19

Obwohl es bis Sonnenaufgang noch eine Weile hin war, war an Schlaf in dieser Nacht nicht mehr zu denken; weder für Arri noch für ihre Mutter. Lea hatte ihr nicht gezeigt, wie man den Himmelsstein nutzte, um in Verbindung mit dem genauen Stand von Mond und Sternen den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, und ihr auch sonst keine weiteren Geheimnisse des Schwertes offenbart, und obwohl Arri zutiefst enttäuscht darüber gewesen war, war sie doch zugleich fast erleichtert, denn sie bezweifelte, dass sie auch nur noch ein einziges weiteres Wort der Erklärung verstanden hätte. Nun endlich wusste sie um den geheimen Schatz ihrer Mutter, der nicht aus Silber oder Gold bestand oder weiteren prachtvollen Oraichalkos-Perlen, sondern aus etwas viel Wertvollerem, dem Kostbarsten vielleicht überhaupt, was es auf der ganzen Welt gab: Wissen.

Ohne dass eine von ihnen es hätte laut aussprechen müssen, waren sie übereingekommen, nicht bis Sonnenaufgang zu warten, sondern ihren Weg direkt fortzusetzen und so viel Strecke wie möglich gutzumachen. Die beiden Pferde zeigten sich nicht begeistert von der Störung ihrer wohlverdienten Ruhepause und gaben sich störrisch, sodass es Lea etliche Mühe kostete, ihnen die Geschirre wieder anzulegen und sie überhaupt zum Weitergehen zu bewegen. Schließlich aber rollten sie unter der mittlerweile wieder vollkommen geschlossenen Wolkendecke weiter auf den Durchlass zwischen den Bergen zu, und obwohl Arri ein durchaus mulmiges Gefühl dabei hatte, fanden die beiden Tiere auch in der tiefen Dunkelheit sicher ihren Weg.

Sie sprachen kaum ein Wort miteinander, bis die Sonne aufging, aber es war eine vollkommen andere Art des Schweigens als die, die tagsüber zwischen ihnen geherrscht hatte; jeder saß in seine eigenen Gedanken versunken da, doch zugleich war da auch ein Gefühl von tiefem Vertrauen zwischen ihnen, das keiner Worte bedurfte und sie in ein Empfinden von Geborgenheit und Wärme hüllte, und nicht das schuldbewusst-verstockte Schweigen vom Tage. Einmal - kurz vor Sonnenaufgang - fuhr ihre Mutter neben ihr fast unmerklich zusammen. Als Arri den Kopf wandte und sie ansah, reagierte sie nur mit einem sanften Lächeln, und weder ihrer Haltung noch ihrem Gesichtsausdruck war irgendetwas Außergewöhnliches anzumerken; dennoch spürte Arri die Spannung, die plötzlich von ihr Besitz ergriffen hatte, und auch die kleinen, verstohlenen Blicke aus den Augenwinkeln, mit denen sie ihre Umgebung abtastete, entgingen ihr keineswegs.

Sie hatte etwas gehört. Etwas, das nicht hierher gehörte. Auch in Arri machte sich Unruhe breit, doch nur für einen Augenblick; dann beruhigte sie sich selbst mit dem Gedanken, dass es wahrscheinlich nur ein Tier gewesen war, das das Geräusch der Pferdehufe oder das Knarren und Quietschen des Wagens in seiner Nachtruhe gestört hatte - vielleicht auch Dragosz, denn der Fremde hatte ihr ja gesagt, dass er in ihrer Nähe bleiben würde, um auf sie und ihre Mutter Acht zu geben.

Spätestens jetzt, dachte sie, wäre der unwiderruflich letzte Moment, ihrer Mutter von ihrer Begegnung am vergangenen Abend zu erzählen, ohne sich der unangenehmen Frage stellen zu müssen, warum sie so lange damit gewartet hatte. Aber aus irgendeinem Grund... schaffte sie es wieder einmal nicht, ihrer Mutter etwas wirklich Wichtiges zu sagen. Sie schwieg beharrlich weiter und warf ihrer Mutter nur dann und wann einen verstohlenen Blick aus den Augenwinkeln zu, bis Leas Anspannung wieder wich. Wahrscheinlich war es wirklich nur ein Tier gewesen oder irgendein anderes, zufälliges Geräusch. Einen Moment lang amüsierte sich Arri bei der Vorstellung, was Dragosz wohl für ein Gesicht machen würde, wenn er im Morgengrauen aufwachte und feststellte, dass die beiden Frauen, über die er seinen unsichtbaren, schützenden Arm gebreitet hatte, schon längst auf und davon waren.

Plötzlich wurde ihr klar, dass sie sich gerade in Gedanken selbst als Frau bezeichnet hatte. Zum allerersten Mal, und sie musste lächeln. Vielleicht war es tatsächlich so, wie ihre Mutter behauptete, und sie wurde allmählich erwachsen.

Der Morgen graute, doch sie kamen nicht schneller voran, denn im gleichen Maße, in dem es heller wurde, wurde der Weg auch schwieriger, sodass ihr Tempo eher sank, statt zuzunehmen. Außerdem wurde es kälter, nicht wärmer. Gestern Morgen, als sie aufgebrochen waren, waren Arri die Berge so fern und unerreichbar erschienen, dass sie nicht einmal darüber nachgedacht hatte, jemals dorthin zu gelangen. Jetzt waren sie den Bergen nicht wirklich näher gekommen, aber das Gebiet, durch das sie sich bewegten, unterschied sich doch ganz und gar von den dichten Wäldern, in denen sie aufgewachsen war. Der Boden war steinig. Immer wieder tauchten gewaltige Findlinge aus dem Wurzelgeflecht auf, das die trockene Erde bedeckte, sodass der Wagen stecken zu bleiben oder sich gleich ganz fest zu fahren drohte, und einmal mussten sie absteigen und das schwerfällige Gefährt ein gutes Stück den Weg zurück und noch dazu bergauf schieben, um sich einen anderen Weg zu suchen.

