25

Dragosz war fort, als sie am nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang erwachte. Arri hatte nicht besonders gut geschlafen; sie klapperte vor Kälte mit den Zähnen. Irgendwie musste sich das nasse Gras, auf dem sie sich ausgestreckt hatte, im Laufe der Nacht in hartes Felsgestein verwandelt haben, denn ihr tat jeder einzelne Knochen weh. Außerdem hatte sie entsetzlichen Durst. Noch bevor sie die Augen öffnete, spürte sie, dass ihre Mutter nicht mehr neben ihr lag, und als sie es dann tat, sah sie, dass der Himmel über ihr noch schwarz war. Die Luft roch nach Schnee, obwohl es dafür eindeutig zu früh war, und die Wolken, die den Mond und den Großteil der Sterne verschlungen hatten, schienen so tief zu hängen, dass sie sicher war, sie mit dem ausgestreckten Arm berühren zu können. Allerdings war sie nicht sicher, ob sie auch die Kraft aufbringen würde, den Arm auszustrecken. Jeder einzelne Muskel in ihrem Körper schien verkrampft zu sein, aber vielleicht war sie auch einfach zu Eis gefroren.

Umständlich und sorgsam darauf bedacht, den doppelten Umhang, in den sie sich gewickelt hatte, ja nicht herunterrutschen zu lassen, weil sie dann vermutlich wirklich erfroren wäre, setzte sie sich auf, zog in derselben Bewegung die Knie an den Leib und lehnte sich mit Schultern und Rücken an den rauen Stamm des Baumes, unter dessen weit ausladender Krone Lea ihr Nachtlager aufgeschlagen hatte. Erst dann drehte sie den Kopf nach links und rechts, um nach ihrer Mutter Ausschau zu halten. Sie sah sie nicht, aber irgendetwas stimmte nicht. Arri war immer noch zu benommen und schlaftrunken, um dem Gedanken sofort nachgehen zu können, aber sie spürte immerhin, dass mit dem Bild, das sich ihr bot, irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte. Es verging eine geraume Zeit, während der sie vergeblich versuchte, ihre Gedanken zu einer etwas schnelleren Gangart zu bewegen, aber schließlich wurde es ihr doch klar: Der Wagen war nicht mehr da.

Im allerersten Moment erschrak sie. Dann erinnerte sie sich an das, was ihre Mutter am vergangenen Abend zu Dragosz gesagt hatte - dass er den Wagen nehmen und damit zu seinen Leuten fahren sollte, während sie selbst und Arri die restliche Strecke bis zum Dorf zu Fuß zurücklegen würden. Anscheinend hatte Dragosz seine Pläne geändert und war schon während der Nacht losgefahren.

Das Erste, was Arri dazu einfiel, war eine Mischung aus Enttäuschung und Schrecken, als sie an den mühsamen Fußmarsch dachte, der nun vor ihnen lag, zuerst durch den verbotenen Wald und bis zur Lichtung, und dann noch einmal gut dieselbe Entfernung, auch wenn die zweite Hälfte des Weges nicht ganz so anstrengend werden würde. Dann, so plötzlich, dass sie tatsächlich erschrocken zusammenfuhr, kam ihr der verrückte Gedanke, dass ihre Mutter Dragosz möglicherweise begleitet und sie ganz allein hier zurückgelassen hatte. Vielleicht hatte Lea sie und Dragosz gestern Abend nicht nur beobachtet und belauscht, sondern ihre Zauberkräfte benutzt, um Arris Gedanken und Gefühle zu lesen, und wusste nun, dass ihre Tochter weit mehr als bloße Zuneigung für den Mann empfand, der doch ihr gehörte; was lag da näher, als sie einfach hier zurückzulassen?

Natürlich war dieser Gedanke vollkommener Unsinn, das begriff Arri im gleichen Moment, in dem sie ihn dachte, aber das nur zu wissen half gar nichts. Es nahm ihm weder etwas von seinem Schrecken, noch hinderte es Arris Herz daran, plötzlich wie wild loszuhämmern. Sie stand mit einem Ruck auf und bemerkte kaum, wie der Umhang nun doch von ihren Schultern glitt und die Kälte erbarmungslos durch die Bluse biss, die sie darunter trug. Hastig machte sie einen Schritt in die Richtung, in der der Wagen gestanden hatte, blieb mit klopfendem Herzen wieder stehen und fuhr dann noch heftiger und jetzt eindeutig erschrocken zusammen, als hinter ihr das Rascheln von trockenem Laub erklang. Arri konnte gerade noch einen Schrei unterdrücken, als sie die schattenhafte Gestalt erblickte, die hinter ihr aus dem Wald heraustrat.

»Arianrhod?«

Der Schrecken erlosch, aber ihr Herz hämmerte beinahe noch schneller, und für einen Moment kam sich Arri tatsächlich so kindisch und dumm vor, wie sie sich benommen hatte. Die Gestalt war niemand anderes als ihre Mutter.

»Was ist mit dir?«, fragte Lea. Sie kam näher und wurde von einem bloßen Schemen zu einem menschlichen Wesen, und obwohl Arri sie gegen den völlig schwarzen Hintergrund des Waldes nur undeutlich erkennen konnte, sah sie doch, dass sie die Hand auf den Schwertgriff gelegt hatte und ihr Blick misstrauisch die schwarz daliegende Ebene hinter ihr absuchte.

»Nichts«, meinte Arri hastig und in einem Ton, der das genaue Gegenteil besagte. »Ich... ich dachte nur...«

Sie verstummte abermals. Ihre Mutter sah sie abschätzend an, dann nahm sie die Hand vom Schwert und kam näher. »Ich verstehe. Es ist alles in Ordnung. Dragosz ist schon abgefahren, und wir wollten dich nicht wecken. Fühlst du dich gut?«

»Nein«, antwortete Arri wahrheitsgemäß. Sie konnte sich nicht erinnern, sich jemals schlechter gefühlt zu haben. Der Schlaf, der hinter ihr lag, hatte ihr nicht geholfen, sich zu erholen, sondern schien sie ganz im Gegenteil Kraft gekostet zu haben. Sie fror noch immer erbärmlich, und ihre rechte Hand klopfte und pochte unter dem Verband, als hätte sie sich in einen Beutel voller Ameisen verwandelt, die mit aller Gewalt aus ihrem Gefängnis auszubrechen versuchten.

»Gut«, sagte Lea. »Dann können wir ja aufbrechen. Es sei denn, du hast gerade etwas Wichtigeres vor.«

Arri hatte das Gefühl, dass sie jetzt eigentlich wütend werden sollte - aber dann zuckte sie nur mit den Achseln. Ihre Mutter hatte ja Recht. Sie hatte tatsächlich nichts Wichtigeres vor, und auch wenn sie den Himmel über der dichten Wolkendecke kaum erkennen konnte, so spürte sie doch, dass es nicht mehr lange bis zum Einbruch der Dämmerung war. Schlaf würde sie sowieso nicht mehr finden (und wenn, dann wäre es höchstens die Art von Schlaf, die gerade hinter ihr lag und auf die sie getrost verzichten konnte) und solange sie sich bewegten, war die Kälte vermutlich besser zu ertragen.

