Arri wäre nicht Arri gewesen, wenn sie das so einfach hingenommen hätte. Trotz aller Bedenken machte sie sich auf den Weg, um ihrer Mutter zu folgen. Nicht annähernd so leise wie Lea vorhin schlug sie den Vorhang beiseite und achtete diesmal auch nicht darauf, möglichst wenig Lärm auf der Stiege zu machen; wodurch sie Achk vermutlich endgültig weckte, dessen Schnarchen schon zuvor angefangen hatte, auffällig unregelmäßig zu werden. Aber dieses Problem löste sie kurzerhand, indem sie sich weit genug von der Hütte entfernte, um seine Stimme nicht hören zu können, wenn er mit seinen üblichen Nörgeleien begann.
Erst in gut zwei Dutzend Schritten Entfernung zur Hütte blieb sie stehen und schlang fröstelnd die Arme um den Oberkörper - und erstarrte, als sie im Wald neben sich ein Geräusch hörte, das typische helle Knacken, mit dem ein trockener Ast unter einem unvorsichtigen Fuß zerbrach...
Fast entsetzt fuhr sie herum. Und starrte in Rahns grinsendes Gesicht, während dieser vollends zwischen den Bäumen hervortrat.
»Was fällt dir ein, mich so zu erschrecken?«, fuhr sie ihn an. »Wieso schleichst du dich an mich an?«
Rahn kam näher und blieb gerade dicht genug vor ihr stehen, dass es ihr unangenehm war, und sie erkannte jetzt, dass sie sich getäuscht hatte. Sein Grinsen war noch viel breiter, als sie angenommen hatte. »Hat dir deine Mutter nicht gesagt, dass du nicht hierher kommen sollst?«
»Ich kann gehen, wohin ich will«, antwortete Arri patzig. Die Worte klangen selbst in ihren eigenen Ohren einfach nur dumm.
Rahn reagierte dann auch genau so, wie sie es sich eigentlich hätte denken können: Er griente noch breiter, verschränkte die Arme vor der Brust und maß sie mit einem langen, nicht anders als abfälligen Blick von Kopf bis Fuß, unter dem Arris Zorn noch weiter aufloderte.
»Was fällt dir ein?«, fauchte sie. »Ich werde meiner Mutter sagen...«
»Dass ich genau das tue, was sie mir aufgetragen hat?«, unterbrach sie Rahn kopfschüttelnd und mit schlecht geschauspielertem Bedauern auf dem Gesicht. »Nur zu. Sie wird sich bestimmt freuen, das zu hören.«
Zu Arris Zorn gesellte sich ein Gefühl von Hilflosigkeit, das alles noch schlimmer machte. Am liebsten hätte sie die Fäuste gehoben und sich auf Rahn gestürzt, und nach allem, was ihre Mutter ihr in den vergangenen Wochen beigebracht und gezeigt hatte, hätte der Fischer möglicherweise eine unangenehme Überraschung erlebt. Aber sie war trotz allem noch klug genug zu wissen, dass sie diesem muskelbepackten Riesen nicht gewachsen wäre, wenn er es wirklich ernst meinte. Darüber hinaus war ihr klar, dass es vermutlich ganz genau das war, was Rahn mit seinem Benehmen zu erreichen versuchte. Sie weit genug zu reizen, damit sie etwas wirklich Dummes tat.
»Was hattest du eigentlich vor?«, fragte Rahn. »Willst du dich vor der Pflicht drücken, deinen lieb gewonnenen Gast zu versorgen?«
Das sagte er zweifellos nur, um sie zu ärgern, und obwohl Arri das wusste, funktionierte es. »Gerade deshalb habe ich mich ja auf den Weg gemacht«, antwortete sie spitz. »Ich wollte zu dir, weil ich Achk eine Suppe kochen will und deshalb noch ein paar schöne spitze Fischgräten von dir brauche.«
Rahn sah sie geradezu verblüfft an, aber dann lachte er und streckte den Arm aus, wie um sie an der Schulter zu ergreifen. Arri wich rasch einen Schritt zurück, und Rahn ließ die Hand eindeutig enttäuscht wieder sinken, versuchte aber nicht noch einmal, sie zu berühren. »Komm schon«, sagte er, jetzt aber in eher gutmütigem Ton. »Ich weiß, dass dir euer Besuch nicht gefällt, aber du solltest es einfach hinnehmen und tun, was deine Mutter dir aufgetragen hat.«
»Und woher willst du wissen, was das ist?«, erkundigte sich Arri, drehte sich aber zugleich auch gehorsam um und machte zumindest einen ersten, zögernden Schritt in die Richtung, in die Rahn wies - nur, damit er nicht auf die Idee kam, sie am Ende doch noch anzufassen.
»Sie hat es mir gesagt.«
»Was?«, erkundigte sich Arri feindselig. »Dass du mich wie eine Gefangene behandeln sollst oder wie ein kleines Kind?«
»Wie ich dich behandele«, antwortete Rahn ruhig, »liegt ganz bei dir. Ich werde einfach so mit dir umgehen, wie du es verdienst.« Er schwieg einen ganz kurzen Augenblick. »Im Moment benimmst du dich wie ein störrisches kleines Kind. Also werde ich dich auch ganz genau so behandeln.«
Arri schluckte die wütende Antwort, die ihr auf der Zunge lag, vorsichtshalber herunter. Auch wenn sie es nie für möglich gehalten hätte, so war ihr Rahn zumindest im Moment eindeutig überlegen, auch mit Worten. Sie fragte sich, ob sie den Fischer in der Vergangenheit tatsächlich so völlig falsch eingeschätzt hatte oder ob es vielleicht der Einfluss ihrer Mutter war, den sie spürte. Nicht, dass diese sonderbare Veränderung Rahn auch nur im Geringsten sympathischer gemacht hätte, ganz im Gegenteil. Bisher war er für sie nicht mehr als ein großer, schrecklich starker, aber dummer Tölpel gewesen, den sie im Grunde nach Belieben herumschubsen und beleidigen konnte, ohne dass er es die meiste Zeit auch nur gemerkt hatte. Jetzt fragte sie sich, ob es nicht vielleicht doch ein bisschen anders gewesen war. Was, wenn Rahn während der ganzen Zeit, in der sie mit ihm zu spielen geglaubt hatte, seinerseits sein Spiel mit ihr gespielt und nur auf den Augenblick gewartet hatte, um es ihr heimzuzahlen?
Und welchen besseren Augenblick konnte es geben als den, in dem sie vier oder fünf oder vielleicht auch noch mehr Tage ganz allein mit ihm war?
»Und wenn ich dir einfach befehle, mir zu sagen, wohin meine Mutter gegangen ist, und mich zu ihr zu bringen?«, fragte sie trotzig.
Rahn lachte. »Deine Mutter hat mich schon davor gewarnt, dass du versuchen würdest, mir auf der Nase herumzutanzen. Aber keine Sorge: Damit kommst du bei mir nicht durch, und wenn du dich auf den Kopf stellst und mit den Ohren schlackerst.«
Arri blieb stehen und drehte sich mit einer ärgerlichen Bewegung zu ihm herum. »Ich könnte meiner Mutter erzählen, dass du aufdringlich geworden wärst. Wie würde dir das gefallen?«
Rahn schüttelte fast gelassen den Kopf, was ihrem Zorn neue Nahrung gab. »Nicht besonders«, gestand er, machte dabei aber ein Gesicht, das diesen Worten jegliche Glaubwürdigkeit nahm. »Aber du scheinst deine Mutter zu unterschätzen. Sie ist eine sehr kluge Frau und hat genau das vorausgesehen, weißt du? Und sie weiß auch, dass ich nicht so dumm bin, wie du immer behauptest.« Er machte einen Schritt nach hinten, um sie abermals auf diese durchdringende und nicht anders als anzügliche Art von Kopf bis Fuß zu mustern, wobei sich auf seinem Gesicht schon wieder dasselbe breite Grinsen bemerkbar machte. Sein Blick tastete auf eine vollkommen... neue, unangenehme Weise nicht nur über ihr Gesicht, sondern über ihre Schultern, ihre Arme und blieb eindeutig länger als notwendig an ihrem Oberkörper hängen.
Ganz kurz blitzte eine Erinnerung vor Arris geistigem Auge auf: Sie sah ihre Mutter, die auf dem weichen Mooskissen im Wald lag und die Beine um den dunkelhaarigen Fremden geschlungen hatte, und diese Erinnerung, so kurz sie auch währen mochte, machte Rahns Blick eindeutig zu etwas Schmutzigem, das sie zugleich mit einem vollkommen unsinnigen, aber heftigen Gefühl schlechten Gewissens erfüllte. Nur mit Mühe konnte sie den Impuls unterdrücken, die Arme vor der Brust zu verschränken.
»Du bist ein hübsches Ding«, fuhr Rahn fort. »Und ich bin bestimmt nicht der Einzige im Dorf, der das bemerkt hat. Aber so hübsch, dass ich deinetwegen mein Leben aufs Spiel setzen würde, nun auch wieder nicht.«
»Was soll das heißen?«, schnappte Arri.
Rahn grinste unerschütterlich weiter, aber irgendwie gelang es ihm trotzdem, zugleich mit einem Male sehr ernst zu wirken. »Weil deine Mutter mich töten würde, hätte sie auch nur den Verdacht, dass ich dich angerührt hätte.« Dann wurde sein Grinsen boshaft. »Außerdem - warum soll ich ein Kind nehmen, wenn ich die Frau haben kann? Du bist deiner Mutter sehr ähnlich, das ist wahr, aber bis du an sie heranreichst, vergeht noch eine Weile.«
Arri musste all ihre Willenskraft aufbieten, um sich nicht einfach auf ihn zu stürzen. Seine letzte Bemerkung erinnerte sie wieder daran, wie sie ihn zusammen mit ihrer Mutter gesehen hatte, und die Bilder, die aus ihrer Erinnerung aufstiegen, machten aus der bloßen Anzüglichkeit seiner Worte etwas Schlimmeres, für das sie keine wirkliche Bezeichnung fand. Hätte sie in diesem Augenblick eine Waffe gehabt, hätte sie ihn angegriffen.
Und Rahn schien wohl auch zu spüren, dass er einen Schritt zu weit gegangen war, denn er versuchte - wenn auch vergeblich -, besänftigend zu lächeln, und fügte in verändertem Ton hinzu: »Aber dieses Gespräch ist ohnehin überflüssig. Ich könnte dich gar nicht zu deiner Mutter bringen, selbst wenn ich es wollte.«
Arri glaubte ihm kein Wort, fragte aber trotzdem: »Wieso?«
»Weil ich nicht weiß, wohin sie will«, erwiderte Rahn. »Sie hat es mir nicht gesagt. Ich habe ihr ja noch abgeraten, ausgerechnet jetzt zu gehen, wo wir bald das Jagd-Ernte-Fest feiern werden und Sarn alles daran setzen wird, um die alten Götter im Steinkreis um Hilfe anzuflehen - und ganz nebenbei ein paar Boshaftigkeiten über deine Mutter loszulassen, gegen die sie sich dann nicht wehren kann. Aber sie hat behauptet, sie wäre rechtzeitig zurück, um Sarn in seine Schranken zu verweisen.«
»Du lügst doch!«, behauptete Arri. »Du behauptest, ausführlich mit meiner Mutter über den Zeitpunkt ihrer Reise gesprochen zu haben - und willst dann nicht wissen, wohin sie gegangen ist? Warum sollte dir meine Mutter das verschweigen?«
»Vielleicht aus dem gleichen Grund, aus dem sie es dir nicht gesagt hat?«, schlug Rahn vor. »Oder vielleicht auch, damit ich es niemandem verraten kann.«
Für einen Moment war Arri einfach nur verwirrt. Rahns Behauptung erschien ihr vollkommen unsinnig; nichts anderes als eine Ausrede, aber zugleich glaubte sie auch zu spüren, dass er die Wahrheit sagte. Dennoch erwiderte sie nach einem Moment und mit einem trotzigen Kopfschütteln: »Unsinn. Mir hat sie gesagt, dass sie weggeht, um Ersatz für das verlorene Werkzeug und neues Erz zu holen. Du warst schon einmal zu demselben Zweck fort. Du kennst also den Weg.«
»Wenn es so ist, dann muss sie wohl ihre Zauberkräfte bemühen, um mit einer Ladung Erz und anderen Dingen hierher zurückzukommen«, erwiderte Rahn.
»Was soll das heißen?«
Rahn hob die Schultern. »Es ist wahr, ich war im nächsten Dorf, um dort Vorräte und einige andere Dinge einzutauschen, nach denen deine Mutter mich geschickt hat. Aber ich habe den Ochsenkarren genommen und bin den Umweg über die Feuchtwiesen gefahren, immer gefährlich nah am Sumpf, denn nur dort kommt man überhaupt mit einem Wagen durch. Doch selbst der Wagen hätte kaum ausgereicht, um all die Dinge zu transportieren, die deine Mutter braucht, um eine vollkommen neue Schmiede für Achk einzurichten.«
»Und?«, fragte Arri verwirrt. »Glaubst du, sie wäre nicht in der Lage, einen Ochsenkarren zu lenken? Sie hat es doch immerhin auch geschafft, dir ihren Willen aufzuzwingen.«
Rahn nahm die Beleidigung hin, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wahrscheinlich schon«, räumte er ein, »aber dazu hätte sie ihn auch mitnehmen müssen, meinst du nicht?«
»Was soll das jetzt wieder heißen?«, murmelte Arri verwirrt.
»Sie hat den Wagen nicht genommen«, antwortete Rahn, »also können wir auch schwerlich seiner Spur folgen.«
»Sie hat den Wagen...«
»... nicht angerührt, natürlich auch, weil sie Sarn vorher um Erlaubnis hätte bitten müssen.« Rahns Augen funkelten belustigt. »Sarn hätte es ihr niemals erlaubt, und ich glaube auch nicht, dass sie so leichtsinnig wäre, ein Gefährt zu benutzen, dessen Spuren man so einfach folgen kann.«
Diesmal schwieg Arri eine ganze Weile. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass sie weggehen würde, um alles zu beschaffen, was nötig war, um Achks niedergebrannte Schmiedewerkstatt wieder aufzubauen, und sie glaubte nicht, dass sie sie belogen hatte. Welchen Grund sollte sie dafür haben?
»Warum schließen wir nicht Frieden?«, fragte Rahn. »Wenigstens für die Zeit, bis deine Mutter zurück ist?«
Arri war für einen Moment hin- und hergerissen. Rahns Angebot klang nicht nur verlockend, es klang ehrlich, auch wenn es ihr nicht behagte, das zuzugeben, und vielleicht würde sie es später annehmen, aber noch war sie nicht bereit dazu. Sie beließ es bei einem feindseligen Blick in sein Gesicht, drehte sich mit einem Ruck um und ging mit trotzig in den Nacken geworfenem Kopf auf die Stiege zu. Ihre Gedanken kreisten um das, was Rahn gesagt hatte. Der Ochsenkarren, von dem er gesprochen hatte, war der einzige, den es im ganzen Dorf gab, das einzige Transportmittel, das groß genug war, um mehr als einen Ballen Heu oder zwei große Wasserkrüge damit von der Stelle zu bewegen. Wenn Lea ihn nicht genommen hatte, wie wollte sie dann all die Dinge hierher schaffen, von denen sie gesprochen hatte?
Falls sie es überhaupt wollte.
Arri schrak noch immer vor dem bloßen Gedanken zurück - aber was, wenn ihre Mutter tatsächlich nicht die Wahrheit gesagt hatte? Wenn sie nicht fortgegangen war, um Material und Werkzeug für Kron und den Blinden zu holen, sondern aus einem ganz anderen Grund?
Was, wenn sie nicht wiederkommen würde, weil sie nur für sich allein eine Bleibe für den Winter suchte?
Dieser Gedanke war so erschreckend, dass Arri ihn hastig von sich schob, oder es doch wenigstens versuchte. Aber es gelang ihr nicht ganz. Er war wie ein schleichendes Gift, mit dem sie sich einmal infiziert hatte und das nun seine Wirkung entfaltete, langsam, aber auch unaufhaltsam. Wenn ihre Mutter in diesem einen Punkt die Unwahrheit gesagt hatte, wieso dann auch nicht in einem anderen? Und schließlich hatte sie ihre Unsicherheit und Verwirrung selbst gespürt, vorhin noch, als Lea sich von ihr verabschiedet hatte.
Noch bevor sie die Stiege erreichte, kam sie zu einem Entschluss. Sie würde das tun, was sie von Anfang an hätte tun sollen, nämlich, ihren Befehl missachten und ihr folgen. Zu Fuß konnte ihre Mutter nicht sehr viel schneller vorankommen als sie selbst, wenn sie sich beeilte, und sie hatte in den letzten Wochen keine Gelegenheit ausgelassen, ihrer Tochter all ihre Fähigkeiten und Kenntnisse beizubringen, zu denen auch ein Geschick im Spurenlesen gehörte, das dem Grahls und der anderen Jäger gleichkam. Spätestens wenn die Sonne aufging, würde sie ihre Spur finden. Sie musste nur Rahn loswerden, und als sie den Fuß auf die unterste Treppenstufe setzte und ihr ein besonders lautes, grunzendes Schnarchgeräusch aus der Hütte entgegendrang, wusste sie auch, wie.
Statt sich umzudrehen und dem Fischer mit ein paar energischen Worten nachhaltig zu verbieten, der Hütte auch nur nahe zu kommen - wozu sie eben noch fest entschlossen gewesen war -, eilte sie die wenigen Stufen hinauf, blieb unter der Tür stehen und winkte ihm im Gegenteil zu, ihr zu folgen. Rahns Gesicht lag im Schatten des Hauses, aber sie spürte seine Überraschung und sah auch, dass er einen Moment zögerte, ihr dann aber mit umso energischeren Schritten nachkam. Arri dachte vorsichtshalber erst gar nicht darüber nach, was jetzt in seinem Kopf vorgehen mochte; aber was immer es auch war, er würde gleich eine ziemlich unangenehme Überraschung erleben.
»Bring einen Krug Wasser mit«, rief sie ihm zu. »Ich mache uns ein Frühstück. Es ist noch etwas kaltes Fleisch von gestern Abend da.«
Sie wartete nicht ab, ob Rahn ihrer Bitte nachkam oder nicht, sondern schlug den Vorhang bewusst grob zur Seite und schlich auch nicht auf Zehenspitzen ins Haus, so wie sie es vorhin verlassen hatte, sondern trampelte regelrecht hinein. Achk warf sich betont auffällig auf seinem Lager herum und ließ einen einzelnen, fast explosiven Schnarcher hören, aber sie spürte, dass er nicht echt war. Der Schmied war wach; das war er schon gewesen, als sie hereingekommen war.
Arri polterte weiter nach Kräften herum, und Achk tat weiter sein Bestes, um den Schlafenden zu spielen, während sie Feuerholz und Späne holte und mit geschickten Bewegungen die Lampe anzündete. Als Rahn, einen langsam, aber beständig leckenden Krug in beiden Händen tragend, gebückt durch die Tür trat, war der Raum vom milden, gleichmäßig gelb brennenden Schein der Öllampe erhellt. Rahn maß die kaum fingergroße Flamme mit einem unruhigen Blick, während er seine Last zum anderen Ende des Raumes trug und ebenso behutsam wie ungeschickt abstellte. Arri kommentierte sein Ungeschick mit einem spöttischen Lächeln, gab sich aber alle Mühe, es wie etwas anderes aussehen zu lassen, und es funktionierte, denn in den Augen des Fischers erschien ein überraschter Ausdruck.
Wie die allermeisten im Dorf benutzte Rahn keine Öllampen, um seine Hütte zu beleuchten, sondern - wenn überhaupt - ein qualmendes Feuer, das mehr Rauch als Licht verbreitete und im Sommer darüber hinaus unerträgliche Hitze. Es war Arri ein Rätsel, wieso das Dorf nicht regelmäßig drei oder vier Mal im Jahr abbrannte, bei all den offenen Feuerstellen, die es in den aus Holz, Weidengeflecht und Schilf gebauten Hütten gab, und wieso sich der Großteil seiner Einwohner nach wie vor beharrlich weigerte, die viel sichereren und vor allem leichter zu handhabenden Öllampen zu verwenden. Aber es gab so viele Rätsel in diesem Dorf, dass sie schon längst damit aufgehört hatte, sich wirklich den Kopf darüber zu zerbrechen. Vielleicht fing sie auch gerade erst damit an.
Sie hantierte noch eine Weile an der Lampe herum, wobei sie Rahn ein freundliches Lächeln schenkte, als er in ihre Richtung sah, dann stand sie auf und ging zu dem kleinen Schemel neben der Tür, auf dem tatsächlich noch die Reste der letzten Mahlzeit standen. Es waren kaum mehr als ein paar kümmerliche Reste, nicht einmal wirklich der Rede wert, sie zu essen, aber dieser eine Blick und ihre ganz bewusst nicht vollkommen natürlich wirkende Bewegung schienen Rahn vollkommen ausgereicht zu haben, um zu begreifen, dass sie ihn nicht hereingebeten hatte, um zusammen mit ihm zu essen. Sie sah nicht in seine Richtung, doch sie meinte seine Blicke zu spüren, wie die Berührung einer warmen, unangenehmen Hand, die ihren Rücken hinabstrich, über ihre Schenkel und Waden tastete und dann wieder hinauf. Ein sonderbares Gefühl breitete sich in ihr aus, und Arri rief sich in Gedanken zur Ordnung. Was es auch war, das sie in letzter Zeit immer öfter und immer heftiger empfand, jetzt war nicht der Moment, darüber nachzudenken oder gar dieser sonderbaren Neugier nachzugeben.
Bewusst langsam drehte sie sich um, hielt den Teller mit den kümmerlichen Essensresten in beiden Händen und machte ein verlegendes Gesicht, aber nicht nur. Sie hatte zwar keinerlei Übung in solchen Dingen, hoffte aber, dass dieses ganz bestimmte, angedeutete Lächeln, das sie in ihr entschuldigendes Achselzucken einfließen ließ, Rahn ganz genau das denken ließ, was er denken sollte, und allem Anschein nach erreichte sie ihr Ziel: Er sah die Schale in ihren Händen nicht einmal wirklich an, sondern ließ sich mit untergeschlagenen Beinen auf ihrer Matratze nieder, und aus der Verwirrung und Überraschung und - ja, auch der Spur von Misstrauen - in seinen Augen wurde etwas anderes. Er setzte dazu an, etwas zu sagen, aber Arri schüttelte rasch den Kopf und warf einen warnenden Blick auf den scheinbar schlafenden Schmied. »Wir müssen leise sein.«
Rahn machte ein abfälliges Geräusch und eine ebensolche Handbewegung. »Er schläft wie ein Stein«, antwortete er, allerdings im gleichen, fast flüsternden Tonfall, in dem auch Arri gesprochen hatte. Der Anteil von Misstrauen in seinem Blick war nun vollkommen erloschen, wie Arri zufrieden feststellte, und nun machte sich wieder jenes anzügliche Grinsen auf seinen Lippen breit, das es Arri immer schwerer machte, nicht einfach die Schale zu nehmen und sie ihm ins Gesicht zu werfen.
Er klopfte mit der flachen Hand zweimal neben sich auf die Matratze, als hielte er sie für einen Hund, den er auf diese Weise heranbefehlen konnte, und Arri trat auch wirklich einen Schritt auf ihn zu, blieb aber dann wieder stehen und warf einen weiteren, diesmal stirnrunzelnden Blick zu Achk hin. Der Schmied schnarchte noch immer und gab in fast regelmäßigen Abständen helle, schmatzende Geräusche von sich. Er hatte ihnen den Rücken zugedreht, aber Arri spürte so deutlich, dass er wach war und lauschte, als hätte er aufrecht dagestanden und ihr mit beiden Armen zugewinkt. Rahn spürte es offensichtlich nicht, denn er folgte ihrem Blick und fragte dann, eine Spur lauter und in verächtlichem Ton: »Warum lasst ihr diesen alten Stinker in eurer Hütte schlafen?«
Achk schnarchte bestätigend, und Arri gab sich Mühe, so zu tun, als ob sie nur noch mit Mühe ein Grinsen unterdrücken könnte. »Warum nennst du ihn so?«
»Weil er es ist, ganz einfach.« Rahn klopfte noch einmal neben sich und unterstrich seine Aufforderung diesmal mit einer entsprechenden Kopfbewegung, und Arri tat ein paar Schritte auf ihn zu, setzte sich dann aber gerade weit genug neben ihm auf die Matratze, damit er sie nicht mit der Hand erreichen konnte, ohne sich zur Seite zu beugen oder aufzustehen.