Auf diese Weise verging die Hälfte des Tages. Als die Sonne den höchsten Punkt ihrer Bahn erreicht hatte, hielt Lea den Wagen an und bereitete wortlos aus ihren Vorräten eine Mahlzeit zu. Sie bestand weiterhin darauf, kein Feuer zu machen, auch wenn Arri diese Vorsichtsmaßnahme nicht mehr ganz einsah; während der Nacht war ein Feuerschein weithin sichtbar und verräterisch, aber tagsüber bestand diese Gefahr kaum, und so ziemlich das Erste, was Lea ihr beigebracht hatte, war, wie man ein Feuer dazu brachte, vollkommen ohne Rauch zu brennen. Trotzdem widersprach sie nicht, sondern sah ihrer Mutter nur wortlos zu, wie sie Wasser und Essen aus ihren Beuteln nahm und die notwendigen Vorbereitungen traf. Immerhin verzichtete sie diesmal wenigstens darauf, sie auf einen vollkommen überflüssigen Botengang zu schicken.

Sie aßen so schweigend, wie sie den ganzen Tag miteinander auf dem Kutschbock gesessen hatten, dann setzten sie ihren Weg fort. Zweimal noch fragte Arri ihre Mutter, wohin sie eigentlich unterwegs waren, bekam aber jedes Mal nur eine ebenso wortkarge wie mürrische Antwort, sodass sie auf einen dritten Versuch gleich ganz verzichtete.

Als es zu dämmern begann, steuerte Lea den Wagen in den Schatten einiger dürrer Bäume, deren schon nahezu blattlose Äste allerdings kaum wirklich Schutz vor Entdeckung boten. Der Boden war auch hier mit Felsbrocken und spitzen Steinen übersät, und da, wo er es nicht war, sumpfig und nass, und ein unangenehmer, fast fauliger Geruch ging davon aus, sodass Lea kurzerhand entschied, die Nacht auf der Ladefläche des Wagens zu verbringen. Arri knurrte mittlerweile der Magen, aber wenn sie daran dachte, was sie gestern und heute Mittag gegessen hatte, verspürte sie eigentlich keine große Lust auf eine weitere, so wenig schmackhafte Mahlzeit.

Trotz der satten Zeiten, die das Dorf gerade erlebte, war sie es gewohnt, hin und wieder zu hungern, und ihre Mutter hatte ja selbst gesagt, dass sie nicht viel mehr als zwei Tage brauchen würden, um ihr Ziel zu erreichen. Was machte da schon eine Nacht mit leerem Magen, wenn sie am nächsten Tag am Ziel waren und die festliche Mahlzeit auf sie wartete, die die Gastfreundschaft vorschrieb, wenn Freunde zu Besuch kamen? Sie schlief auch in dieser Nacht mit dem festen Vorsatz ein, ihrer Mutter gleich am nächsten Morgen von ihrer Begegnung mit Dragosz zu erzählen, doch als ihre Mutter sie weckte, war sie noch viel zu benommen und schlaftrunken, um auch nur einen Laut hervorzubringen.

»Still!«, zischte Lea. »Da ist jemand.«

»Ich weiß«, nuschelte Arri schlaftrunken. Natürlich war da jemand. Dragosz hatte ihr ja versichert, die ganze Zeit in ihrer Nähe zu bleiben, um auf sie Acht zu geben, und vermutlich war er nun in seinem Bestreben, sie und ihre Mutter nicht noch einmal aus den Augen zu verlieren, unvorsichtig geworden oder hatte die Schärfe von Leas Sinnen einfach unterschätzt. »Es ist...«

»Still!«, unterbrach sie ihre Mutter erneut und in noch schärferem Ton. »Keinen Laut!«

Mit den umständlichen Bewegungen eines Menschen, der viel zu schnell aus einem tiefen Schlaf gerissen worden ist, setzte sich Arri vollends auf. Umständlich, aber alles andere als vorsichtig, sodass der ganze Wagen zu schaukeln anfing und die hölzerne Konstruktion ein hörbares Knarren und Quietschen von sich gab - was ihr einen weiteren, ärgerlichen Blick ihrer Mutter einbrachte. Sie setzte noch einmal dazu an, ihrer Mutter zu erklären, wer es war, dessen Nähe sie bemerkt hatte, aber Leas Blick ließ sie sich anders besinnen. Mochte ihre Mutter doch ihr Schwert nehmen und losschleichen. Sie würde eine Überraschung erleben. Und dasselbe galt vermutlich nicht minder für Dragosz. Und was Arri anging: Sie gönnte es ihnen beiden.

Mit einem stummen Achselzucken setzte sie sich endgültig auf, fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht und unterdrückte ein Gähnen, während sie müde in den Himmel hinauf und nach Osten blinzelte. Sie konnte die Berge als gezackte Schattenlinie vor einem dunstigen Streifen aus fast schwarzem Grau erkennen. Bis zum Sonnenaufgang war es noch eine geraume Weile hin, anscheinend, dachte sie resignierend, war es allmählich ihr Schicksal, in keiner Nacht mehr ausreichend Schlaf zu bekommen.

»Bleib, wo du bist«, beschied ihre Mutter, während sie sich bereits erhob und nahezu lautlos von der Ladefläche des Wagens herunterglitt. Arri hatte nicht vorgehabt, irgendetwas anderes zu tun, und so hob sie nur abermals die Schultern und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Anders als ihre Mutter wusste sie sowohl, was sie gehört hatte, als auch, dass ihnen nicht die mindeste Gefahr drohte, sodass sie ganz ernsthaft erwog, sich auszustrecken und weiter zu schlafen. Wenn ihre Mutter Dragosz tatsächlich traf, dann war es ganz und gar nicht sicher, dass sie so schnell zurückkam.

Aber sie war nun einmal wach, und obwohl sie so müde war, als hätte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan, spürte sie zugleich auch, dass sie jetzt keinen Schlaf mehr finden würde. Also beschloss sie, sich in Geduld zu fassen, und vertrieb sich die Zeit damit, sich alle möglichen lustigen oder auch peinlichen Situationen vorzustellen, in die ihre Mutter und Dragosz kommen mochten, wenn sie sich unversehens gegenübersahen.