Trotzdem drehte sie sich noch einmal um und sah dorthin zurück, wo der Wagen gestanden hatte. Es war so dunkel, dass sie ihn möglicherweise nicht einmal gesehen hätte, selbst wenn er noch da gewesen wäre, und die Schwärze dahinter hätte ebenso gut das Ende der Welt bedeuten können. Auf der anderen Seite hatte sie zeit ihres Lebens gelernt, sozusagen mit einem offenen Auge und einem offenen Ohr zu schlafen, und der schwerfällige, von zwei Pferden gezogene vierrädrige Karren bewegte sich alles andere als leise. Eigentlich hätte sie spätestens von dem Geräusch aufwachen müssen, mit dem er losgefahren war.

»Wenn du irgendjemandem Vorwürfe machen willst, dann mir«, sagte ihre Mutter, und wieder war es Arri, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. War sie tatsächlich so leicht zu durchschauen? »Dragosz wollte sich von dir verabschieden. Ich musste ihn fast mit Gewalt davon abhalten, dich zu wecken.«

»Warum?«, fragte Arri.

»Er ist schon vor einer ganze Weile losgefahren«, antwortete Lea. Bildete sie es sich nur ein, oder wurde ihre Stimme plötzlich kühler? »Du hattest den Schlaf dringender nötig als ein paar Abschiedsworte. Und es ist ja nicht für lange. In spätestens vier oder fünf Tagen ist er zurück, und dann begleiten wir ihn.« Sie machte plötzlich eine ungeduldige Geste. »Komm jetzt. Wenn wir uns beeilen, sind wir zu Hause, bevor es richtig hell geworden ist.«

Allein bei dem Wort beeilen lief Arri schon wieder ein kalter Schauer über den Rücken. Abgesehen von ihrer rechten Hand hatte sie keine wirklichen Schmerzen, aber ihr ganzer Körper fühlte sich völlig verhärtet an, und allein die Vorstellung, mehr als drei aufeinander folgende Schritte zu tun, erschien ihr geradezu unvorstellbar. Sie rührte sich nicht von der Stelle.

»Gibt es noch irgendetwas?«, fragte Lea.

»Nein. Ich hätte mich nur... gern von Dragosz verabschiedet, das ist alles.«

»Warum?« In Leas Stimme war eine neue Schärfe, die Arri zur Vorsicht gemahnte. »Einfach so«, antwortete sie. »Ich dachte nur, dass... immerhin ist er schwer verletzt worden, weil er uns beschützen wollte.«

»Wie rührend«, sagte Lea spöttisch. »Aber in ein paar Tagen siehst du ihn ja schon wieder. Warte hier.«

Arri hatte nicht vorgehabt, irgendwo hinzugehen, ganz im Gegenteil erschien ihr der Gedanke, sich einfach wieder ins Gras sinken zu lassen und die Augen zu schließen, mit einem Mal verlockender als alles andere. Ein wenig ratlos stand sie da, während ihre Mutter aufs Neue mit den Schatten verschmolz und dann abermals so plötzlich und lautlos wie ein Gespenst wieder auftauchte, um ihr einen aus Lederflicken zusammengenähten Beutel hinzuhalten. Es schwappte hörbar, als Arri danach griff.

»Trink«, sagte Lea. »Du musst durstig sein.«

Eigentlich verspürte sie viel größeren Hunger als Durst, aber das änderte sich, kaum dass die ersten Tropfen ihre Lippen benetzt hatten. Als fache das Wasser ihren Durst viel mehr an, anstatt ihn zu löschen, fühlte sich ihre Kehle plötzlich wie ausgedörrt an, und Arri trank den Beutel mit großen, gierigen Schlucken fast zur Hälfte leer und hätte wohl auch noch die andere Hälfte heruntergestürzt, hätte ihre Mutter ihn ihr nicht mit sanfter Gewalt wieder weggenommen.

»Nicht so gierig«, warnte sie. »Du kannst trinken, so viel du willst, aber nicht so schnell.«

Eine plötzliche, kaum noch zu beherrschende Wut flammte in Arri auf, und beinahe hätte sie ihrer Mutter den Schlauch aus der Hand gerissen und sie angeschrien, dann aber schämte sie sich dieses Gefühls, zumal sie fast sicher war, dass Lea es deutlich auf ihrem Gesicht erkennen konnte. Sie hatte ja Recht. Wenn sie zu schnell und zu gierig trank, dann würde ihr allerhöchstem übel werden, und sie würde Lea noch mehr zur Last fallen, als sie es ohnehin schon tat.

»Also los«, sagte ihre Mutter, »gehen wir.«

Arri widersetzte sich nicht, sondern folgte ihrer Mutter. Das Gehen bereitete ihr weitaus weniger Schwierigkeiten, als sie erwartet hatte. Die ersten Schritte waren pure Qual, gegen die jede Faser ihres Körpers aufzubegehren schien, aber schon bald ebbten die Schmerzen ab, und sie waren kaum zehn oder fünfzehn Schritte weit in den Wald vorgedrungen, da war alles bis auf das quälende Pochen in ihrer rechten Hand auf ein halbwegs erträgliches Maß herabgesunken. Arri schöpfte allmählich Hoffnung, dass ihre Kräfte vielleicht doch ausreichen würden, um das heimatliche Dorf zu erreichen, zumal ihre Mutter zwar ein alles andere als gemäßigtes Tempo einschlug, dennoch aber Rücksicht auf sie nahm und weitaus weniger schnell ausschritt, als sie gekonnt hätte. Vielleicht lag es auch daran, dass es hier, im Innern des Waldes, so dunkel wie in einer Höhle war.

Schon bei Tage war es in diesem Teil des Waldes niemals heller als während der Dämmerung, doch jetzt, in dieser noch dazu Sternen- und mondlosen Nacht, konnten sie nicht die Hand vor Augen sehen. Arri achtete streng darauf, niemals weiter als einen Schritt hinter ihrer Mutter zurückzufallen, und selbst so erkannte sie sie lediglich als Schemen, der sich nicht wirklich von seiner Umgebung abhob, sondern sich einzig durch seine Bewegung verriet. Dennoch hörte sie allerhöchstem zwei- oder dreimal, wie ihre Mutter gegen ein unerwartetes Hindernis prallte oder einen Fehltritt tat. Lea musste über das Sehvermögen einer Eule verfügen oder schlichtweg jeden Fußbreit Boden in diesem Wald kennen. Arri beneidete sie nicht darum, denn schon das Wenige, was sie von diesem unheimlichen Ort gesehen hatte, hatte ausgereicht, ihre Neugier auf den Rest ein für alle Mal zu stillen, aber sie war auch zugleich sehr froh, dass es so war. Allein wäre sie hier verloren gewesen.

Dennoch schien der Weg kein Ende zu nehmen. Ein- oder zweimal glaubte Arri sogar zu wissen, wo sie waren, wenn ihre Mutter einen besonders auffälligen Bogen schlug, der Boden unter ihnen auf eine bestimmte Art federte oder sie den ureigenen Geruch eines bestimmten Krautes, einer ganz besonderen Pflanze wahrnahm, aber jedes Mal war es gleich darauf so, als hätte sie die Orientierung noch gründlicher verloren. Was, flüsterte eine dünne, aber beharrliche Stimme irgendwo hinter ihren Gedanken, wenn Lea ihre Sicherheit nur spielte, um sie nicht zu beunruhigen, und sie sich in Wahrheit längst verirrt hatten und tiefer und tiefer in diesen verbotenen und ebenso geheimnisvollen wie gefährlichen Wald hineinliefen?

Vielleicht war ja das, was Sarn und die anderen Dorfbewohner sich über diesen Wald erzählten, gar nicht so falsch. Vielleicht war es nicht nur abergläubischer Unsinn, wie ihre Mutter sie glauben machen wollte, sondern die düsteren Geschichten hatten einen Kern, und hier drinnen lebte Etwas, das dafür verantwortlich war, dass so viele, die in diesen Wald hineingegangen waren, ihn nie wieder verlassen hatten. Hatte nicht ihre Mutter selbst ihr erzählt, dass in den allermeisten Geschichten - und wenn sie auch noch so phantastisch klangen - zumindest ein Fünkchen Wahrheit steckte? Und - viel schlimmer! - hatte sie nicht in den letzten Tagen mehr als einmal erlebt, dass ihre Mutter nicht so unfehlbar und allwissend war, wie sie zuvor geglaubt hatte?

Irgendwie gelang es Arri, die flüsternde Stimme, wenn schon nicht zum Verstummen zu bringen, so doch so weit zurückzudrängen, dass sie ihre Gedanken mit ihrem Gift nicht vollends durchdringen konnte. Sie tat ihrer Mutter Unrecht. Lea war möglicherweise nicht die allwissende und unüberwindliche Beschützerin, als die sie sie zeit ihres Lebens gesehen hatte, aber sie war dennoch eine sehr kluge Frau, und vor allem war sie in diesen Wäldern zu Hause und kannte vermutlich jeden Fußbreit Boden ebenso gut wie das Stück Land vor ihrem Haus.

Dennoch atmete Arri hörbar erleichtert auf, als es weit vor ihnen endlich grau zu werden begann. Die vollkommene Schwärze verwandelte sich in ein Muster aus dunklen Umrissen, die allesamt etwas Bedrohliches zu haben schienen, wie eine Parade der unglaublichsten Ungeheuer, die mitten in der Bewegung erstarrt waren und nur darauf warteten, von einem unvorsichtigen Laut, einer versehentlichen Berührung, geweckt zu werden. Einmal streifte tatsächlich etwas ihr Bein, etwas Lebendiges und Warmes, das lautlos, aber blitzschnell davonhuschte, und Arri konnte gerade noch einen erschrockenen Aufschrei unterdrücken, und kurz, bevor sie den Rand des Waldes erreichten, tat ihre Mutter vor ihr einen Fehltritt und versank fast bis ans Knie in dem Sumpf, der plötzlich dort war, wo sie festen Boden erwartet hatte. Gedankenschnell warf sie sich zurück, fand mit der linken Hand Halt an einem Baumstamm und befreite sich aus eigener Kraft aus der Falle, in die sie hineingetappt war, aber der saugende Laut, der dabei entstand, jagte Arri einen eisigen Schauer über den Rücken.

Es war nur das Gluckern des Sumpfes, das tückisch unter der vermeintlich festen Oberfläche lauerte, doch für Arri hörte es sich in diesem Moment an wie das Seufzen von etwas Lebendigem, das zornig darüber war, sich seiner schon fast sicher geglaubten Beute beraubt zu sehen. Einen respektvollen Bogen um die betreffende Stelle schlagend und langsamer als bisher, ging ihre Mutter weiter, und Arri folgte ihr in noch geringerem Abstand, obwohl sie jetzt aufpassen musste, ihr nicht in die Fersen zu treten. Zwei- oder dreimal geschah das sogar, aber Lea enthielt sich jeder Bemerkung, obwohl sie ihrer Tochter eine solche Ungeschicklichkeit sonst niemals hätte durchgehen lassen.

Sie atmeten beide erleichtert auf, als sie endlich den Waldrand erreichten und die weite Lichtung der kleinen Felsengruppe vor ihnen lag. Es war immer noch nicht wirklich hell geworden, und Mond und Sterne waren ebenso wenig zu sehen wie vorhin, aber die dicht geschlossene Wolkendecke hoch über ihnen hatte sich jetzt grau gefärbt, nicht mehr schwarz, und in dem Durcheinander aus Schatten und verschwommenen Umrissen, das sie umgab, erschienen die ersten, angedeuteten Farben. Es begann schon zu dämmern. Sie rasteten bei den Felsen, neben denen der Bach wie selbstvergessen vor sich hinplätscherte. Arri ließ sich auf die Knie nieder, um von dem eiskalten Wasser zu trinken, und lehnte sich dann mit dem Rücken gegen einen moosbewachsenen Stein, um ein bisschen zu verschnaufen. Aber ihre Mutter gönnte ihr keine längere Rast, ganz im Gegenteil; sie scheuchte sie wieder hoch und ging schneller weiter als zuvor.

Arri hatte erwartet, dass die zweite Hälfte des Weges weit weniger anstrengend werden würde als die erste, aber das war ein Irrtum. Der Weg war nicht nur ebenso anstrengend, sondern auch deutlich länger, und so verrückt es ihr auch selbst vorkam, war es doch beinahe schlimmer zu sehen, wohin sie ging, statt in vollkommener Dunkelheit hinter ihrer Mutter herstolpern zu müssen. Als sie sich endlich dem jenseitigen Rand des Waldes und damit ihrer Hütte näherten, war Arri am Ende ihrer Kräfte angelangt. Es war mittlerweile vollends Tag geworden. Selbst hier unten, im Wald, war es hell, und das klare, goldfarbene Sonnenlicht, das durch das dünner werdende Blätterdach fiel, ließ sie eine Wärme erwarten, die es erst in vielen Mondwenden wieder geben würde. Ganz im Gegenteil war es noch immer so kalt, dass ihr Atem vor ihrem Gesicht dampfte und das trockene Laub unter ihren Schritten mit einem Geräusch wie dünnes Eis brach. Trotz der zwei Umhänge, die Arri noch immer trug, war die Kälte längst bis in ihre Knochen vorgedrungen, und obwohl sie selbst wusste, wie albern diese Vorstellung war, glaubte sie ein paar Mal doch selbst, ihre eigenen Knochen knirschen zu hören.

Taumelnd vor Erschöpfung trat sie hinter Lea aus dem Wald und biss die Zähne zusammen, um Kraft für das letzte Stück Weg zu sammeln, auch wenn allein der Gedanke an die Stiege, die am Ende dieser Strecke auf sie wartete, ihr wiederum ein lautloses Stöhnen entlockte. Aber Lea hob rasch die Hand und hielt sie zurück. »Warte«, sagte sie.

Arri war viel zu müde, um zu widersprechen. Selbst die kleine Anstrengung, den Kopf zu drehen und ihre Mutter fragend anzusehen, ging fast über ihre Kräfte. Sie war sogar zu müde, um Mitleid zu empfinden, obwohl Lea einen Anblick bot, der wahrlich bemitleidenswert war. Ihr Kleid war nicht nur durch zahllose Brandflecken verunstaltet, sondern auch überall eingerissen und verdreckt, und ihre Haut hatte den kränklichen Ton der feinen Asche, die Achk manchmal früher aus seinem Brennofen geholt hatte. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, und obwohl sie ganz still stand und sich mit höchster Konzentration umblickte, zitterte sie doch zugleich am ganzen Leib. Ihr Haar, das immer so glatt und glänzend wie ruhig daliegendes Wasser gewesen war, wirkte jetzt stumpf und strähnig, und ihre Lippen waren eingerissen und von Schorf bedeckt.

Ganz plötzlich begriff Arri, dass ihre Mutter vermutlich nicht nur in der letzten Nacht, sondern möglicherweise auch in den beiden vorhergehenden keinen Schlaf gefunden hatte und am Ende ihrer Kräfte angelangt war. Mit einem Mal schämte sie sich, sich selbst auf dem Weg hierher so bemitleidet zu haben. Was hatte sie schon zu beklagen, außer einer verbrannten Hand und ein paar geprellten Rippen?

