26

Sie erwachte mit hämmernden Kopfschmerzen, einem üblen Geschmack im Mund und dem sicheren Wissen, nicht lange genug geschlafen zu haben, nicht einmal wirklich lange. Jemand - ihre Mutter, wer sonst? - rüttelte an ihrer Schulter, beinahe sanft, aber doch mit einer fast unangenehmen Beharrlichkeit, die es unmöglich machte, die Berührung aus ihren Gedanken auszuschließen und sich in die verlockende Umarmung des Schlafes zurücksinken zu lassen, was sie lieber als alles andere getan hätte. Und sie glaubte auch, ihre Stimme zu hören, aber sie war noch viel zu benommen, um die Worte zu verstehen, geschweige denn, es zu wollen.

Aber natürlich ließ der Quälgeist keine Ruhe. Das Rütteln an ihrer Schulter hielt an, und auch Leas Stimme wurde drängender und zugleich klarer. »Arianrhod, wach auf. Es ist Zeit.«

»Zeit wofür?« Arri hob widerwillig das linke Augenlid und schloss es hastig wieder, als sich das Sonnenlicht wie ein dünnes, weiß glühendes Messer tief in ihren Schädel bohrte.

»Arianrhod, Liebling - es ist Zeit. Du musst aufwachen.«

Möglicherweise war es genau dieses Wort, das Arri endgültig in die Wirklichkeit zurückbrachte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihre Mutter sie das letzte Mal Liebling genannt hatte, oder ob überhaupt. Verwirrt hob sie abermals die Augenlider und sah zu ihrer Mutter hoch. Lea sah mit einem Ausdruck unübersehbarer Sorge auf sie herab, aber sie wirkte zugleich auch sehr entschlossen. Außerdem stimmte etwas mit dem Licht nicht, das hinter ihr durch den Vorhang fiel. »Was...?«, nuschelte Arri.

»Du musst aufwachen«, sagte ihre Mutter. »Es ist Zeit.«

Zeit wozu?, dachte Arri benommen. Müde blinzelte sie an Lea vorbei in Richtung der Tür. Der Muschelvorhang verhinderte, dass sie mehr als vage Schatten erkennen konnte, aber ihr war immerhin klar, dass es draußen zu hell war.

»Was... ist denn los?«, murmelte sie schlaftrunken, während sie sich benommen auf die Ellbogen hochstemmte und ein paar Mal blinzelte, damit sich ihr Blick klärte.

»Wir müssen los«, sagte ihre Mutter noch einmal. »Hier. Trink das.« Sie reichte Arri eine Schale mit kaltem Wasser, die sie zwar gehorsam entgegennahm, aber noch nichts davon trank, obwohl sie durstig war. »Los?«, wiederholte sie verständnislos. »Aber es ist doch erst...«

»Ich weiß, wie spät es ist«, unterbrach sie Lea. Arris Blick klärte sich allmählich, und wenn auch nicht ganz, so sah sie doch immerhin, dass ihre Mutter ihr Winterkleid angezogen und die Risse in ihrem Umhang geflickt und die Flecken entfernt hatte, so gut es eben ging. Ihr Gesicht war noch immer sehr blass, und die Ringe unter ihren Augen waren eher noch tiefer geworden, aber sie war sauber gewaschen, und ihr Haar glänzte, als hätte sie es den ganzen Tag gekämmt. Besonders viel geschlafen hatte sie offensichtlich nicht; falls überhaupt.

»Was ist denn los?«, murmelte sie, immer noch benommen und schlaftrunken, aber doch allmählich wacher werdend.

»Trink«, sagte ihre Mutter. »Und dann steh auf. Es wird Zeit.«

Sie sagte nicht, wozu, und Arri ersparte es sich, die Frage noch einmal laut zu stellen. Sie hätte sowieso keine Antwort bekommen, wozu sich also die Mühe machen? Gehorsam setzte sie die Schale an die Lippen, trank zuerst einen kleinen, vorsichtigen Schluck, dann, als das kalte Wasser ihren Durst erst richtig entfachte, einen zweiten und sehr viel größeren, und leerte sie schließlich zur Gänze, als ihre Mutter auffordernd nickte. Das Wasser war nicht nur eiskalt und frisch, es schmeckte auch ganz leicht nach Kräutern; vielleicht hatte ihre Mutter etwas hineingetan, was ihr helfen sollte, wieder zu Kräften zu kommen oder zumindest schneller wach zu werden. Eigentlich sollte sie das beunruhigen, denn obwohl Lea niemals müde wurde, ihr von den gewaltigen Heilkräften vorzuschwärmen, die die Natur besaß, erwähnte sie jedoch beinahe ebenso oft, wie gefährlich und dumm es doch war, diese Kräfte zu oft und zu leichtfertig einzusetzen. Aber vielleicht übertrieb sie es jetzt auch mit ihrem Misstrauen.

»Bist du so weit?«, fragte Lea und riss sie damit reichlich unsanft aus ihren Gedanken.

Die ehrliche Antwort auf diese Frage wäre ein klares Nein gewesen - ganz gleich, was Lea auch immer damit meinen mochte -, aber Arri blinzelte ihre Mutter nur verständnislos an und fragte dann: »Wie weit?«

Lea machte eine Kopfbewegung zur Tür hin; unwillig, wie es Arri vorkam. »Wir müssen weg. Es ist Zeit.«

Zeit wofür?, fragte sich Arri zum wiederholten Male. Ein einziger Blick in das Gesicht ihrer Mutter machte ihr jedoch klar, dass es wenig ratsam wäre, diese Frage noch einmal zu stellen. Lea wirkte unruhig, fast ein wenig besorgt, und schon wieder gereizt. Statt auch nur irgendetwas zu sagen, stand Arri auf, strich sich mit beiden Händen glättend über ihre Kleider, was vollkommen unangemessen war - und nickte dann. Wenn diese Bewegung ihre Mutter auch nur mit der Andeutung von Zufriedenheit erfüllte, dann verbarg sie es meisterhaft, denn sie drehte sich mit einer eindeutig zornigen Bewegung um, ging zum Ausgang und schlug den Muschelvorhang so wuchtig beiseite, als stünden ihr dort Rahn oder gar Sarn im Wege und wollten sie am Verlassen der Hütte hindern.

Trotz allem fühlte Arri sich immer noch benommen und schläfrig, sodass sie Leas überdeutliche Aufforderung offensichtlich nicht rasch genug befolgte, denn das Gesicht ihrer Mutter verfinsterte sich noch mehr, und Arri konnte sehen, wie schwer es ihr fiel, eine bissige Bemerkung zurückzuhalten. Sie beherrschte sich jedoch und beließ es bei einem ungeduldigen Blick und einem ärgerlichen Zusammenpressen der Lippen, bis Arri an ihr vorbei und auf die oberste Stufe der steilen Stiege getreten war.

Sie hielt inne. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, aber der Tag war trüb. Es gab keine Wolken, doch aus dem sonst so strahlenden Blau des Firmaments war ein verwaschenes Grau geworden, und obwohl es nicht wirklich kalt war, fröstelte Arri doch im allerersten Moment, denn der Anblick machte ihr endgültig und unwiderruflich klar, wie nahe der Winter bereits war. Sie wusste, dass es nicht sein konnte, aber sie glaubte bereits Schnee in der Luft zu riechen.

»Worauf wartest du?«, drängte Lea hinter ihr. Arri setzte sich ohne zu zögern in Bewegung, blieb aber unmittelbar am Fuß der Stiege abermals stehen und sah sich schaudernd nach rechts und links um. Ohne dass sie sich der Bewegung auch nur selbst bewusst gewesen wäre, zog sie den Umhang enger um die Schultern zusammen. Es war beinahe Mittag, dem Stand der Sonne nach zu schließen, und die fast weiß brennende Sonnenscheibe am Himmel hatte trotz allem noch immer genug Kraft, um die Nachtkälte längst vertrieben zu haben. Aber es war auch nicht die äußere Kälte, die sie frösteln ließ, sondern etwas, das aus ihrem Inneren kam. Arri schob das Gefühl auf die überstandenen Strapazen und ihre Müdigkeit, die einfach nicht weichen wollte, obwohl sie wahrlich lange genug geschlafen hatte.

»Worauf wartest du?«, fragte ihre Mutter noch einmal, nachdem sie die unterste Treppenstufe erreicht und eine Weile vergebens darauf gewartet hatte, dass Arri beiseite trat und ihr Platz machte. Diesmal antwortete sie. »Wohin gehen wir?«

»Fort«, antwortete Lea.

Arri war nur im allerersten Moment über diese Antwort verärgert; gerade so lange, wie sie brauchte, um zu begreifen, dass dies nicht einfach nur wieder die übliche, unwillige Art ihrer Mutter war, auf Fragen zu antworten, die sie für überflüssig hielt oder auf die sie einfach nicht antworten wollte. Diesmal war es die Wahrheit gewesen. Sie hatte es ihr gesagt, und dennoch erschreckte dieses eine Wort Arri nun so sehr, dass sie zwei Schritte vor ihrer Mutter zurückprallte und sie aus aufgerissenen Augen anstarrte. Ja, sie würden fortgehen, und das wortwörtlich und wahrscheinlich für immer.

Unwillkürlich wollte sie sich in die Richtung wenden, in der das Dorf lag, doch ihre Mutter schüttelte den Kopf und deutete gleichzeitig in die andere Richtung, zum Wald hin.

»Aber wir können doch nicht...«, begann Arri und brach wieder ab, ohne den Satz zu Ende gesprochen zu haben.

»Was?«, fragte Lea.