Ganz am Rande ihres Bewusstseins tauchte plötzlich ein anderer, hässlicher Gedanke auf: Was, wenn ihre Mutter oder Dragosz falsch reagierten und der eine den jeweils anderen in der Dunkelheit für einen Angreifer hielt? Was das anging, wusste sie wenig über Dragosz, dafür aber umso mehr, wozu ihre Mutter imstande war. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihrer Mutter nicht zu sagen, auf wen sie treffen würde. Arri beruhigte sich mit dem Gedanken, dass Lea eine kluge Frau war. Und auch Dragosz hatte nicht den Eindruck erweckt, dass er ein Dummkopf wäre.

Sie musste länger warten, als sie gehofft, aber nicht annähernd so lange, wie sie befürchtet hatte, bis sie die Schritte ihrer Mutter hörte, und sie spürte schon, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, bevor sie sie sah. Das näher kommende Geräusch verriet ihr, dass ihre Mutter vielleicht noch nicht rannte, aber auch alles andere als langsam ging oder gar vorsichtig. Etwas stimmte nicht.

Beunruhigt setzte Arri sich auf, doch sie kam nicht dazu, die Bewegung zu Ende zu führen, bevor ihre Mutter auch schon aus der Dunkelheit herangestürmt kam. Etwas blinkte silberhell in ihrer Hand; sie hatte ihr Schwert gezogen.

»Was ist passiert?«, fragte Arri erschrocken.

»Schnell!«, befahl ihre Mutter, ohne ihre Frage zu beantworten. »Hilf mir, wir müssen weg!«

Arris Beunruhigung explodierte zu purer Angst, als sie den gehetzten Ton in Leas Stimme hörte. Irgendetwas Schlimmes musste passiert sein - und sie hatte das schreckliche Gefühl zu wissen, was es war.

Mit einem einzigen Satz sprang sie vom Wagen, aber ihre Mutter war bereits um das Gefährt herum und zu den Pferden gelaufen und begann damit, die Tiere mit fliegenden Fingern anzuschirren.

»Was ist denn nur passiert?«, fragte Arri. Ihr Herz begann zu hämmern. Sie wusste, was passiert war, und es war ihre Schuld. Warum hatte sie nur nichts gesagt?

»Nichts«, zischte Lea. »Später. Jetzt hilf mir, die Pferde anzuspannen. Ich möchte hier verschwunden sein, wenn es hell wird.«

»Es... es tut mir Leid«, stammelte Arri. »Ich hätte es dir sagen müssen. Ich weiß, aber...« Arri brach mit einem erschrockenen Keuchen ab, als ihr Blick auf das Schwert fiel. Auf der Klinge schimmerten dunkle Flecken, die noch nicht auf dem Metall gewesen waren, als Lea fort gegangen war.

Blut.

Plötzlich hatte Arri das Gefühl, dass sich eine unsichtbare, eisige Hand nach ihrem Herzen ausstreckte und es langsam, aber mit unbarmherziger Kraft zusammendrückte. Das war Blut auf dem Schwert ihrer Mutter!

»Worauf wartest du?«, fuhr Lea sie an. »Wir müssen weg!«

Arri hörte gar nicht hin. Einen endlosen, schweren Atemzug lang starrte sie die dunklen Flecken auf der Schwertklinge noch aus aufgerissenen Augen an, dann fuhr sie auf dem Absatz herum und stürmte in die Richtung los, aus der ihre Mutter gerade gekommen war. Lea rief ihr nach, aber Arri reagierte nicht darauf, sondern beschleunigte ihre Schritte nur noch mehr. Etwas Entsetzliches war passiert, und es war ganz allein ihre Schuld! Warum hatte sie nur nichts gesagt? Wahrscheinlich war Dragosz verletzt, möglicherweise sogar tot, und das alles nur, weil sie zu feige gewesen war, um ihrer Mutter ihr lächerliches kleines Geheimnis zu beichten!

Blindlings stürmte sie in die Dunkelheit hinein, stolperte über irgendein Hindernis, das sie nicht einmal sah, und fand durch mehr Glück als irgendetwas anderes und mit wild rudernden Armen ihr Gleichgewicht wieder. Lea schrie erneut und mit schriller Stimme ihren Namen, aber Arri rannte nur noch schneller. Es war ihre Schuld! Dragosz war tot, nur weil sie feige gewesen war!

»Arri!«, schrie Lea hinter ihr. »Komm zurück!«

Arri stürmte weiter, prallte in der Dunkelheit gegen ein weiteres Hindernis und fiel auf die Knie, rappelte sich wieder auf und stolperte weiter, blindlings und fast ohne zu wissen, wohin.

Vielleicht wäre sie noch weiter und weiter in die Nacht hineingestolpert, hätte ihre Mutter sie nicht am Ende eingeholt und grob zurückgerissen. »Verdammt, was soll das?«, fuhr sie sie an. »Hast du den Verstand verloren?«

Arri riss sich mit einer so heftigen Bewegung los, dass ihre Mutter fast erschrocken zurückprallte und sie verstört ansah.

»Aber was ist denn...?«, begann sie.

»Was ist passiert?«, unterbrach sie Arri beinahe schreiend. »Woher kommt das Blut auf deinem Schwert? Was hast du getan?«

Der Ausdruck von Verwirrung auf dem Gesicht ihrer Mutter nahm eher noch zu. »Aber...«

»Antworte!«, schrie Arri. »Du hast ihn umgebracht!«

»Umgebracht?« Lea schüttelte verwirrt den Kopf. »Wen?«

»Lüg nicht!«, schrie Arri ihre Mutter an. »Du hast ihn umgebracht! Ich weiß es!« Und es ist ganz allein meine Schuld!

Einen Moment lang kämpfte ihre Mutter sichtlich um ihre Beherrschung. Ihre Hand umklammerte immer noch das Schwert, aber sie tat es nun so fest, als müsse sie sich mit aller Macht zusammenreißen, nun nicht nach ihr zu schlagen. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sagte sie schließlich. »Ich habe niemanden getötet.«

»Und woher kommt dann das Blut an deinem Schwert?«, fragte Arri aufgebracht.

Wieder starrte ihre Mutter sie nur mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und immer mühsamer zurückgehaltenem Jähzorn an, dann drehte sie sich mit einem Ruck um und befahl Arri gleichzeitig mit einer herrischen Geste, ihr zu folgen. »Komm mit!«

Sie verschwand mit so raschen Schritten in der Dunkelheit, dass Arri alle Mühe hatte, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Sie war vollkommen aufgewühlt. Hinter ihrer Stirn überschlugen sich die Gedanken. Ihre Mutter hatte Dragosz erschlagen, den vielleicht einzigen Menschen auf der Welt, der noch ihr Freund gewesen war, oder zumindest nicht ihr Feind, und das nur, weil sie zu feige gewesen war, einen winzigen Fehler zuzugeben, oder - schlimmer noch - Spaß an ihrer albernen Heimlichtuerei gehabt hatte!

Wenn Dragosz tot war, wenn ihre Mutter ihn tatsächlich erschlagen hatte, weil sie ihn in der Nacht für jemanden gehalten hatte, der sich an ihr Lager anschlich, dann war es ganz genau so, als hätte Arris eigene Hand das Schwert geführt.

Sie bewegten sich ein gutes Stück weit in die Dunkelheit hinein, und so sehr sich Arri auch anstrengte, gelang es ihr doch nicht, wirklich zu ihrer Mutter aufzuschließen. Erst, als Lea schließlich langsamer wurde und dann ganz stehen blieb, holte sie sie ein. Ihr Blick irrte fahrig über den mit dürrem Gras und Steinen übersäten Boden, und ihr Herz begann schon allein bei der Vorstellung wie wild zu hämmern, Dragosz’ reglos ausgestreckten Körper zu erblicken. Aber da war nichts. Nur Gras und Steine und knorrige Wurzeln, die wie verkrüppelte Finger aus dem Boden herausgriffen.

»Nun?«, fragte Lea. »Bist du zufrieden - oder hast du irgendetwas anderes erwartet? Etwas ganz Bestimmtes?«

Arri hätte den lauernden Unterton in der Stimme ihrer Mutter nicht einmal hören müssen, um zu begreifen, dass hier nicht nur etwas völlig anders war, als sie erwartet hatte, sondern Lea auch spätestens jetzt wissen musste, dass es da etwas gab, was ihre Tochter ihr offensichtlich vorenthalten hatte. Verstört drehte sie sich einmal im Kreis und versuchte, die Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen, aber sie gewahrte auch jetzt nichts anderes als knorrige Schatten und fast baumlose Umrisse, die zweifellos natürlichen Ursprungs waren. Dann aber spürte sie doch etwas. Ein ganz leiser, aber bezeichnender Geruch lag in der Luft, so schwach, dass sie ihn nur spürte, weil er nicht hierher gehörte und etwas ungemein Alarmierendes mit sich brachte.

»Blut«, flüsterte sie.

Lea nickte. Ohne, dass Arri sie ansehen musste, spürte sie, dass sich ihr Gesichtsausdruck noch weiter verfinsterte. Sie sagte nichts, winkte Arri aber mit einer knappen Geste vollends zu sich heran und ließ sich in die Hocke sinken. Als Arris Blick ihrer Bewegung folgte, sah sie einen dunklen, noch feucht glänzenden Fleck im Gras. Lea wiederholte ihre auffordernde Geste, und Arris streckte gehorsam die Hand danach aus, wagte es aber schließlich doch nicht, ihn zu berühren. Der Geruch wurde noch stärker. Es war Blut. Eine Menge Blut, das hier geflossen war.

»Ich weiß nicht, was hier passiert ist«, sagte Lea leise. Arri hielt den Blick weiter auf den in der Nacht schwarz aussehenden Blutfleck im Gras gerichtet, aber sie konnte fast körperlich spüren, wie misstrauisch ihre Mutter sie anstarrte. »Ich habe Geräusche gehört. Einen Kampf. Aber als ich hergekommen bin, war niemand da.« Ihre freie Hand machte eine flatternde Bewegung. Arris Blick folgte ihr, und sie entdeckte weitere und noch größere Blutflecken, eine Spur, die von einer Fährte aus zertrampeltem Gras und geknickten Wurzeln flankiert wurde und in der Dunkelheit verschwand. »Anscheinend hat es einen Kampf gegeben«, fuhr Lea fort. Was eine Erklärung war, klang wie eine Frage, und ihre misstrauischen Blicke schienen nun wie Feuer auf Arris Haut zu brennen. »Wer immer es war, muss schwer verletzt worden sein. Vielleicht wurde er weggetragen. Ich weiß nicht, von wem oder warum. Weißt du es vielleicht?«

»Nein«, antwortete Arri. Sie war fast entsetzt über ihre eigene Antwort. Warum tat sie das? Warum gestand sie nicht spätestens jetzt, was gestern geschehen war? Ihre Mutter würde nicht erfreut sein, aber ihr - berechtigter - Zorn würde so nur noch weiter zunehmen, mit jedem Moment, den Arri verstreichen ließ, ohne ihr endlich die Wahrheit zu sagen. Und dennoch hörte sie plötzlich ihre eigene Stimme wie die einer Fremden antworten: »Ich... ich dachte... es... es wäre...«

»Ja?«, fragte Lea lauernd.

Arri fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und folgte der Spur aus Blut und aufgewühlter Erde ein paar Schritte weit, bevor sie wieder stehen blieb. Nicht, um ihr wirklich nachzugehen, sondern um auf diese Weise einen Vorwand zu haben, ihre Mutter nicht anzusehen. »Ich muss wohl geträumt haben«, murmelte sie. »Es... es tut mir Leid.«

»Und mir tut es Leid, dass du mich anscheinend für so dumm hältst«, antwortete ihre Mutter kopfschüttelnd. »Du bist keine gute Lügnerin, Arianrhod. Wen hast du hier erwartet?«

Dragosz, dachte Arri. Warum sprach sie den Namen nicht aus? Welcher Teil von ihr war das, der sogar stärker war als ihr eigener Wille und es ihr unmöglich machte, dieses eine Wort auszusprechen? Sie schwieg beharrlich weiter, auch als sie hörte, wie ihre Mutter mit zwei, drei schnellen Schritten auf sie zukam. Als Lea sie hart an der Schulter packte und herumriss, konnte sie sich gerade noch beherrschen, ihre Hände nicht beiseite zu schlagen.

