30

Die beiden Männer, die sie ins Langhaus begleitet hatten, führten sie auch wieder zurück in ihr Gefängnis. Der Weg aus dem Haus hinaus ins Freie wurde zu etwas wie einem Spottlauf, bei dem jemand, dem boshaftes Verhalten gegenüber der Gemeinschaft vorgeworfen wurde, unter Schimpf und Schande durch die Nachbarschaft gejagt wurde. Arri konnte sich hinterher dennoch nur noch verschwommen an das erinnern, was sie bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen sie in ihrem Heimdorf Zeugin eines Spottlaufs gewesen war, als so überaus schrecklich und demütigend empfunden hatte, und das ihr jetzt zum ersten Mal selbst widerfuhr. Es war wie ein Fiebertraum, schlimm, aber überwunden und nichts, was sie wirklich erschrecken konnte. Sie erinnerte sich an die hasserfüllten Blicke der Menschen, an Beschimpfungen und Flüche, die ihr zugerufen wurden, und auch an die eine oder andere vorwitzige Hand, die nach ihr zu schlagen versuchte, auch wenn ihre beiden Bewacher diese Versuche schnell und brutal im Keim erstickten.

Auch auf dem Weg zurück über den Hügel und wieder in die versteinerte Stadt besann sie sich kaum. Erst, als sie wieder in ihr Gefängnis geführt wurde, als die Tür mit einem dumpfen Laut hinter ihr zuschlug und sie wieder in das vertraute Halbdunkel hineintrat, in dem sie die zurückliegenden Tage verbracht hatte und das mit einem Mal nichts Erschreckendes mehr zu haben schien, sondern ganz im Gegenteil fast zu einem Freund geworden war, hatte sie das Gefühl, wieder denken zu können; fast als hätte die Zeit für einen Moment angehalten.

Was war das gewesen? Arris Herz klopfte. Ihre Hände und Knie zitterten so stark, dass sie sich gegen die Wand lehnen und einen Moment später zu Boden sinken lassen musste, und dennoch war sie weit mehr durcheinander als wirklich verängstigt. Nichts von alledem, was sie gerade erlebt hatte, erschien irgendeinen Sinn zu ergeben! Wenn es ihr Tod war, den Nor wollte, dann hätte er sich wahrlich nicht die Mühe machen müssen, das ganze Dorf zusammenzurufen, um seinen Untertanen ein so sorgsam einstudiertes Stück vorzuspielen. Er hätte ihn einfach befehlen können, ohne einen Grund, ohne dass irgendjemand eine Frage gestellt oder ihr auch nur eine Träne nachgeweint hätte. Lange, endlos lange, kreisten Arris Gedanken um diese eine Frage, und auch wenn sie keine Antwort darauf fand, so spürte sie doch tief in sich, dass Nor einen Grund für all das gehabt hatte und dass dieser Grund Anlass genug für sie war, sich noch größere Sorgen zu machen.

Warum hatte ihre Mutter sie nur im Stich gelassen? Warum kam sie nicht endlich, um sie zu retten?

Arris Gedanken kehrten erst in die Wirklichkeit zurück, als sie das Scharren des Riegels hörte. Mit einem Ruck hob sie den Kopf und kniff gleich darauf geblendet die Augen zusammen, als die Tür geöffnet wurde und eine Gestalt eintrat, die sie im ersten Augenblick nur als Schatten erkennen konnte. Erst als die schwere Holztür das Sonnenlicht wieder aussperrte, sah sie, dass es nicht ihre Bewacher waren, die ihr etwas zu essen oder Wasser brachten, sondern Rahn.

Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Welch ein überraschender Besuch«, sagte sie böse. »Hat Nor dich geschickt, um mich noch ein bisschen auszuhorchen?«

Sie war selbst ein wenig überrascht über den nicht nur festen, sondern auch eindeutig herausfordernden Ton ihrer Stimme, aber Rahn schüttelte nur ärgerlich den Kopf und antwortete scharf: »Nor weiß nicht, dass ich hier bin. Er wäre wahrscheinlich auch nicht besonders begeistert, würde er es erfahren. Wenn du dich also für irgendetwas an mir rächen willst, dann brauchst du es ihm nur zu sagen. Er ist bereits auf dem Weg hierher, nehme ich an.«

»Warum bist du dann gekommen?« Arris Stimme klang jetzt schon nicht mehr ganz so fest und hatte jede Spur von Herausforderung verloren. Da war etwas in Rahns Worten, was ihr Angst machte.

»Um dich zu warnen und dich vielleicht doch noch zur Vernunft zu bringen«, antwortete Rahn. »Nor meint es ernst. Hast du das immer noch nicht begriffen?«

»Womit? Damit, dass er sich Sorgen um mein Wohlergehen macht?« Arri schnaubte abfällig. »Mach dich nicht lächerlich!«

»Dein Wohlergehen ist Nor ebenso gleichgültig wie das eines jeden anderen hier«, antwortete Rahn. »Er braucht dich, begreifst du das denn nicht?«

»Mich?« Arri riss ungläubig die Augen auf.

»Viel mehr noch als dich brauchte er deine Mutter, ihr Zauberschwert und vor allem ihr geheimes Wissen«, sagte Rahn. »Doch wenn er sie nicht bekommen kann, dann wird er sich auch mit dir zufrieden geben.« Er machte eine heftige Geste, die Arri im Halbdunkel der Kammer mehr erahnte als wirklich sah. »Wenn du am Leben bleiben willst, Arri, dann wirst du tun, was er von dir verlangt!«

»Und was wäre das?«, gab Arri zurück.

»Schwöre deinen Göttern ab!«, antwortete Rahn. »Sag dich von ihnen los und von der schwarzen Zauberkunst deiner Mutter. Liefere dich Nors Gnade aus und lass zu, dass dich Jamu zur Frau nimmt, dann wirst du am Leben bleiben.«

Arri ächzte. »Jamu! Du weißt nicht, was du da redest!«

»Ich fürchte, es ist genau umgekehrt, und du weißt nicht, wovon ich spreche.« Rahns Stimme wurde fast beschwörend.

»Das ist jetzt kein Spiel mehr, Arri. Es geht um dein Leben. Begreift das endlich!«

»Ein Leben als... Jamus Weib?« Arri schüttelte heftig den Kopf und versuchte, einen spöttischen Unterton in ihre Stimme zu legen. Es blieb bei dem Versuch. »Ich weiß nicht, was schlimmer ist: der Tod oder die Vorstellung, mein Lager mit diesem... Dummkopf zu teilen.«

»Du hast Recht«, sagte Rahn. »Jamu ist ein Dummkopf. Er ist brutal, und er wird dich schlagen und schlecht behandeln und erniedrigen, wo immer er kann. Aber du wirst leben, und später...« Er deutete ein Achselzucken an. »Wir werden sehen.«

Arri war nun endgültig verwirrt. War Rahn nur gekommen, um sie zu verhöhnen? »Was werden wir sehen?«, erkundigte sie sich misstrauisch.

Rahn warf einen raschen Blick über die Schulter zurück zur Tür, bevor er antwortete. »Ich frage mich, ob deine Mutter dich wirklich die richtigen Dinge gelehrt hat. Für meinen Geschmack bist du noch ein bisschen zu jung, um so viel und so leichtfertig vom Sterben zu reden. Du weißt nicht wirklich, was es bedeutet, oder?«

Arri musste an einen finsteren Stollen unter einem Haus am anderen Ende der Welt denken, und für einen Moment sah sie noch einmal das Gesicht eines dunkelhaarigen Mädchens vor sich, und das abgrundtiefe Entsetzen in ihren Augen, als sie begriff, dass es vorbei war. Und er glaubte, sie wüsste nicht, wovon sie sprach? Sie sagte nichts.

»Dein Leben hat gerade erst begonnen, Arianrhod«, sagte Rahn leise.

»Lass mich raten«, sagte Arri. »Und du würdest es nur zu gern mit mir teilen, wie?« Sie machte eine flatternde Handbewegung. »Und nicht nur mein Leben, nehme ich an, sondern auch mein Lager, meinen Körper und die eine oder andere Kleinigkeit, die ich vielleicht von meiner Mutter gelernt habe?«

Sie bedauerte die Worte schon, noch bevor sie sie ganz ausgesprochen hatte, denn obwohl sie Rahns Gesicht nicht deutlich erkennen konnte, spürte sie doch, wie hart sie ihn trafen.

»Manchmal frage ich mich, ob Sarn nicht vielleicht Recht hat«, antwortete er spröde.

»Womit?«

»Sarn hält dich für ein vorlautes dummes Ding. Und manchmal benimmst du dich auch so.« Rahn schüttelte den Kopf. »Du solltest dich nicht überschätzen, Arianrhod.«

»Oh, du erinnerst dich sogar an meinen Namen«, sagte Arri spöttisch. Es klang selbst in ihren eigenen Ohren dumm und verzweifelt, aber sie konnte nicht anders, als fortzufahren: »Hat meine Mutter ihn dir verraten, oder hast du ihn herausgefunden, während du für Sarn spioniert hast? Oder war es für Nor - oder am Ende vielleicht für beide?«

Rahn ging nicht auf diese Herausforderung ein, wofür ihm Arri im Stillen dankbar war. »Ich habe getan, was ich Lea versprochen habe. Was jetzt geschieht, ist allein deine Entscheidung. Nur solltest du bedenken, dass es bestimmt nicht der Wille deiner Mutter wäre, dass du dein Leben wegwirfst, bloß weil dein Stolz größer ist als deine Vernunft.«

»Was soll das heißen?«, fuhr Arri auf. »Was hast du meiner Mutter versprochen?«

»Dich zu beschützen«, antwortete Rahn.

»Mich zu... beschützen?«, vergewisserte sich Arri. »Du hast eine sonderbare Art, das zu tun, meinst du nicht selbst?«

»Vielleicht habe ich deinen Spott verdient«, sagte Rahn ungerührt. »Aber mehr kann ich im Moment nicht für dich tun. Nor wird gleich hier sein, um dir eine einzige Frage zu stellen. Überlege dir deine Antwort gut. Jamu ist vielleicht nicht der Mann, den sich deine Mutter für dich gewünscht hätte. Aber ein Leben an seiner Seite ist allemal besser als der Tod, meinst du nicht auch?«

Was das anging, war Arri nicht einmal sicher. Immerhin war Jamu letzten Endes der Grund gewesen, aus dem ihre Mutter entschieden hatte, das Dorf zu verlassen. Sie wusste jedoch, was Rahn wirklich meinte, und so verrückt es ihr selbst vorkam - tief in sich spürte sie, dass seine Worte ehrlich gemeint waren; genauso ehrlich wie die Sorge um sie, die er empfand.

»Wie kann ich dir trauen, Rahn?«, fragte sie. »Ich weiß ja noch nicht einmal, wer du wirklich bist. Auf wessen Seite stehst du eigentlich? Auf Sarns? Oder Nors? Oder unserer?«

»Nur auf meiner«, antwortete Rahn abfällig, »so wie jedermann am Ende nur auf seiner eigenen Seite steht.«

»Und trotzdem soll ich dir glauben, dass du nicht nur Sarn, sondern auch den Herrn von Goseg verrätst, um mir zu helfen?«

»Ich habe deiner Mutter mein Wort gegeben«, antwortete Rahn. »Und ich halte mein Wort immer.«

»Warum?«, fragte Arri. »Was hat sie dir versprochen, damit du mich beschützt? Mich?«

Diesmal dauerte es eine Weile, bis Rahn antwortete. Sie konnte hören, wie er sich unbehaglich in der Dunkelheit vor ihr bewegte. »Ja«, gestand er rundheraus, ließ ihr aber nicht einmal genug Zeit, eine entsprechende Empörung zu empfinden, sondern fuhr mit einem leisen und durch und durch humorlosen Lachen fort: »Nicht, dass ich einen Augenblick lang wirklich geglaubt habe, dieses Angebot wäre ernst gemeint. Deine Mutter ist eine sehr kluge Frau, Arianrhod, aber zugleich auch sehr dumm.«

»Ach?«, erwiderte Arri.

»Dumm, weil sie wirklich geglaubt hat, ich hätte nicht gesehen, wie sehr sie dich liebt.« Seine Stimme wurde leiser, gewann aber zugleich auch an Eindringlichkeit und klang trotzdem beinahe sanft. »Deine Mutter würde jeden und alles töten, um dich zu beschützen, Arianrhod. Sie hat getötet, um dich zu beschützen, und sie würde es wieder tun, wenn es sein müsste. Sie hat sich mir hingegeben, nur damit du vor mir sicher warst. Sie war bereit, nicht nur alles aufzugeben, sondern unser ganzes Volk zu opfern, damit ihr Kind in Sicherheit ist. Denkst du wirklich, ich hätte auch nur einen Herzschlag lang geglaubt, dass sie mir dich gibt, ganz gleich, aus welchem Grund und welche Gegenleistung sie erwartet?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Ich bin vielleicht nicht so klug wie deine Mutter. Vielleicht nicht einmal so klug wie du. Aber ich bin nicht dumm.«

»Warum gehst du trotzdem das Risiko ein, mich zu warnen?«, erkundigte sich Arri verwirrt. »Wenn Nor erfährt, dass du hier bist...«

»... wird er mich töten lassen, ich weiß«, unterbrach sie Rahn. »Deine Mutter hat etwas für mich getan, und ich stehe in ihrer Schuld. So einfach ist das. Es hat nichts mit dir zu tun.«

»Und du willst mir nicht sagen, was?«

»Nein«, antwortete Rahn. »Ich habe schon viel zu viel gesagt. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit, dich zu entscheiden, also überlege dir gut, was du sagen willst, wenn Nor mit dir spricht. Manche Entscheidungen lassen sich nicht mehr rückgängig machen, weißt du?«

Er wollte sich zum Gehen wenden, doch Arri hielt ihn mit einer raschen Handbewegung zurück. »Meine Mutter, Rahn«, sagte sie rasch. »Hast du etwas von ihr gehört?«

Rahn zögerte gerade einen Augenblick zu lange, als dass seine Antwort wirklich glaubhaft gewesen wäre. »Nein. Nicht, seit wir das letzte Mal miteinander geredet haben. Es gibt Gerüchte, aber du weißt ja, wie die Leute sind.«

»Was für Gerüchte?«, fragte Arri.

»Die Üblichen«, erwiderte Rahn. »Man hat sie hier gesehen und dort, sie war schwer verletzt und lag im Sterben, dann wieder hat sie ganz allein ein Dutzend von Nors Kriegern verjagt...« Er schüttelte seufzend den Kopf. »Noch ein paar Tage, und jemand wird allen Ernstes behaupten, er hätte sie auf dem Rücken eines geflügelten Bären über den Himmel fliegen sehen.«

»Aber sie ist noch am Leben?«, fragte Arri hastig. Plötzlich wollte sie nicht, dass Rahn ging. Er konnte ihr diese Frage so wenig beantworten, wie sie selbst dazu in der Lage war, aber sie wollte einfach reden. Mit einem Male hatte sie vor nichts mehr Angst als davor, allein zu sein. »Sie ist am Leben und...«

»Und wird kommen, um dich zu befreien?« Rahn schüttelte heftig den Kopf. »Darauf solltest du dich besser nicht verlassen. Wenn sie dazu in der Lage wäre, hätte sie es längst getan, meinst du nicht auch?«

»Vielleicht... vielleicht war die Gelegenheit nur noch nicht günstig«, stammelte Arri.

»Ja, vielleicht«, sagte Rahn. »Obwohl ich mir kaum eine Gelegenheit denken kann, die ungünstiger wäre als jetzt. Wenn du also wirklich hoffst, dass deine Mutter im allerletzten Moment auftaucht, um dich mit Feuer und Schwert zu befreien, dann solltest du besser zu euren Göttern beten, dass sie tatsächlich über so große Zauberkräfte gebietet, wie Sarn behauptet.«

Und damit wandte er sich endgültig zum Gehen, und Arri blieb allein zurück.

Sehr allein.

Rahn hatte es zwar gesagt, doch der Hohepriester kam nicht; weder unmittelbar nach ihm noch später. Die Tür ihres steinernen Gefängnisses blieb verschlossen, bis Arri das Gefühl hatte, die Zeit wäre endgültig stehen geblieben; oder Nor hätte entschieden, sie einfach hier drinnen zu lassen, bis sie verhungert oder verdurstet war. Erst nach einer schieren Ewigkeit hörte sie wieder das Scharren des Riegels, hob rasch den Kopf und fuhr sich noch rasch mit dem Handrücken über die Augen. Sie hatte geweint. Sie wusste nicht mehr, warum, aber ihre Augen waren verquollen und rot, und sie wollte nicht, dass Nor (oder gar Sarn!) sie so sahen.

Es war nicht Nor, der kam, und auch nicht der Schamane aus ihrem Heimatdorf. Niemand betrat ihr Gefängnis. Arri wartete vergebens darauf, dass irgendetwas geschah, dann rappelte sie sich auf, fuhr sich abermals und diesmal mit der anderen Hand über das Gesicht und zog hörbar die Nase hoch, nachdem sie sich mit einem raschen Blick davon überzeugt hatte, dass ihr Handrücken trocken war. Als sie sich der Tür näherte, taumelte sie leicht. Sie hatte viel zu lang mit angezogenen Knien in unbequemer Haltung an die Wand gelehnt dagesessen, und ihre verspannten Muskeln zahlten es ihr jetzt heim, indem sie mit stechenden Schmerzen und nur widerwillig auf jede Bewegung reagierten. Arri ärgerte sich darüber, dass ihr Körper sie schon wieder auf so schmähliche Weise im Stich ließ. Wenn sie schon zur Schlachtbank geführt werden sollte, dachte sie trotzig, dann wollte sie diesen Weg wenigstens aufrecht und stolz erhobenen Hauptes gehen, nicht mit verheulten Augen und vor Schwäche taumelnd.

Trotz dieses guten Vorsatzes blieb sie jedoch sofort wieder stehen, kaum dass sie durch die Tür getreten und draußen war, und hob geblendet die Hand vor die Augen. Die Wolken, die noch am Morgen den Himmel bedeckt hatten, hatten sich ebenso spurlos verzogen wie der leichte Dunst, und obwohl es bitterkalt war, stand am Himmel eine grelle Sonne, deren Licht ihr sofort wieder die Tränen in die Augen steigen ließ. So viel zu ihren Bemühungen, dachte sie ärgerlich, einen möglichst gefassten Eindruck zu machen.

Diesmal waren es gleich vier Männer, die gekommen waren, um sie abzuholen. Die beiden vom Morgen waren nicht dabei, doch zu Arris Erleichterung hatte Nor zumindest darauf verzichtet, ihren zukünftigen Ehemann zu schicken. Sie erkannte keinen der vielen Männer, die auf dem ansonsten leeren Platz standen und sie schwer bewaffnet erwarteten. Sie sah sich auffordernd um und wartete darauf, dass einer der Männer etwas sagte oder ihr zumindest mit Gesten zu verstehen gab, was sie tun sollte, aber die Krieger starrten sie einfach nur an. Als Arri wahllos auf einen von ihnen zutrat, fuhr er sichtlich zusammen, und sie sah, dass er sich gerade noch beherrschen konnte, nicht erschrocken vor ihr zurückzuweichen. Arri war verwirrt. Was, um alles in der Welt, hatte Nor über sie erzählt; oder Sarn?

Für eine kurze Weile - nicht lange, wahrscheinlich nur für die Dauer von zwei oder drei Herzschlägen, die diesen Männern aber vermutlich ebenso endlos vorkamen wie ihr - stand sie einfach nur da und wartete darauf, dass irgendetwas geschah, dann hob einer der Krieger fast schüchtern die Hand und deutete in Richtung des Tores im Palisadenzaun. Arri traute dem Frieden nicht. Keiner der Männer war ihr auch nur auf Armeslänge nahe gekommen, aber sie wollte ihnen auch keinen Vorwand geben, es zu tun oder sie gar zu packen. Rasch wandte sie sich um und setzte sich in Bewegung, und die vier Männer flankierten sie, zwei hinter und zwei vor ihr, sodass man hätte meinen können, sie hätten einen gefährlichen Feind gefangen genommen oder ein wildes Tier, das sich im Augenblick zwar friedlich gebärdete, um dessen Kraft und Unberechenbarkeit sie aber wussten. Arri fragte sich, ob sie sich nun geschmeichelt fühlen oder vielleicht besser Angst haben sollte.

Anders als am Morgen stand das Tor im Palisadenzaun jetzt weit offen, und auch der Weg dahinter war nicht mehr leer. Als Arri und ihre Begleiter die versteinerte Stadt (die im Übrigen noch immer wie ausgestorben dalag) verließen, wurden sie von gut zwei oder drei Dutzend Menschen erwartet, Männer, Frauen und Kinder, von denen sie einige wieder zu erkennen glaubte, die sie am Morgen im Haus gesehen hatte und die mit einer Mischung aus Neugier und Scheu zu ihr hinsahen. Doch so wie bei den Kriegern spürte sie auch bei ihnen eine Veränderung. Noch am Morgen war es unverhohlene Feindseligkeit und Hass gewesen, der ihr entgegenschlug, jetzt war es... etwas anderes. Arri konnte nicht sagen, was. Was sie spürte, war alles andere als Freundlichkeit, aber auch nicht mehr dieser blanke Zorn. Da war eine Scheu, die es bisher nicht gegeben hatte und die sie im ersten Moment verwirrte, dann erschreckte, wie es der Ausdruck von Mitleid in den Augen des Mannes heute Morgen getan hatte. Irgendetwas war geschehen, während sie vergeblich auf den Hohepriester gewartet hatte.

Die Menge folgte ihnen, als sie sich nach links wandten und den Hügel in Richtung des Heiligtums hinaufstiegen, und obwohl keinerlei Bedrohung oder Feindseligkeit mehr von ihr ausging, schlossen sich ihre vier Bewacher ein wenig enger um sie zusammen, und die Hände der Männer senkten sich auf ihre Waffen. Plötzlich war eine spürbare Spannung da, aber Arri begriff auch, dass sie nichts mit ihr zu tun hatte. Die Männer waren unruhig, aber aus einem Grund, der ihr unbekannt blieb.

Jetzt, im hellen Licht des Tages betrachtet, hatte das Heiligtum oben auf der Hügelkuppe seine unheimliche Ausstrahlung verloren. Es wirkte immer noch beeindruckend, aber nur noch durch seine schiere Größe; Arri konnte sich nicht erinnern, jemals ein von Menschenhand geschaffenes Gebilde solchen Ausmaßes gesehen zu haben. Darüber hinaus war die Hügelkuppe nicht mehr leer wie am Morgen, denn die Einwohner des Dorfes hatten Nors Befehl Folge geleistet und sich außer- aber auch innerhalb des Heiligtums versammelt. Ihre Anzahl überraschte Arri. So groß das Langhaus unten auch sein mochte, war es doch letzten Endes nur ein einzelnes Haus. Die Menge, die Arri nun erblickte, hätte unmöglich darin Platz gefunden, ganz gleich, wie sehr sich die Menschen auch zusammengedrängt hätten. Heute Morgen waren entweder nicht alle Dorfbewohner da gewesen, oder Nor hatte Boten in die umliegenden Dörfer geschickt, um noch mehr Zuschauer herbeizurufen.

Auch die Menschen hier benahmen sich... seltsam, dachte Arri verstört. Wie am Morgen wichen sie nur zögernd zur Seite und bildeten eine Gasse, die gerade breit genug für sie und ihre Bewacher war, was aber einfach nur an ihrer großen Anzahl lag. Was Arri jetzt in den meisten Gesichtern las, das war zum allergrößten Teil nur noch Neugier und vielleicht eine gewisse Anspannung, aber kaum noch Feindseligkeit. Was war hier geschehen?

Sie verscheuchte den Gedanken - nur ein weiteres Rätsel, das sie vielleicht nie lösen würde, und im Grunde wollte sie es auch gar nicht, denn die allermeisten Rätsel, auf die sie bisher gestoßen war, hatten sich am Schluss als ziemlich unangenehme Überraschungen entpuppt - und versuchte stattdessen, sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren, als sie einen der Durchlässe in dem riesigen Palisadenzaun durchschritten. Das Innere von Goseg entpuppte sich jedoch als ebenso große Enttäuschung wie sein Äußeres, wenn nicht als noch größere. Es existierte praktisch nicht. Der gewaltige Zaun aus zugespitzten Baumstämmen umschloss nichts anderes als einen runden Platz, der bis auf einen eher bescheiden wirkenden steinernen Altar in seiner Mitte vollkommen leer war. Das Innere des Heiligtums wirkte so schmucklos und einfach, dass Arri im ersten Moment regelrecht verwirrt war. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte - im Grunde gar nichts, zumindest hatte sie keinerlei feste Vorstellung gehabt -, doch das Heiligtum von Goseg war überall im Lande berühmt, und so hatte sie ganz unwillkürlich angenommen, mit etwas Großem und Beeindruckendem und wahrscheinlich sogar Furchteinflößendem konfrontiert zu werden - und ganz gewiss nicht mit einem Kreis aus Baumstämmen, der es an Größe nicht einmal mit einem mittleren Dorf aufnehmen konnte.

Die Anlage war nicht einmal besonders kunstfertig erbaut. Die einzelnen Stämme waren zwar präzise ausgerichtet und von ihrer Rinde befreit und allesamt von exakt gleicher Größe und gleichem Durchmesser, dafür aber eher schlampig mit dicken Tauen zusammengebunden, und hier und da entdeckte Arri auch einen Stützpfeiler, der sich von innen schräg gegen die hölzerne Wand lehnte, wie um sie am Umfallen zu hindern. In einigen wenigen der näher gelegenen Stämme entdeckte sie grobe Schnitzereien, die meisten aber waren unberührt, und man sah ihnen an, dass sie Wind und Wetter und dem Eis und Schnee des Winters seit vielen Jahren ungeschützt ausgeliefert gewesen waren.

Und das sollte ein Heiligtum sein?, fragte sich Arri verwirrt. Wenn ja, welche Götter beteten Nor und seine Priester dann hier an? Die Götter des verfaulenden Holzes oder der Borkenkäfer und Holzwürmer?

Einer ihrer Begleiter bedeutete ihr mit einer unruhigen Geste weiterzugehen, und Arri beeilte sich, dem Befehl nachzukommen. Nor, Sarn und eine überraschend große Anzahl weiterer Priester und Schamanen, die Arri an ihrer bunten Kleidung und dem farbenfrohen Kopfschmuck erkannte, befanden sich in der Nähe des Altarsteines. Sie erkannte auch Rahn bei ihnen, und auf den zweiten Blick zu ihrer Überraschung (und Beunruhigung) auch Kron und den blinden Schmied. Zwei brennende Fackeln waren rechts und links des Altars in den weichen Boden gerammt worden, und eine Anzahl junger Frauen in gleichartigen, für die kalte Witterung aber viel zu dünnen Kleidern trugen emsig Feuerholz und Schalen mit Obst, Fleisch und anderen Opfergaben herbei, die sie ebenfalls beiderseits des Altarsteines abstellten, bevor sie sich mit gesenkten Häuptern und rückwärts gehend wieder entfernten.

Arri war nicht die Einzige, die das Geschehen ebenso neugierig wie mit Staunen verfolgte. Nahezu jeder, der zusammen mit ihr und ihren Bewachern oder auch durch einen der anderen Zugänge hier hereingekommen war, stand mehr oder weniger hilflos da und blickte entweder Nor und die anderen Priester oder den Altar oder auch die riesigen Wände aus zusammengebundenen Baumstämmen an, und endlich verstand Arri. Was sie auf den Gesichtern all dieser Menschen las, das waren nicht nur Neugier und Ehrfurcht, sondern auch Scheu und Erstaunen und hier und da vielleicht doch so etwas wie Verwirrung oder angedeutete Enttäuschung. All diesen Menschen hier, das begriff sie plötzlich, war das Innere des Heiligtums ebenso fremd und unbekannt wie ihr. Nach dem, was Nor heute Morgen gesagt hatte, war sie einfach davon ausgegangen, dass er seine Untertanen oft hier zusammenrief, um gemeinsam mit ihnen zu beten und den Göttern zu opfern, doch das schien nicht zu stimmen.

Obwohl es unmöglich war, dass Nor und die anderen Schamanen ihre Annäherung nicht bemerkt hatten, wandte sich der Hohepriester erst zu ihr um, als sie den Altarstein in der Mitte des Platzes erreicht hatte und stehen geblieben war, und auch dann erst, nachdem er noch eine geraume Weile hatte verstreichen lassen. Der Blick, mit dem er Arri maß, war ebenso kühl wie abschätzend; Arri entdeckte nicht die geringste Spur von Mitleid darin, oder auch nur das allerkleinste all jener Gefühle, die er zuvor angeblich für sie empfunden hatte. »Ah«, begann er mit schlecht geschauspielerter Überraschung. »Arianrhod. