12

»Glaubst du, dass das klug war?«, fragte Arri, nachdem sie sich wieder auf den Weg zu Achks ehemaliger Hütte gemacht hatten und kaum, dass sie auch nur halbwegs aus der Hörweite des Schamanen heraus waren. Obwohl ihre Mutter ganz genau wissen musste, wovon sie sprach, zögerte sie kurz und sah sie mit einem Verständnislosigkeit vorspiegelnden Stirnrunzeln an. »Was?«

»Sarn so zu reizen«, antwortete Arri. »Die Götter zu beleidigen.«

»Wie kann ich seine Götter beleidigen, wenn ich nicht an sie glaube?«, gab Lea mit einem Kopfschütteln zurück. Sie beschleunigte ihre Schritte ein wenig, sodass Arri rascher ausgreifen und fast rennen musste, um nicht zurückzufallen. »Und was Sarn angeht - ich glaube nicht, dass er meine Antwort überhaupt gehört hat. Er hat sich diese Rede schon seit langem sorgsam zurechtgelegt und nur auf eine Gelegenheit gewartet, sie vor möglichst vielen Zuhörern loszuwerden.« Sie lachte ganz leise. »Glücklicherweise ist er nicht besonders gut in solchen Dingen. Niemand wird ihm glauben.«

Was das anging, war Arri nicht annähernd so sicher, wie ihre Mutter es zu sein schien. Niemand hatte Sarn laut zugestimmt, und sie war noch viel zu erschrocken und aufgeregt gewesen, um außer in Rahns auch nur in ein einziges anderes Gesicht zu blicken, aber ihrer Mutter konnte so wenig wie ihr entgangen sein, wie sehr sich die Stimmung im Dorf in den letzten Tagen gegen sie gewandt hatte. Ihre Mutter mochte durchaus Recht haben - Sarn war gewiss kein begnadeter Redner. Aber die Menschen im Dorf waren einfache Menschen, bei denen einfache Worte besser ankamen und nachhaltiger wirkten als eine geschliffene Rede, wie sie Lea zu führen vermochte. Ihre Mutter musste das ebenso gut wissen wie sie; genau, wie sie besser als sie wissen musste, welchen schlimmen Fehler sie mit ihrem Auftritt gerade begangen hatte. Warum tat sie so, als wäre alles in Ordnung?

Mittlerweile hatten sie sich dem Ort der Katastrophe genähert, und rings um sie herum waren zu viele neugierige Ohren, als dass Arri es wagte, weiter über dieses Thema zu sprechen. Sie nahm sich fest vor, es bei der ersten sich bietenden Gelegenheit nachzuholen, auch wenn sie das sichere Gefühl hatte, dass ihre Mutter das wusste und ihr ganz gewiss so schnell keine solche Gelegenheit geben würde.

Von der Hütte, in der Achk all die Jahre über gelebt und die Rahn vor wenigen Tagen erst wieder sorgsam aufgebaut hatte, war tatsächlich nichts mehr geblieben. Die Hitze und ein den Atem abschnürender Geruch nach verkohltem Holz und heißem Stein und Metall lagen noch immer in der Luft, und der beißende Qualm trieb Arri die Tränen in die Augen. Die Hand voll Bäume, die der Hütte am nächsten gestanden hatten, waren zu schwarzen Skeletten verbrannt und aller Blätter und dünneren Äste beraubt, und auch das Unterholz existierte nicht mehr. Was davon übrig war, lag als graue Ascheschicht auf dem Boden, die bei jedem unvorsichtigen Schritt aufwirbelte und sie zum Husten reizte. In weitem Umkreis waren die Bäume nahezu blattlos; was an den Ästen geblieben war, das hatte sich braun verfärbt und wirkte wie welk, als wäre auf diesem Flecken der Herbst zu früh und mit zu großer Macht gekommen. Und Achks Hütte selbst...

... war einfach nicht mehr da.

Obwohl Arri die ungeheure Kraft des Feuers am eigenen Leib gespürt hatte, blieb sie fassungslos stehen und starrte den schwarzen, zwanzig Schritte durchmessenden Kreis an, in dessen Zentrum die Hütte des Blinden gestanden hatte. Wände und Decke waren ebenso wie das Unterholz und die Blätter zu feiner, weißer Asche zerfallen, und selbst von Achks Werkzeug, das zu einem gut Teil aus Metall bestanden hatte, war kaum noch etwas geblieben. Ungefähr dort, wo sich sein Schmelzofen befunden haben musste, ragte ein unförmiger Klumpen aus der Asche, ein Stück daneben einige kleinere, ungewöhnlich geformte Gebilde, bei denen es sich vielleicht um Zinn- und Kupfererz gehandelt hatte, die Achk und Kron benötigt hatten, um Bronze daraus zu schmelzen, aber wenn, so mussten sie in der ungeheuren Hitze des Feuers nicht nur geschmolzen sein, sondern auch ihre Farbe verändert haben, denn Arri erkannte sie nicht.

»Wo sind Kron und Achk?«, flüsterte sie erschrocken. Gleichzeitig sah sie sich hastig um. Etliche Männer und Frauen - viele von ihnen verletzt, wie sie erschrocken feststellte, und alle ausnahmslos zu Tode erschöpft, wie es schien - hatten sich da, wo sie gerade standen, zu Boden sinken lassen, wobei sie einen respektvollen Abstand zu dem geschwärzten Kreis auf der Erde einhielten, fast als fürchteten sie, das Feuer noch einmal heraufzubeschwören, das sie gerade mit so viel Mühe und so knapp besiegt hatten. Kron und der Blinde waren nicht unter ihnen.