»Das ist jetzt kein Spiel mehr, Arianrhod!«, fuhr ihre Mutter sie an. »Jemand war hier. Jemand folgt uns, und du weißt, wer es ist!«

Und sie wusste auch, was er getan hatte. Dragosz hatte Wort gehalten. Jemand hatte sich an sie angeschlichen, und Dragosz hatte seinen Teil des Paktes eingelöst, den sie beide geschlossen hatten, und über sie gewacht. Sie konnte ihn nicht verraten.

»Ich... ich dachte, es wäre...«, begann sie und brach wieder ab.

Ihre Mutter schüttelte sie so kräftig, dass ihr Kopf hin und her flog. »Wer?«, herrschte sie sie an. »Arri - zwing mich nicht, etwas zu tun, das ich nicht tun will!«

Aber sie konnte doch auch sie nicht zwingen, etwas zu tun, was sie nicht tun durfte. Hatte ihre Mutter ihr nicht immer und immer wieder gesagt, dass nichts heiliger war als ein gegebenes Wort?

»Rahn«, stieß sie schließlich atemlos hervor. »Ich dachte, es wäre Rahn.«

Lea ließ ihre Schultern los, wich einen halben Schritt zurück und starrte sie verblüfft an. »Rahn?«, wiederholte sie ungläubig. »Aber wieso Rahn?«

»Weil...« Auch Arri machte vorsichtshalber einen Schritt zurück und legte die Hand auf die Schulter. Ihre Mutter hatte so fest zugepackt, dass es immer noch wehtat. »Ich dachte, er wäre mir gefolgt«, fuhr sie fort. »Du... du hast doch selbst gesagt, dass er hinter deinem Schatz her ist, und... und als ich aus dem Dorf weggelaufen bin, da...« Sie brach ab und begann, mit den Händen zu ringen.

»Da hast du geglaubt, er wäre dir heimlich nachgelaufen, um auf diese Weise meine Spur aufzunehmen«, führte Lea den Satz zu Ende.

Arri nickte. Ein Teil von ihr schrie entsetzt auf. War sie verrückt geworden? Diese Geschichte mochte für den Augenblick glaubhaft klingen - aber eigentlich nicht einmal das -, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis ihre Mutter die Wahrheit herausfände, spätestens, wenn sie das nächste Mal mit Dragosz sprach, und dann würde alles nur noch viel schlimmer werden. Und doch konnte sie nicht anders. Da war etwas zwischen dem schwarzhaarigen Fremden und ihr geschehen, was sie nicht verstand und was sie erschreckte, aber es war auch etwas, das große Macht über sie hatte und stärker war als ihr Wille, stärker als jede Vernunft. »Ja. Gestern dachte ich ein paar Mal, ich... ich hätte etwas gehört. Aber ich... ich habe mich nicht getraut, es dir zu sagen.«

»Warum?« Das Misstrauen verblieb noch in den Augen ihrer Mutter, ja, es schien sogar fast noch zuzunehmen, dann aber machte es einem plötzlichen Ausdruck tiefer Trauer Platz. Sie schüttelte den Kopf und beantwortete mit leiserer Stimme ihre eigene Frage: »Weil du Angst hattest, dass ich dir Vorwürfe mache, nicht wahr?«

Arri hob nur die Schultern und raffte all ihre Kraft zusammen, um dem Blick ihrer Mutter standhalten zu können.

»Ich muss wohl eine noch schlechtere Lehrerin sein, als ich dachte«, sagte Lea traurig. »Warum hast du so wenig Vertrauen zu mir?«

»Das stimmt nicht«, antwortete Arri. »Es... es war doch alles meine Schuld. Ich hätte Rahn nicht so wütend machen dürfen. Wenn ich einfach weggelaufen wäre, dann wäre gar nichts passiert. Aber jetzt... Du hast gesagt, dass niemand von dem Ort wissen darf, zu dem wir unterwegs sind. Weil es doch deine Freunde sind und du sie nicht in Gefahr bringen willst. Und wenn Rahn von ihnen wüsste...«

Lea seufzte tief, schlug ihren Umhang zurück und wischte sorgsam die Blutflecken von der Klinge ihres Schwertes, bevor sie die Waffe wieder in die mit einer Bronzeeinfassung verstärkte Lederschlaufe an ihrem Gürtel schob. Ihr Blick tastete aufmerksam und sehr lange in die Runde, und Arris vorsichtige Erleichterung bekam zumindest einen Dämpfer, denn in den Augen ihrer Mutter flackerten noch einmal Misstrauen und Zweifel auf, während sie die Blutflecken und unübersehbaren Kampfspuren im Gras musterte. Dann aber schüttelte sie betrübt den Kopf. »Du musst dir keine Vorwürfe machen, Arianrhod. Wenn es jemanden gibt, der Schuld an all dem hier ist, dann bin ich es.«

»Aber warum?«, fragte Arri. »Du hast doch nur...«

»Weil es mir offensichtlich nicht gelungen ist, dein Vertrauen zu erringen«, unterbrach sie ihre Mutter. »Es tut mir Leid. Vielleicht war ich in meinem Bestreben, dich Vorsicht und Misstrauen zu lehren, ein bisschen zu erfolgreich.« Sie lächelte bitter. »Aber man kann nicht alles haben, nicht wahr?«

»Das ist nicht wahr!«, begehrte Arri auf. »Ich vertraue dir, aber...«

»Aber nicht so weit, dass du zu mir kommst, um einen Fehler zuzugeben, der uns allen zum Verhängnis hätte werden können«, unterbrach Lea sie, und es waren diese Worte, die irgendetwas zwischen ihnen endgültig zu zerstören schienen. Die zur Versöhnung ausgestreckte Hand, die Lea ihr dargeboten hatte, war plötzlich nicht mehr da.

Auch wenn der Vorwurf, den Arri in ihren Worten hörte, sicherlich nicht beabsichtigt war, er war da, und er machte es ihr nun vollends unmöglich, vielleicht doch noch die Wahrheit zu sagen.