»Worauf warten wir?«, fragte sie.

Ihre Mutter bedeutete ihr erneut mit einer raschen, unwilligen Bewegung, zu schweigen, und der Ausdruck müder Konzentration auf ihrem Gesicht nahm noch zu. Auch Arri sah sich aufmerksam um, konnte aber rein gar nichts Ungewöhnliches bemerken. Vom Dorf her wehten gedämpfte Laute herüber, doch weder auf dem Weg hinauf noch hier unten war irgendjemand zu sehen, was nicht weiter ungewöhnlich war. Auch wenn die Menschen im Dorf beizeiten aufzustehen pflegten, so war es doch noch früh. Die Sonne konnte erst vor kurzem ganz aufgegangen sein. Dennoch musste ihre Mutter irgendetwas Ungewöhnliches entdeckt haben, das erkannte Arri deutlich an ihrer Reaktion. Ihre Hand hatte sich wieder auf das Schwert gelegt, und sie wirkte angespannt.

»Mutter?«, murmelte Arri.

Lea blieb noch einen Moment lang in dieser aufmerksamen Haltung stehen, dann aber entspannte sie sich sichtlich, ließ die Schultern sinken und versuchte zumindest, beruhigend zu lächeln. »Nichts. Ich werde anscheinend langsam alt und fange schon an, Gespenster zu sehen.«

Wenn sie vielleicht glaubte, dass diese Worte Arri beruhigten, so irrte sie sich. Ganz im Gegenteil - auch Arri sah sich plötzlich beunruhigt um und glaubte überall Bewegungen, Geräusche und Schatten zu sehen, die nicht dorthin gehörten. Doch jedes Mal, wenn ihr Blick die entsprechende Stelle streifte, war da nichts. Wahrscheinlich erging es ihrer Mutter ganz genauso, dachte sie. Sie musste unendlich viel erschöpfter sein als sie, und ganz egal, wofür Arri sie auch hielt und was zu sein sie versuchte, letzten Endes war sie nur ein Mensch, dessen Kräfte Grenzen kannten.

Sie gingen weiter. Auf dem letzten Stück beschleunigte Lea ihre Schritte noch einmal unmerklich, sodass sie die Stiege vor ihr erreichte und bereits die Hälfte der Stufen überwunden hatte, bevor Arri auch nur einen Fuß auf die erste setzte, und sie beherrschte sich sogar und zog das Schwert erst dann halb aus dem Gürtel, als sie schon fast in der Hütte war und vermutlich der Meinung, dass Arri die Bewegung nicht sah.

Erschrocken blieb sie stehen und lauschte, zwei, drei, schließlich ein gutes halbes Dutzend schwerer Herzschläge lang. Aber aus der Hütte drang nicht das mindeste Geräusch. Kein Schrei, kein Kampflärm, keine Schritte. Auf zitternden Knien ging sie weiter, benutzte beide Hände, um den klirrenden Muschelvorhang zu teilen und einzutreten...

... und hielt wie erstarrt mitten in der Bewegung inne.

Lea stand nur zwei Schritte vor ihr. Sie hatte das Schwert halb aus dem Gürtel gezogen und den linken Arm seitlich ausgestreckt und sich zugleich mit weit gespreizten Beinen halb geduckt; eine Haltung, die Anspannung und Bereitschaft ausdrücken sollte, jetzt aber einfach nur müde wirkte. Und sie war nicht allein. Rahn saß auf der anderen Seite des Zimmers in dem hochlehnigen Korbstuhl, in dem ihre Mutter gewöhnlich Besuch empfing. Die Biberfelle vor den beiden Gucklöchern waren eingehängt, und es war nicht hell genug hier drinnen, um sein Gesicht erkennen zu können, doch Arri sah zumindest, dass er sich in herausfordernder Haltung in dem Korbstuhl flegelte, beide Arme betont besitzergreifend auf den breiten, an etlichen Stellen bereits gesplitterten Lehnen und das rechte Bein über das linke Knie geschlagen. Ein massiger Schatten lehnte griffbereit neben seiner rechten Hand an der Lehne; vielleicht ein Knüppel, vielleicht aber auch etwas Schlimmeres. Ihre Mutter hatte keine Gespenster gesehen.

»Was willst du hier?« Leas Stimme zitterte (ganz leicht, aber Arri war nicht sicher, dass es nur Zorn war. »Was fällt dir ein, in mein Haus einzudringen?«

»Ich habe auf dich gewartet«, antwortete Rahn. »Obwohl ich die Hoffnung schon beinahe aufgegeben hatte... du hast lange gebraucht. Das Jagd-Ernte-Fest hast du jedenfalls verpasst. Und damit auch die blutrünstigen Tieropfer, die Sarn diesmal mit ungewöhnlicher Inbrunst und Hingabe zelebriert hat, beinahe so, als seist du eines der Opfertiere, die er bei lebendigem Leib hat jämmerlich ausbluten lassen.«

»Ich frage dich nicht noch einmal: Was willst du hier?« Lea zog das Schwert langsam ganz aus der bronzeverstärkten Schlaufe an ihrem Gürtel und richtete sich wieder auf, und obwohl ihre Haltung jetzt nicht mehr annähend so sprungbereit und aggressiv war wie noch vor einem Atemzug, wirkte sie auf sonderbare Weise drohender.

Rahn schien aber nicht sonderlich beeindruckt, und ganz im Gegenteil lachte er leise, stemmte sich ächzend auf den Armlehnen des Stuhles hoch und ließ die Schultern dann wieder nach vorne fallen. »Aber Lea, das ist doch keine Art, einen alten Freund zu begrüßen. Eigentlich sollte ich dir jetzt böse sein. Immerhin habe ich die ganze Nacht hier gesessen und auf dich gewartet, und das, obwohl es im Dorf wohl kaum noch jemanden gibt, der gut auf dich zu sprechen ist, nachdem Sarn während des Opferritus die alten Götter über alle Maßen gepriesen hat - um dich dann ganz nebenbei voller Hass zu verfluchen.«

»Du hast...« Lea brach ab, legte den Kopf schräg und sah Rahn einen Herzschlag lang durchdringend an. »Was soll das heißen? Und was ist mit Sarn? Welche Lügen hat er über mich verbreitet?«

Rahn setzte zu einer Antwort an, die vermutlich noch spöttischer und herausfordernder ausgefallen wäre, dann aber erblickte er Arri, die einen Schritt hinter ihrer Mutter stehen geblieben war, und obwohl sie sein Gesicht noch immer nicht genau erkennen konnte, spürte sie, wie sich sein Blick verfinsterte.

»Ich hoffe, die Nacht ist dir nicht zu lang geworden, so ganz allein dort draußen im Wald«, sagte er böse. »Obwohl - so völlig allein warst du ja nicht, oder?«

»Was meinst du damit?«, erwiderte Lea, obwohl sie so gut wie Arri wissen musste, was Rahns Worte bedeuteten.