»Meine Mutter wollte, dass er hier bleibt, bis seine Schmiede wieder aufgebaut ist«, fuhr sie fort. Sie fügte in leicht schnippischem Ton hinzu: »Wenn ich mich richtig erinnere, hätte das doch längst der Fall sein müssen, oder nicht?«
»Ich kann nicht zwei Dinge gleichzeitig tun«, behauptete Rahn. »Im Augenblick bin ich damit beschäftigt, dich zu beschützen.«
Und im Augenblick, dachte Arri, war der Einzige, vor dem sie vermutlich wirklich beschützt werden musste, er selbst. Sie ließ sich aber auch davon nichts anmerken, sondern sah ihn nur an und lächelte stumm. Rahn tat so, als ob er die Hand nach einem Brotkrumen ausstrecken würde, nutzte die Gelegenheit aber, ein Stück zur Seite und damit auf sie zuzurutschen, sodass sie sich nun eindeutig in seiner Reichweite befand. Arri spannte sich innerlich, riss sich aber dann zusammen und schenkte ihm im Gegenteil ein weiteres, ganz bestimmtes Lächeln. Gleichzeitig beugte auch sie sich zur Seite und streckte die Hand nach dem Teller aus, und diesmal sorgte sie dafür, dass sie sich weit genug vorbeugte, um Rahn einen langen Blick in den Halsausschnitt ihrer Bluse und somit auf ihre Brüste zu gewähren. Seine Augen wurden ein bisschen größer, aber fast zu ihrer Überraschung beherrschte er sich noch.
»Du solltest ihn nicht so nennen«, sagte sie mit einer neuerlichen Kopfbewegung auf den sich immer noch schlafend stellenden Schmied, hatte zugleich aber auch alle Mühe, Rahn nicht laut zuzustimmen. Er hatte Recht: Achk war ein verrückter alter Mann, und er stank.
Rahn wirkte ein wenig unwillig. »Vielleicht sollten wir lieber...«, begann er, und streckte zugleich den Arm nach Arri aus, aber sie wich mit einer raschen Bewegung, dennoch aber mit einem neuerlichen, noch aufreizenderen Lächeln zurück, legte den Zeigefinger über die Lippen und deutete mit der anderen Hand auf Achk.
Rahn wirkte jetzt erst recht enttäuscht, ließ den Arm aber wieder sinken und klaubte sich den letzten Rest Brot vom Teller. »Keine Angst, der Alte schläft wie ein Stein. Wenn er einmal eingeschlafen ist, dann weckt ihn so schnell nichts mehr. Ich wundere mich fast, dass er nicht im Schlaf verbrannt ist, ohne überhaupt zu merken, was passierte.«
»Vielleicht hat er es ja gemerkt«, antwortete Arri, »und will im Augenblick nur nicht darüber sprechen.«
Rahn wirkte jetzt völlig enttäuscht, auch er wollte im Moment nicht über dieses Thema reden. Arri vermutete, dass ihm überhaupt nicht nach Reden zumute war. Trotzdem antwortete er: »Warum sollte er?«
»Vielleicht, weil er Angst hat?«, vermutete Arri.
Rahn schluckte den letzten Bissen Brot herunter, griff nach dem leeren Teller und fegte ihn mit einer schwungvollen Bewegung zur Seite. Er schlitterte scheppernd über den Boden und prallte mit einem noch lauteren Geräusch gegen die Wand neben der Tür. Achk warf sich mit einem widerstrebenden Grunzen herum und schnarchte nach einem Augenblick unbeeindruckt weiter.
Rahn stutzte und sah ihn stirnrunzelnd an, wandte sich dann aber wieder zu ihr um. Achk war ein besserer Schauspieler, als Arri angenommen hatte; oder war Rahn ein schlechterer Beobachter? »Du meinst, weil er herausbekommen hat, dass Sarn die Schmiede angezündet hat?«, fragte er.
»Das wäre doch immerhin eine Erklärung, oder?« Arri deutete mit den Augen eine Bewegung auf den vermeintlich schlafenden Schmied an, legte abermals den Zeigefinger über die Lippen und ließ sich dann ein Stückchen zurücksinken, bis sie sich nur noch mit den Ellbogen aufstützte und sich die Bluse deutlich über ihren Brüsten spannte, die in dieser Haltung viel größer und voller erschienen, als sie waren. Rahn machte zwar ein Gesicht, das klar werden ließ, für wie überflüssig er ihre Vorsicht hielt, schien aber entweder Gefallen an dem Spiel zu finden oder gab sich einfach geschlagen, denn er rückte zwar ein gutes Stück näher, fuhr aber fast schon zu laut fort: »Vielleicht sucht er auch einfach nur nach einem Dach über dem Kopf, unter dem er es sich auf Dauer gemütlich machen kann. Hast du schon einmal daran gedacht?«
Arri schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr Haar flog. »Sobald die Schmiede wieder steht, wird er dorthin übersiedeln.«
»Und wenn es ihm nun hier besser gefällt, wo er Nahrung und Gesellschaft im Überfluss hat und er gar nicht daran denken muss, je wieder einen Schmiedehammer in die Hand zu nehmen?«, beharrte Rahn und ließ sich, ähnlich wie sie, auf die Seite und einen Ellbogen sinken. Den anderen Arm streckte er in ihre Richtung aus, zögerte dann aber im allerletzten Moment, sie zu berühren, und griff stattdessen nach ihrem Haar. Seine Finger begannen mit einer Strähne zu spielen und berührten dabei wie zufällig ihren Hals. Arri fuhr heftig zusammen, brachte es aber irgendwie fertig, ihm dennoch weiter zuzulächeln, und Rahn wurde mutiger und rutschte ein Stück näher. Seine Finger spielten weiter mit ihrem Haar, aber nur zwei davon; die anderen berührten ganz sacht ihren Hals, nun jedoch nicht mehr zufällig und auf eine ganz bestimmte Art.
»Lass das«, sagte Arri, aber sie lächelte unerschütterlich weiter, und ihr Blick sagte etwas ganz anderes.
»Wie hast du das gemeint: Er will vielleicht nie wieder einen Schmiedehammer in die Hand nehmen?«
»Davon hat dir deine Mutter nichts erzählt, wie?«, vermutete Rahn. Er nickte, um seine eigene Frage zu beantworten, und seine Finger ließen nun endgültig ihr Haar los und strichen sanft über ihre Wange, über ihr Kinn und weiter hinab über ihren Hals. Es kribbelte, als liefen Ameisen über ihre Haut, und es war nicht so unangenehm, wie es sein sollte. »Nach dem Feuer hat er ihr klipp und klar gesagt, dass er nicht mehr mitmachen will«, antwortete er. »Und dass er Kron nicht mehr helfen will.«
»Davon hat mir meine Mutter nichts erzählt«, antwortete Arri wahrheitsgemäß.
»Wie von einer Menge anderer Dinge auch.« Rahn lachte leise und warf einen verächtlichen Blick in Richtung des schlafenden Schmiedes. »Dabei war er schon vor dem Unfall alles andere als ein übervorsichtiger Schmied, sondern sogar dafür bekannt, nur allzu leichtfertig mit seinem Feuer umzugehen. Warum, meinst du wohl, lag seine Schmiede ganz am Rande des Dorfes? So weit weg von allen anderen?«
Es kostete Arri alle Überwindung, die sie aufbringen konnte, aber sie schaffte es irgendwie, sich seiner Berührung nicht zu entziehen, sondern ganz im Gegenteil den Kopf zur Seite zu drehen und ihre Wange an seiner rauen Hand zu reiben.