Nachdem Lea eine Weile vergebens auf eine Antwort gewartet hatte, wiederholte sie dieses flüchtige, bittere Lächeln, dann drehte sie sich mit einer abrupten Bewegung um und deutete in die Richtung, in der der Wagen stand. »Komm«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was hier geschehen ist, aber wir sollten trotzdem so schnell wie möglich verschwinden - und aufpassen, dass uns keiner der Raufbolde folgt, die hier aufeinander eingedroschen haben. Vielleicht ist es sogar ganz gut so. Wenn wir uns beeilen, erreichen wir unser Ziel vielleicht noch bei Tageslicht.«

Sie erreichten ihr Ziel nicht mehr vor Sonnenuntergang, was wohl daran lag, dass Lea für eine Weile den Wagen mit aller Vorsicht durch einen Bach lenkte, um so gut es ging ihre Spur zu verwischen, und später noch einmal aus dem gleichen Grund einen Umweg über ein holpriges Gesteinsfeld wählte, was den Wagen in allen Fugen ächzen und krachen ließ, sodass Arri schon Angst hatte, er würde auseinander fallen. Den übrigen Tag waren sie ununterbrochen nach Osten gefahren, und Lea hatte den Wagen nur ein einziges Mal für längere Zeit angehalten, damit die Pferde ihren Durst an dem kleinen Tümpel löschen konnten, an dem sie vorüberkamen. Auch Arri hatte absteigen und trinken wollen, doch ihre Mutter hatte sie mit einer raschen Handbewegung und einem kaum angedeuteten, aber warnenden Kopfschütteln zurückgehalten und stattdessen wortlos auf den ledernen Wasserschlauch gedeutet, der hinter ihnen auf der Ladefläche lag. Arri hatte sich zwar darüber gewundert - wenn das Wasser für die Pferde gut war, wieso dann nicht für sie? -, sich aber dennoch wortlos gefügt, so, wie sie auch fast den gesamten Tag über schweigend neben ihrer Mutter gesessen hatte. Die gesamte holprige Fahrt war in gedrückter Stimmung verlaufen, der jedoch sonderbarerweise nichts wirklich Feindseliges angehaftet hatte. Vielmehr hatte sie gespürt, dass ihre Mutter überhaupt nicht zornig auf sie war, wohl aber von großer Sorge erfüllt, und da sie - viel besser als ihre Mutter selbst - den Grund für diese Sorge kannte, war auch sie selbst immer schweigsamer und verschlossener geworden.

Darüber hinaus gab es noch einen weiteren, handfesten Grund für Leas Anspannung: Ganz gleich, ob sie Arris Lügengeschichte nun geglaubt hatte oder nicht; das Blut und die Kampfspuren, die sie gefunden hatten, bewiesen ganz eindeutig, dass sie nicht so allein in diesem Teil der Welt waren, wie Lea es bisher angenommen zu haben schien; oder sie zumindest glauben machen wollte. Abgesehen von der einen Rast, die sie den Pferden gönnte, rollte der Wagen den ganzen Tag über ununterbrochen dahin, wenn auch manchmal so langsam, dass selbst ein Kind zu Fuß schneller gewesen wäre, denn das Gelände wurde im gleichen Maße schwieriger, in dem sie sich den Bergen näherten. Sie waren noch immer nicht sichtbar näher gekommen, doch ihre Umgebung hatte nun rein gar nichts mehr mit der Landschaft gemein, in der Arri aufgewachsen war.

Es gab keinen Weg oder Pfad, und was Arri schon am Tag zuvor vermutet hatte, wurde nun zur Gewissheit, nämlich dass ihre Mutter diesen Weg noch nicht sehr oft genommen hatte; wahrscheinlich das letzte Mal vor ein paar Sommern, als sie über Gebühr verspätet von einem Besuch in Goseg zurückgekehrt war, weil sie angeblich auf dem Rückweg noch tagelang in einem Nachbardorf aufgehalten worden war. Arri hatte diesen Vorfall schon fast vollständig vergessen, doch jetzt fiel er ihr nicht nur wieder ein, sondern bekam auch eine ganz andere Bedeutung. Offensichtlich hatte ihre Mutter ihr all die Jahre mehr Dinge vorenthalten, als sie auch nur im Entferntesten geahnt hatte.

Sie verzichtete darauf, Lea darauf anzusprechen - schließlich hatte sie selbst ihrer Mutter auch die eine oder andere Kleinigkeit verschwiegen - und konzentrierte sich stattdessen lieber darauf, sich bei der gleichermaßen holprigen wie rasanten Fahrt so abzustützen, dass sie nicht aus dem Wagen fiel. Mehr als einmal mussten sie umkehren und einen großen Umweg in Kauf nehmen, wenn sich die Strecke als zu schwierig für den Wagen erwies, und auch wenn Lea ihr Bestes tat, sich ihre wirklichen Gefühle nicht anmerken zu lassen, so spürte Arri doch, dass sie in zunehmendem Maße unruhiger wurde. Als die Sonne zu sinken begann, trieb sie die Pferde immer unbarmherziger und rücksichtsloser an, was Arri, die ja wusste, dass ihre Mutter ein ganz besonderes Verhältnis zu diesen Tieren hatte, mehr als alles andere davon überzeugte, dass sie in Gefahr waren; oder dass Lea es zumindest annehmen musste.

Mit dem letzten Licht der untergehenden Sonne lenkte Lea das Gespann einen zwar sanften, aber sehr lang ansteigenden und mit einem Gewirr aus Felstrümmern und Findlingen übersäten Hang hinauf, dessen oberes Ende sie gerade in dem Augenblick erreichten, in dem die Sonne endgültig unterging. Rings um sie herum herrschte noch ein Rest von grauem Zwielicht, das einen die Umrisse der Dinge mehr erahnen als wirklich erkennen ließ und in dem es beinahe schwerer war, sich zu orientieren, als bei tatsächlicher Dunkelheit, aber vor ihnen fiel der Hang ebenso steil wieder ab, wie er auf der anderen Seite angestiegen war, und in dem tief eingeschnittenen Tal, das sich unter ihnen erstreckte, herrschte bereits tiefste Nacht. Dennoch gab es Licht dort unten. Nicht einmal allzu weit entfernt gewahrte Arri eine Anzahl winziger flackernder roter Punkte, wie Leuchtkäfer, die auf der Stelle tanzten, und der charakteristische Geruch von brennendem Holz schlug ihr entgegen. Da waren auch Geräusche, aber sie waren zu schwach, um sie eindeutig zuzuordnen.

