Unwillkürlich hielt sie den Atem an.
»Was hast du?«, fragte Rahn. Arri antwortete nicht, schon weil sie es gar nicht konnte, aber Rahn schien es wohl auch so zu erraten oder an ihrer unnatürlich verkrampften Haltung abzulesen. Er sah ihr einen Herzschlag lang aufmerksam ins Gesicht, dann wich er in der Hocke ein Stück zurück, beugte sich über sie und schob ihren Rock nach oben - deutlich höher, als nötig gewesen wäre, um ihr Knie in Augenschein zu nehmen, wie Arri fand.
»Das sieht nicht gut aus«, sagte er, nachdem er ihr Bein einige Augenblicke lang - und Arris Meinung nach auch jetzt deutlich länger als notwendig, wobei sich seine Untersuchung ganz und gar nicht nur auf ihr Knie beschränkte - in Augenschein genommen hatte.
»Vielen Dank auch für die netten Worte«, gab Arri zurück. Dass ihre Stimme zitterte und sie dabei die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht vor Schmerz zu stöhnen, verdarb ihr zwar ein wenig die beabsichtigte Wirkung, aber sie fuhr trotzdem fort: »Es ist noch gar nicht so lange her, da hat es dir offensichtlich besser gefallen.«
Rahn tat so, als hätte er die Spitze nicht verstanden, und noch vor wenigen Tagen hätte Arri ihm das sogar geglaubt. Jetzt war sie nicht mehr sicher. Der Rahn, der zu ihr in diese Kammer gekommen war, schien nicht mehr viel mit dem tumben Fischer gemein zu haben, den sie zeit ihres Lebens gekannt hatte. Sie fragte sich plötzlich, ob sie ihn tatsächlich gekannt hatte.
Einen Moment später keuchte sie vor Schmerz auf und konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken, als Rahn sich abermals vorbeugte und mit den Fingerspitzen, aber alles andere als vorsichtig über ihre angeschwollene Kniescheibe und das aufgedunsene Fleisch darunter tastete. Es tat so weh, dass ihr übel wurde.
»Entschuldige. Ich wollte dir nicht wehtun.« Rahn schüttelte den Kopf. »Aber es scheint nicht gebrochen oder ernsthaft verletzt zu sein. Ich verstehe zwar nicht so viel davon wie deine Mutter, aber ich glaube, es kommt wieder in Ordnung, wenn du dein Bein ein paar Tage schonst.«
»Wie schade«, presste Arri zwischen immer noch zusammengebissenen Zähnen hervor. »Dabei hatte ich doch vor, gleich morgen nach Sonnenaufgang einen langen Spaziergang zu machen.«
»Daraus wird wohl nichts«, gab Rahn in vollkommen ernstem Ton, dennoch aber mit einem angedeuteten Lächeln und einem mehr als angedeuteten, spöttischen Aufblitzen in den Augen zurück. »Es tut mir wirklich Leid.«
»Ja, ganz bestimmt«, erwiderte Arri gepresst. »Wie sehr du dich um mein Wohl gesorgt hast, das habe ich auf dem Weg hierher gemerkt. Vielen Dank auch noch mal.«
Rahn fuhr eindeutig schuldbewusst zusammen, und allein dass sie sah, wie sehr ihre Worte ihn trafen, ließ sie im gleichen Tonfall hinzufügen: »Aber was habe ich anderes erwartet, von einem Verräter wie dir?«
»Ich habe euch nicht verraten«, sagte Rahn. Dasselbe hatte er vorher schon gesagt, aber da war er nur eine Stimme ohne Körper gewesen, irgendwo verborgen in den Schatten auf der anderen Seite des Raumes. Nun sah sie in seine Augen, während er sprach, und da war keine Spur von Lüge, von Heimtücke oder auch nur Trotz. Er hörte sich verletzt an; ein Mann, dem man Unrecht getan hatte und den dies schmerzte.
»Natürlich nicht«, gab Arri zurück. »Ich bin sicher, du warst nur ganz zufällig dabei, als Sarn und seine Krieger uns eingeholt haben.«
»Ich habe auf euch gewartet«, erwiderte Rahn, »genau wie deine Mutter es von mir verlangt hatte. Als sie nicht gekommen ist, habe ich mir dann Gedanken gemacht. Es war Lea. Ich habe mein Wort nicht gebrochen.«
Arri presste die Lippen zusammen und starrte ihn an. Was sollte sie auch anderes tun? Er hatte ja Recht.