Erneut lief ihr ein rasches, unbekanntes Frösteln über den Rücken. Sie staunte über sich selbst. Sie sollte aufschreien, schon bei dem bloßen Gedanken, von diesen Fingern angefasst zu werden, die auf so obszöne Weise über den Körper ihrer Mutter geglitten waren, doch die Berührung löste etwas völlig anderes in ihr aus: ein Kribbeln und Vibrieren, das ihren ganzen Körper zu ergreifen begann; dann eine Woge brennender Wärme, die in ihrem Schoß ihren Ausgang nahm und wie siedendes Öl durch ihre Adern floss. An dem Gefühl selbst war rein gar nichts Schlechtes oder Verbotenes, das spürte sie, aber es sollte nicht Rahn sein, der es in ihr auslöste, nicht ausgerechnet Rahn, der schon ihre Mutter gehabt und niemals einen Hehl daraus gemacht hatte, wie sehr er sie verachtete.
»Lass das«, sagte sie noch einmal, aber ihr Atem ging plötzlich schneller, sodass sie Mühe hatte, mit normaler Stimme zu sprechen, was Rahn natürlich nicht verborgen blieb. Statt es zu lassen, wurde seine Hand im Gegenteil immer mutiger, glitt weiter an ihrem Hals hinab und über ihre Schulter bis zu ihrer Brust, die sich unter der Berührung zu spannen schien. Die Wärme in Arris Schoß zerbarst zur lodernden Glut eines Waldbrands im Hochsommer, und Arri presste mit aller Kraft die Lippen aufeinander, um ein Seufzen zu unterdrücken. Es war ganz gleich, was sie tat, so lange Achk es nicht hörte.
»Deine Mutter ist eine sehr kluge Frau«, fuhr Rahn fort. »Manchmal frage ich mich, ob sie nicht vielleicht zu klug ist.«
»Wie meinst du das?«, fragte Arri.
»Vielleicht ist es hin und wieder besser, die Dinge einfach als das zu nehmen, was sie sind, und nicht hinter allem und jedem ein Geheimnis zu vermuten.« Rahns Hand strich ihr liebkosend über die Wölbung ihrer Bluse, und Arri schloss für einen Moment die Augen und sammelte Kraft, um seinen Arm wegzuschieben. Etwas in ihr wollte es nicht einmal. Sie musste aufpassen, dass sie nicht selbst in die Falle tappte, die sie für Rahn aufgestellt hatte.
Und es wurde Zeit, sie zuschnappen zu lassen.
»Lass das«, sagte sie noch einmal, jetzt in hörbar schärferem Ton, aber noch immer lächelnd und ihn dabei auf eine herausfordernde Art ansehend, die ihn offensichtlich vollkommen verwirrte, aber keineswegs entmutigen konnte. »Gerade hast du noch gesagt, dass meine Mutter viel hübscher ist als ich.«
»Es gibt verschiedene Arten von Schönheit«, antwortete Rahn. Seine Hand ließ ihre Brust tatsächlich los, aber nur, um langsam, aber zielstrebig über ihren Leib und weiter nach unten zu wandern, und Arri folgte der Bewegung mit gerunzelter Stirn und einem Ausdruck gespielter kindlicher Verwirrung.
»Meine Mutter bringt dich um, wenn sie davon erfährt«, fuhr sie fort. Unauffällig warf sie einen weiteren Blick auf das andere Bett. Achk schnarchte unverdrossen weiter, und er spielte noch immer den Schlafenden, beging dabei aber denselben Fehler, den fast jeder begeht, der zu sehr darauf bedacht ist, sich schlafend zu stellen: Er bewegte sich gar nicht mehr.
»Sie muss es ja nicht erfahren«, antwortete Rahn. Seine Hand hatte den Saum ihres Rockes mittlerweile erreicht und versuchte, darunter zu schlüpfen, und Arri setzte sich rasch auf, schlug seinen Arm mit einer - wie er annehmen musste - spielerischen Bewegung zur Seite und zog die Beine an den Körper, um die Knie mit den Armen zu umschlingen.
»He!«, sagte Rahn. »Stell dich nicht so an.« Auch er richtete sich auf und versuchte erneut und diesmal eindeutig fordernd nach ihr zu greifen, doch Arri kam ihm zuvor. Mit einer einzigen, fließenden Bewegung sprang sie auf, holte aus und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht; fest und so schnell, dass er den Hieb vermutlich nicht einmal kommen sah. Noch bevor er reagieren konnte, wich sie rasch zwei, drei Schritte zurück und sagte noch einmal und in schärferem Ton, in den sie ganz bewusst einen sachten Unterton von Panik zu legen versuchte: »Lass das! Rühr mich nicht an! Ich will das nicht!«
Rahn hatte unwillkürlich die rechte Hand auf die Wange gepresst, wo ihn ihr Schlag getroffen hatte, schien aber darüber hinaus nicht einmal zu begreifen, was überhaupt geschah. Er glotzte sie einfach nur an. Arri machte zwei weitere stolpernde und trampelnde Schritte rückwärts, bis sie mit einem hörbaren Poltern gegen die Wand neben der Tür stieß, keuchte laut und griff dann mit beiden Händen nach dem Saum ihres Rockes. Sie zerrte mit aller Kraft, und der Stoff zerriss mit einem hellen Geräusch fast bis zum Knie hinauf.
»Nein!«, keuchte sie. »Rahn, bitte nicht!«
Endlich hatte der Fischer seine Überraschung überwunden, wenigstens weit genug, um die Hand herunterzunehmen und gleichzeitig aufzustehen. Er kam auf sie zu, aber langsam und noch immer mit einem Ausdruck vollkommener Verständnislosigkeit auf den Zügen, und Arri wartete gerade lange genug ab, bis er auf Armeslänge heran war, dann trat sie seinerseits blitzschnell auf ihn zu und versetzte ihm einen Stoß; genau auf die Art, die ihre Mutter ihr gezeigt hatte: schnell und hart, mit den flachen Händen und die Finger steif nach oben gerichtet, legte sie alle Kraft in ihre Unterarme und drückte die Ellbogen so wuchtig durch, wie es ging. Wäre Rahn auf den Angriff vorbereitet gewesen, hätte er ihm zweifelsohne widerstehen können, denn Arri war sehr wohl bewusst, dass sie nicht annähernd so schnell war, wie sie geglaubt hatte, und ihr Stoß nicht einmal den Bruchteil der Kraft hatte, den er eigentlich hätte haben müssen. Aber Rahn sah den Angriff nicht kommen.
Er war vollkommen unvorbereitet und schien immer noch nicht wirklich zu begreifen, was sie tat. Vielleicht hielt er all dies sogar noch für den Teil eines neckischen Spiels, das sie mit ihm spielen wollte. Ihre Handflächen trafen seine nackte Brust mit einem hörbaren Klatschen, und er stolperte zurück, ruderte zwei, drei Mal hilflos mit den Armen und fiel dann der Länge nach auf den Rücken. Arri fuhr auf dem Absatz herum und stürmte durch die Tür, noch bevor das dumpfe Poltern seines Sturzes ganz verklungen war, aber sie warf trotzdem noch einen Blick über die Schulter zurück und stellte erleichtert fest, dass Achk seine Maskerade endlich aufgegeben hatte und sich mit einer erschrockenen Bewegung auf seinem Lager aufsetzte.
Sie machte sich nicht die Mühe, die Stiege hinunterzulaufen, sondern sprang mit einem einzigen Satz bis zum Boden hinab, rollte sich über die Schulter ab und nutzte den Schwung ihres eigenen Sturzes, um wieder auf die Füße zu kommen. Hinter und über sich hörte sie Rahn wütend brüllen, und dann das Geräusch, mit dem er aufsprang und durch die Hütte trampelte. Da schien noch eine zweite Stimme zu sein, die wohl Achk gehörte, aber sie verschwendete auch keine Zeit damit, zur Hütte zurückzublicken, sondern rannte auf den Waldrand zu, so schnell sie nur konnte.