»Hat die Reihenfolge, in der du nach ihnen fragst, irgendetwas zu bedeuten?«, erkundigte sich ihre Mutter lächelnd, wurde aber sofort wieder ernst. »Mach dir keine Sorgen. Es geht ihnen gut. Abgesehen von ein paar Brandblasen und Schrammen ist ihnen nichts geschehen.« Sie machte eine Kopfbewegung zur anderen Seite des verkohlten Kreises hin, wo das Feuer nicht nur Achks Hütte und einen Teil des Waldes verschlungen, sondern auch den Trampelpfad ausgelöscht hatte, der hinunter zu ihrer eigenen Hütte führte. Zuvor hatte das Astwerk die freie Sicht auf den Steinkreis verborgen, auf dessen ferne, aber deutlich sichtbare Ecksteine Arri jetzt mit Unbehagen starrte. »Ich habe sie zu uns nach Hause geschickt«, drang die Stimme ihrer Mutter in Arris aufgewühlte Gedanken. »Du kannst nach ihnen sehen, wenn du willst - und bring Verbandszeug und Salbe auf dem Rückweg mit. Ich fürchte, ich werde heute Nacht eine ganze Menge davon brauchen.«

Arri nickte hastig, riss sich von dem Anblick der steinernen Riesen los, die den Eingang des Heiligtums mit sturer Gleichmut zu bewachen schienen, und lief los. Obwohl sie sich selbst gerade noch in Gedanken darüber lustig gemacht hatte, ertappte sie sich nun dabei, einen großen Bogen um den Kreis aus schwarz verbrannter Erde zu machen. Der Boden war noch immer so heiß, dass es wehtat, auf nackten Füßen darüber zu gehen. Arri beschleunigte ihre Schritte, und der scharfe Geruch wurde für einen Moment so durchdringend, dass sie den Atem anhielt und sich ihre Augen aufs Neue mit Tränen füllten und selbst dann noch brannten, als sie sie weggewischt hatte. Ein dürrer, schwarz verbrannter Ast, der vorher noch nicht hier gewesen war, hätte um ein Haar ihr Gesicht getroffen. Als Arri die Hand hob, um ihn beiseite zu drücken, zerfiel er unter ihrer Berührung zu Asche.

Als sie aus dem Wald gekommen waren, hatte ihre Hütte dunkel dagelegen. Doch als sie jetzt mit ihren hastig aufgeklaubten Sandalen in der Hand wieder auf sie zuhielt, drang der ruhig brennende Schein einer Öllampe durch die Ritzen der Läden, und noch bevor sie die Stiege hinauflief, konnte sie die Stimmen von Kron und dem blinden Schmied hören, die sich gedämpft, aber aufgeregt unterhielten.

Als sie die Hütte betrat, erlebte sie eine Überraschung, auch wenn sie nicht behaupten konnte, dass sie angenehm war. Nicht nur Achk und der einarmige Jäger erwarteten sie, sondern auch Rahn, der als Einziger stand und mit vor der Brust verschränkten Armen und einem so dümmlichen Grinsen auf dem Gesicht in ihre Richtung sah, dass Arri gar nicht nachfragen musste, um zu wissen, dass er sie erwartet und durch eines der Gucklöcher hindurch beobachtet hatte. Welches Spiel spielte der Fischer mit ihnen? Das letzte Mal hatte sie ihn bei Sarn gesehen, und das war noch nicht lange her. Ihre Mutter mochte ja vielleicht Kron und Achk hierher geschickt haben, aber hätte sie auch nur ein einziges Wort mit dem Fischer gewechselt, wäre das Arri nicht entgangen.

»Wer ist das?«, fragte Achk, als er ihre Schritte und das Klimpern des Muschelvorhangs hörte.

»Ich bin es nur... Arri.« Um ein Haar hätte sie Arianrhod gesagt, im allerletzten Moment aber brachte sie es nicht über die Lippen. Vermutlich war der Gedanke einfach nur kindisch, doch Arianrhod war noch zu neu und zu kostbar für sie, um es mit allen zu teilen. Schon gar nicht mit Rahn. »Ich soll nach euch sehen und mich davon überzeugen, dass euch auch wirklich nichts fehlt. Und meiner Mutter ein paar Dinge bringen, die sie benötigt, um die Verletzten zu versorgen.«

»Was soll mir schon fehlen, du dummes Kind«, krähte Achk. »Außer meinem Haus, meinem Werkzeug und allem, was ich besessen habe?«

Arri setzte zu einer scharfen Antwort an - sie hätte nichts anderes von Achk erwarten dürfen, und doch ärgerte sie seine Undankbarkeit über die Maßen -, aber dann fing sie einen warnenden Blick aus Krons Augen auf und beließ es bei einem Schulterzucken und einer abfälligen Grimasse, die der Blinde nicht sehen konnte. »Dann gehe ich jetzt zurück und bringe meiner Mutter das Verbandszeug und die Salben, um die sie mich gebeten hat.«

»Such die Sachen nur heraus«, sagte Rahn. »Ich bringe sie ihr.«

Arri maß ihn mit einem gleichermaßen verstörten wie verächtlichen Blick. »Du?«

»Ich glaube, es ist besser, wenn du für den Rest der Nacht hier bleibst«, sagte Rahn ungerührt. »Und davon abgesehen ist es auch der Wunsch deiner Mutter.«

»Ach?«, machte Arri schnippisch. »Und woher willst ausgerechnet du das wissen?«

»Weil es meine Aufgabe ist, auf dich aufzupassen«, antwortete Rahn, noch immer lächelnd und scheinbar vollkommen ungerührt von Arris bewusst herausforderndem, fast schon beleidigenden Ton. Was sie umso mehr ärgerte.

»Das ist deine Aufgabe?«, vergewisserte sie sich, wartete, bis Rahn wichtigtuerisch genickt hatte, und fragte dann mit einem übertriebenen Stirnrunzeln: »Seltsam. Vorhin, als Sarn mit seinem Knüppel auf mich losgegangen ist, hatte ich nicht das Gefühl, dass du auf mich aufgepasst hast.«

»Dir ist doch nichts passiert, oder?«, gab der Fischer gelassen zurück. Aber der überhebliche Ausdruck in seinen Augen erlosch, und er nahm die Arme herunter. »Such die Sachen heraus, nach denen deine Mutter verlangt, damit ich endlich gehen kann.«

Die letzten Worte hatte er in merklich kühlerem Ton gesprochen, der allein Arri verriet, dass ihn diese Bemerkung nicht annähernd so unberührt ließ, wie er vorgab. Arri lächelte ihm noch einmal zuckersüß zu, dann schob sie sich an ihm vorbei und trat in den kleinen Raum, in dem ihre Mutter all ihre Utensilien verwahrte. Sie wusste selbst nicht genau, was von all den Salben, Kräutern, Tinkturen und Blättern ihre Mutter in diesem Augenblick benötigte. Lea hatte ihr das eine oder andere über die Heilkunst und vor allem die verborgenen Kräfte der Natur und wie man sie am besten einsetzte beigebracht, aber längst nicht alles, und spätestens seit dem schrecklichen Schicksal, das Achk im letzten Sommer widerfahren war, wusste sie, dass Brandwunden nicht nur zu den schmerzhaftesten, sondern auch zu den gefährlichsten Verletzungen gehörten, die Menschen davontragen konnten.