»Ich wollte zurückgehen, um nachzudenken und mir darüber klar zu werden, was ich tun sollte«, fuhr er fort, leise, aber plötzlich eindeutig im Tonfall trotziger Verteidigung. Er hob die Schultern. »Auf halbem Weg ist mir Sarn zusammen mit den Kriegern aus Goseg entgegengekommen. Er hat mich gefragt, wo ich herkomme, und ich habe die Wahrheit gesagt und geantwortet, dass ich im Haus deiner Mutter war, um mit ihr zu reden. Er hat mir befohlen, ihn und die Krieger zu begleiten. Was hätte ich wohl tun sollen - deiner Meinung nach?«
Arri fielen auf Anhieb ein Dutzend Dinge ein, die er besser getan hätte, statt sich dem Schamanen und den Kriegern anzuschließen, aber das tat nun nichts mehr zur Sache. Sie starrte Rahn nur weiter durchdringend und mit einem Zorn in den Augen an, den sie nur noch mit immer größerer Mühe aufrechterhalten konnte.
Das Schlimme war, dass sie ihm auch diesmal insgeheim Recht geben musste. Es war ihre Mutter gewesen, die ihr Wort gebrochen hatte, nicht er. Was hatte sie zur Sarn gesagt, als er sie aufgefordert hatte, sich zu ergeben? Mein Wort gilt nicht? Arri hatte es für eine Finte gehalten, und wahrscheinlich war es das auch, aber vielleicht nicht nur. Was, wenn Lea in diesem Augenblick zum ersten Mal die Wahrheit gesagt hatte und ihr Wort wirklich nicht galt?
Natürlich war das Unsinn.
Arri schämte sich ihres eigenen Gedankens. Aber einmal gedacht, nahm er Bestand an, und auch wenn sie ihn mühsam niederkämpfte, so saß er doch wie ein Stachel in ihrer Seele und begann schon jetzt, ihre Gefühle zu vergiften. »Was willst du von mir, verdammt?«, fuhr sie ihn an.
Statt direkt zu antworten, blickte Rahn sie nur einen weiteren Moment lang auf diese unentschlossene, aber auch mehr denn je enttäuschte Weise an, dann hob er die Schultern, seufzte leise und glitt in der Hocke ein kleines Stück von ihr zurück. Seine linke Hand kroch unter den Umhang, den er sich lose um die Schultern geworfen hatte, und kam gleich darauf mit einem gut faustgroßen Beutel aus Leder wieder hervor. Als er ihn zu Boden setzte, hörte Arri das Geräusch von Wasser, das ihren Durst sofort wieder anfachte.
Rahn machte jedoch keine Anstalten, ihre Schale noch einmal zu füllen, was sie insgeheim beim Anblick des Wasserbeutels gehofft hatte. Stattdessen griff er noch einmal unter seinen Mantel und zog ein unordentlich zusammengeknülltes Tuch hervor, das er mit dem mitgebrachten Wasser tränkte, bevor er den Beutel sorgfältig wieder verschloss. Arri sah mit wachsender Verwirrung zu, wie er sich wieder vorbeugte und dann mit dem nassen Tuch über ihr Bein zu streifen begann. Die bloße Berührung tat schon wieder so weh, dass sie die Zähne zusammenbiss, aber es verging nur ein kurzer Augenblick, bis das kalte Wasser seine Wirkung zeigte: Der Schmerz erlosch nicht, wurde aber erträglicher, und sie fühlte, wie sich die verkrampften Muskeln in ihren Beinen ganz allmählich zu lockern begannen.
Rahn beließ es allerdings nicht dabei, nur ihr geschundenes Knie zu säubern und gleichzeitig zu kühlen. Als er damit fertig und offensichtlich mit den Ergebnissen seiner Bemühung zufrieden war, befeuchtete er das Tuch neu und säuberte ihren Unterschenkel bis zum Knöchel hinab, und dann machte er sich daran, auch ihr Bein oberhalb des Knies zu säubern. Was er sah, schien ihm ganz eindeutig zu gefallen, obwohl ihr Knie hässlich angeschwollen war und ihre Haut nicht nur hoffnungslos verdreckt und zerschunden und mit zahllosen Schrammen, Kratzern und verschorften Wunden übersät war und sie noch dazu so erbärmlich roch, dass es ihr selbst unangenehm war. Seine Bewegungen wurden sanfter. Seine Finger strichen wie zufällig über ihre Haut, während er mit dem Tuch kleine, kreisende Bewegungen über ihren Unterschenkel vollführte und dabei immer höher fuhr und so tat, als wolle er den Schmutz von ihrer Haut waschen. Und da war etwas in seinen Augen, was Arri zugleich erschreckte, wie es ihr auch auf eine Art gefiel, die sie noch viel mehr erschreckte.