Vielleicht ein bisschen zu schnell, denn sie übersah in der Dunkelheit irgendein Hindernis, in dem sich ihr Fuß verfing. Ein scharfer Schmerz warnte sie im letzten Moment, aber es war zu spät. Arri versuchte, sich mit einer hastigen Bewegung herum- und zurückzuwerfen, doch diesmal wurde ihr ihre eigene Schnelligkeit zum Verhängnis. Der Schmerz in ihrem Knöchel wurde zu lodernder Glut, dann hatte sie das Gefühl, ihr Bein würde ihr aus dem Gelenk gerissen. Hilflos fiel sie zu Boden, schlug schwer und der Länge nach auf und blieb einen Moment lang benommen liegen. Als sich ihre Gedanken wieder klärten, schmeckte sie Blut, und in ihren Ohren wummerte ihr Herz wie verrückt. Rahns Gebrüll hinter ihr war lauter geworden, und Arri richtete sich hastig auf und machte trotz der pochenden Schmerzen mit einem Ruck ihren Fuß frei, als sie das hastige Poltern seiner Schritte auf der Stiege hörte.
Sie stolperte weiter, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Ihr Bein tat schrecklich weh, gehorchte ihr aber noch, was zumindest bedeutete, dass sie sich nichts gebrochen hatte, aber ihre Mutter hatte ihr mehr als einmal erzählt, dass eine Prellung schmerzhafter als ein Bruch sein konnte, und Arri begriff in diesem Moment, dass das nur zu wahr war.
Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, den pochenden Schmerz in ihrem rechten Knöchel zu ignorieren und sich zu noch größerer Schnelligkeit zu zwingen, doch es ging nicht. Statt schneller zu werden, kam sie nur aus dem Takt und drohte abermals zu fallen. Hinter ihr wurde Rahns wütendes Gebrüll noch lauter, und sie konnte seine stampfenden Schritte hören, die entsetzlich schnell näher kamen, und als sie nun doch im Laufen einen Blick über die Schulter zurückwarf, stellte sie fest, dass er höchstens noch sieben oder acht Schritte hinter ihr war und mit jedem einzelnen Schritt weiter aufholte.
Arris Gedanken rasten. Der Waldrand war noch ein Dutzend Schritte entfernt, doch wenn sie ihn erreichte, dann wäre sie im Vorteil. Rahn mochte schneller und auch stärker sein als sie, aber sie kannte sich dort drinnen ungleich besser aus als er. Hier draußen würde die Morgendämmerung bald ihre Kraft entfalten, im Wald selbst aber herrschte noch immer vollkommene Finsternis, die ihr Schutz gewähren würde. Sie hatte ihr ganzes Leben an diesem Wald verbracht und kannte zumindest in einigem Umkreis jeden Baum, jeden Strauch und jede Wurzel.
Aber sie begriff auch, dass sie es bis dahin nicht schaffen würde.
Als sie spürte, dass Rahn nur noch zwei Schritte hinter ihr war, schlug sie einen Haken, ließ sich blitzschnell auf Hände und Knie herabfallen und krümmte den Rücken. Rahn prallte wunschgemäß in vollem Lauf gegen sie, rammte ihr dabei, ganz und gar nicht wunschgemäß, das Knie in die Rippen und schrie vor Wut auf, als er plötzlich den Boden unter den Füßen verlor, in hohem Bogen durch die Luft flog und eine gute Mannslänge entfernt und mit solcher Wucht auf den Boden aufprallte, dass der ganze Wald zu beben schien.
Sein Aufprall hatte nicht nur Arri die Luft aus den Lungen gepresst, sondern sie ebenfalls zu Boden geschleudert. Hilflos rollte sie herum, kam endlich auf dem Rücken zu liegen und biss die Zähne zusammen, um einen Schmerzensschrei zu unterdrücken, für den sie wahrscheinlich gar keine Luft gehabt hätte. Zu dem wütenden Pochen in ihrem rechten Knöchel hatte sich nun ein fast noch schlimmerer Schmerz in ihrem Rücken gesellt, und jeder Atemzug wurde von einem dünnen, aber tief gehenden Stich begleitet, der ihr verriet, dass ihr Rahns Knie mindestens eine Rippe gebrochen hatte, wenn nicht mehr. Trotzdem biss sie die Zähne zusammen, arbeitete sich auf die Ellbogen hoch und drehte mit einem Ruck den Kopf, um nach Rahn Ausschau zu halten.
Dem Fischer war es nicht besser ergangen als ihr. Er lag ein gutes Stück von ihr entfernt da und schien Mühe zu haben, sich hochzustemmen. Aber er lag zwischen ihr und dem rettenden Waldrand, und er arbeitete sich zwar taumelnd und unsicher und eindeutig benommen hoch, aber er kam hoch, und das sogar schneller als sie. Während sich Arri noch auf die Füße stemmte, vorsichtig nur den linken Fuß belastend und eine Hand mit zusammengebissenen Zähnen gegen ihre Rippen gepresst, stand er auf, schüttelte zwei oder drei Mal abgehackt den Kopf und fuhr sich schließlich mit der linken Hand über das Gesicht. In dem Blick, der Arri danach traf, loderte nichts als blanke Mordlust.
»Das war nicht besonders lustig«, sagte er.
Arris Blick tastete fast verzweifelt über den Waldrand und suchte nach irgendeinem Fluchtweg, aber da war keiner. Hinter ihr lagen nur der dunkle Schatten der Hütte und der ihr plötzlich unendlich lang erscheinende und steil ansteigende Weg zum Dorf hinauf, und selbst, wenn es dort oben jemanden gegeben hätte, der ihr helfen konnte, wäre sie mit ihrem verstauchten Knöchel niemals so weit gekommen. Obwohl es ihr heftige Schmerzen bereitete, machte sie zwei Schritte zurück, ohne dabei zu humpeln, und hob beide Arme vor die Brust, die Finger ausgestreckt und die Handflächen nach außen gedreht. »Komm mir nicht zu nahe«, drohte sie.
»Oder was?«, fragte Rahn.
»Ich warne dich«, wiederholte Arri. »Meine Mutter hat mir gezeigt, wie ich mich wehren kann.«
»Anscheinend hat dir deine Mutter eine ganze Menge gezeigt«, bestätigte Rahn mit finsterem Gesicht. Seine Hände tasteten an seinem Körper entlang, als wollte er sich davon überzeugen, dass noch alles unversehrt und einigermaßen an seinem Platz war, dann schüttelte er den Kopf und bedachte sie erneut mit einem wütenden Blick. Sonderbarerweise verzichtete er aber darauf, sich sofort auf sie zu stürzen, womit Arri fest gerechnet hatte. Stattdessen fragte er: »Was sollte das? Ist das irgendein verrücktes Spiel, das dir deine Mutter beigebracht hat?«
Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu, und Arri prallte hastig um die gleiche Distanz zurück und sagte noch einmal: »Komm nicht näher.«
Wieder reagierte Rahn völlig anders, als sie erwartet hatte. Er machte tatsächlich noch einen weiteren Schritt auf sie zu, blieb dann aber stehen, und der Ausdruck auf seinem Gesicht war jetzt eher verstört als wütend. Vielleicht nachdenklich. »Was soll denn dieser Unsinn?«, schnappte er.
»Ich werde jetzt gehen«, antwortete Arri. »Ich werde meine Mutter schon finden, auch ohne deine Hilfe.«
Rahn reagierte einige Augenblicke lang gar nicht, dann machte er einen weiteren, einzelnen Schritt in ihre Richtung und sagte in fast bedauerndem Tonfall: »Du weißt, dass ich das nicht zulassen kann. Deine Mutter hat mir...«
»Meine Mutter wird dich umbringen, wenn ich ihr erzähle, was du getan hast«, fiel ihm Arri ins Wort. Ihre Stimme klang dabei nicht annähernd so überzeugt, wie sie es gern gehabt hätte, und auch ihre Hände zitterten immer heftiger, so stark, dass Rahn es einfach sehen musste, aber sie bezweifelte trotzdem, dass er es bemerkte. Auf seinem Gesicht machte sich ein Ausdruck von allmählich aufdämmernder Erkenntnis, aber unendlich viel größerer Verblüffung breit.
»Was habe ich denn getan?«, murmelte er.