Sie sahen - zumindest am Anfang - nicht so schlimm aus wie Schnittwunden, ein offen gebrochener Arm, ein gequetschter Finger oder ein ausgestochenes Auge, doch in fast allen Fällen, die Arri miterlebt hatte, heilten sie nur sehr langsam und begannen oftmals zu schwären und mit ihrem Gift den Körper des Verletzten zu verseuchen. Dass Achk die schreckliche Verbrennung überlebt hatte, die nicht nur sein Augenlicht ausgelöscht, sondern sein ganzes Gesicht verheert hatte, war ein mehr als nur kleines Wunder. So suchte sie nahezu alles heraus, von dem sie auch nur annahm, dass es ihrer Mutter von Nutzen sein konnte, häufte es in eine grob geschnitzte hölzerne Schale und trug sie wieder hinaus, um sie Rahn in die Hände zu drücken.

»Bring das meiner Mutter«, sagte sie barsch. »Und frag sie, ob sie meine Hilfe nicht doch benötigt. Ich werde sie später fragen, was sie geantwortet hat.«

Rahn griff sich die Schale und verließ zu Arris Überraschung ohne ein weiteres Wort das Haus, doch als sie sich wieder zu Kron und dem Blinden umdrehte, begegnete sie dem tadelnden Blick des Jägers. »Warum bist du so zu ihm, du dummes Kind?«, fragte Kron.

»Ich bin kein Kind mehr«, antwortete Arianrhod, zog die Augenbrauen zusammen und fügte hinzu: »Was meinst du damit - so?«

»So abweisend«, antwortete Kron. »Weißt du denn nicht, dass er schon lange ein Auge auf dich geworfen hat?«

Das ist ja gerade das Problem, dachte Arri. Sie behielt diese Worte vorsichtshalber für sich, doch Kron fuhr fort, als hätte er ihre Gedanken gelesen (wahrscheinlich war es in diesem Augenblick nicht besonders schwer, sie auf ihrem Gesicht zu erkennen): »Rahn ist ein guter Mann. Ein starker Mann. Eine wie du sollte froh sein, einen Burschen wie Rahn zu bekommen.« Er maß sie mit einem durchdringenden, eindeutig anzüglichen Blick. »Du bist wahrlich alt genug, um endlich einem Mann versprochen zu werden. Hüte also deine Zunge und danke den Göttern lieber dafür, dass einem wie Rahn an einem so hässlichen dürren Ding wie dir gelegen ist.«

Arri würde den Göttern frühestens an dem Tag danken, an dem ihre Mutter sie mit der Neuigkeit weckte, dass Rahn in der Zella ertrunken oder von einem wütenden Eber aufgeschlitzt worden sei, aber sie behielt auch das für sich und antwortete nur mit einem Schulterzucken. Das Thema behagte ihr ganz und gar nicht, zumal sie nicht wusste, was Kron von Nors Forderung wusste. Vielleicht einzig, um davon abzulenken, trat sie dichter an Achk heran, der sich gleich neben der Tür mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt hatte und mit unstet hin und her huschenden, blinden Augen die Richtung zu bestimmen versuchte, aus der ihre Stimme und das Geräusch ihrer Schritte kamen. Sie musterte ihn aufmerksam und fragte dann: »Bist du verletzt?«

»Nein«, sagte Achk grob, was eindeutig gelogen war. Sein verheertes Gesicht, das aus nahezu nichts anderem als verschorften Narben und hässlichen Geschwüren bestand, machte es schwer, wirklich darin zu lesen, doch Arri glaubte dennoch, eine ganze Anzahl neuer, wenn auch größtenteils harmloser Wunden zu erkennen. Und was für sein Gesicht galt, galt in noch größerem Maße für seine Hände. Seine Finger waren schon vor Arris Geburt schwarz verkohlt und über und über vernarbt gewesen, doch bei genauerem Hinsehen entdeckte sie auch darauf eine ganze Anzahl kleiner, nässender roter Punkte. Er musste Schmerzen haben. Aber wenn er es vorzog, ihre Hilfe abzulehnen, so war das seine Sache.

Mit einem fragenden Blick wandte sie sich zu Kron um. »Und du?«

Kron hatte entweder größere Schmerzen als der Schmied, oder er war einfach vernünftiger. Er sagte nichts, hielt Arri aber die rechte Hand hin, auf der etliche große, hässliche Brandblasen schimmerten. Weitere, wenn auch nicht ganz so schlimm aussehende nässende Wunden und Kratzer bedeckten seine Arme, den nackten Oberkörper und Rücken, und auch sein Armstumpf hatte offensichtlich wieder zu bluten begonnen, was Arri gar nicht gefiel. Ohne ein weiteres Wort trat sie abermals in die Kammer und kam nach wenigen Augenblicken mit einer Hand voll frischer Blätter und einem kleinen, irdenen Gefäß mit einer Salbe zurück, von der sie wusste, dass sie eine kühlende und auch leicht betäubende Wirkung entfaltete, wenn man sie auf eine Wunde auftrug.

In ihrem Kopf war eine ganz leise, aber penetrante Stimme, die sie daran zu erinnern versuchte, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, welche Wirkung diese Salbe sonst noch haben mochte, und durchaus die Gefahr bestand, dass sie alles schlimmer machte statt besser, aber sie schob sie beiseite. Wortlos stellte sie das mitgebrachte Gefäß vor Kron auf den Boden, verließ die Hütte und kam wenige Augenblicke später mit einem Krug voll frischen Wassers zurück, den sie allerdings nur halb gefüllt hatte, um nicht so schwer tragen zu müssen.

Kron sah sie zweifelnd an, streckte aber gehorsam die Hand aus, als sie ihn mit einer entsprechenden Kopfbewegung dazu aufforderte, und Arri versorgte seine Wunden, so gut sie es konnte. Sie war nicht sicher, ob es auch wirklich gut war. Kron war ein starker Mann, dem so leicht kein Schmerzenslaut über die Lippen kam, und dennoch sog er ein paar Mal scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, und obwohl er nichts sagte, wurden die Blicke, mit denen er sie maß, immer zorniger. Dennoch ließ er ihre Behandlung nahezu klaglos über sich ergehen und bedankte sich sogar mit einem angedeuteten Nicken, als Arri endlich fertig war, und sie das Tuch, mit dem sie seine Wunden ausgewaschen hatte, in dem Gefäß mit dem mittlerweile schmutzig gewordenen Wasser auswrang.