»Ich war dort«, antwortete der Fischer. »Ich habe dich gesehen. Dich und deine Tochter und diesen...« Er suchte nach Worten. »Diesen anderen.«

»Dort?«, vergewisserte sich Lea. »Was meinst du mit dort?«

Rahn seufzte tief. Er ließ sich wieder zurücksinken. Seine rechte Hand schloss sich um den Schatten, den er gegen die Lehne gelegt hatte - Arri sah jetzt, dass es ein Knüppel war, wenn auch einer, der eher den Umfang eines kleinen Baumstammes zu haben schien -, und sie hörte, wie er tief und irgendwie enttäuscht die Luft zwischen den Zähnen ausstieß. »Wahrscheinlich habe ich kein Recht, zornig zu sein. Schließlich hast du mir von Anfang an deutlich genug gesagt, dass du nicht mir gehörst. Ich wusste nur nicht, dass du deine Meinung so schnell änderst.« Sein Versuch, verächtlich zu klingen, misslang ebenso kläglich wie der Leas, einschüchternd zu wirken. »Aber was habe ich auch erwartet, von einer wie dir?«

Arri hätte es noch vor einem Atemzug nicht für möglich gehalten - aber ihre Mutter fuhr zusammen, und sie sah, wie hart sie diese Worte trafen. Aber wie konnte ein Mann wie Rahn jemanden wie ihre Mutter überhaupt verletzen? Ihre Stimme klang gepresst, als sie antwortete. »Was willst du hier?«

»Meinen Lohn«, antwortete Rahn. »Ich habe jetzt lange genug darauf gewartet.«

»Deinen Lohn?«, wiederholte Lea. »Wir hatten ausgemacht, dass du ihn im Frühjahr bekommst.«

»Wir hatten eine Menge ausgemacht«, antwortete Rahn. »Aber seither ist auch viel passiert. Gib mir jetzt, was mir zusteht.« Er stemmte sich abermals auf den Lehnen des Korbstuhls nach vorn, ließ die Schultern aber jetzt nicht sinken, sondern sah Lea herausfordernd an, und seine Hand schloss sich fester um das schlankere Ende des Knüppels, den er mitgebracht hatte. Arri fragte sich, ob er tatsächlich so dumm war, ihn benutzen zu wollen. Ihre Mutter schien sich dasselbe zu fragen, denn sie wirkte mit einem Mal wieder angespannt, aber nur für einen Moment; dann kam sie offensichtlich zu einem Schluss, denn sie schüttelte nur verächtlich den Kopf, rammte das Schwert mit solcher Wucht in den hölzernen Boden des Hauses, dass es zitternd neben ihr stecken blieb, und griff mit der frei gewordenen Hand in den Ausschnitt ihres Kleides, um einen winzigen Lederbeutel hervorzuziehen, den sie an einer Schnur um den Hals trug. Das wenige Licht, das durch die Ritzen der Läden hereindrang, spiegelte sich honigfarben auf der winzigen Perle, die sie aus dem Beutel auf ihre linke Handfläche schüttelte. »Diese eine jetzt, die andere im Frühjahr, wenn die Saat ausgebracht ist. So war es vereinbart.«

Sie streckte Rahn die Hand mit der Oraichalkos-Perle entgegen, aber der hünenhafte Fischer rührte keinen Finger, um danach zu greifen. »So war es ausgemacht, bevor Sarn das Dorf gegen dich aufgewiegelt hat. Das meine ich jedoch nicht.«

Aber was dann?, dachte Arri erschrocken. Sie versuchte den Blick ihrer Mutter aufzufangen, doch Lea starrte unverwandt Rahn an. Ihr Gesicht war unbewegt, doch sie konnte trotzdem sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Schließlich schürzte sie trotzig die Lippen und sagte, ohne Rahns Blick loszulassen: »Arianrhod, geh hinaus.« Gleichzeitig streifte sie den Ärmel von ihrer rechten Schulter und hob gleich darauf die andere Hand, um das Kleid auf der anderen Seite herunter und dann ganz abzustreifen, aber Rahn schüttelte rasch den Kopf und machte ein verächtliches Geräusch, und Lea erstarrte mitten in der Bewegung.

»Nein«, sagte er. »Das meine ich auch nicht. Ich mag nicht, was andere abgelegt haben.«

Lea sog scharf die Luft ein. »Meine Geduld ist bald erschöpft, Rahn. Was willst du von mir?«

»Was du mir versprochen hast«, erwiderte Rahn. Er beugte sich noch weiter vor, sodass Arri nun sein Gesicht erkennen konnte - sie war sicher, sie sollte es -, und sein Blick löste sich endlich von Leas Gesicht und tastete lüstern und anzüglich über das Arris, dann über ihre Gestalt. Nein, dachte sie, das konnte er nicht meinen. Das konnte ihre Mutter nicht meinen! »Es sei denn«, fuhr er fort, »deine Tochter ist wahrhaftig deine Tochter und hat dir erzählt...«

»Arianrhod hat mir erzählt, was passiert ist«, unterbrach ihn Lea kühl. »Sie hat mir die Wahrheit erzählt. Es tut ihr Leid. Was sie getan hat, war dumm, und ich entschuldige mich an ihrer Stelle dafür. Ich trage dir nichts nach.«

Rahns Augen wurden groß. »Du trägst mir...«, ächzte er.

»Arri hat mir gebeichtet, was sie getan hat«, sagte Lea noch einmal. »Ich hoffe, du kannst ihr verzeihen. Sie ist noch ein Kind und wusste nicht, was sie tut.«

Rahn starrte sie nur weiter ebenso finster wie fassungslos an. Und auch Arri hatte alle Mühe, den Worten ihrer Mutter überhaupt folgen zu können. Ihre Gedanken überschlugen sich. Was hatte Rahn nur gemeint?

»Du solltest besser keine Spielchen mit mir spielen, Lea«, sagte er. »Dazu habe ich zu lange auf dich gewartet.«

»Ich hoffe, die Zeit ist dir nicht lang geworden«, sagte sie böse.

»Eigentlich schon«, antwortete Rahn. »Es ist ziemlich einsam dort draußen.«

Leas Augen wurden schmal. Sie schwieg.

»Was... was hat er damit gemeint?«, fragte Arri krächzend. Ihre Stimme versagte fast.

Lea ignorierte sie.

Rahn auch.

Die beiden blickten sich nur an, als versuchten sie, sich gegenseitig niederzustarren, aber wenn, dann endete dieser Kampf unentschieden. Irgendetwas war mit Rahn geschehen, seit sie den jungen Fischer das letzte Mal gesehen hatte, und es war eine ganz erstaunliche Veränderung. Noch erstaunlicher war, dass Arri diese Veränderung... gefiel.

»Was willst du?«, fragte Lea schließlich. »Ich bin müde, Rahn. Wir beide sind müde und brauchen dringend ein wenig Ruhe. Also nimm, was dir zusteht, und verschwinde.« Sie streckte ihm erneut die Hand mit der Oraichalkos-Perle hin, aber Rahn rührte auch jetzt keinen Finger, um danach zu greifen.

Was, um alles in der Welt, hatte Rahn gemeint?, dachte Arri. Ihre Gedanken rasten. Sie machte einen weiteren Schritt nach vorn, um ihrer Mutter nun direkt ins Gesicht sehen zu können, doch Lea ignorierte sie weiterhin so beharrlich, als wäre sie gar nicht da.

Das konnte nicht sein.

Das war vollkommen un-mög-lich!

Sie musste Rahns Blick falsch gedeutet haben. So etwas würde ihre Mutter ihr niemals antun.