»Ist es das?«, fragte sie.

»Ja«, antwortete Lea. »Nur noch ein kleines Stück, und wir haben es geschafft.« Falls diese Worte aufmunternd oder beruhigend gemeint waren, so verfehlten sie ihre Wirkung vollständig. Lea klang unsicher und fahrig, und was ein Seufzer der Erleichterung hatte werden sollen, geriet eher zu einem Stoßgebet, als rechne sie fest damit, dass ihnen das Schicksal oder irgendeine andere boshafte Macht zuletzt doch noch einen Streich spielen würde.

Arri hütete sich, auch nur eine entsprechende Bemerkung zu machen, und sie hatte sich sogar gut genug in der Gewalt, um sich nicht auf dem Kutschbock umzudrehen und einen besorgten Blick in die Richtung zurückzuwerfen, aus der sie gekommen waren. Doch im nächsten Augenblick tat ihre Mutter ganz genau das, was sie sich gerade verboten hatte. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war vielleicht noch nicht ganz der von Angst, aber er war nicht mehr sehr weit davon entfernt.

Als sie weiterfuhren und Kurs auf den Schwarm roter Glühwürmchen unter ihnen nahmen, trieb sie die Pferde zu einer Geschwindigkeit an, die vielleicht nicht einmal besonders hoch war, angesichts der fast völligen Dunkelheit und des Gewirrs aus Felsen, Schutt und gefährlichen Wurzeln und Löchern im Boden aber geradezu mörderisch. Der Wagen schaukelte so heftig hin und her, dass Arri sich mit aller Kraft an der schmalen Sitzbank festklammern musste und es ihr fast wie ein kleines Wunder vorkam, dass sie nicht den größten Teil ihrer Ladung verloren. Der Weg hinunter dauerte auf diese Weise nur wenige Augenblicke, doch als sie endlich wieder über halbwegs ebenen Boden rollten und aus ihrem Schwarm tanzender roter Geister vor ihnen eine gerade Reihe regelmäßiger rechteckiger Flecke geworden war, die kaum noch einen Steinwurf entfernt sein konnten, atmete sie so erleichtert auf, als wäre sie den halben Tag von Wölfen durch den Wald gehetzt worden und hätte endlich die Sicherheit menschlicher Behausungen erreicht.

Auch Lea gestattete es sich, sich vorsichtig zu entspannen, trieb die Pferde aber nur zu noch größerer Schnelligkeit an, sodass der Wagen zwar über ebenen Boden dahinrollte, aber beinahe noch mehr schaukelte und ächzte als bisher. Ein Hund kam ihnen aus der Dunkelheit entgegen und rannte eine Weile kläffend neben dem Wagen her, und Arri wurde so heftig hin und her geworfen, dass sie ernsthaft befürchtete, vom Wagen zu fallen. Hätte die Fahrt auch nur noch einige Augenblicke länger angedauert, sie hätte ihrer Mutter möglicherweise gesagt, dass es keinen Grund für diese Hast gab und ihr alles gebeichtet.

Dann jedoch war es so plötzlich vorbei, wie es begonnen hatte. Die Lichter vor ihnen wuchsen immer rascher an und wurden zu einer Reihe erstaunlich großer und auch erstaunlich zahlreicher Fenster, wie Arri sie noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte und allenfalls aus den Erzählungen kannte, mit denen Lea Gebäude ihrer alten Heimat beschrieben hatte. Hinter ihnen glomm nicht nur roter Feuerschein, sondern es drang auch ein Durcheinander von Geräuschen und Gerüchen zu ihnen heraus. Es war so dunkel, dass Arri das dazugehörige Haus nicht einmal erkennen konnte, als sie unmittelbar davor anhielten, doch es musste sich um ein wirklich riesiges Gebäude handeln, denn obwohl der schwarze Umriss vor ihnen übergangslos mit der Dunkelheit des wolkenverhangenen Himmels verschmolz, konnte sie seine Größe schlichtweg spüren. In diesem Haus mussten nahezu so viele Menschen Platz haben wie in ihrem gesamten Dorf.

Lea ließ den Wagen, zumindest auf dem letzten Stück, zwar ein wenig langsamer rollen, lenkte ihn aber so dicht an das Haus heran, wie es überhaupt nur ging, und sprang vom Kutschbock, noch bevor sie vollkommen angehalten hatten. Der Hund, der ihnen entgegengekommen war, war plötzlich wieder da und sprang kläffend auf sie los, doch noch bevor Arri auch nur wirklich Gelegenheit fand zu erschrecken, ließ sich ihre Mutter in die Hocke sinken und streckte den Arm aus, und aus dem wütenden Gekläff des Hundes wurde ein freudiges Winseln. Schwanzwedelnd legte er sich vor ihrer Mutter auf den Rücken und ließ sich von ihr Bauch und Hals streicheln. Offensichtlich kannte er sie, dachte Arri; oder es war der schlechteste Wachhund, von dem sie je gehört hatte.

Wahrscheinlich angelockt vom Bellen des Hundes, öffnete sich eine niedrige Tür in dem Haus nur ein kleines Stück entfernt, und in dem flackernden, rotgelben Lichtschein, der herausdrang, konnte Arri eine gedrungene Gestalt erkennen. Ihre Mutter stand auf, hob grüßend die Hand und ging dem Mann entgegen, und auch Arri machte Anstalten, vom Wagen zu steigen, doch Lea hielt sie mit einer raschen Geste zurück. Arri gehorchte zwar, dachte sich aber ihren Teil - vielleicht war es mit der großen Freundschaft, die ihre Mutter angeblich mit den Bewohnern dieses Hauses verband, doch nicht so weit her; zumindest mit denen, die weniger als vier Beine hatten.