»Du bist ein gelehriges Kind, wie?«, fragte er. »Hat dir deine Mutter das beigebracht?«

Arri legte das Tuch beiseite und setzte dazu an, ihre Finger in der Schale zu waschen, besann sich dann aber eines Besseren, als sie sich das Wasser noch einmal genauer ansah. Es schillerte nicht nur in einem hässlichen, von gelben Streifen durchzogenen Braunrot, es roch mittlerweile auch wie eine eiternde Wunde. Statt die Finger hineinzutauchen, wischte sie sie kurzerhand an ihrem Rock trocken, etwas, das ihre Mutter auf den Tod nicht ausstehen konnte, das ihren Rock nach dieser Nacht aber auch nicht mehr schmutziger machte. Erst mit einiger Verspätung antwortete sie auf Krons Frage. »Es bleibt nicht aus, das man das eine oder andere mitbekommt, wenn man so viele Verwundete und Kranke sieht.«

»Und wenn man das Kind einer Hexe ist«, fügte Achk von seinem Platz neben der Tür aus hinzu.

Arri beachtete ihn nicht. Das war das Einzige, was sie im Augenblick tun konnte. Jede Antwort, die sie hätte geben können, hätte es nur noch schlimmer gemacht. Sie fragte sich, ob ihre Mutter sie hergeschickt hatte, um sie zu bestrafen, und wenn ja, wofür.

»Was ist geschehen?«, fragte sie, an Kron gewandt. Seine Antwort bestand jedoch nur aus einem Schulterzucken und einem kritisch-missbilligenden Blick, mit dem er den Verband maß, den sie mit deutlich mehr gutem Willen als wirklichem Geschick an seiner Hand angelegt hatte. Vielleicht war er ja nötig, damit sich seine Wunden nicht entzündeten und er die andere Hand nicht womöglich auch noch einbüßte, doch im Moment war seine Wirkung genau so, als wäre eben das bereits geschehen. Sie hatte Krons Hand zu einer unbeholfenen Faust zusammengebunden, aus der nur sein Daumen herausragte.

»Das weiß ich nicht«, antwortete der Jäger. »Die Schreie und der Lärm haben mich geweckt. Als ich aus der Hütte gelaufen bin, habe ich die Flammen schon gesehen.« Er bedachte Achk mit einem bezeichnenden Blick, zog aber zugleich auch eine Grimasse, wie um Arri auf diese Weise klarzumachen, dass sie keine Antwort von ihm bekommen würde, zumindest keine, mit der sie etwas anfangen konnte.

Sie versuchte es trotzdem. »Was ist passiert, Achk? Wieso ist das Feuer ausgebrochen, mitten in der Nacht?«

»Woher soll ich das wissen?«, erwiderte Achk in feindseligem Ton. »Es hat angefangen zu brennen, mehr kann ich nicht sagen. Die Hitze hat mich geweckt, und ich hatte Glück, überhaupt noch aus der Hütte zu kommen. Hätte ich nicht die Stimme des Feuers gehört, so wäre ich im Schlaf verbrannt.«

»Die Stimme des Feuers?«, fragte Arri. »Was soll das sein?«

Achk schnaubte abfällig. »Man arbeitet nicht ein Leben lang mit dem Feuer, ohne seine Stimme zu kennen und seine Sprache zu verstehen«, stieß er hervor. »Ich habe es gehört. Etwas hat gebrannt.«

Arri tauschte einen fragenden Blick mit Kron, auf den sie jedoch nur ein abermaliges einseitiges Schulterzucken zur Antwort bekam, und fuhr dann fort: »Dein Brennofen? Habt ihr das Feuer nicht richtig gelöscht?«

»Was fällt dir ein, du unverschämtes Balg?«, erwiderte Achk aufgebracht. »Das Feuer war aus! Ich habe noch nie vergessen, es zu löschen!«

Arri warf abermals einen fragenden Blick in Krons Gesicht, und diesmal nickte er wortlos.

»Vielleicht hat ja dieser Tölpel etwas falsch gemacht«, fuhr Achk mit keifender Stimme und heftig in Krons ungefähre Richtung gestikulierend fort. »Ich habe ihm gesagt, dass keine Glut mehr im Ofen sein darf. Dass er mit den Händen in die Asche greifen muss, um sich davon zu überzeugen, dass sie auch wirklich kalt ist!«

»Das hast du sogar selbst getan«, erwiderte Kron.

»Das Feuer war aus!«, beharrte Achk. »Es hat gebrannt, aber es war nicht meine Schuld.«

»Aber irgendetwas muss passiert sein«, beharrte Arri. »Es hat kein Gewitter gegeben in dieser Nacht.«

»Und wenn, hätte der Blitz nicht meine Hütte getroffen«, fügte Achk hinzu. Er kicherte albern. »Ich kenne mich mit Gewittern aus. Auch wenn es das Feuer der Götter ist, so bleibt es doch Feuer, und das Feuer ist mein Freund.« Er lachte noch einmal, länger und schrill und meckernd, und ein dünner Speichelfaden lief aus seinem Mundwinkel und tropfte an seinem Kinn hinab. Arri verzog angeekelt das Gesicht.

»Meine Hütte steht nicht von ungefähr in der Nähe des Heiligtums«, fuhr er fort. »Ein Blitz kann sie dort gar nicht treffen.«

»Was für ein Unsinn«, grollte Kron kopfschüttelnd, erreichte damit aber nur, dass Achk noch schriller zu keifen begann.

»Was weißt denn du schon, du grober Tölpel!«, zeterte der Alte. »Du bist vielleicht stark, aber das ist jeder Ochse auch! Und was hat dir deine Kraft genutzt? Sieh dich doch an!«

»Immerhin kann ich mich noch ansehen«, versetzte der Jäger böse, und so ging es weiter. Arri hörte schon bald nicht mehr hin. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass sich die beiden nahezu ununterbrochen stritten, aber sie hatte diesen Worten kaum Beachtung geschenkt und es sich allenfalls komisch vorgestellt; zwei Männer, die sich unentwegt in den Haaren lagen und einander doch brauchten, auch wenn sie viel zu stolz waren, es zuzugeben. Aber es war nicht komisch. Kron und Achk waren einfach zwei zänkische Männer, die nur auf ein Stichwort warteten, um den anderen zu beschimpfen oder zu verhöhnen. Irgendwann gab sie es nicht nur auf zuzuhören, sondern die beiden überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Sie hatte Krons Wunden versorgt, so gut sie konnte, und auch noch einmal versucht, sich um Achk zu kümmern. Der Alte hatte es ihr gedankt, indem er nach ihr geschlagen und sich dann ausgerechnet auf die neue Grasmatratze gebettet hatte, die sie in mühevoller Kleinarbeit geknüpft hatte, woraufhin sich Arri schmollend auf ihre eigene - alte und mittlerweile schon halb zerfledderte - Matratze zurückzog und ihm insgeheim möglichst große Schmerzen wünschte.