»Was mir zusteht, gehört mir auch«, sagte Rahn leise und fast verächtlich. »So einfach ist das.«

Für den Augenblick schien sich das alt eingespielte Verhältnis umgedreht zu haben. Vielleicht zum ersten Mal war Rahn der Überlegene und ihre Mutter die Bittstellerin, die zu ihm gekommen war und nun nicht mehr wusste, was sie sagen oder tun sollte. Aber nur für einen Augenblick, dann schien Lea selbst zu spüren, was geschah, denn sie straffte nicht nur die Schultern, sondern schürzte auch trotzig die Lippen. Ihre Hand legte sich um die honigfarbene Perle. Mit einer geradezu bedächtigen Bewegung verstaute sie sie wieder in ihrem Beutel, hängte sich die dünne Lederschnur um den Hals, zog das Schwert aus dem Boden und schob es in die Schlaufe an ihrem Gürtel zurück, bevor sie sich wieder an Rahn wandte. »Also gut«, begann sie in verändertem, jetzt wieder gewohnt überheblichem Ton. »Was stellst du dir jetzt vor?«

Die Antwort auf diese Frage stand überdeutlich in Rahns Gesicht geschrieben, aber obwohl er Leas Blick noch immer scheinbar gelassen standhielt, brachte er es nicht fertig, sie laut auszusprechen.

Nicht, dass es nötig gewesen wäre.

»Mutter, du kannst ihn doch nicht...«, begann Arri.

Leas Kopf fuhr mit einer abrupten Bewegung herum, wie ein Raubvogel, der ein Opfer erspäht hat und dazu ansetzt, darauf niederzustoßen. »Ich weiß schon, was ich kann und was nicht«, zischte sie. »Habe ich dich nicht gebeten, hinauszugehen?«

»Aber warum denn?«, fragte Rahn böse. »Hast du Angst, dass deine Tochter etwas hört, was sie nicht hören soll?« Er löste endlich die Hand von seinem Knüppel und machte eine schnelle, abwehrende Geste, mit der er Lea unterbrach, als sie antworten wollte. »Keine Sorge. Ich hatte ohnehin nie vor, dein großzügiges Angebot anzunehmen. Warum sollte ich ein Kind nehmen, wenn ich eine richtige Frau haben kann?«

»Das klang aus Arianrhods Mund aber etwas anders«, sagte Lea.

»So?« Rahn machte ein abfälliges Geräusch. »Ich dachte, sie hätte dir erzählt, was wirklich passiert ist.«

»Das habe ich auch«, mischte sich Arri ein. »Hört auf, euch zu streiten! Was ist hier los? Ich... ich will jetzt endlich wissen, was hier los ist! Mutter! Was hast du Rahn versprochen?«

»Die Frage ist wohl eher, was er jetzt will«, sagte Lea unwillig. »Also?«

»Nein«, antwortete Rahn. »Die Frage ist, was dir das wert ist, was ich zu erzählen habe.« Er machte eine Kopfbewegung auf den Beutel mit der kostbaren Perle, die Lea jetzt wieder unter ihrem Kleid am Hals trug. »Auf jeden Fall mehr als das da, da bin ich sicher.« Er machte eine kleine Pause, bevor er fragte: »Willst du denn gar nicht wissen, was während deiner Abwesenheit passiert ist?«

»Nicht im Geringsten«, behauptete Lea. »Wenn ich nicht da bin, wird ja wohl auch nichts Besonderes passieren.«

Rahn zog eine Grimasse. »Du bist nicht witzig, Lea. Ich frage mich nur, ob dir immer noch nach Scherzen zumute ist, wenn ich dir erzähle, dass Sarn einen Mann nach Goseg geschickt hat, um dort um Hilfe zu bitten.«

Lea hob die Schultern. »Und?«

Diesmal antwortete Rahn nicht sofort. Er wirkte ein bisschen enttäuscht, als hätte er eine andere Reaktion auf seine Eröffnung erwartet, fing sich aber schnell wieder. »Aber du weißt nicht, dass er von deinem Geheimnis weiß.«

Lea blieb weiter ruhig. »Welchem?«, fragte sie lächelnd.

»Deinem Freund«, antwortete Rahn. »Dem Fremden.«

Lea blieb auch jetzt vollkommen ruhig, aber Arri entging dennoch nicht, dass sie noch ein wenig bleicher wurde. Sie schwieg.

»Ich will nur eines von dir wissen, Lea«, fuhr Rahn fort. Er beugte sich noch ein wenig weiter vor. Noch ein kleines Stück, dachte Arri, und er fällt vom Stuhl. Aber an der Situation war überhaupt nichts Komisches. »Sagt Sarn die Wahrheit?«

»Worüber?«

»Über dich«, antwortete Rahn. »Er behauptet, du und deine Tochter wären nur hierher gekommen, um uns auszuspähen, und dass dieser eine Fremde nur die Vorhut einer ganzen Horde ist, die kommen wird, um uns alle zu vernichten. Ist das wahr?«

»Und wenn?«, fragte Lea.

»Ist es wahr?«, beharrte Rahn.

»Unsinn!«, sagte Lea verächtlich. »Glaubst du, ich wäre noch hier, wenn es so wäre?« Sie beantwortete Rahns Frage mit einem abgehackten Kopfschütteln. »Du beginnst mich zu langweilen, Rahn. Meine Tochter und ich sind müde. Also sag, was immer du mir zu sagen hast, und dann verschwinde. Renn meinetwegen zu Sarn und erzähl ihm von dem Fremden, mit dem du mich angeblich gesehen hast, wenn es dich glücklich macht, aber stiehl mir nicht meine Zeit.«

Die Worte aber verfingen bei ihm nicht. Leas ebenso herablassender Ton, der stets ausgereicht hatte, Rahn - und nicht nur ihn - mit wenigen Worten einzuschüchtern oder auch in rasende Wut zu versetzen, je nachdem, was ihre Mutter gerade beabsichtigt hatte, schien nun einfach an ihm abzuprallen. In seinen Augen blitzte es zwar kurz und zornig auf, aber Arri spürte genau, dass der Grund dieses Zornes nicht Leas Worte waren, oder gar die Art, in der sie sprach, sondern nur die Absicht, die hinter beidem stand. Sie dachte noch einmal das Gleiche, was sie gerade schon einmal gedacht hatte, nur, dass es diesmal keine Vermutung mehr war, sondern Gewissheit: Rahn hatte sich verändert. Sogar noch viel mehr, als sie bisher geglaubt hatte.

Und sie schien nicht die Einzige zu sein, der diese Veränderung auffiel. Auch ihre Mutter wirkte einen Moment lang verwirrt, und möglicherweise sogar ein bisschen erschrocken, aber sie wäre nicht sie gewesen, hätte sie sich nicht fast augenblicklich wieder gefangen.

»Also?«, fragte sie herausfordernd, als Rahn keine Anstalten machte, auf ihre Worte zu reagieren, sondern sie nur weiter ebenso trotzig wie beinahe belustigt ansah. »Worauf wartest du noch?«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, behauptete er.

»Welche Frage?«, erwiderte Lea gepresst.

»Ob es wahr ist, dass dieser Fremde zu denen gehört, vor denen uns Sarn und die Priester aus Goseg gewarnt haben«, erwiderte Rahn. »Ich habe mit Kron gesprochen, weißt du? Und auch mit seinem Bruder. Sie können sich nicht mehr genau an die Männer erinnern, die sie überfallen haben, aber an einen doch - ihren Anführer. Und stell dir vor, erst vor ein paar Tagen habe ich einen Fremden gesehen, auf den ihre Beschreibung nur zu gut passt. Und weißt du, wo das gewesen ist? Und wer bei ihm war?«

Lea schwieg. Ihre Hand spielte mit dem Schwertgriff.