»Aber ich meine... Kron und Achk...«, stammelte Arri. »Sie warten doch darauf, dass...«

»... wir was tun?«, unterbrach sie Lea. Eine schmale Falte erschien zwischen ihren Augenbrauen. »Ihnen helfen? Ihnen etwas bringen, was wir ihnen versprochen haben, was wir aber nicht besitzen? Sie vor etwas schützen, vor dem sie gar nicht beschützt werden wollen?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Glaub mir, mein Kind, auch mir macht der Gedanke zu schaffen, mein Wort zu brechen, aber wir haben keine Wahl. Du hast gehört, was Rahn gesagt hat.«

»Aber warten wir denn nicht auf ihn?«

»Das wäre dumm, meinst du nicht? Und ich habe eigentlich nie etwas Dummes getan, wenn ich es vermeiden konnte. Also komm jetzt mit. Wir haben einen weiten Weg vor uns.«

Arri zögerte noch immer, aber sie hütete sich, ihre Mutter unnötig zu reizen, indem sie sich ihr zum dritten Mal hintereinander widersetzte; obwohl sie das unbestimmte Gefühl hatte, trotz allem eine sonderbare Art von Sanftmut an Lea zu spüren. Gehorsam - wenn auch alles andere als schnell - wandte sie sich zum Waldrand und setzte sich in Bewegung. Kurz bevor sie in das Unterholz eindrangen, blieb sie jedoch noch einmal stehen und sah zurück. Eben noch, vom Fuße der Stiege aus, war das Dorf nicht sichtbar gewesen, von hier aus jedoch konnte sie nicht nur den Weg zum Dorf hinauf einsehen, sondern auch die Stelle, an der Achks Schmiede gestanden hatte. Selbst über die große Entfernung hinweg erkannte sie die schwarze Narbe, die das Feuer in den Wald geschlagen hatte, und für einen winzigen Moment meinte sie sogar eine Bewegung unmittelbar am Waldrand wahrzunehmen; vielleicht eine Gestalt, die aus dem Wald hinausgetreten war und in ihre Richtung sah. Achk, der dort unten stand und ihrer feigen Flucht aus seinen erloschenen Augen nachsah?

Aber das war unmöglich. Achk war blind, und selbst wenn er es nicht gewesen wäre - Arri hatte selbst oft genug da gestanden und genau in diese Richtung geblickt, um zu wissen, dass der Waldrand von dort aus betrachtet nichts weiter als eine schwarz-grüne Mauer war, die alles verschlang, was sich davor bewegte. Und trotzdem...

»Ich weiß, dass es wehtut, aber glaub mir, du wirst darüber hinwegkommen.«

Arri riss ihren Blick von der gar nicht vorhandenen Gestalt am Rand des Dorfes los und drehte sich fragend zu ihrer Mutter um. Nicht nur in ihrer Stimme hatte ein vollkommen ungewohnter, neuer Ton von Sanftmut und Verständnis mitgeschwungen, auch auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, der Arri im allerersten Moment so sehr überraschte, dass er schon fast wieder erschreckend wirkte. »Was... wovon sprichst du?«, murmelte sie verstört; obwohl sie tief in sich ganz genau wusste, was Lea meinte. Es war nicht so, dass sie sie nicht verstanden hätte, wohl aber so, dass sie diese Reaktion von ihrer Mutter zuallerletzt erwartet hätte. Und schon gar nicht jetzt.

»Es tut weh zu gehen«, antwortete Lea mit einem milden, verständnisvollen Lächeln, das ebenso wenig oder vielleicht noch viel weniger zu dem passte, was Arri erwartet hätte. »Selbst, wenn man meint, es gern zu tun - ganz gleich, was man vorher auch gesagt oder getan hat.«

Arri konnte sich nicht erinnern, jemals gesagt zu haben, dass sie von hier weg wollte. Sie hatte es oft gedacht, es sich noch viel öfter gewünscht, es aber niemals ausgesprochen; nicht so, dass ihre Mutter oder auch nur sie selbst es ernst genommen hätten - und doch spürte sie plötzlich, dass Lea ihre geheimsten Gedanken so klar erraten hatte, als könne sie ohne Mühe bis auf den Grund ihrer Seele blicken; vielleicht tiefer hinab, als sie es selbst konnte. Mit einem Mal erinnerte sie sich an das Gespräch, das sie vor gar nicht langer Zeit im Wald geführt hatten. Ihre Mutter hatte ihr damals lachend erklärt, dass jede Mutter die Gedanken ihrer Kinder erraten könne, und natürlich hatte Arri die Worte nicht ernst genommen. Vielleicht aber stimmte es tatsächlich, zumindest manchmal, und in ganz besonderen Augenblicken wie diesem.

Lea bedeutete ihr weiterzugehen, und diesmal gehorchte Arri. Auf demselben Weg, auf dem sie gekommen waren, und ohne es selbst auch nur zu bemerken, die Füße nahezu genau auf ihre eigenen Spuren setzend, um keine weitere überflüssige Fährte zu hinterlassen, drang sie abermals in den Wald ein und wurde erst langsamer, als ihre Mutter sie an der Schulter berührte und eine Kopfbewegung nach links machte; zwar auch jetzt weiter weg vom Dorf, aber nicht mehr exakt in dieselbe Richtung, die sie bisher stets eingeschlagen hatten. Arri warf ihr einen fragenden Blick zu, beließ es aber auch dabei und ging schließlich für einige wenige Schritte sogar langsamer, bis Lea an ihre Seite getreten war und sie ihr Tempo wieder dem ihrer Mutter anpasste.

Für eine geraume Weile schritten sie schweigend nebeneinander her, dann sagte Arri unvermittelt: »Aber warum tut es so weh?«

»Wegzugehen?«

»Ja«, antwortete Arri einfach, auch wenn das nicht die ganze Antwort war. Seit Lea ihr das erste Mal gesagt hatte, dass sie ihr heimatliches Dorf verlassen würden, hatte sie unzählige Male darüber nachgedacht, wie es sein würde, wegzugehen und andere Orte, andere Menschen, ein anderes Leben kennen zu lernen, aber sie hatte niemals wirklich darüber nachgedacht, was es bedeutete. Für sie war die Vorstellung, dieses Dorf zu verlassen, nichts anderes als ein großes, aufregendes Abenteuer gewesen; etwas wie an jenem Morgen, an dem ihre Mutter sie zum ersten Mal auf die andere Seite des verbotenen Waldes geführt und sie Nachtwind und seine Herde kennen gelernt hatte. Manchmal hatte eine sachte Spur von Bitterkeit in dieser Vorstellung mitgeschwungen, aber sie hatte sie stets rasch verjagt, schon weil sie sich dieses Gefühl nicht erklären konnte und es ihr vollkommen abwegig erschien. Jetzt begriff sie plötzlich, dass ein Teil in ihr geahnt hatte, dass Weggehen auch noch etwas anderes bedeutete.

»Du hast in diesem Dorf viel Schlimmes erlebt«, fuhr ihre Mutter fort, nachdem Arri lange genug geschwiegen hatte, um klarzumachen, dass sie sich die Antwort auf ihre eigene Frage vielleicht selbst geben konnte, sie aber von ihr hören wollte. »Die Menschen hier waren nicht gut zu dir. Du hast viel mehr Schmerz als Freude erlebt. Du bist als Fremde hier aufgewachsen, und diese Menschen haben es dich spüren lassen, jeden Tag, an den du dich erinnern kannst. Du hast niemals wirklich Freunde gefunden, habe ich Recht?«

Arri sah nur stumm zu ihrer Mutter hoch. Sie war nicht sicher, ob Lea und sie unter dem Wort Freunde wirklich dasselbe verstanden. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, war sie nicht einmal ganz sicher, was dieses Wort bedeutete.

»Dein Verstand sagt dir, dass du froh sein müsstest, von hier weg zu kommen«, fuhr Lea fort. »Dass es an jedem anderen Ort besser sein muss als hier, und wahrscheinlich ist das sogar die Wahrheit. Und trotzdem tut es weh, habe ich Recht?«

Arri nickte. Allmählich wurde ihre Mutter ihr unheimlich. Las sie tatsächlich ihre Gedanken?

»Es tut immer weh, etwas Vertrautes zu verlieren, selbst wenn es nicht nur vertraut, sondern auch verhasst ist, Arianrhod. So sind wir Menschen nun einmal. Unsere Neugier auf das Unbekannte ist unstillbar, und doch fürchten wir es fast im gleichen Maße.« Sie lachte leise, aber es klang viel eher bitter als froh. »Vielleicht ist das der eigentliche Unterschied zwischen diesen Menschen hier und uns, weißt du?«

»Dass sie nicht neugierig auf das Unbekannte sind?«

»Dass ihre Furcht vor dem Unbekannten größer als ihre Neugier ist«, antwortete Lea, und ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Aber vielleicht war es ja auch das, was unserem Volk am Ende den Untergang gebracht hat.«

Arri wollte eine entsprechende Frage stellen, doch in diesem Moment hielt ihre Mutter mitten im Schritt inne, hob fast erschrocken die Hand und legte gleichzeitig lauschend den Kopf auf die Seite. Einen Herzschlag lang blieb sie mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem so stehen, dann fiel die Anspannung ebenso plötzlich wieder von ihr ab, wie sie gekommen war.

»Was hast du?«, fragte Arri erschrocken.

»Nichts«, behauptete ihre Mutter. Sie zwang sich zu einem Lächeln, das Arris Beunruhigung aber eher noch schürte. »Ich bin vorsichtig, das ist alles.«

»Glaubst du, dass Rahn...?«

»... uns folgt?«, fiel ihr Lea ins Wort, beantwortete ihre eigene Frage mit einem Kopfschütteln und hob gleich darauf die Schultern. »Ich will es nicht hoffen. Dumm genug dazu wäre er allemal, aber...«

Sie sprach nicht weiter, sondern presste nur die Lippen zu einem dünnen, blutleeren Strich zusammen, doch es wäre auch gar nicht nötig gewesen. Für einen Moment schien es genau anders herum zu sein als bisher: Jetzt war es Arri, die ihre Gedanken so deutlich lesen konnte, als stünden sie ihr auf der Stirn geschrieben. Wenn Rahn tatsächlich so dumm gewesen war, ihnen nachzuschleichen, dann würde er diese Dummheit vermutlich mit dem Leben bezahlen.

»Komm«, sagte Lea, mit einer plötzlich unwilligen Geste tiefer in den Wald hineindeutend. »Gehen wir weiter. Je schneller wir von hier verschwinden, desto besser. Ich werde allmählich unruhig.«

Arri warf ihr einen verstörten Blick zu, aber sie hütete sich auch, nur mit einem einzigen Wort zu widersprechen. Ihre Mutter war wieder so gereizt wie eh und je. Der magische Augenblick der Vertrautheit war vorbei, und jeder Versuch, ihn zurückzuzwingen, würde es nur schlimmer machen. Arri beherrschte ihre Enttäuschung - wenn auch mit Mühe - und unterdrückte sogar den Impuls, sich noch einmal umzudrehen, bevor sie weiterging.