Sie musste wohl trotz allem eingeschlafen sein, denn das Nächste, was sie bewusst wahrnahm, waren das Klimpern des Vorhangs und ein schlanker Umriss, der sich gegen das klare Licht der Morgensonne abzeichnete, die dahinter schien. Obwohl sie nur einen Schatten erkennen konnte und sich noch benommen und schlaftrunken fühlte, wusste sie, dass es ihre Mutter war. Sie roch nach Qualm.

Unsicher richtete sie sich auf ihrem Lager auf und versuchte, den Schlaf wegzublinzeln, machte es im ersten Moment aber eher schlimmer. Der Schatten vor ihr bekam kein Gesicht, floss dafür aber auseinander und verbog sich auf groteske Weise.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Lea. Ihre Stimme klang müde und so brüchig wie die einer alten Frau. Arri antwortete nicht, weil sie wusste, dass ihre Mutter ohnedies nicht hinhören würde.

Müde und mit hängenden Schultern schleppte sich Lea zu ihrem Lager und hätte sich beinahe darauf niedersinken lassen, fuhr jedoch im letzten Moment wieder hoch, als sie sah, dass es nicht leer war. Achk lag wie ein gefällter Baum auf der neuen Matratze, die Arri geflochten hatte und schnarchte laut und mit offenem Mund.

Von Kron war nichts mehr zu sehen. Er musste gegangen sein, während Arri geschlafen hatte.

»Wunderbar, wie du aufpasst«, seufzte ihre Mutter. Einen Moment lang sah sie sich unschlüssig um und wirkte fast hilflos, dann schleppte sie sich zu ihrem Korbstuhl und ließ sich mit einem abermaligen, noch erschöpfter klingenden Seufzen darauf nieder, das sich mit dem Knarren des stark strapazierten Weidengeflechts zu einem gleichermaßen vertrauten wie unangenehmen Geräusch verband. Sie schloss die Augen, kaum dass ihr Hinterkopf die geflochtene Lehne berührt hatte, und Arri war ziemlich sicher, dass sie auf der Stelle eingeschlafen wäre.

Aber sie zwang ihre Lider, sich noch einmal zu heben, und sah zuerst den schlafenden Schmied und dann ihre Tochter aus rot geränderten Augen an. »Verzeih«, sagte sie matt. »Das war ungerecht.«

Arri setzte sich weiter auf und antwortete auch darauf nur mit einem stummen Achselzucken. Ihre Mutter hatte Recht - sie war ungerecht gewesen, aber das war Arri gewohnt und nahm es kaum noch zur Kenntnis. So war sie eben. »War es... schlimm?«, fragte sie mitfühlend.

»Nein«, antwortete Lea. »Aber anstrengend. Wir haben Glück gehabt, trotz allem. Niemand wurde wirklich schwer verletzt, aber es ist kaum einer ohne Brandblasen, wunde Hände oder versengte Haare davongekommen.« Sie lachte, doch es war ein Laut, dem jeglicher Humor fehlte. »Immerhin brauchen wir uns bis zum ersten Schnee keine Sorgen um unser Essen zu machen. Seit heute Nacht steht das ganze Dorf noch tiefer in meiner Schuld.«

»Außer Sarn«, vermutete Arri. Die Bemerkung tat ihr schon Leid, bevor sie sie ausgesprochen hatte, denn das Gesicht ihrer Mutter verdüsterte sich so sehr, dass sie es trotz der dicken Schicht aus eingetrocknetem Ruß, Schweiß und Schmutz auf ihrer Haut erkennen konnte.

»Ja«, antwortete Lea. Ein bitteres Lächeln huschte über ihre Lippen und verschwand wieder. »Er hat sich die Finger nur schmutzig gemacht, als er sich nach seinem Stock gebückt hat.« Sie zögerte einen Herzschlag lang und fuhr dann mit leiserer Stimme fort: »Und vielleicht vorher, als er die Hütte angezündet hat.«

Achk grunzte im Schlaf und drehte sich lautstark schmatzend auf der Matratze herum, wie um darauf zu antworten. Arri sah erschrocken in seine Richtung, aber der Alte schnarchte bereits weiter. Wenn er die Worte gehört hatte, dann verstellte er sich meisterhaft. »Du meinst...«, begann sie ungläubig.

Ihre Mutter richtete sich ein wenig auf dem Korbstuhl auf, straffte die Schultern und legte den Kopf in den Nacken, um ihn ein paar Mal hin und her zu bewegen und ihre verkrampften Muskeln zu entspannen. Dann stand sie auf, zog das Schwert unter dem Umhang hervor und befestigte es sorgfältig wieder an seinem Platz an der Wand. Ohne sich zu Arri umzudrehen, sagte sie: »Wer soll es sonst gewesen sein?«

»Aber warum sollte er das tun?«, erwiderte Arri verstört. Plötzlich verstand sie die Worte ihrer Mutter von vorhin, als sie sich mit dem Schamanen gestritten hatte, besser - und auch Sarns zornig-erschrockene Reaktion darauf.

»Weil er nicht will, dass wir tatsächlich Erfolg haben könnten«, antwortete sie.

»Aber das Dorf braucht einen Schmied«, widersprach Arri.

»Und es wird ihn auch bekommen«, seufzte Lea, ließ sich schwer in den Korbstuhl zurücksinken und bettete den Hinterkopf an die zerschlissenen Lehne. Sie schloss die Augen, sprach aber weiter. »Rahn hat ein Gespräch zwischen ihnen und dem Hohepriester von Goseg belauscht, als Nor das letzte Mal hier war. Goseg wird einen neuen Schmied herschicken, im nächsten Sommer.« Sie lachte wieder dieses leise, vollkommen freudlose Lachen. »Natürlich muss das Dorf danach noch mehr Tribut an Nor und seine Bande von Halsabschneidern bezahlen, aber du hast vollkommen Recht - wir brauchen einen Schmied.«

»Warum sollte er so etwas tun?«, fragte Arri noch einmal - obwohl sie sich zugleich in Gedanken selbst fragte, warum sie diese Frage überhaupt stellte. Sie wusste ja, dass ihre Mutter Recht hatte. »Ich meine: Er ist der Älteste. Das Feuer hätte das ganze Dorf vernichten können! Er würde nichts tun, was den Menschen hier schadet!«

»Sarn«, antwortete ihre Mutter betont, »würde vor allem nichts zulassen, was ihm schadet.«

»Und du weißt, dass er es war?«, vergewisserte sich Arri. »Oder vermutest du es nur?«

»Jedermann weiß es«, antwortete Lea müde.