»Vielleicht hat es ja einen guten Grund, dass sich Kron und Grahl nur an einen einzigen Mann erinnern können«, mischte sich Arri ein. Ihre Mutter starrte sie fast entsetzt an, während Rahn plötzlich ärgerlich-amüsiert aussah - und Arri hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Warum hatte sie nicht einfach den Mund gehalten? Aber es war zu spät.

»Und welchen?«, fragte Rahn.

Das Wort Zorn reichte eindeutig nicht mehr aus, um das zu beschreiben, was sie in dem Gesicht ihrer Mutter las; aber jetzt noch zu leugnen, hätte nicht nur alles noch viel schlimmer gemacht, sondern wäre auch einfach albern gewesen. Sie versuchte das Gewitter zu übersehen, das in den Augen ihrer Mutter wetterleuchtete, und fuhr in patzigem Ton fort: »Vielleicht, weil es keine anderen gab, an die sie sich hätten erinnern können.«

Rahn legte den Kopf auf die Seite. »Was meinst du damit?«

»Dass Dragosz allein war«, sagte Lea, leise, kopfschüttelnd und fast tonlos; und mit einem ebensolchen Blick in Arris Richtung. Der Zorn in ihren Augen war erloschen. »Dragosz?«, fragte Rahn. »Ist das sein Name?« Lea nickte. »Und sie haben ihn angegriffen, nicht er sie.«

»Er allein?«, fragte Rahn zweifelnd. »Ein Mann gegen drei, die so stark sind wie Kron und seine Brüder? Das soll ich glauben?«

»Dragosz ist ein Krieger«, sagte Arri stolz. »Er wäre auch mit mehr Dummköpfen wie Grahl und Kron fertig geworden.«

»Arianrhod, sei jetzt bitte still«, seufzte ihre Mutter. Sie klang nicht einmal mehr gefasst, sondern nur noch müde, als wäre es ihr mittlerweile gleichgültig, was Rahn dachte oder tat. Dennoch fuhr sie an den Fischer gewandt fort: »Arri sagt die Wahrheit. Dragosz ist ein Krieger und Grahl und seine Brüder nur einfache Jäger. Sie hatten Glück, dass er sie nicht alle drei getötet hat.«

»Also ist es wahr?«, sagte Rahn. »Er gehört zu den Feinden?«

»Nein«, seufzte Lea. »Dragosz ist so wenig euer Feind wie ich es bin. Sein Volk lebt jenseits der Berge, viel zu weit entfernt, um eine Gefahr für uns zu sein. Sie könnten uns nicht einmal dann etwas antun, wenn sie es wollten. Aber das wollen sie auch gar nicht.«

»Du lügst«, behauptete Rahn. »Wenn sein Volk so weit hinter den Bergen lebt, wie du sagst, was tut er dann hier?«

»Ich...«, begann Lea heftig, brach dann mitten im Wort ab und schüttelte nur erschöpft den Kopf. »Glaub doch, was du willst. Von mir aus lauf zu Sarn und erzähle ihm, dass ich für die Feinde spioniere und euer aller Untergang vorbereite.« Sie nahm betont langsam die Hand vom Schwert und wies mit demselben Arm zur Tür. »Tu, was du willst. Geh zu Sarn und komm meinetwegen mit einem Dutzend Männern zurück, damit sie uns überwältigen können - aber tu mir einen Gefallen und gönn Arianrhod und mir vorher noch etwas Ruhe. Wir brauchen dringend ein wenig Schlaf.«

»Dich an Sarn verraten?« Rahn klang überrascht; vielleicht sogar ein kleines bisschen verletzt. »Aber warum sollte ich das tun?«

»Weil du es schon die ganze Zeit über tust«, seufzte Lea. Sie hob rasch die Hand, als Rahn antworten wollte. »Bitte, Rahn - ich bin müde und habe keine Lust mehr auf solche Spiele. Sarn hat dir nur erlaubt, dich mit mir einzulassen, damit du ihm über alles Bericht erstattest, was ich tue oder sage, nicht wahr?«

»Hätte ich es getan, dann wärst du jetzt schon tot«, antwortete Rahn, was genau genommen keine Antwort auf Leas Frage war - oder vielleicht auch doch, so genau vermochte Arri das nicht zu sagen.

»Wenn du mich nicht verraten willst, was willst du dann?«, fragte Lea.

»Ich will mit euch kommen«, antwortete Rahn.

»Mit uns...?« Lea blinzelte. »Was meinst du damit? Wohin?«

Rahns Hand spielte wieder mit dem Knüppel, den er mitgebracht hatte, aber es war jetzt nichts Bedrohliches mehr an dieser Geste. Und vielleicht, überlegte Arri, war es das auch nie gewesen. Vielleicht hatte er diese Waffe ja aus einem ganz anderen Grund mitgebracht, als sie bisher geglaubt hatte.

»Ich habe dich belauscht, vergangene Nacht«, sagte Rahn geradeheraus. »Dich und deinen... Freund. Ich habe alles gehört.«

Was hatte er gehört?, dachte Arri alarmiert. Schon wieder etwas, was ihre Mutter mit Dragosz besprochen hatte und was nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen war? Sie sah Lea scharf an und versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen, aber es gelang ihr nicht.

»Du hast...«

»... alles gehört, ja«, sagte Rahn. »Jedes Wort. Wenn ich wirklich nur bei dir wäre, um für Sarn zu spionieren, dann würden wir dieses Gespräch jetzt nicht führen, meinst du nicht?«

»Warum bist du dann hier?«, fragte Lea lauernd.

»Das habe ich doch gesagt«, antwortete Rahn. »Ich will mit euch kommen.«

»Mit Dragosz und mir?«, wiederholte Lea zweifelnd. »Obwohl du glaubst, dass er euer Feind ist?«

»Wo wäre ich sicherer als bei ihm, wenn es wirklich so ist?«, fragte Rahn. »Wenn du die Wahrheit sagst und sein Volk wirklich nichts Böses gegen uns plant - umso besser. Ich habe mich immer schon gefragt, was jenseits der Berge sein mag.«

Lea schwieg lange Zeit. Sie glaubte Rahn kein Wort, das stand überdeutlich in ihrem Gesicht geschrieben, aber sie wusste auch ebenso eindeutig nicht, was sie von seiner Behauptung halten sollte. »Das ist... wirklich alles, was du verlangst?«, vergewisserte sie sich. »Du willst nur mit uns kommen? Obwohl du nicht einmal weißt, was dich erwartet?«

Rahns Blick löste sich für einen Moment von ihrem Gesicht und streifte Arri, kehrte aber dann gleich wieder zu ihr zurück. »Weißt du es denn?«, fragte er.

Arris Mutter zögerte gerade einen Moment zu lange, um ihre Worte glaubhaft klingen zu lassen. »Ja«, sagte sie dann, »ich denke schon. Aber ich fürchte, du weißt es nicht. Stellst du es dir wirklich so einfach vor, von hier weg zu gehen und dein ganzes Leben hinter dir zu lassen?«

»Was für ein Leben, wenn du nicht mehr da bist und Elend und Hunger ins Dorf Einzug halten?«, gab Rahn verächtlich zurück. »Jeden Tag in die Zella zu waten und mit Speeren hinter Fischen herzustochern oder ihnen mit Angeln oder Netzen auf den Leib zu rücken? Im Winter zu hungern und im Sommer von der Hand in den Mund zu leben?«

»Du wirst nicht wissen, ob dich bei Dragosz’ Volk ein anderes Schicksal erwartet. Es könnte schlimmer sein.«

»Schlimmer als unter Sarns Knute zu leben und zu sehen, wie alles, was wir mit deiner Hilfe geschaffen haben, Stück für Stück verfällt?« Rahn schnaubte abfällig. »Kaum.«

»Und ich bin nicht einmal sicher, dass Dragosz es gestattet«, fuhr Lea fort. Sie klang beunruhigt, nicht sehr, aber doch so, dass es Arri auffiel. Ihrer Mutter gingen die Einwände aus.