Konnte es sein, dass er tatsächlich nicht begriff?, fragte sich Arri verwirrt. Egal. »Ich werde ihr erzählen, dass du versucht hast, mich anzufassen. Du weißt, was sie dann mit dir macht.«
Und endlich begriff Rahn. Sein Gesicht verdüsterte sich, und in seinen Augen blitzte purer Hass auf. »Sie würde dir kein Wort glauben«, sagte er, aber er klang dabei nicht sehr überzeugt.
»Das braucht sie auch nicht«, erwiderte Arri. »Achk hat alles gehört. Er hat nicht geschlafen.« Sie machte eine Kopfbewegung über die Schulter zurück. »Geh hinauf in die Hütte und frag ihn, wenn du willst.«
Für eine geraume Weile stand Rahn einfach nur da und starrte sie an. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, und Arri konnte sehen, wie sich seine gewaltigen Muskeln spannten, doch dann ließ er die Arme wieder sinken und schüttelte abermals den Kopf. Er gab sich redliche Mühe, ein verächtliches Lächeln auf seine Lippen zu zwingen, auch wenn es ihm nicht gelang. »Das würdest du nicht wagen. Und deine Mutter würde dir auch nicht glauben. Sie kennt mich. Sie vertraut mir.«
»Ja, deswegen hat sie dir ja auch gesagt, dass sie dich umbringt, wenn du mich auch nur anrührst«, erwiderte Arri. Ihre Gedanken rasten noch immer. Sie spürte, nein, sie konnte sehen, wie es hinter Rahns Stirn arbeitete, und ihr war klar, dass sie dieses Spiel nicht endlos weiter treiben konnte. Ihre Worte hatten ihn wütend gemacht, aber auch verunsichert, und sie musste die Gelegenheit ausnutzen.
»Wenn du mich gehen lässt, sage ich nichts. Das verspreche ich. Aber wenn nicht....« Sie ließ den Satz absichtlich unbeendet, und vielleicht war das das Falscheste, was sie hatte tun können. Rahn war kein Mann, den man mit unausgesprochenen Drohungen beeindrucken konnte. Das Einzige, was sie damit erreichte, war, ihn wütend zu machen. Sie konnte regelrecht mit ansehen, wie seine Unsicherheit erneut blanker Wut wich.
»Du verdammtes, kleines Biest! Du glaubst wirklich, mich erpressen zu können? Damit?«
»Ich gehe jetzt«, erwiderte Arri ungerührt. »Wenn du mich aufhalten willst, versuch es ruhig. Selbst wenn du es schaffst, wird sich meine Mutter ihren Teil dabei denken, wenn sie zurückkommt und ich grün und blau geschlagen bin.«
»Das ist eine ausgezeichnete Idee«, sagte Rahn und stürzte sich auf sie.
Arri hatte gehofft, dass es nicht so weit käme, es aber vorausgesehen. Ihr Bein schmerzte noch immer, und ihre zumindest angebrochene Rippe quittierte jeden Atemzug mit einem dünnen Nadelstich, der sich tief in ihre Brust bohrte, aber sie erwartete ihn trotzdem ruhig und diesmal mit besonnener Überlegung. Sie wusste jetzt, was sie vorhin falsch gemacht hatte. Sie hatte sich hinreißen und Wut und Panik ihre Bewegungen bestimmen lassen, statt kühl zu überlegen, wie es ihre Mutter ihr immer und immer wieder gepredigt hatte. Noch einmal würde sie denselben Fehler nicht machen. Als Rahn heranstürmte, täuschte sie eine Bewegung nach rechts an und wich dann blitzschnell in die entgegengesetzte Richtung aus, und er fiel tatsächlich darauf herein und stolperte einen halben Schritt an ihr vorbei. Diesmal reagierte Arri richtig. Rasch streckte sie das Bein aus, damit er darüber stolperte, und riss gleichzeitig den rechten Arm in die Höhe, um ihm den Ellbogen in den Nacken zu schmettern, sobald er an ihr vorbei war.
Rahn stolperte nicht an ihr vorbei. Er fiel auch nicht. Statt dass ihr ausgestrecktes Bein ihn aus dem Gleichgewicht brachte, schmetterte sein Schienbein ihren Unterschenkel mit solcher Wucht zur Seite, dass Arri nicht nur einen keuchenden Schmerzensschrei ausstieß, sondern auch das Gleichgewicht verlor und zum zweiten Mal und noch härter zu Boden fiel.
Was sie rettete, das war vielleicht nur der Umstand, dass ihr Tritt Rahn zumindest aus dem Takt brachte. Er stolperte ungeschickt und mit beiden Armen rudernd ein halbes Dutzend Schritte weit und fand nur mit Mühe sein Gleichgewicht zurück, sodass Arri Zeit genug blieb, ihre Benommenheit abzuschütteln und sich zumindest herumzuwälzen. Als Rahn sich gefangen hatte und wieder heranstürmte, warf sie sich zur Seite und entging mit knapper Not einem stampfenden Fußtritt, der nach ihrem Gesicht gezielt und so hart gewesen war, dass er sie vermutlich umgebracht hätte. Ganz instinktiv griff sie nach seinem Knöchel und versuchte, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Genauso gut hätte sie auch versuchen können, eine der seit Urzeiten im Wald stehenden Eichen mit bloßen Händen zu entwurzeln.
Rahn schnaubte nur wütend, riss sein Bein los und trat abermals nach ihr. Sein Fuß streifte ihre Wange nur, aber selbst das reichte schon aus, um sie an den Rand der Bewusstlosigkeit zu treiben. Er aber hopste albern auf einem Bein neben ihr herum - anscheinend hatte sie ihn doch aus dem Gleichgewicht gebracht - und fing sich dann wieder, aber die winzige Atempause hatte ihr gereicht. Zwar unsicher und halb blind, aber doch sehr schnell kam sie auf die Füße und wich rasch zwei, drei Schritte vor Rahn zurück. Alles drehte sich um sie. Rahns Gestalt verschwamm immer wieder vor ihren Augen, und es schien keine Stelle an ihrem Körper zu geben, die nicht wehtat.
»Jetzt nimm endlich Vernunft an, du dumme Göre!«, keuchte Rahn. »Hör mit diesem Unsinn auf, und ich verspreche dir, dass deine Mutter nichts davon erfährt.«
Arri trat nach ihm. Rahn stieß ihr Bein mit solcher Wucht zur Seite, dass sie beinahe schon wieder gestürzt wäre, machte einen Schritt auf sie zu, und Arri überließ endlich ihren Instinkten die Kontrolle über ihre Bewegung und empfing ihn mit einer schnellen und sehr präzise gezielten Schlagkombination: Ihr linker Handballen knallte hart in seine Rippen unmittelbar unter dem Herzen, die versteiften Finger ihrer Rechten stachen wie ein Dolch nach seiner Kehle. Sie traf.
Rahn tat ihr immerhin den Gefallen, ein schmerzerfülltes Grunzen von sich zu geben. Das war aber auch schon alles.
Das Nächste, was sie spürte, war eine regelrechte Explosion von dumpfem Schmerz, als sich seine Faust in ihren Leib bohrte. Sie brach in die Knie. Der Schrei, der über ihre Lippen wollte, wurde zu einem pfeifenden Laut, mit dem die Luft aus ihren Lungen wich. Ihr wurde so übel, dass sie fest davon überzeugt war, sich im nächsten Moment übergeben zu müssen. Rahns Hand krallte sich in ihr Haar, und mit einem brutalen Ruck riss er ihren Kopf zurück. Seine Faust ballte sich vor ihrem Gesicht und holte aus, und Arri hob schwächlich die Arme, um seinen Hieb abzuwehren, der nicht abzuwehren war.