»Und ich habe es gesehen«, fügte eine Stimme von der Tür aus hinzu. Arri fuhr erschrocken um und erblickte Rahn, der gebückt unter dem Türrahmen hindurchtrat und Grimassen schneidend ein Gähnen unterdrückte.

»Du hast ihn gesehen?«, vergewisserte sich Arri.

Rahn schlurfte mit hängenden Schultern durch den Raum und bedachte Arri mit einem Blick, als wäre er nicht ganz sicher, ob sie einer Antwort überhaupt wert war. Er gähnte erneut und lehnte sich neben Lea an die Wand, bevor er antwortete. »Nicht direkt«, räumte er ein. »Aber er kam mir aus der Richtung der Hütte entgegen, ganz kurz, bevor das Feuer ausbrach, und er war nicht erfreut, mich zu sehen - oder von mir gesehen zu werden.« Er zuckte mit den Achseln, beugte sich ein Stück vor und versuchte, Lea den Arm um die Schultern zu legen. »Da fragt man sich doch, was er mitten in der Nacht dort gewollt hat.«

Oder was du mitten in der Nacht dort gesucht hast, dachte Arri, hütete sich aber, diesen Gedanken laut auszusprechen, sondern sah nur mit mühsam unterdrückter Schadenfreude zu, wie ihre Mutter Rahns Arm so heftig von sich stieß, dass er beinahe erschrocken zur Seite gewichen wäre. »Wenn das wahr ist, dann müsst ihr es allen sagen«, sagte sie.

»Es weiß ohnehin jeder«, sagte Lea kopfschüttelnd. »Niemand würde uns zuhören. Und selbst wenn er es ganz offen eingestünde, würde alles dadurch nur noch schlimmer.«

Sie verzog die Lippen, als Rahn Anstalten machte, sich auf der Lehne des Korbstuhls niederzulassen, was diesen zweifelsohne knirschend hätte zusammenbrechen lassen, und fuhr mit plötzlich trotzig klingender Stimme fort: »Wir werden einfach noch einmal von vorn anfangen und allen beweisen, dass wir ihn und Nor nicht brauchen.«

»Von vorn anfangen? Du bist verrückt, Weib.« Achk richtete sich schwankend auf, wischte sich mit dem Handrücken den Sabber aus dem Gesicht und spie aus. »Und womit? Es ist alles weg. Mein Werkzeug, die Gussformen, der Blasebalg, das Erz, alles, was ich zum Schmieden brauche... es ist nichts mehr da. Ich habe ja nicht einmal mehr ein Dach über dem Kopf.«

»Rahn wird deine Hütte wieder aufbauen, und was das Erz und dein Bronzewerkzeug angeht: verbrannt ist es mit Sicherheit nicht, höchstens gestohlen.« Lea zeigte nicht das leiseste Anzeichen von Überraschung, Achk durch und durch wach zu sehen, sondern begnügte sich damit, Rahn von sich zu schieben, bevor er mit seinem vollen Körpergewicht dem bereits heftig knirschenden und sich zur Seite neigenden Korbstuhl den Rest geben konnte. »Bis deine Hütte wieder hergerichtet ist, kannst du bei uns bleiben«, sagte sie mit einem ärgerlichen Blick in Rahns Richtung. »Und was dein Werkzeug und alles andere angeht, so werde ich für Ersatz sorgen.«

»Ach, und wie?«, fragte Achk höhnisch.

»Lass das einfach nur meine Sorge sein«, antwortete Lea abweisend. Dann grinste sie plötzlich schief, während sie zu dem Fischer hochsah, der mittlerweile seinen Annäherungsversuch aufgegeben hatte und wieder an der Wand lehnte. »Rahn wird deine Hütte größer aufbauen, und vor allem an einem anderen Ort. Und er wird bei dir wohnen, zumindest so lange, bis ihr mit eurer Arbeit fertig seid und selbst Sarn zugeben muss, dass ich Recht habe.«

»Solange es nicht so endet wie das letzte Mal«, fügte Rahn in boshaftem Ton hinzu und funkelte Lea wütend an. Achk verzog das Gesicht - was es aber auch nicht hässlicher machte -, während etwas in Leas Augen zu erlöschen schien, von dem Arri bisher gar nicht gewusst hatte, dass es da gewesen war.

Rahn verzog das Gesicht, als hätte er auf etwas Saures gebissen. »Es tut mir Leid«, sagte er, nachdem Leas Gesichtsausdruck sich nicht änderte, und schließlich fügte er noch hinzu: »Ich wollte damit nicht sagen, dass du an dem Brand schuld bist.«

»Aber du hast ja Recht«, antwortete Lea kühl. »Es war meine Schuld. Ich habe es nie bestritten, oder?«

»Was war deine Schuld?«, fragte Arri. Ihr Blick irrte zwischen den Gesichtern Rahns, des Blinden und ihrer Mutter hin und her, aber sie bekam keine Antwort. Vielleicht nahmen die drei sie in diesem Augenblick nicht einmal zur Kenntnis. Ganz sicher hatten sie ihre Frage nicht gehört.

Ein unangenehmes, lastendes Schweigen breitete sich in der für ein solches Gespräch viel zu kleinen Hütte aus, und Arri begriff zumindest eines: dass Rahn mit seinen unbedachten Worten etwas ausgesprochen hatte, was - außer ihr - jedermann zu wissen schien, was aber nach einer nie laut getroffenen Absprache für immer unausgesprochen bleiben sollte. »Was war deine Schuld?«, fragte sie noch einmal.

Im allerersten Moment war sie sicher, auch jetzt wieder keine Antwort zu bekommen, denn in den Augen ihrer Mutter blitzte schon wieder der ungeduldige Zorn auf, den Arri immer dann darin las, wenn sie sie auf etwas ansprach, das ihr unangenehm war, oder ihr eine Frage stellte, die sie nicht beantworten wollte, und dem nur zu oft ein jäher Wutausbruch folgte.