»Dann solltest du dafür sorgen, dass er es zulässt«, erwiderte Rahn kalt. Er machte eine wedelnde Handbewegung. »Es ist deine Entscheidung. Sarn wird mich so oder so nach Goseg schicken, wenn er erfährt, dass du zurück bist. Ich werde gehen. Die Frage ist nur, wohin - zusammen mit dir und deiner Tochter oder nach Goseg, um mit Nors Kriegern zurückzukommen.«

Lea schwieg eine geraume Weile, aber in ihrem Gesicht arbeitete es. Arri konnte erkennen, dass die unterschiedlichsten Empfindungen hinter ihrer Stirn einen stummen, aber erbitterten Kampf ausfochten. Zweifellos machten sie Rahns Worte zornig, aber auch die Teilnahmslosigkeit war noch da; und eine vage Trauer, die Arri im ersten Moment nicht verstand. »Ich kann dir nicht versprechen, dass du bei Dragosz’ Volk willkommen bist«, sagte sie schließlich.

Rahn hob die Schultern. »Wenn Sarn erfährt, dass ich dich gewarnt habe«, erklärte er mit einem bitteren Lachen, »werde ich hier auch nicht mehr willkommen sein.«

»Muss er es denn erfahren?«, fragte Lea.

»Was?«, fragte Rahn. »Dass ich dich gewarnt habe?«

»Dass wir zurück sind«, antwortete Lea.

Arri sah ihre Mutter verwirrt an, schwieg aber, und auch Rahn schwieg einen Moment, als müsse er angestrengt über diese Worte nachdenken. Schließlich fragte er: »Wie meinst du das?«

»Bisher weiß niemand, dass wir hier sind«, antwortete Lea. »Und wenn wir vorsichtig sind, wird das auch so bleiben. Sarn hat dir aufgetragen, das Haus im Auge zu behalten und ihm Bescheid zu geben, wenn wir zurückkommen?«

Rahn zögerte ganz kurz, dann nickte er beinahe widerwillig.

»Dann tu einfach, was er dir gesagt hat, und beobachte meine Hütte«, fuhr Lea fort. »Du musst ja nicht unbedingt merken, dass wir wieder hier sind.«

»Ihr wollt euch hier verstecken?«, fragte Rahn. »Wozu soll das gut sein?«

»Nur für einen Tag«, antwortete Lea. »Wir gehen heute Nacht, sobald die Sonne untergegangen ist. Ich würde gleich aufbrechen, aber Arri ist müde und braucht dringend Schlaf, und ich muss noch gewisse Vorbereitungen treffen. Und dir würde ich raten, ebenfalls ein wenig zu schlafen. Wir haben einen anstrengenden Marsch vor uns und werden keine Rast einlegen.«

»Dann nehmt ihr mich mit?«

Lea hob die Schultern. »Ich kann dich ja sowieso nicht daran hindern, oder?«

»Nein«, erklärte Rahn rundheraus. Er wirkte ein bisschen überrascht, als hätte er mit deutlich mehr Widerstand gerechnet. Zögernd stand er auf, tat einen einzelnen Schritt und machte dann noch einmal kehrt, um seinen Knüppel zu holen. Leas Blick folgte seinen Bewegungen scheinbar teilnahmslos, aber sie war nicht besonders gut darin, sich zu verstellen; Arri spürte deutlich die Anspannung, die hinter dieser aufgesetzten Ruhe herrschte, und Rahn vermutlich auch.

»Dann wäre es dumm, es auch nur zu versuchen«, sagte Lea mit wenig Überzeugung in der Stimme und einem noch weniger überzeugenden Schulterzucken. »Außerdem ist es vielleicht ganz gut, einen starken Mann bei uns zu haben. Der Weg ist lang und nicht ungefährlich, vor allem für zwei wehrlose schwache Frauen wie uns.«

Rahns Augen wurden schmal; zumal sich Lea nicht einmal mehr Mühe gab, den beißenden Spott aus ihrer Stimme zu verbannen. Er sagte jedoch nichts, sondern beließ es bei einem zornigen Blick und ging weiter, blieb aber unmittelbar vor der Tür noch einmal stehen. »Bei Dunkelwerden?«, vergewisserte er sich.

»Besser eine kleine Weile danach«, antwortete Lea. »Sobald es im Dorf ruhig geworden ist. Und komm so, wie du bist. Bring nichts mit - oder vielleicht deinen Knüppel da.«

Rahn wirkte nun endgültig verstört, beließ es aber auch jetzt bei einem gleichermaßen verwirrten wie hilflosen Blick, schlug schließlich mit einer eindeutig zornigen Bewegung den Muschelvorhang beiseite und ging. Lea wartete nur einen Augenblick, dann wandte sie sich mit einem Seufzen zu Arri um und fügte hinzu: »Nicht, dass dieser Dummkopf am Ende noch sein ganzes Hab und Gut zusammenrafft und sich hinterher wundert, wenn wir ein halbes Dutzend von Nors Kriegern am Hals haben.«

Arri sah ihre Mutter verwirrt an. Lea mochte ja Recht haben, aber sie hatte eindeutig nicht lange genug gewartet und auch zu laut gesprochen, als dass sie sicher sein konnte, dass Rahn die Worte nicht doch noch hörte.

Dann fing sie Leas fast beschwörenden Blick auf, und ihr wurde klar, dass ganz genau das ihre Absicht gewesen war: Rahn sollte sie hören. Aber warum?

Sie kleidete die Frage in einen entsprechenden Blick, aber Lea winkte fast erschrocken ab und fuhr - beinahe noch lauter - fort: »Es ist gut jetzt. Leg dich hin und versuch zu schlafen. Ich wecke dich, wenn es dunkel wird.«

Arri rührte sich nicht, um der Aufforderung ihrer Mutter nachzukommen, doch das schien Lea auch gar nicht erwartet zu haben. Sie blieb noch eine Weile regungslos stehen, dann ging sie zur Tür, teilte den muschelbesetzten Vorhang vollkommen lautlos und lauschte konzentriert.

»Er ist weg«, sagte sie schließlich.

»Ich verstehe nicht ganz«, begann Arri, suchte nach Worten und setzte dann neu an: »Warum hast du das gesagt? Rahn hat dich bestimmt gehört.«

»Rahn«, antwortete ihre Mutter betont, »erwartet so etwas von mir. Er würde misstrauisch werden, wenn ich nichts in dieser Art gesagt hätte.« Sie machte eine ärgerliche Handbewegung. »Und nun tu, was ich dir gesagt habe, und leg dich hin. Du bist noch lange nicht wieder gesund, und wir haben einen ziemlich anstrengenden Tag vor uns.«

Arri rührte sich nicht. »Was hättest du getan, wenn er sich nicht auf dein Angebot eingelassen hätte?«, fragte sie.

Sie las die Antwort auf ihre Frage in Leas Augen, noch bevor ihre Lippen sie aussprachen. »Dann hätte er dieses Haus nicht lebend verlassen.«

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