Wahrscheinlich hätte sie es auch gar nicht gekonnt, denn ihre Mutter schlug ein merklich schärferes Tempo an als bisher, sodass es Arri fast schon Mühe kostete, mit ihr Schritt zu halten. Lea nahm dabei weder Rücksicht auf sie noch auf das neue Kleid, das sie an diesem Morgen erst angezogen hatte. So viel zu ihrer Behauptung, sie hätte nichts Verdächtiges gehört, dachte Arri. Sie marschierten in stumpfer Monotonie weiter, bis die Sonne schließlich als rot glühender Ball am Horizont versank und sich der Himmel über der Ebene so fest zuzog, als wolle Mardan, der Nachtgott, eine dicke Decke darüber ausbreiten.

Nach einer geraumen Weile suchte Arri nach einer passenden Ausrede, die es ihr ermöglichen würde, das immer quälender werdende Schweigen zu brechen, ohne dabei das Gesicht zu verlieren. Doch ihre Mutter nahm ihr die Mühe ab. Sie blieb so plötzlich stehen, dass Arri es erst wahrnahm, als sie bereits neben und fast an ihr vorbei war, und hob gleichzeitig warnend die linke Hand. Ihre andere senkte sich rasch und lautlos auf den Schwertgriff hinab.

»Was...«, begann Arri, und brach sofort und erschrocken wieder ab, als Lea ihre warnende Handbewegung heftiger wiederholte und sich gleichzeitig rasch und vollkommen lautlos einmal um sich selbst drehte. Ein angespannter, höchst konzentrierter Ausdruck lag plötzlich auf ihrem Gesicht. Sie hatte etwas gehört.

Auch Arri lauschte angespannt in die Nacht hinein, doch alles, was sie hörte, war das seidige Geräusch, mit dem der Wind durch das Gras strich, und das dumpfe, immer schneller werdende Wummern ihres eigenen Herzschlags in den Ohren. Dennoch war sie sicher, dass da etwas war. »Was?«, flüsterte sie, nachdem sich Lea ein zweites Mal umgedreht und dann wieder ganz in ihre Richtung gewandt hatte.

»Still!«, zischte ihre Mutter. Sie sprach eindeutig lauter, als Arri es getan hatte, doch ihre Stimme hatte einen eigentümlichen Klang angenommen, der möglicherweise ebenso weit zu hören sein mochte wie ein normal gesprochenes Wort, irgendwie aber mit dem seidigen Geräusch des Windes im Gras verschmolz, sodass selbst Arri das Wort mehr erriet, als dass sie es wirklich verstand. »Jemand kommt!«

Arri lauschte noch einmal und jetzt mit angehaltenem Atem, konnte aber ebenso wenig hören wie zuvor. Trotzdem begann ihr Herz noch schneller zu hämmern. Wenn ihre Mutter sagte, dass dort jemand war, dann war da auch jemand. So einfach war das.

Lea bückte sich noch ein wenig weiter, zog das Schwert eine Handbreit aus der ledernen Schlaufe an ihrem Gürtel heraus und ließ es dann lautlos wieder zurücksinken. Vollkommen willkürlich, wie es Arri schien, hob sie den anderen Arm und deutete nach links in die Dunkelheit hinein. »Dorthin«, befahl sie mit ihrer hellen Flüsterstimme. »Zu den Bäumen! Rasch!«

Bäume? Arri starrte einen halben Herzschlag lang so konzentriert in die Richtung, in die ihre Mutter gedeutet hatte, wie sie es nur konnte, aber sie sah dort überhaupt nichts. Nur Schwärze. Dennoch setzte sie sich gehorsam in Bewegung, als Lea mit raschen und dennoch fast lautlosen Schritten loseilte. Arri selbst vermochte sich nicht annähernd so lautlos zu bewegen, aber sie tröstete sich damit, dass das Rascheln des Windes im Gras das Geräusch ihre Schritte schon übertönen würde.

Sie liefen vielleicht dreißig oder vierzig Schritte weit durch das hohe Gras, bevor Lea abermals stehen blieb, eine leicht geduckte Haltung einnahm und sich gehetzt nach allen Seiten hin umsah. Diesmal reagierte Arri schnell genug, sodass sie nicht an ihr vorbeistürmte, doch dafür ging ihr Atem jetzt so laut, dass sie sicher war, dass das Geräusch jeden Verfolger in weitem Umkreis auf ihre Spur bringen musste. Ihr Herz hämmerte zum Zerspringen. Sie wollte eine Frage stellen, erkannte an dem angespannten Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter aber im letzten Moment, wie gebannt diese lauschte, und sah sich stattdessen nur aus weit aufgerissenen Augen um.

Ein gutes Stück vor ihnen schien die Dunkelheit deutlich massiger zu sein als ringsum; vermutlich die Bäume, von denen ihre Mutter gesprochen hatte. Doch wenn sie der Rettung schon so nahe waren, warum zögerte sie dann?

Sie bekam die Antwort auf diese Frage, kaum dass sie den Gedanken ganz zu Ende gedacht hatte, aber auf eine gänzlich andere Weise, als ihr lieb gewesen wäre.

Lea setzte gerade dazu an, etwas zu sagen, als aus der Dunkelheit vor ihnen ein scharfes, trockenes Knacken ertönte, das Arri auch dann als das Brechen eines Zweiges erkannt hätte, hätte ihre Mutter sie nicht so überaus gründlich gelehrt, die Bedeutung verborgener Geräusche herauszufinden. Lea fuhr herum und zog ihr Schwert, und vielleicht war es das allererste Mal, dass sie tatsächlich einen Fehler beging; zumindest das allererste Mal, dass Arri es sah.

Und dennoch wäre es um ein Haar ein tödlicher Fehler gewesen.

Gestalten stürzten aus der Nacht heraus. Aber sie kamen nicht aus der Richtung, aus der das verräterische Geräusch gekommen war, sondern stürmten von hinten heran: die Verfolger, die ihre Mutter gehört hatte und die den winzigen Moment der Unaufmerksamkeit nutzten.

Es ging viel zu schnell, als dass Arri sich hinterher wirklich noch an Einzelheiten hätte erinnern können. Es waren drei - mindestens, vielleicht auch mehr - große, muskulöse Männer mit schwarzen Mänteln und langen, wehendem Haar, die wie Mardans Schattendämonen lautlos aus der Dunkelheit auftauchten und ihre Mutter angriffen, ohne auch nur einen Atemzug zu zögern. Alle drei waren mit Schwertern bewaffnet, und mindestens einer trug einen großen, mit barbarischen Symbolen bemalten Schild am linken Arm.

Er war der Erste, der starb.

Arri sah sich plötzlich ebenfalls von einem riesigen Schatten in die Enge getrieben, der unmittelbar vor ihr aus dem Boden gewachsen zu sein schien, sodass ihr gar keine Zeit blieb, genauer hinzusehen. Dann hörte sie auch schon das typische zischende Geräusch, mit dem das Zauberschwert ihrer Mutter durch die Luft fuhr - ein ganz anderer Laut als der, den die Bronzeschwerter der Krieger verursachten -, und darauf ein dumpfes Krachen, das in einem gellenden Schmerzensschrei unterging. Irgendetwas traf sie selbst mit solcher Wucht an der Schulter, dass sie nicht nur von den Füßen gerissen wurde und sich zwei-, drei-, viermal überschlug, sondern auch für einen Moment mit aller Kraft gegen die dunklen Schatten der Ohnmacht ankämpfen musste, die ihre Gedanken zu verschlingen versuchten.

Irgendwo, unendlich weit entfernt, wie es ihr schien, erscholl das Klirren von Waffen, die aufeinander prallten, und ein wütendes Geschrei und Gebrüll. Die Dunkelheit, die sie umgab, schien noch schwärzer zu werden, und da war plötzlich ein winziger, vergeblich nach Beachtung schreiender Teil in ihr, der sie daran zu erinnern versuchte, was ihre Mutter ihr über eine Situation wie diese beigebracht hatte. Was sie gelernt hatte. Sie durfte sich von Schmerz und Schwäche nicht überwältigen lassen. Sie musste in Bewegung bleiben. Aber sie konnte es nicht. Es waren nicht so sehr Schwäche oder Schmerz, die nahezu ihre gesamte linke Körperhälfte zu lähmen schienen. Es war, als habe sie alles vergessen, was sie erlernt hatte - und als weigere sich etwas in ihr, zu kämpfen. Schatten tanzten vor ihren Augen. Schatten, die eine riesige verzerrte Gestalt umwogten wie ein aus der Nacht gewobener Umhang, und ein einsamer Strahl von verirrtem Mondlicht brach sich auf matt goldfarbenem Metall.

Vielleicht war es einzig dieser Anblick, der sie rettete. Es war viel zu dunkel, als dass sie den Angreifer wirklich erkennen konnte, aber sie erkannte das Schwert, das er in der Hand hielt, und sie wusste, warum er es in der Hand hielt.

Lähmendes Entsetzen griff nach ihr und schien ihr auch noch den allerletzten Rest von Kraft zu rauben, und zugleich machte sich der panisch-alberne Gedanke in ihr breit, wie unzufrieden ihre Mutter doch mit ihr sein würde, wenn sie sie beobachtete und sehen musste, dass sie offensichtlich alles vergessen hatte, was sie sie gelehrt hatte.

Dann - viel zu spät, aber dennoch im allerletzten Moment - reagierte sie. Der Schatten über ihr wuchs zur Größe eines Erdriesen heran, irgendetwas stieß sie so hart in die Seite, dass ihr vor Schmerz übel wurde, und sie spürte das Schwert des Angreifers nur auf sich niedersausen, ohne es zu sehen.

Irgendetwas, das älter und viel mächtiger war als ihr Verstand, übernahm die Kontrolle über ihren Körper. Der pochende Schmerz in ihrer Seite wurde eher noch schlimmer, aber er spielte plötzlich keine Rolle mehr; statt sich von ihm lähmen zu lassen, verwandelte Arri ihn in Zorn und den Zorn in Kraft, mit der sie sich herumwarf und am Ende dieser Bewegung schräg nach oben austrat. Das Schwert, das nach ihrem Gesicht gezielt gewesen war, fuhr mit einem schmatzenden Laut eine Handbreit neben ihrer Schulter in den Boden, und nahezu im gleichen Augenblick rammte sie den rechten Fuß zwischen die Beine des Angreifers.