Diesmal jedoch nicht. »Achk«, sagte sie. »Was ihm zugestoßen ist, war meine Schuld. Seine Augen. Ich bin schuld, dass er seine Augen verloren hat. Und alles andere auch.«

Arri sah den blinden Schmied gleichermaßen überrascht wie ungläubig an. Sie hatte niemals wirklich erfahren, was Achk zugestoßen war, eben nur, dass es ein schreckliches Unglück gewesen war, bei dem sich Achk nicht nur schlimme Verbrennungen im Gesicht zugezogen, sondern auch beide Augen (und nach Arris Meinung auch einen gut Teil seines Verstandes) verloren hatte. Sicher, es hatte Gerede gegeben, das auch ihr zu Ohren gekommen war, aber sie hatte ihm keine Beachtung geschenkt. Wozu auch? Es gab ständig dummes Gerede. Was immer im Dorf geschehen mochte, wenn es nur schlimm genug war, wurde es unweigerlich ihrer Mutter angelastet, und sei es etwas so ganz Natürliches wie ein Herbststurm oder aber ein heftiges Gewitter.

Aber jetzt fragte sie sich, ob es in diesem Fall vielleicht doch mehr als das ganz gewöhnliche Gerede gewesen war.

Zu ihrem Erstaunen war es ausgerechnet Achk, der ihrer Mutter widersprach. »Du redest wirres Zeug, Weib«, sagte er barsch. »Es war nicht deine Schuld. Ich habe nicht richtig zugehört. Du hast mir gesagt, dass ich vorsichtig sein muss und nichts überstürzen soll. Ich war zu ungeduldig, und ich wollte dir zeigen, dass ich es besser weiß als du. Es war mein Stolz, der das Unglück ausgelöst hat, und nicht deine Schuld.«

»War es doch«, widersprach Lea. Bei dem doch ließ sie die Handfläche wuchtig auf die Lehne des Korbstuhls klatschen, auf der sich Rahn gerade noch hatte niederlassen wollen, aber ihre Stimme war so kraftlos und brüchig, dass sich die beabsichtigte bekräftigende Wirkung eher ins Gegenteil verkehrte.

»Was ist geschehen?«, fragte Arri ein weiteres Mal. »Ihr müsst es mir sagen.«

»Was wir müssen, entscheide immer noch ich, mein Kind«, antwortete Lea, zwar in strengem Ton, aber noch immer mit der gleichen brüchigen Stimme, die ihren Worten jede Schärfe nahm. Müde ließ sie sich auf ihrem Stuhl nach vorn sinken, stützte die Ellbogen auf den Knien auf und vergrub das Gesicht in den Händen. »Aber vielleicht hast du Recht«, fuhr sie fort. »Ich hätte es dir schon längst erzählen sollen, bevor dir irgendetwas von dem Unsinn zu Ohren kommt, den Sarn herumerzählt.« Sie nahm die Hände herunter, sah Arri nachdenklich ins Gesicht und sagte dann: »Oh. Du hast es offensichtlich schon gehört.«

»Du hast es ja gerade selbst gesagt«, erwiderte Arri und beglückwünschte sich in Gedanken dazu, so schnell auf eine Entgegnung gekommen zu sein, die es ihr ermöglichte zu antworten, ohne zu antworten. »Es ist alles nur Unsinn.«

»Und nun willst du wissen, was wirklich geschehen ist.« Lea verbarg das Gesicht erneut in den Händen. Ihre Schultern sanken nach vorn, als hätte sie sich bisher gegen eine unsichtbare Last gestemmt, der sie nun ganz plötzlich nicht mehr gewachsen war. »Ich habe einen Fehler gemacht«, sagte sie leise. »Einen schlimmen Fehler, Arianrhod. Sicher nicht den ersten, seit ich hierher gekommen bin, aber den schlimmsten.«

»Und was war das für ein Fehler?«, fragte Arri, als ihre Mutter nicht weitersprach.

»Ich habe es gut gemeint«, antwortete Lea. Sie lachte bitter. »Weißt du, dass die allergrößten Fehler meist die sind, die in bester Absicht begangen werden?«

Arri tauschte einen fragenden Blick mit Rahn, erntete aber nur ein ratloses Schulterzucken und einen noch ratloseren Blick.

»Und was war das für ein Fehler?«, fragte sie.

»Ich wollte die Dinge beschleunigen«, sagte Lea. »Vielleicht war das mein einziger Fehler, aber er war schlimm genug. Die Dinge brauchen ihre Zeit, weißt du? Ich kam hierher, und ich sah, dass die Menschen hier so... so schrecklich wenig wussten, und dass sie hilflos den Jahreszeiten ausgesetzt waren, kaum in der Lage, Getreide für den täglichen Gebrauch anzubauen oder ihre Jagden zu planen. Es war wie ein Sturz in eine andere Zeit, tausend Jahre zurück. Ich dachte, ich könnte ihnen helfen, diese verlorene Zeit aufzuholen und auf Dauer den Hunger aus ihren ständig knurrenden Mägen zu vertreiben. Ich habe mich geirrt.«

Sie nahm die Hände herunter und faltete sie im Schoß, während sie sich zugleich wieder aufsetzte und die Schultern straffte. Seltsam - Arri war fest davon überzeugt gewesen, Tränen in ihren Augen schimmern zu sehen, aber ihre Miene wirkte gefasst, und ihre Stimme klang jetzt nur noch sachlich. »Ich wollte Achk lehren, Eisen zu schmieden.«

»Eisen?«

»Das Metall, das unser Volk verwendet hat.« Lea machte eine Kopfbewegung zur Wand hin. »Das, aus dem auch mein Schwert geschmiedet ist. Es hätte den Menschen hier einen gewaltigen Vorteil vor allen anderen verschafft. Bessere Werkzeuge. Mächtigere Waffen. Tausend Dinge, die mit der weichen Bronze hier nicht möglich waren.«

»Und was war daran so falsch?«, wollte Arri wissen. Was ihre Mutter da erzählte, klang nach einer guten Idee, auch wenn es sich ziemlich abenteuerlich anhörte. Aber das galt ja im Grunde für jede Idee, die ihre Mutter ausbrütete.

»Falsch war daran, dass ich glaubte, alles zu wissen und klüger zu sein als das Schicksal«, antwortete Lea bitter. »Ich war Priesterin, Arianrhod, kein Schmied. Ich dachte, ich kenne das Geheimnis, Eisen zu schmelzen. Ich hatte ein paar Mal zugesehen und das eine oder andere aufgeschnappt und war überheblich genug zu glauben, dass das reicht.« Sie seufzte leise. »Wie sich gezeigt hat, hat es nicht gereicht.«

»Was ist geschehen?«, fragte Arri wieder. Die Frage galt eigentlich Achk, und der Schmied schien das auch zu spüren, denn er setzte zu einer Antwort an, aber Lea kam ihm zuvor.