Natürlich wäre Rahn nicht Rahn gewesen, wäre da nicht ein lüsternes Funkeln gewesen. Aber gleichzeitig war da noch mehr. Etwas, das sie bisher allenfalls an Dragosz gesehen hatte - wobei sie nicht einmal sicher war, dass es tatsächlich da gewesen war oder sie es nur gesehen hatte, weil sie es hatte sehen wollen.
Aber doch nicht... Rahn!
Arri verscheuchte nicht nur fast erschrocken den Gedanken, sondern schlug auch mit einer übertrieben zornigen Bewegung seine Hand beiseite. »Lass das!«, sagte sie scharf. »Wenn du mich anrührst, werde ich schreien!«
»Um was zu erreichen?«, fragte Rahn beleidigt, zog aber trotzdem gehorsam die Hand zurück, klaubte dann nach einem weiteren Moment, in dem er sie ebenso kühl wie abfällig gemustert hatte, Wasserbeutel und Lappen auf und wich mit einer ungeschickt aussehenden, froschartigen Bewegung in der Hocke um zwei oder drei Schritte vor ihr zurück, sodass sie sich ganz eindeutig nicht mehr in seiner Reichweite befand. Doch nun konnte sie auch sein Gesicht nicht mehr erkennen, er war nun wieder - fast - eine Stimme ohne Körper; etwas, das sie plötzlich so sehr verunsicherte, dass sie sich um ein Haar bei ihm entschuldigt und ihn gebeten hätte, wieder näher zu kommen.
Und vielleicht hätte sie es tatsächlich getan, wäre er nicht noch abfälliger fortgefahren: »Die Wachen rufen?« Er lachte. »Was glaubst du, was sie mit dir tun würden, was ich ganz bestimmt nicht tue?«
»Glaubst du, das macht mir Angst?«, fragte Arri patzig. Natürlich machte es ihr Angst. Die bloße Vorstellung war schon fast mehr, als sie ertragen konnte. Trotzdem fuhr sie in noch höhnischerem, ganz bewusst verletzend gemeintem Ton fort: »Ruf doch deine Wachen, wenn du glaubst, dass mich das beeindruckt. Sollen sie doch mit mir machen, was sie wollen! Das ist mir noch immer hundertmal lieber, als wenn du es tust.«
Sie konnte Rahns Gesicht nicht sehen, und er gab auch nicht den geringsten Laut von sich, aber sie spürte, wie sehr ihn ihre Worte trafen. Für einen Moment wurde es sehr still. Mit dem nächsten Atemzug bedauerte sie ihre Worte so sehr, dass sie sich am liebsten selbst geohrfeigt hätte, und wäre auch nur noch ein einziger, weiterer Moment verstrichen, so hätte sie Rahn um Verzeihung gebeten und ihm zu erklären versucht, dass es nur Angst und Unsicherheit und kindischer Trotz waren, die sie das hatten sagen lassen.
Rahn gab ihr diesen Moment nicht. Gerade als Arri dazu ansetzte, etwas zu sagen, stand er mit einem Ruck auf, beugte sich dann noch einmal - sehr schnell - herab, um die beiden Schalen aufzusammeln, in denen er ihr Wasser und Essen gebracht hatte, und wich dann mit einer zornigen Bewegung endgültig in die Dunkelheit zurück. Sie konnte hören, wie er sich an der Tür zu schaffen machte.
»Wenn es mir gelingt, mich an den Wachen vorbeizuschleichen, dann bringe ich dir in der nächsten Nacht wieder etwas zu essen«, sagte er. »Aber verlass dich besser nicht darauf. Nors Männer sind wachsam.« Und damit öffnete er die Tür. Arri sah für einen winzigen Augenblick den schmalen Ausschnitt eines wolkenverhangenen Nachthimmels und flackernde, düsterrote Glut, die irgendwo von links kam, dann schlüpfte er durch den Spalt hinaus, und die Tür schloss sich wieder hinter ihm. Sie hörte noch, wie etwas mit einem schweren Geräusch vorgelegt wurde, vermutlich ein Riegel, dann war sie wieder allein.
Vollkommene Dunkelheit hüllte sie ein.
Arri saß lange, sehr, sehr lange in dieser absoluten Schwärze da, und sie merkte nicht einmal selbst, wie sie sich in den Schlaf weinte.