Der Mann, der unter der Tür erschienen war - Arri konnte ihn gegen das rote Licht nur als gesichtslosen Schatten erkennen, aber sie sah immerhin, dass er sehr groß und von sehr massiger Statur war -, rief ihrer Mutter ein Wort in einer Sprache zu, die Arri nicht verstand, und Lea antwortete mit einem raschen Winken und einer Bemerkung in derselben Sprache, die Arri ebenso wenig verstand, die aber eindeutig scherzhaft klang. Der Fremde legte den Kopf schräg, und seine Haltung spannte sich ein wenig, dann aber schien er Lea zu erkennen. Er drehte den Kopf und rief irgendjemandem innerhalb des Hauses etwas zu, bevor er ihrer Mutter entgegenging. Arri konnte die Worte nicht verstehen, die sie miteinander wechselten. Und dennoch meinte sie aus dem Tonfall und den kurzen, abgehackten Sätzen herauszuhören, dass es sich kaum um die Wiedersehensfreude unter alten Freunden handelte, sondern eher um ein kühles Gespräch, bei dem sich ihre Mutter eher aufs Bitten als aufs Fordern verlegte, was ungewöhnlich genug war.

Arri versuchte eine Weile, zumindest den Sinn des Gespräches zu erraten, gab es aber schließlich auf und riss ihren Blick von der Gestalt ihrer Mutter und des Fremden los, um das Haus näher in Augenschein zu nehmen. Auch jetzt, als sie ihm so nahe war, dass sie es fast hätte berühren können, war es wenig mehr als ein riesiger Schatten, der einen gut Teil des Himmels zu verdunkeln schien - oder verdunkelt hätte, hätte sie den Himmel sehen können. Den ganzen Tag über war es bewölkt und kalt gewesen, und daran hatte sich nach Sonnenuntergang nichts geändert. Die Dunkelheit ringsum wäre vollkommen gewesen, hätte es nicht die hell erleuchteten Fenster gegeben, und Arri fragte sich, ob sie den Grund für die so gefährliche Hast, in der sie diese letzte Wegstrecke zurückgelegt hatten, nicht falsch eingeschätzt hatte. Wenn es etwas gab, worauf sich ihre Mutter wirklich verstand, dann war es das Wetter. Möglicherweise hatte sie gewusst, wie bedeckt der Nachthimmel sein würde, und deshalb alles getan, damit sie ihr Ziel noch vor Einbruch einer Dunkelheit erreichten, die tatsächlich vollkommen war; auf jeden Fall zu stark, als dass sie nach Sonnenuntergang noch nennenswert hätten weiter fahren können.

Auch im roten Streulicht, das aus den Fenstern und der offen stehenden Tür drang, konnte sie wenig von dem riesigen Haus erkennen. Immerhin sah sie, dass es sich nicht nur in seiner Größe und durch die ungewöhnlichen Fenster vollständig von den Hütten ihres Heimatdorfes unterschied. Seine Wände bestanden bis auf Hüfthöhe aus zwar groben, aber kunstvoll zusammengefügten Steinen und Felsbrocken, die mit Lehm oder nasser Erde verschmiert worden waren, um Kälte und Feuchtigkeit draußen und die Wärme des Feuers drinnen zu halten. Darüber war das Haus aus Holz und einem Gemisch aus Baumrinde und Blättern erbaut, dessen Ritzen aber ebenfalls sorgsam verschmiert und abgedichtet worden waren, und zu beiden Seiten der Fenster hingen dicke Bretter von jeweils der exakten Größe eines halben Fensters, die man wohl vor die Öffnung klappen konnte. Arri hatte so etwas noch nie gesehen, erinnerte sich dann aber vage daran, dass ihre Mutter ihr einmal von Fensterläden erzählt hatte, die in ihrer alten Heimat üblich gewesen waren, um Feuchtigkeit und Kälte aus den Häusern auszusperren.

Hier zumindest schien niemand die Notwendigkeit dazu zu sehen. Obwohl es bitterkalt war, waren die Läden ausnahmslos an den Seiten eingehakt. Nicht nur der Geruch nach brennendem Holz und Torf und ein Durcheinander von Stimmen und anderen Lauten drangen zu Arri heraus, sondern auch ein Schwall trockener Wärme, der sie die beißende Kälte, die der Dämmerung auf dem Fuße gefolgt war, doppelt schmerzhaft spüren ließ.

Sie sah wieder zu ihrer Mutter hin. Lea unterhielt sich weiter und heftig gestikulierend mit dem Fremden. Arri hoffte, dass die beiden sich möglichst rasch einig würden, bevor sie hier oben auf dem Kutschbock erfror.

Unruhig rutschte sie auf dem harten Holz der Bank hin und her, das sich mittlerweile so kalt wie Eis anfühlte. Der Hund, der ihrer Mutter nicht gefolgt war, sondern noch immer auf der anderen Seite des Wagens stand, stellte sich auf die Hinterläufe, wodurch er spielend seine gewaltigen Vordertatzen auf die Sitzbank neben ihr legen konnte, und beäugte sie misstrauisch. Eingedenk dessen, was Arri gerade beobachtet hatte, wollte sie ganz instinktiv die Hand ausstrecken, um ihn zu streicheln - sie mochte Hunde über alles und hatte nie verstanden, warum ihre Mutter nicht wollte, dass auch sie zumindest einen Hund hatten -, prallte aber dann im allerletzten Moment erschrocken zurück, als sie genauer hinsah und feststellte, dass der Hund kein Hund war. Es war ein Wolf. Er war nicht so groß wie der, der sie im Wald angefallen hatte, und so gut genährt und gepflegt, dass er auf den ersten Blick tatsächlich als Hund durchgehen konnte, aber auch wirklich nur auf einen sehr flüchtigen ersten Blick.

Der Wolf legte die Ohren an, fletschte die Zähne und stieß ein leises, drohendes Knurren aus, als er ihre Angst spürte, und der Mann bei der Tür unterbrach sein Gespräch mit Lea und rief einen einzelnen, scharfen Befehl, auf den hin sich das Tier sofort zurückzog und gehorsam an seine Seite trottete. Arri blickte ihm aus ungläubig aufgerissenen Augen nach. Was waren das für Leute, die sich Wölfe als Haustiere hielten?

Загрузка...