»Die Rezeptur war wohl falsch«, sagte sie. »Als Achk die Schmelze angestochen hat, ist sein Ofen zerborsten. Das geschmolzene Metall hat sein Gesicht und seine Augen verbrannt. Es ist ein Wunder, dass er überlebt hat.«

»Das hat wohl eher mit deinen heilenden Händen zu tun«, widersprach Achk.

Abermals fiel Arri auf, dass der blinde Schmied mit erstaunlich klarer Stimme sprach, und sie war erstaunt über das, was er sagte. Sie sah den Alten stirnrunzelnd an. Natürlich war es unmöglich, in der zerstörten Landschaft seines Gesichts zu lesen, aber es kam ihr trotzdem so vor, als wäre der Ausdruck darauf deutlich klarer geworden. Konnte es sein, dass Achk ihr - und dem gesamten Dorf - die ganze Zeit über nur etwas vorgespielt hatte? Nein, entschied sie. Es war wohl eher anders herum. Auch wenn ihr der Gedanke zuallererst vollkommen widersinnig vorkam, schien Achk doch aus der Katastrophe, die sein Leben nun zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit heimgesucht hatte, Kraft gewonnen zu haben.

»Das war wohl das Mindeste, was ich dir schuldig war«, antwortete Lea. Plötzlich lächelte sie. »Und es war ganz gewiss nicht allein mein Verdienst. Du hattest Glück, Achk. Und du bist ein zäher alter Knochen.«

»Und du ein dummes Weib«, polterte Achk. »Es war nicht deine Schuld. Ich habe lange darüber nachgedacht. Was du mir über das Zaubermetall deines Volkes erzählt hast, muss stimmen.«

Lea wollte abermals widersprechen, doch Achk schien das irgendwie zu spüren. Vielleicht hatte er es auch erwartet, denn er machte eine rüde Handbewegung und fuhr mit lauter Stimme fort: »Ich bin Schmied, Weib. Der Sohn eines Schmiedes, der auch der Sohn eines Schmiedes war. Wenn es etwas gibt, worauf ich mich verstehe, dann ist es das Metall. Was du mir erzählt hast, war richtig. Vielleicht war ich zu ungeduldig. Vielleicht war die Mischung nicht richtig. Vielleicht war das Feuer zu heiß oder nicht heiß genug.«

»Vielleicht reicht es auch nicht, ein paar Tempeltänze und wohlklingende Lieder zu kennen, um die Welt zu verändern«, sagte Lea.

»Wenn du wohlklingende Lieder kennst, warum singst du sie dann nicht«, fragte Achk patzig, »statt mit einer Stimme wie eine heisere Krähe zu keifen?« Er wiederholte seine ärgerliche Geste, obwohl Lea diesmal gar nicht dazu angesetzt hatte, ihn zu unterbrechen. »Wir versuchen es noch einmal. Und noch einmal und noch einmal, wenn es sein muss. Und irgendwann werden wir nicht nur Bronze schmelzen, sondern auch das Zaubermetall, von dem du gesprochen hast.«

»So viel Zeit wird uns nicht bleiben, fürchte ich«, sagte Lea traurig. »Sarn wird nicht aufgeben. Und er wird gewiss nicht tatenlos zusehen, wie wir ihn vor aller Augen zum Narren machen.«

»Und wenn wir es ihm einfach sagen?«, fragte Arri aufgeregt.

Nicht nur Rahn und ihre Mutter sahen sie auf eine Art an, als zweifelten sie ernsthaft an ihrem Verstand. Auch Achk drehte das Gesicht in ihre Richtung und zog die verbrannten Narben zusammen, die die Stelle seiner Augenbrauen eingenommen hatten.

»Ich meine es ernst«, beharrte sie. »Sarn kann sein, wie er will, aber er ist kein Dummkopf.« Sie deutete heftig gestikulierend auf das Schwert an der Wand über ihrer Mutter. »Er muss doch verstehen, was das Geheimnis dieses Metalls für die Menschen hier im Dorf bedeutet. Warum sagt ihr ihm nicht einfach, was ihr plant? Vielleicht wird er uns sogar helfen, wenn er weiß, dass es um das Zaubermetall geht.«

»Manchmal wünschte ich mir, noch einmal so jung zu sein wie du«, sagte ihre Mutter sanft. »Das Leben ist um so vieles einfacher, wenn man geradeaus denkt.«

Rahn lachte, und Arri wurde wütend. »Geradeaus oder dumm?«, fragte sie zornig.

»Das war nicht böse gemeint«, sagte Lea. »Glaub mir, Arianrhod, ich wünschte wirklich, es wäre so einfach, wie du glaubst. Aber leider ist es das nicht.«

»Und was ist so falsch daran?«, fragte Arri. Sie war noch immer wütend, und trotz des ungewohnt versöhnlichen Tones, in dem ihre Mutter mit ihr sprach, wurde sie sogar immer noch wütender.

»Nichts«, antwortete Lea. »Das ist es ja gerade, was es so schlimm macht.« Sie atmete hörbar ein und ließ Hinterkopf und Schultern wieder gegen die Rückenlehne des Stuhles sinken. »Es ist spät geworden. Lasst uns alle ein wenig schlafen. Danach denken wir vielleicht klarer. Morgen werde ich mir den Schaden noch einmal genauer ansehen und entscheiden, was zu tun ist. Jetzt kann ich nicht mehr denken.«

Sie stand schwerfällig auf, und auch Arri wollte sich erheben, sank aber wieder zurück, als ihre Mutter eine abwehrende Geste machte. »Bleib einfach, wo du bist. Für heute schlafen Achk und du hier. Wenn ich wieder in der Lage bin, einen klaren Gedanken zu fassen, lasse ich mir eine bessere Lösung einfallen.«

Arri war von diesem Vorschlag wenig begeistert, aber sie konnte ihrer Mutter ansehen, dass sie viel zu müde und erschöpft war, um sich auf eine lange Auseinandersetzung einzulassen. Und wenn sie ehrlich war, erging es ihr selbst nicht viel anders. Die wenige Zeit, die sie halb sitzend gedöst hatte, hatte längst nicht ausgereicht, um ihr das zurückzugeben, was sie die Anstrengungen während der Löscharbeiten an Kraft gekostet hatten.

»Und du?«

»Ich finde schon einen Platz zum Schlafen«, sagte Lea.

Rahn grinste anzüglich.

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