Statt ihr jedoch das Gesicht zu Brei zu schlagen, versetzte Rahn ihr nur einen Stoß, der sie endgültig nach hinten und auf den Rücken schleuderte. Wieder drohte sich eine verlockende, allumfassende Schwärze um ihre Gedanken zu legen, eine Dunkelheit, an der nichts Erschreckendes war, sondern im Gegenteil ein verführerisches Versprechen von Ruhe... und Erlösung von Schmerz und Angst; vor allem Angst. Sie war nicht sicher, ob sie noch einmal erwachen würde, wenn sie dieser Verlockung nachgab. Mit aller Willenskraft zwang sie sich, die Augen zu öffnen, und stellte mit einem Gefühl leiser Überraschung fest, dass sie nicht nur auf dem Rücken lag, sondern Rahn dergestalt auf ihr saß, dass seine Knie ihre Arme gegen den Boden pressten und seine Beine ihren Leib blockierten.
»Du verdammtes kleines Miststück!«, zischte er. »Ich sollte dich windelweich prügeln, du Biest!« In seinen Augen loderte eine Wut, die er offensichtlich kaum noch beherrschen konnte. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt.
»Schlag doch... zu«, antwortete Arri keuchend. »Aber dann bringst du mich besser gleich um. Sonst... macht meine Mutter nämlich dasselbe mit dir.«
Vielleicht war das die falsche Antwort, denn plötzlich war da etwas in seinem Blick, was sie bisher trotz allem noch nie darin gesehen hatte und was sie zutiefst erschreckte. Noch einmal ballte er die Hand zu einer schrecklich großen, verheerenden Faust, aber dann ließ er den Arm plötzlich wieder sinken, und nur einen Augenblick später stand er mit einem Ruck auf. Arri biss die Zähne zusammen, als sich seine Knie dabei grausam hart in ihren Oberarm bohrten, aber einen kleinen wimmernden Laut konnte sie trotzdem nicht unterdrücken.
Rahns Mitleid hielt sich anscheinend in Grenzen, denn er sah noch einen Augenblick lang verächtlich auf sie herab, dann beugte er sich vor, griff nach ihrem Handgelenk und zerrte sie grob, fast schon brutal, am Arm in die Höhe.
»Nimmst du jetzt endlich Vernunft an?«, fragte er.
»Du kannst mich tot schlagen oder mich gehen lassen«, antwortete Arri lahm. »Aber irgendetwas musst du jetzt tun.«
»Ich weiß nicht, was du bist«, sagte Rahn mit bebender Stimme, »besonders dumm oder besonders dreist. Aber eines bist du ganz bestimmt - die Tochter deiner Mutter. Weißt du eigentlich, wie ähnlich du ihr bist?« Er machte eine zornige Handbewegung, als sie antworten wollte oder er zumindest das Gefühl hatte. »Mit einem Unterschied allerdings: Du bist nicht annähernd so klug wie sie.«
Arri hatte Mühe, seine Worte überhaupt zu verstehen. Ihre Knie zitterten immer stärker, und das Rauschen des Blutes in ihren Ohren schien jeden anderen Laut einfach hinwegzufegen.
Und trotzdem: »Schlag mich tot oder lass mich gehen«, nuschelte sie. Deutlich reden konnte sie nicht mehr. »Ich werde... nach meiner Mutter suchen. Du weißt, was sie dir... was dir passiert, wenn ich ihr... die Wahrheit sage.«
»Welche Wahrheit?«, fragte Rahn verächtlich.
»Sie wird mir glauben«, behauptete Arri. »Und Achk wird meine Geschichte bestätigen.«
»Dieser verrückte blinde alte Mann?«, fragte Rahn verächtlich. Er lachte.
»Verrückt und blind vielleicht«, erwiderte Arri. Sie atmete hörbar ein, fuhr sich unsicher mit dem Handrücken über den Mund und holte noch einmal tief Luft, bevor sie fortfuhr: »Aber nicht taub. Er hat alles gehört.«
Rahn setzte zu einer Entgegnung an, aber dann zog er nur eine wütende Grimasse, schwieg eine geraume Weile und sagte schließlich: »Gut ausgedacht, das muss ich zugeben. Aber Achk ist ein alter Mann. Ein ziemlich kranker alter Mann, der noch dazu blind und halb verrückt ist. Ihm könnte ein Unglück zustoßen, bevor deine Mutter zurück ist, weißt du?«
»Das wagst du nicht«, nuschelte Arri. Sie hatte immer größere Mühe zu sprechen. Sie konnte spüren, wie ihr Gesicht anschwoll, und als sie sich mit dem Unterarm über die Lippen fuhr, blieb ein schmieriger, rotbrauner Streifen auf ihrer Haut zurück. »Wenn du ihn umbringst, kannst du mich genauso gut auch gleich selbst töten.«
Rahn riss die Hand in die Höhe, um sie zu schlagen, aber dann ergriff er sie stattdessen nur grob bei den Armen. Er packte so fest zu, dass sie schon wieder vor Schmerz keuchte, und schüttelte sie ein paar Mal. Ihr Kopf flog haltlos in den Nacken, und ihre Zähne schlugen so fest aufeinander, dass sie Blut schmeckte. »Sarn und die anderen haben Recht, weißt du?« Seine Stimme bebte vor Wut. »Du bist wirklich die Tochter deiner Mutter! Sie kann stolz auf dich sein!«
Einen Moment lang funkelte er sie an, erfüllt von einer so bodenlosen Wut, dass Arri fast körperlich spüren konnte, wie schwer es ihm fiel, nicht einfach so lange auf sie einzuschlagen, bis sie sich nicht mehr rührte, dann aber ließ seine Linke plötzlich ihren Arm los und grabschte ihr mit solcher Kraft zwischen die Beine, dass sie ein klägliches Wimmern ausstieß. Arri wand sich in seinem Griff und versuchte sich loszureißen, aber es war sinnlos.
»Wenn ich schon für etwas bezahlen soll, was ich nicht getan habe, dann kann ich es mir doch eigentlich auch nehmen, oder?«, zischte er hasserfüllt. Sein Gesicht war jetzt so nahe vor dem Arris, dass sie seinen Atem spüren konnte. Er roch schlecht und ging fast so schnell wie ihr eigener. »Vielleicht ist es ja das, was du brauchst! Du glaubst, du wärst alt genug, um mit Erwachsenen deine Spielchen spielen zu können, du dumme Göre? Meinetwegen, aber dann musst du auch darauf gefasst sein, wie eine Erwachsene behandelt zu werden!«
Er griff noch fester zu. Seine Finger wollten für einen Moment durch den Stoff ihres Rockes in sie eindringen, und es tat weh, so sehr, dass Arri sich krümmte und mit der freien Hand nach ihm schlug. Rahn grunzte vor Schmerz, als ihre Fingernägel seine Wange zerkratzten, und versetzte ihr einen Stoß, der sie ein paar Schritte weit zurücktaumeln ließ.
»Verschwinde bloß!«, sagte er. »Lauf doch zu deiner verdammten Mutter! Vielleicht fressen euch ja beide die Wölfe!« Und damit fuhr er auf dem Absatz herum und stampfte wütend davon.
Arri sank wimmernd auf die Knie. Noch immer drehte sich alles um sie. Rahns Griff war so brutal gewesen, dass sie seine Hände noch immer schmerzhaft auf ihrem Körper zu spüren glaubte. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Ihr Herz pochte, als wollte es aus ihrer Brust springen, und sie fühlte sich so elend wie selten zuvor in ihrem Leben. Sie hatte alles falsch gemacht. Sie war sich so schlau vorgekommen, mit ihrem genialen Plan, dabei hatte nur eine Winzigkeit gefehlt, und sie hätte sich selbst um Kopf und Kragen gebracht. Rahn hatte Recht: Sie war sicherlich kein Kind mehr, aber sie hatte sich eindeutig wie eines benommen. Was sie getan hatte, war dumm, dumm, dumm gewesen.
Und so ganz nebenbei hatte sie ihr Ziel erreicht.
Es dauerte eine ganze Weile, bis diese Erkenntnis in ihre Gedanken sickerte. Es war riskant gewesen, aber am Ende hatte sie Erfolg gehabt. Oder vielleicht auch einfach nur Glück. Sie blieb noch eine Zeit lang auf den Knien hocken und wartete ab, bis die Dämmerung mit ganzer Kraft hereingebrochen war und auch aus dem Schwarz zwischen den Bäumen ein allmählich lichter werdendes Grau wurde, dann stemmte sie sich mühsam hoch und humpelte los, um nach der Spur ihrer Mutter zu suchen.