Der Mann stieß ein überraschtes Grunzen aus, ließ sein Schwert los und machte einen unbeholfen torkelnden Schritt zur Seite, bevor er mit einer schon fast grotesk langsamen Bewegung in die Knie brach und die Hände vor dem Unterleib zusammenschlug. Arri half der Entwicklung noch etwas nach, indem sie mit einer fließenden Bewegung auf die Beine kam, auf ihn zusprang und die freie Hand in sein schulterlanges verfilztes Haar krallte, um seinen Kopf nach vorne zu reißen. Im nächsten Moment krachte ihr Knie mit solcher Gewalt in sein Gesicht, dass sie nicht nur hören konnte, wie irgendetwas darin zerbrach, sondern ihr der jähe Schmerz selbst die Tränen in die Augen trieb.

Aber das Ergebnis war diesen Preis allemal wert. Arri ließ das schmutzstarrende Haar des Kriegers los, humpelte mit zusammengebissenen Zähnen einen Schritt zurück, und der Angreifer rang noch einmal mit einem beinahe komisch klingenden Laut nach Luft, verdrehte die Augen und fiel dann stocksteif nach hinten.

Schwer atmend wandte sich Arri um. Alles war so schnell gegangen, dass sie beinahe selbst überrascht von dem war, was sie getan hatte.

Ihr Blick streifte flüchtig das Schwert des Angreifers, das noch immer zwei Schritte neben ihr im Boden steckte. Aber sie erwog den Gedanken, danach zu greifen, nicht einmal ernsthaft. Sie hatte keinerlei Erfahrung mit dieser Waffe, und ihre Mutter hatte ihr mehr als eindringlich eingeschärft, dass eine Waffe, die man nicht beherrschte, nur zu leicht zu einer Gefahr für denjenigen werden konnte, der sie schwang.

Obwohl es ihr wie eine kleine Ewigkeit vorgekommen war, hatten ihr Sturz und der zugegeben nicht besonders gerechte Kampf danach doch nur wenige Atemzüge gedauert. Dennoch hatte sich der Anblick hinter ihr so radikal verändert, wie es nur möglich schien. Ihre Mutter hatte sich vier, fünf Schritte weit entfernt und kämpfte mit wuchtigen Schwerthieben gegen zwei Gegner gleichzeitig. Der dritte lag ein gutes Stück entfernt am Boden und rührte sich nicht mehr. Sein Schild war fort, ebenso wie der Arm, der ihn gehalten hatte.

Dennoch währte Arris Erleichterung nur wenige Augenblicke. Ihre Mutter verteidigte sich tapfer und mit einer verbissenen Mischung aus Schnelligkeit und plötzlicher, berstender Wut, doch Arri erkannte auch sofort, dass ihr die beiden Männer, die auf sie eindrangen, mindestens ebenbürtig waren; und das, was sie ihnen an Schnelligkeit und Geschick voraushatte, mit ungestümer Kraft und Wildheit leicht wettmachten. Vielleicht hatte sie den ersten Angreifer nur so einfach überwältigen können, weil er nicht mit einer derart entschlossenen Gegenwehr gerechnet hatte; nicht bei der Übermacht, mit der die Krieger angriffen, und schon gar nicht von einer Frau. Aber wenn es so war, dann hatten seine beiden Waffengefährten daraus gelernt und würden diesen Fehler nicht wiederholen.

Und es war ganz egal, was Lea ihr gesagt hatte oder nicht - jeder der beiden Krieger war mindestens doppelt so schwer wie sie und wahrscheinlich dreimal so stark. Sie musste etwas tun!

Arris Reaktionen wurden noch immer von jenem anderen, instinktiven Teil ihres Selbst bestimmt, der ihr soeben das Leben gerettet und sie in die Lage versetzt hatte, sich des Angriffes des viel stärkeren und zu allem entschlossenen Kriegers zu erwehren, und sie dachte auch jetzt nicht, sondern reagierte einfach auf das, was sie sah.

Ein winziger, hoffnungslos machtloser Teil ihres Selbst schrie zwar in schierer Panik auf und versuchte sie zurückzuhalten, als sie herumfuhr, aber diese Stimme drang nicht einmal wirklich an ihr Bewusstsein. Arri stürmte los, ignorierte den pochenden Schmerz in ihrem Knie kurzerhand, und stieß sich mit aller Kraft ab, als sie bis auf zwei Schritte an einen der beiden Krieger heran war. Ihre Mutter schrie auf, und Arri glaubte sogar so etwas wie einen entsetzten Ausdruck auf ihrem Gesicht zu gewahren, aber plötzlich ging alles viel zu schnell, als dass sie auch nur Zeit gefunden hätte, einen klaren Gedanken zu fassen.

Arri stieß sich mit aller Gewalt ab, flog für den Bruchteil eines Atemzugs nahezu waagerecht durch die Luft und prallte dann so hart gegen einen der beiden Krieger, dass es ihr schmerzhaft die Luft aus den Lungen trieb.

Es gelang ihr nicht, den Mann zu Boden zu reißen.

Ihre Füße prallten mit solcher Wucht in seinen Rücken, dass eine Woge aus grellem Schmerz in ihren Knöcheln zusammenschlug und sie vor Pein aufschrie, während sie selbst zurückgeschleudert wurde und hilflos zu Boden fiel, und ganz sicher hatte sie diesmal alles richtig gemacht, aber sie war einfach zu leicht. Nicht einmal die gewaltige Kraft ihres Sprungtrittes reichte aus, den muskulösen Krieger endgültig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Arri stürzte schwer, und der Krieger stieß ein ebenso überraschtes wie wütendes Grunzen aus und musste einen hastigen, fast komisch aussehenden Ausfallschritt nach vorn und zur Seite machen, um sein Gleichgewicht zu behalten, aber er behielt es, während Arri hilflos auf den Rücken fiel und dort liegen blieb. Als sie ihre Benommenheit überwunden hatte und sich hochzustemmen versuchte, fuhr er herum und versetzte ihr einen Schlag mit dem Handrücken ins Gesicht, der sie erneut und diesmal halb bewusstlos zu Boden schleuderte.

Vielleicht hätte ihr selbstmörderischer Angriff den Kampf trotzdem entschieden, wäre es nicht jetzt ihre Mutter gewesen, die anders als erwartet - und vollkommen falsch! - reagierte.

So kurz die Ablenkung auch gewesen war, sie hatte Lea doch Gelegenheit gegeben, sich mit nur einem der beiden Angreifer zu befassen, und nun machte sich ihre überlegene Schnelligkeit und ihre bessere Waffe mit verheerendem Ergebnis bemerkbar. Ihre Klinge beschrieb einen funkelnden, rasend schnellen Dreiviertel-Kreis, schmetterte die Waffe des Kriegers beiseite und biss noch in der gleichen Bewegung tief in seinen linken Oberarm. Der Krieger ließ sein Schwert fallen und sank mit einem gellenden Schmerzensschrei auf die Knie.

Hätte Lea in diesem Moment den zweiten Krieger angegriffen, wäre der Kampf vermutlich vorbei gewesen. Stattdessen fuhr sie herum und war mit zwei Sätzen bei Arri.

Der Krieger, der Arri niedergeschlagen hatte, bemerkte die Gefahr im letzten Moment und wirbelte herum, sodass er dem wütenden Schwerthieb, den Lea nach seinem Kopf geführt hatte, nur um Haaresbreite entging, durch die ebenso hastige wie ungeschickte Bewegung aber rückwärts stolperte und nach zwei unbeholfenen Schritten auf den Rücken fiel. Spätestens jetzt hätte Lea allem ein Ende machen können, indem sie ihm nachsetzte und ihre Waffe einsetzte. Stattdessen jedoch fiel sie neben Arri auf die Knie, ließ ihr Schwert fallen und griff mit beiden Händen nach ihr.

»Arianrhod!«, keuchte sie. »Arianrhod, bist du verletzt?«

Arri war viel zu durcheinander, um diese Frage beantworten zu können. Benommen arbeitete sie sich auf die Ellbogen hoch und versuchte, die Hände ihrer Mutter abzustreifen. Lea schüttelte sie heftig, wobei sind immer wieder ihren Namen schrie. Ihre Augen waren schwarz vor Furcht, und Arri konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor einen Ausdruck von so abgrundtiefem Entsetzen und Furcht auf dem Gesicht ihrer Mutter gesehen zu haben.

»Arianrhod! So antworte doch!«, schrie ihre Mutter.

Arri wollte es ja - doch in diesem Moment sah sie eine riesige Gestalt hinter ihrer Mutter emporwachsen, und alles, was sie hervorbrachte, war ein verzweifeltes Quietschen, das mit einem Schrei kaum etwas gemein hatte. Dennoch reagierte ihre Mutter darauf. So schnell, dass Arri die Bewegung kaum richtig mitbekam, stieß sie sie wieder zurück ins nasse Gras, ließ sich gleichzeitig zur Seite fallen und rollte über die Schulter ab, um noch aus der Bewegung heraus ihr Schwert aufzuheben und auf die Füße zu springen.

Doch so schnell die Bewegung auch war, diesmal war sie nicht schnell genug. Der Schwerthieb, den der verletzte Krieger beidhändig und mit aller Gewalt nach ihr geführt hatte, verfehlte zwar sein eigentliches Ziel und fegte ihr nicht den Kopf von den Schultern, aber die schwere Bronzeklinge streifte dennoch Leas Rücken, zerschnitt ihren Umhang und das Kleid, das sie darunter trug, und fügte ihr eine fast unterarmlange, klaffende Wunde quer über den Rücken zu, die augenblicklich stark zu bluten begann.

Lea stieß einen spitzen Schrei aus und begann zu taumeln, und der Krieger setzte ihr mit triumphierendem Gebrüll nach und schwang seine Waffe zu einem zweiten, noch gewaltigeren Hieb, der sein Ziel diesmal einfach treffen musste.

Arri warf sich herum, hakte den linken Fuß vor seinen Knöchel und trat ihm mit dem anderen Fuß und mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, in die Kniekehle. Aus der unvorteilhaften Lage heraus, in der sie sich befand, brachte sie nicht genug Kraft auf, um den Mann wirklich zu Fall bringen zu können. Ihr ohnehin verletztes Knie schien in Flammen aufzugehen, und vermutlich tat sie sich selbst viel mehr weh als ihm. Aber sie brachte ihn aus dem Gleichgewicht, sodass aus seinem Vorwärtsstürmen abermals ein ungeschicktes Stolpern wurde und auch sein zweiter, kraftvoll geführter Schwerthieb ins Leere ging. Ihre Mutter strauchelte ebenfalls, drohte das Gleichgewicht zu verlieren und fing sich im allerletzten Moment dann wieder, indem sie ihr ungeschicktes Torkeln in eine zwar wenig anmutige, aber ungemein wirkungsvolle Bewegung verwandelte, mit der sie sich herumwarf und sich ihrem Gegner erneut zuwandte.

Arri hörte, wie die ungleichen Waffen der beiden noch ungleicheren Gegner aufeinander prallten, aber sehen konnte sie es nicht. Ihr wurde schwarz vor Augen. Ihr Knie schmerzte entsetzlich, und ihr wurde so übel, dass sie befürchtete, sich übergeben zu müssen. Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte sie den Brechreiz nieder, wälzte sich wimmernd auf die unverletzte Seite und sah zu ihrer Mutter.

Im ersten Moment war sie erleichtert, denn es sah zumindest so aus, als wäre die Verletzung ihrer Mutter nicht so schwer, wie es den Anschein gehabt hatte: Lea kämpfte nun wieder mit zwei Gegnern gleichzeitig, denn auch der zweite Krieger, den sie zu Boden geschleudert hatte, war wieder auf die Füße gekommen und stand seinem Kameraden bei, und ihre Bewegungen waren so flüssig und kraftvoll, dass sie eher ein Tanz zu sein schienen als ein Kampf auf Leben und Tod.

Doch Arris Erleichterung hielt kaum einen Atemzug lang an. Als Lea einen Schwerthieb eines der beiden Männer parierte und sich dabei einmal blitzartig um sich selbst drehte, um einem zweiten, heimtückisch geführten Stich des anderen auszuweichen, sah sie, dass ihr Rücken blutüberströmt war. Kleid und Umhang hingen schwer und nass an ihr herab, und auch an ihren Beinen lief etwas hinunter, das in der Dunkelheit wie schwarzes Wasser aussah. Ihre Mutter mochte den beiden Männern durchaus gewachsen sein, vermutlich sogar überlegen - doch dieser Blutverlust musste sie binnen weniger Augenblicke schwächen, sodass sie diesen Kampf ganz bestimmt nicht lange durchhalten würde.

Mit zusammengebissenen Zähnen wälzte sich Arri weiter herum, stemmte sich halb in die Höhe und versuchte, den bohrenden Schmerz in ihrem Knie so weit zurückzudrängen, dass sie aufstehen konnte. Es gelang ihr, wenn auch nur mit äußerster Anstrengung, und sie spürte sofort, dass sie allenfalls dazu in der Lage sein würde zu humpeln, auf gar keinen Fall aber zu laufen - oder gar in den Kampf einzugreifen und ihrer Mutter zu helfen!

Mühsam drehte sie sich um und suchte nach dem Schwert, das der Krieger zuvor beim Angriff auf sie in den Boden gerammt hatte. Es spielte keine Rolle, ob sie mit der Waffe umgehen konnte oder nicht - wenn sie nicht innerhalb der nächsten wenigen Augenblicke in den Kampf eingriff und wenigstens einen der Krieger ablenkte, und sei es nur kurz, dann war es vorbei. Es spielte nicht einmal eine Rolle, ob sie bei dem Versuch ihr Leben verlor oder nicht. Wenn ihre Mutter unterlag, dann war es um sie ebenfalls geschehen.

Sie entdeckte die Waffe nur wenige Schritte entfernt, wo sie noch genau so im Boden steckte, wie sie sie zurückgelassen hatte. Von ihrem Besitzer war keine Spur zu sehen, aber Arri verschwendete nur einen flüchtigen Gedanken an ihn; wahrscheinlich war er davongekrochen, um seine Wunden zu lecken. Wimmernd humpelte sie los.

Das Schwert steckte so tief im Boden, dass sie mit beiden Händen zugreifen musste, um es herauszuziehen, und als die Waffe endlich frei kam, geschah das mit einem so plötzlichen Ruck, dass sie nach hinten stolperte, das Gleichgewicht verlor und stürzte. Diesmal war der Schmerz in ihrer Hand und dem Knie so grausam, dass sie gellend aufschrie und das Schwert wieder fallen ließ. Sie verlor nicht das Bewusstsein, glitt aber für endlose Momente durch pure Trübheit ohne äußere Eindrücke und Gedanken, und die Verlockung, einfach loszulassen und auf den Grund des schwarzen Sees zu sinken, der sich in ihr auftat, wurde beinahe übermächtig.

Ein gellender Schrei schnitt wie ein Messer durch die schwarzen Spinnweben, die ihre Gedanken einhüllten.

Es war die Stimme ihrer Mutter. Und es war Schmerz, den Arri darin hörte.

Mühsam wälzte sich Arri herum. Alles drehte sich um sie. Die Nacht, der nahe Wald und die Gestalten ihrer Mutter und der beiden Krieger verschwammen vor ihren Augen, und ihr wurde wieder übel. Trotzdem stemmte sie sich zitternd auf beide Hände und das unversehrte Knie hoch und tastete dann mit zusammengebissenen Zähnen nach dem Schwert. Es lag irgendwo nur ein kleines Stück neben ihr im Gras, aber im ersten Moment konnte sie es nicht sehen und drohte in Panik zu geraten. Sie meinte zu erkennen, dass ihre Mutter jetzt auch aus einer Wunde am Arm blutete. Aber immerhin stand sie noch, und sie hatte auch ganz offensichtlich sogar die Kraft, sich zu verteidigen. Aber wie lange noch?

Endlich entdeckte sie das Schwert, genau in der anderen Richtung als der, in der sie die Waffe vermutet hatte. Hastig streckte sie die Hand danach aus und schloss die Finger um den lederumwickelten Griff. Ein Fuß in einer groben Ledersandale senkte sich auf ihre Hand hinab und presste sie mit so grausamer Kraft nieder, dass sie vor Schmerz aufschrie. »Das würde ich an deiner Stelle nicht tun«, sagte eine Stimme über ihr. »Jedenfalls nicht, wenn du weiterleben willst.«

Arri fiel schwer auf die Seite. Ihr wurde erneut schwarz vor Augen, und sie hätte das Schwert losgelassen, aber sie konnte es nicht. Der Fuß presste ihre Hand noch immer mit so grausamer Kraft auf den Boden, dass sie das Gefühl hatte, jeder einzelne ihrer Finger wäre gebrochen. Ein verzerrtes Gesicht tauchte über ihr auf, floss auseinander wie ein Spiegelbild auf schmutzigem Wasser, in das jemand einen Stein geworfen hatte, und fügte sich wieder zusammen. Dunkle, tief in den Höhlen liegende Augen blickten mitleidlos auf sie herab.

»Du dummes Kind«, sagte Sarn kalt. »Du bist jetzt schon so schlimm wie deine Mutter, aber nicht annähernd so klug, weißt du das eigentlich?«

Arri wimmerte vor Schmerz. Sie versuchte nach dem Priester zu treten, aber in ihrer Panik stieß sie mit dem verletzten Bein zu. Der Tritt hatte nicht die Kraft, den alten Mann auch nur zu erschüttern. Sarn schlug ihr Bein trotzdem mit vollkommen übertriebener Kraft zur Seite, sodass sie abermals vor Schmerz aufschrie und sich krümmte.

Als sich die schwarzen Schleier vor ihren Augen wieder lichteten, hatte Sarn den Fuß vom Schwertgriff - und ihrer Hand - genommen und bückte sich gerade nach der Waffe. Jedenfalls dachte sie im ersten Moment, es wäre Sarn. Erst nach einem Moment klärte sich ihr Blick weit genug, um sie erkennen zu lassen, dass der Mann viel größer war, viel muskulöser und breitschultriger, und dass er keinen mit Federn und gefärbten Fellstücken besetzten Umhang trug, sondern trotz der herrschenden Kälte nur den nackten Oberkörper, doch erst als er sich aufrichtete und mit dem Schwert in der rechten Hand zu ihr umdrehte, erkannte sie ihn. Sie war nicht einmal überrascht. Nur zutiefst enttäuscht, obwohl sie wusste, dass sie nicht das allermindeste Recht dazu hatte. »Steh auf!«, befahl Sarn.

Arri vernahm die Worte zwar, aber sie war nicht imstande, darauf zu reagieren. Sie konnte nur Rahn anstarren, und was sie sah, das war nicht das, was sie erwartet hatte. Der junge Fischer hielt ihrem Blick trotzig stand, aber in seinem Blick war noch etwas anderes, das Arri zutiefst verwirrte; etwas, was sie darin, noch dazu in einem Moment wie diesem, zuallerletzt erwartet hätte.

Sarn wartete vergebens darauf, dass sie auf seinen Befehl reagierte, dann trat er zurück und machte eine rasche, befehlende Geste mit der linken Hand. Die andere hielt noch immer den knorrigen Stab umklammert, auf den er sich stützte, obwohl Arri mehr denn je das Gefühl hatte, dass er ihn keineswegs brauchte.

»Rahn!«, sagte er knapp.

Rahn trat gehorsam einen Schritt auf Arri zu, blieb dann wieder stehen und blickte beinahe hilflos auf das Schwert hinab, das er in der Hand hielt; als wüsste er plötzlich nicht mehr, was er eigentlich damit sollte oder was es überhaupt war. Nachdem er vergeblich versucht hatte, die Waffe unter einen Gürtel zu schieben, den er gar nicht trug, rammte er das große Schwert kurzerhand wieder in die Erde, beugte sich dann zu Arri hinab und zerrte sie derb am Arm in die Höhe. Jedenfalls musste es für Sarn so aussehen. Aber sein Griff war nicht brutal. Seine schwielige Hand umschloss Arris Oberarme mit unerbittlicher Kraft, und doch gab er sich alle Mühe, sie beim Aufstehen zu stützen, statt sie einfach brutal in die Höhe zu reißen, was er durchaus gekonnt hätte. So weit es ihm möglich war, schien er dabei sogar Rücksicht auf ihr verletztes Knie zu nehmen.

Sarn entging dieses zwiespältige Verhalten keineswegs, denn er legte missbilligend seine runzelige Stirn noch mehr in Falten, aber zumindest für den Moment ersparte er sich jegliche Bemerkung.

»Gib Acht, dass sie keine Dummheiten macht«, sagte er, zwar an den Fischer gewandt, aber schon im Herumdrehen begriffen. Während der Bewegung ging eine sonderbare Veränderung mit ihm vonstatten - plötzlich stützte er sich schwer auf den knorrigen Stab, den er bisher nur zur Zierde in der rechten Hand gehalten zu haben schien, und aus einem nicht annähernd so alten Mann, wie er zu sein vorgab, wurde auch äußerlich wieder ein Greis, der keine körperliche Stärken ausstrahlte, sehr wohl aber die Kraft, die ihm die Last der Jahre und die damit erworbene Weisheit gab. »Sie ist gefährlich.«

»Ich weiß«, sagte Rahn. Seine Hand schloss sich ein wenig fester um Arris Oberarm; nicht annähernd so fest, wie er es gekonnt hätte, gerade genug, um ihr klarzumachen, dass er ihr wehtun konnte, wenn sie ihn dazu zwang, es aber eigentlich nicht wollte.

Arri sah wieder in die Richtung, in die der Schamane blickte, und ihr Herz machte einen erschrockenen Satz. In den wenigen Augenblicken, die sie abgelenkt gewesen war, hatte sich die Lage ihrer Mutter dramatisch verschlechtert. Sie wusste nun, wo der verschwundene Krieger war, mit dem sie selbst zuvor gerungen hatte: Er hatte sich seinen beiden Kameraden angeschlossen, sodass Lea nun gegen drei Gegner gleichzeitig stand, und Arri hatte sich auch in anderer Hinsicht nicht getäuscht - ihre Mutter war verletzt. Auch über dem linken Arm hatte sich der Stoff ihres Kleides dunkel gefärbt, und ihre Bewegungen hatten das meiste von ihrer tänzerischen Anmut verloren und wirkten abgehackt und mühsam, wenn auch immer noch sehr schnell.

Sie verteidigte sich mit verbissener Entschlossenheit gegen die drei Männer, die zwar gleichzeitig, aber vollkommen unkoordiniert auf sie eindrangen; zumindest einer von ihnen war ebenfalls verletzt und hatte das Schwert von der rechten in die linke Hand gewechselt, mit der er nicht besonders geschickt zu sein schien. Außerdem machten ihre Bewegungen klar, dass ihnen das Schicksal ihres Waffengefährten durchaus eine Warnung gewesen war. Sie sprangen zwar immer wieder vor und drangen auf Lea ein, doch aus ihren Bewegungen sprach Angst, und vielleicht war das der einzige Grund, aus dem ihre Mutter überhaupt noch am Leben war.

Arri kam nicht umhin, das Geschick und die Kampfkraft ihrer Mutter zu bewundern, trotz allem. Jeder dieser Männer war mindestens doppelt so stark wie sie, sie waren zu dritt, und sie war verletzt. Dennoch war der Kampf im Augenblick zumindest ausgeglichen.

Aber Arri sah auch, dass das nicht mehr lange so bleiben würde. Geschichten von Kämpfern, die gegen eine drei-, vier-, fünffache Übermacht fochten und diesen Kampf am Ende gewannen, gehörten ins Reich der Heldensagen, nicht in die Wirklichkeit. Ihre Mutter war verwundet. Jeder Herzschlag, mit dem ihr Blut aus den beiden tiefen Wunden herausgepresst wurde, kostete sie Kraft, jeder Schwerthieb, den sie mit ihrer eigenen Klinge auffing oder auch austeilte, zehrte weiter an ihren Reserven, die nahezu aufgebraucht sein mussten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis eines der Bronzeschwerter sein Ziel traf. Eine Frage von sehr wenig Zeit.

»Das genügt!«, schrie Sarn plötzlich. Er stampfte mit seinem Stab auf, um sich Gehör zu verschaffen, doch der weiche Boden verdarb ihm den Effekt, da er den Laut nahezu völlig verschluckte.

»Aufhören!«, rief er noch einmal, und jetzt so laut, dass seine Stimme selbst das Klirren der Schwerter und die keuchenden Atemzüge der Kämpfenden übertönte.

Tatsächlich ließen die drei Krieger für einen Moment von Lea ab und wichen zurück, und auch Lea ließ ihren Schwertarm erschöpft sinken. Sie taumelte. Das Gras, auf dem sie stand, hatte sich dunkel von ihrem eigenen Blut gefärbt und war schlüpfrig geworden, sodass sie rasch zwei, drei Schritte zurückwich, bis sie wieder einen festen Stand hatte und den Abstand zwischen sich und ihren Gegnern damit deutlich vergrößerte. Ihr Gesicht glänzte vor Schweiß, und ihr Blick irrte zwischen den drei Männern und Sarn hin und her. Die Entfernung war zu groß, als dass Arri den Ausdruck auf ihrem Gesicht hätte erkennen können, aber sie sah, wie erschrocken ihre Mutter zusammenfuhr, als sie den Schamanen erblickte, und dann noch einmal und deutlich heftiger, als sie Arris Blick begegnete und den Fischer bemerkte, der hinter ihr stand und sie festhielt.

»Aufhören, habe ich gesagt!«, sagte Sarn noch einmal und stampfte abermals mit seinem Stab auf. Wie um ihn zu verhöhnen, verschluckte der Boden den Laut nun gänzlich, was Sarns Zorn noch zu schüren schien. »Es ist genug! Leg das Schwert weg!«

Lea schwieg endlose Augenblicke lang. Sie senkte die Waffe tatsächlich noch ein Stückchen weiter, bis die Spitze der langen, blutbefleckten Klinge den Boden berührte, aber dann hob sie sie wieder und machte eine trotzig-auffordernde Bewegung in Richtung der drei Krieger. »Schick deine Handlanger ruhig her, Sarn«, sagte sie herausfordernd. »Ich bin mit den Ersten fertig geworden, und diese hier schaffe ich auch noch.« Sie lachte laut und hart. Aber nun war es ihre Stimme, die ihr die beabsichtigte Wirkung verdarb. Arri war sicher, dass sie nicht die Einzige war, der das Zittern darin auffiel. »Sehr viele Krieger hast du ja nicht mehr, wenn ich richtig gezählt habe. Willst du es wirklich darauf ankommen lassen?«

Sarn zog eine wütende Grimasse, und auch Rahn, der immer noch hinter ihr stand, fuhr spürbar zusammen. Sein Griff lockerte sich, aber nicht weit genug, dass Arri es wagte, sich loszureißen. Noch nicht.

»Ich habe es dir gesagt.« Rahn klang angespannt. Sein Griff lockerte sich weiter. »Es war ein Fehler, sie anzugreifen. Wir hätten...«

»Schweig!«, fiel ihm Sarn ins Wort. Lauter und nun wieder an Lea gewandt, fuhr er fort: »Ich sage es dir nicht noch einmal!«

»Was?«, gab Lea in bewusst abfälligem Ton zurück. Sie lachte - diesmal klang es fast überzeugend -, machte zwei schnelle Schritte auf die Krieger zu und ließ das Schwert dabei mit einer ruckartigen Bewegung durch die Luft schnellen, mit der sie das Blut von der Klinge schleuderte. Sie befand sich noch immer weit außerhalb der Reichweite der drei Krieger. Trotzdem fuhren die Männer erschrocken zusammen, und zumindest der verletzte Mann zog sich hastig um die gleiche Entfernung zurück, um die sie sich ihm genähert hatte.

»Lass uns einfach gehen, Sarn«, fuhr sie fort. »Das ist es doch, was du von Anfang an wolltest, und ich gebe sogar zu, dass du Recht hattest und ich im Irrtum war. Wir hätten niemals hierher kommen sollen. Lass uns in Frieden ziehen, und niemandem wird ein Leid geschehen.«

Sarn wirkte regelrecht verblüfft, aber dann verdunkelte ein Ausdruck schierer Wut sein Gesicht. Er schüttelte heftig den Kopf. »Dazu ist es zu spät. Du hast die Götter lange genug erzürnt. Jetzt verlangen sie ihre Opfer!«

»Lass mich raten«, sagte Lea spöttisch. »Es besteht nicht zufällig darin, dass ich dir meine Geheimnisse verrate?«

»Von deinen Hexenkünsten will ich nichts wissen«, sagte Sarn scharf. »Du hast schon viel zu lange und viel zu viel Schaden damit angerichtet. Die Götter sind erzürnt. Sie verlangen nach Blut.«

Lea kam zwei Schritte näher, blieb wieder stehen und hob das Schwert nun mit beiden Händen vor das Gesicht, indem sie seine Spitze mit der Linken stützte. Ihr Blick glitt scheinbar nachdenklich über die schlanke, selbst in der Nacht noch wie ein Blitz aus gefangenem Sonnenlicht schimmernde Klinge. »Blut?«, fragte sie lächelnd. »Nun, wie es scheint, haben sie ja schon etwas davon bekommen. Möchtest du, dass ich noch mehr davon vergieße? Vielleicht ein wenig von deinem?«

Arri fragte sich, was ihre Mutter da überhaupt tat. Sie spielte auf Zeit, das war klar - aber gerade Zeit war das, was sie am allerwenigsten hatte. Ihr Kleid hatte sich über der linken Seite mittlerweile vollkommen dunkel von ihrem eigenen Blut gefärbt, und wie ihr Rücken aussah, dass wagte sich Arri lieber gar nicht erst vorzustellen. Mit jedem Atemzug, den sie ungenutzt verstreichen ließ, musste sich das Kräfteverhältnis mehr zu ihren Ungunsten verschieben. Warum also tat sie das?

»Wenn du sterben willst, dann ist das deine Entscheidung«, sagte Sarn hart. »Ich werde zu den Göttern beten, dass sie dein Leben verschonen, und es sind großzügige Götter, die meine Stimme erhören werden. Aber nur, wenn du mit diesem sinnlosen Morden endlich aufhörst.«

Nicht nur Arri verschlug diese Unverschämtheit regelrecht die Sprache; auch Lea riss überrascht die Augen auf und starrte den Dorfältesten einfach nur fassungslos an. Dann aber ließ sie das Schwert ganz langsam wieder sinken, entspannte sich und machte einen weiteren Schritt, um sofort wieder stehen zu bleiben. Sie war jetzt fast in Reichweite der beiden Krieger.

»Woher weiß ich, dass ich dir trauen kann?«, fragte sie misstrauisch.

»Du wagst es, an meinem Wort zu zweifeln?«, keuchte Sarn. »Du...«

»Nein, nur an dem deiner Götter, alter Mann«, fiel ihm Lea spöttisch ins Wort. Sarn fuhr zusammen und wurde noch blasser, und Lea schüttelte den Kopf, ließ das Schwert noch weiter sinken und fügte in nachdenklichem Tonfall hinzu: »Dann gibst du mir also dein Wort, dass meiner Tochter und mir nichts geschieht?« Sie machte eine flatternde Bewegung mit der freien linken Hand, und eine Spur winziger Blutstropfen, die von ihren Fingern ins Gras fielen, zeichnete sie dunkel und glitzernd auf dem Boden nach. »Hier, vor all diesen Männern?«

Sarn sah aus, als träfe ihn jeden Moment der Schlag. Er presste die Kiefer so fest aufeinander, dass Arri meinte, seine wenigen verbliebenen Zähne knirschen zu hören, und seine rechte Hand umschloss den Stab mit solcher Kraft, als wollte er ihn zerbrechen. »Ich verspreche dir, dass dir und deiner Tochter nichts geschieht, bevor ich nicht die Götter gefragt und sie über euer Schicksal entschieden haben«, sagte er gepresst.

Einen Moment lang stand Lea noch immer völlig reglos und mit unverändertem Gesichtsausdruck da, dann seufzte sie tief, und nicht nur Arri konnte regelrecht sehen, wie alle Kraft aus ihrem Körper wich. Ihre Schultern sanken nach vorne, und sie setzte die Schwertspitze auf die Erde, als wäre die Waffe plötzlich zu schwer geworden, um sie noch zu halten, und als müsste sie sich mit einem Male darauf stützen, wie Sarn auf seinen Stab. »Also gut«, murmelte sie.

Arri konnte sehen, wie sich die beiden Krieger vorsichtig entspannten, und auch Sarn selbst wirkte zwar kein bisschen weniger wütend, aber nun doch eindeutig erstaunt - und eine winzige Spur erleichtert. Augenscheinlich traute er seinen Kriegern doch nicht so viel zu, wie er vorgab.

»Du hast mein Wort«, sagte er. »Und Sarns Wort zählt.«

»Gut«, sagte Lea erleichtert. »Meines nämlich nicht.« Und damit machte sie einen weiteren schnellen Schritt zur Seite, und ihr Schwert vollzog die Bewegung blitzschnell und in einem weit ausholenden Bogen nach und bohrte sich fast bis ans Heft in den Leib des Mannes, gegen den Arri vorhin gekämpft hatte.

Noch während er in die Knie sank und die Hände vor dem Leib zusammenschlug, um seine Eingeweide daran zu hindern, ihm auf die Füße zu fallen, wirbelte sie herum, schwang ihre Klinge in Richtung des zweiten Kriegers und verwandelte die Bewegung in einen weiten, unglaublich hohen Sprung, an dessen Ende ihre Füße mit solcher Wucht vor der Brust des dritten Mannes landeten, dass der Krieger mit haltlos rudernden Armen nach hinten stolperte und schwer ins Gras fiel. Auch Lea stürzte, kam mit einer katzenhaften Bewegung wieder auf die Füße und warf sich unverzüglich auf den letzten noch stehenden Krieger. Der Mann - es war der, den sie vorhin schon am Arm verletzt hatte - war hastig zurückgesprungen, um ihrem Schwertstoß zu entgehen. Jetzt riss er ungeschickt seine eigene Waffe in die Höhe, und es war wohl nur reines Glück, dass er Leas blitzartigen Schwertstoß damit noch einmal parierte.

Der Hieb war so kraftvoll geführt, dass sich die Bronzeklinge des Kriegers verbog und sein Arm herumgerissen wurde. Er stolperte, fiel ungeschickt auf ein Knie herab und stürzte mit einem keuchenden Schmerzensschrei gänzlich ins Gras, als er den Fehler beging, sich ausgerechnet mit dem verletzten Arm abstützen zu wollen. Lea versetzte ihm einen Tritt, der ihm nicht nur die Waffe aus der Hand prellte, sondern ihn auch haltlos herumrollen ließ, war mit einer einzigen, schnellen Bewegung endgültig über ihm und packte ihr Schwert mit beiden Händen, um es ihm in die Brust zu stoßen.

»Halt!« Sarns Stimme war scharf und befehlend wie der Schrei eines angreifenden Raubvogels, und irgendetwas war darin, das selbst durch die Raserei zu dringen schien, die Arris Mutter ergriffen haben musste, denn sie führte die begonnene Bewegung nicht zu Ende, sondern blieb mit erhobenem Schwert und gespreizten Beinen über dem gestürzten Krieger stehen, sah über die Schulter zu Sarn zurück...

... und erstarrte.

Vielleicht war es auch gar nicht Sarns Befehl gewesen, der sie innehalten ließ, sondern der Umstand, dass Rahn den Arm nun um Arris Hals geschlungen hatte, um ihren Kopf so weit nach hinten zu biegen, dass sie kaum noch atmen konnte. In seiner anderen Hand lag plötzlich etwas Scharfes und Hartes. Arri konnte nicht erkennen, was es war, denn er drückte es mit solcher Kraft gegen ihre Kehle, dass sie spürte, wie ihre Haut aufriss und warmes Blut an ihrem Hals herunterlief.

»Leg das Schwert weg, oder deine Tochter stirbt«, sagte Sarn kalt. »Sofort!«

Lea machte keinerlei Anstalten, ihre Waffe loszulassen oder auch nur von dem Krieger zurückzuweichen, der noch immer wie erstarrt zwischen ihren gespreizten Beinen lag und vor Angst kaum zu atmen wagte. Ihr Blick tastete mit einer Kälte über Arris Gesicht und dann ganz offensichtlich über das Rahns, die Arri einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Sie hatte Todesangst. Rahn zwang ihren Kopf mit solcher Gewalt in den Nacken, dass sie kaum noch atmen konnte, und die Klinge an ihrer Kehle schmerzte fürchterlich, und doch jagte ihr das, was sie in den Augen ihrer Mutter las, die allergrößte Angst ein. Da war Angst um sie, natürlich, aber viel mehr überwog Leas Zorn - und ganz unübersehbar die kühle Berechnung, mit der sie ihre Aussicht abschätzte, mit einem raschen Schritt bei ihnen zu sein und Rahn zu töten, bevor er seine Waffe einsetzen konnte; vielleicht auch die ganz nüchterne Überlegung, dass Sarn es wohl nicht wagen würde, sie töten zu lassen, musste er doch wissen, dass sein eigenes Leben damit ebenfalls verwirkt wäre.

»Das wagst du nicht«, sagte sie kalt. »Keiner von euch würde es überleben.«

»Mein Leben liegt in den Händen der Götter«, erwiderte Sarn ruhig. Er schürzte abfällig die Lippen. Obwohl Arri sein Gesicht nicht sehen konnte, war es noch beinahe zu hören. »Sie werden mich beschützen. Und wenn nicht, so ist es vielleicht ihr Wille.« Sie spürte, wie er eine befehlende Geste machte, auf die hin Rahn den Druck auf ihre Kehle noch einmal verstärkte, sodass aus dem einzelnen Blutstropfen, der aus dem winzigen Schnitt quoll, nun ein schmaler, aber beständiger Strom wurde. Sie konnte kaum noch atmen.

»Ich wusste ja schon immer, dass du ein Dummkopf bist, Rahn«, sagte ihre Mutter höhnisch. »Aber mir war bis heute nicht klar, wie dumm du bist. Glaubst du, dass es deinem Herrn gefällt, die einzige Geisel, die zwischen euch und dem sicheren Tod steht, ganz aus Versehen umbringst?« Plötzlich wurde ihre Stimme schärfer, befehlend und nur einen Deut davon entfernt, wirklich zu schreien. »Lass sie los, du Dummkopf! Sie erstickt!«

Im ersten Moment schien Rahn den Druck auf Arris Kehle eher noch zu verstärken, dann aber nahm er zumindest die Hand von ihrer Stirn, sodass sie den Kopf wieder heben und qualvoll hustend und würgend nach Luft ringen konnte. Die Messerklinge verblieb an ihrer Kehle, und auch der Blutstrom wurde eher noch stärker. Dennoch - und obwohl sie wirklich sehr wehtat - spürte Arri selbst, dass die Wunde kaum mehr als ein oberflächlicher Schnitt war; schlimm anzusehen, aber kaum gefährlich.

»Leg die Waffe weg«, verlangte Sarn noch einmal. »Es sei denn, das Leben deiner Tochter ist dir wirklich so wenig wert.« Er lachte böse. »Willst du tatsächlich die wenigen Sommer, die mir vielleicht noch vergönnt sind, gegen all die eintauschen, die deiner Tochter noch bevorstehen?«

Arri konnte mittlerweile wenigstens wieder atmen. Sie wagte es nicht, auch nur eine Bewegung zu machen, aus Angst, sich an der scharfen Klinge, die sich noch immer in ihr Fleisch bohrte, selbst die Kehle durchzuschneiden. Aber sie konnte Sarn am Rande ihres Blickfeldes zumindest erahnen und das Gesicht ihrer Mutter ganz genau erkennen. Was sie darin las, erschreckte sie fast noch mehr als die Klinge an ihrem Hals. Da war ein brodelnder, kaum noch zu bändigender Zorn, der absolute und unbedingte Wille zu töten, und - natürlich - Angst um sie. Aber da war auch eine kalte Berechnung, die irgendetwas in Arri sich zusammenkrümmen ließ wie einen getretenen Wurm.

»Das wagst du nicht«, sagte sie noch einmal. Der Krieger unter ihr bewegte sich stöhnend, versuchte, sich auf beide Ellbogen hochzustemmen und von ihr wegzukriechen, und Lea versetzte ihm einen so harten Tritt gegen das Kinn, dass er auf der Stelle das Bewusstsein verlor und schlaff ins Gras zurücksank. Blitzartig fuhr sie herum, hielt das Schwert nun wieder nur mit einer Hand und machte mit der der anderen, freien eine warnend-abwehrende Bewegung zu Sarns letztem verbliebenen Krieger, der sich mittlerweile erholt hatte und wieder herangekommen war. Der Mann, der noch drei Schritte entfernt war, erstarrte mitten in der Bewegung und wagte es nicht, auch nur einen einzigen weiteren Schritt zu tun.

»Nun?«, fragte Lea.

Sarn wiegte den Kopf. Irgendwie sah er plötzlich aus wie ein großer, dürrer Raubvogel, der eine Beute erspäht hatte und überlegte, wie er sie am besten packen konnte. »Was - nun?«

Arris Mutter lachte böse. »Da, wo wir herkommen, nennt man so etwas wohl ein klassisches Unentschieden.«

»Das erscheint mir anders«, sagte Sarn.

»So, wie es aussieht«, fuhr Lea mit einem bösen Lächeln fort, »kann ich dir nichts tun, ohne das Leben meiner Tochter zu gefährden. Und du kannst meiner Tochter nichts tun, ohne das deine zu gefährden.«

Das mochte wahr sein, aber Arri war trotzdem der Panik nahe. Ganz gleich, wie ernst gemeint Leas Drohung auch sein mochte und wie logisch ihre Worte, gab es da etwas, das Arri ebenso wenig verborgen blieb, wie Sarn oder Rahn oder auch der letzte Krieger es übersehen konnten und vor dem ihre Mutter einfach die Augen zu verschließen schien. Sie blutete jetzt immer heftiger. Ihre Stimme war nicht leiser geworden, zitterte aber, und es war etwas wie ein spürbarer Klang von Schwäche darin, der nicht nur Arri klarmachen musste, wie es wirklich um ihre Kräfte bestellt war. Wäre sie unverletzt gewesen, hätte ihre Drohung vielleicht die beabsichtigte Wirkung erzielt; so aber musste selbst dem greisen Schamanen klar sein, dass er nichts anderes mehr zu tun brauchte, als einfach abzuwarten. Nicht einmal sehr lange.

»Vielleicht ist es ja der Wille der Götter, dass wir alle sterben«, sagte Sarn.

»Gerade hast du mir dein Wort gegeben, das Leben meiner Tochter zu verschonen, wenn ich aufgebe«, fuhr sie fort. »Jetzt gebe ich dir meines, dich zu verschonen, wenn du uns gehen lässt.«

»Hast du nicht selbst gesagt, dass dein Wort nicht gilt?«, gab Sarn zurück. »Woher willst du dann wissen, dass ich meines nicht breche?«

»Ich gehe davon aus, dass du das tust«, sagte Lea. Ihre Stimme wurde schärfer, aber auch die Schwäche darin nahm zu. »Rahn! Lass sie los!«

Tatsächlich spürte Arri, wie sich Rahns Griff lockerte; allerdings nicht annähernd weit genug, dass sie sich hätte losreißen können. Und selbst wenn es anders gewesen wäre, war da immer noch das Messer, das dafür sorgte, dass sie sich bei der geringsten unvorsichtigen Bewegung den Hals durchschneiden musste.

»Rahn«, sagte Sarn ruhig. »Ich senke jetzt meinen Stab. Wenn die Hexe ihre Waffe nicht weggeworfen hat, bevor er den Boden berührt, tötest du das Mädchen.«

Rahn fuhr spürbar zusammen. Obwohl er hinter ihr stand, konnte Arri den entsetzen Blick spüren, den er dem Schamanen zuwarf. Das Messer an ihrer Kehle begann zu zittern.

Sarn senkte nun den knorrigen Stab, auf den er sich bisher betont auffällig gestützt hatte. Leas Blick folgte der Bewegung aus starren, aufgerissenen Augen, und Arri konnte sehen, wie sich die Gedanken hinter ihrer Stirn überschlugen. Ihr Schwert kam hoch, die blutbespritzte Klinge deutete nun genau auf den weißhaarigen alten Mann, aber Sarn senkte seinen Stock unerbittlich weiter, bis er sich so weit vorgebeugt hatte, dass er sich selbst in die Hocke sinken lassen musste, um den Stab nicht loszulassen. Arri konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber allein seine Haltung und die ruhige Art, die Bewegung - ganz langsam, aber ohne zu zögern - zu Ende zu führen, machte ihr klar, wie bitter ernst es ihm mit seiner Drohung war.

Und schließlich hatte er sich so weit vor und zur Seite gebeugt, wie er nur konnte, ohne direkt auf die Knie zu sinken, und der schweren Stab bekam das Übergewicht, entglitt seinen Fingern und fiel lautlos ins Gras.

»Rahn!«, sagte Sarn.

Arri verkrampfte sich und versuchte sich gegen den bevorstehenden Schmerz zu wappnen, als sie fühlte, wie der Fischer die Muskeln spannte. Ihre Mutter machte einen hastigen Schritt zurück und senkte das Schwert. »Nein!«, keuchte sie. »Rahn - nicht!«

»Dann gibst du auf?«, fragte Sarn.

Lea starrte Arri an, und erneut änderte sich etwas in ihrem Blick, und es war auch diesmal etwas, das Arri nicht deuten konnte und das sie zutiefst erschreckte. Ihr Nein war nicht das Nein, das Sarn hatte hören wollen.

»Es tut mir Leid, Arianrhod«, sagte Lea. »Bitte verzeih.«

Und damit fuhr sie auf der Stelle herum und war mit drei, vier weit ausgreifenden, schnellen Schritten in der Dunkelheit verschwunden. Arri fuhr erschrocken zusammen und starrte ihrer Mutter aus ungläubig aufgerissenen Augen hinterher, und auch Rahn schien für einen Moment so verblüfft zu sein, dass er das Messer sinken ließ und sich sein Griff spürbar lockerte. Vielleicht sogar weit genug, dass sie sich hätte losreißen können. Aber sie wagte es nicht. Ihr Knie schmerzte mittlerweile so stark, dass sie keine drei Schritte weit gekommen wäre. Und sie war auch viel zu überrascht, um auch nur ernsthaft daran zu denken.

Ihre Mutter... ließ sie im Stich? Aber was... was bedeutete das?

»Hinterher!«, brüllte Sarn. Er setzte dazu an, sich nach seinem Stock zu bücken, richtete sich dann aber mitten in der Bewegung auf und fuchtelte wild mit beiden Armen, als der Krieger keine Anstalten machte, seinem Befehl nachzukommen, sondern ihn nur hilflos anstarrte. »Worauf wartest du, du Feigling?«, brüllte Sarn. »Hinter ihr her! Packt sie!«

Tatsächlich machte der Krieger einen zögerlichen Schritt in die Richtung, in der Lea verschwunden war, blieb dann aber sofort wieder stehen und begann unbehaglich auf der Stelle zu treten. Seine Angst vor Sarn war unübersehbar; aber seine Furcht, sich ganz allein in der Dunkelheit an die Verfolgung einer Frau zu machen, die gerade vor seinen Augen zwei seiner Waffengefährten getötet, den dritten niedergeschlagen und auch ihm so übel mitgespielt hatte, dass er sich kaum noch auf den Beinen zu halten vermochte, war augenscheinlich größer.

»Feigling!«, sagte Sarn verächtlich. Er bückte sich zum zweiten Mal nach seinem Stock, hob ihn auf und versetzte dem bewusstlosen Krieger im Herumdrehen einen derben Fußtritt, der seine Rippen knacken ließ. Vielleicht waren es auch Sarns Zehen, dachte Arri, denn als sich der greise Schamane zu ihr umdrehte, spiegelte sich auf seinem Gesicht zwar grenzenlose Wut, aber auch Schmerz, und er hatte die Lippen zusammengepresst und schien leicht zu humpeln. »Erbärmlicher Feigling!«, sagte er noch einmal. »Wäre ich nur ein bisschen jünger, dann würde ich die Hexe selbst jagen und zur Strecke bringen.«

Der Krieger fuhr sich unruhig mit dem Handrücken über den Mund. Er hatte Angst vor Sarns Zorn, das war unübersehbar, aber vermutlich überlegte er - völlig zu Recht -, dass es möglicherweise schlimm sein würde, den Zorn des Schamanen zu ertragen, die Entscheidung, Lea zu verfolgen, aber auf reinen Selbstmord hinauslief.

»Nun gut«, knurrte Sarn, als auch er endlich begriff, dass seine Autorität offenbar doch nicht schwerer wog als der pure Selbsterhaltungstrieb des Mannes. »Sie wird uns schon nicht entkommen. Immerhin«, fügte er mit einem bösen Lächeln und einer Geste auf das blutbesudelte, niedergetrampelte Gras hinzu, »haben wir ja eine gute Spur.« Er wandte sich zu Arri um.

»Freue dich nicht zu früh, Dämonenkind. Wir finden deine Mutter schon noch.«

»Glaubst du wirklich, dass das nötig ist?«, fragte Arri böse. Sarns Augen wurden schmal, aber Arri ließ ganz bewusst eine geraume Weile verstreichen, bevor sie weitersprach, und sie bemühte sich nicht nur, möglichst ruhig und selbstbewusst zu klingen, sondern legte ganz bewusst einen ebenso überheblichen wie höhnischen Ton in ihre Stimme. Sie hatte immer noch Angst, aber ihre Panik war dahin. Sie schämte sich fast für das, was sie gerade über Lea gedacht hatte.

»Ich an deiner Stelle würde mir die Mühe gar nicht machen, nach meiner Mutter zu suchen. Sie wird noch früher zu dir kommen, als dir lieb ist.«

Sarns Augen wurden noch schmaler, aber er sagte auch jetzt nichts, sondern presste nur die Lippen zu einem blutleeren Strich zusammen und starrte sie an.

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass meine Mutter mich im Stich lässt, oder?«, fuhr sie spöttisch fort. Sie lachte. Da war plötzlich auch wieder jene lautlose, flüsternde Stimme in ihr, die ihr klarzumachen versuchte, dass sie auf dem besten Weg war, sich um Kopf und Kragen zu reden. Aber sie konnte nicht aufhören.

»Ich hoffe nur, du hast wirklich ein so gutes Verhältnis zu deinen Göttern, wie du behauptest, Sarn«, fuhr sie fort. »Ich fürchte nämlich, du wirst ihnen eher gegenüberstehen, als du glaubst.«

In Sarns Augen blitzte die reine Mordlust, und für einen Moment war Arri vollkommen sicher, dass sie den Bogen überspannt hatte und er nun seinen Stock nehmen würde, um sie auf der Stelle zu erschlagen. Stattdessen maß er sie jedoch nur noch einmal mit einem langen, plötzlich verächtlichen Blick, dann straffte er sich und gab Rahn, der hinter ihr stand, einen Wink. »Rahn!«

Arri spannte die Muskeln an, denn sie rechnete fest damit, nun abermals brutal gepackt oder gleich von hinten niedergeschlagen zu werden. Dann aber wurde ihr ein grober Sack über Kopf und Schultern gestülpt, und für die nächsten anderthalb Tage sollte der schmutzige Stoff alles sein, was sie sah.

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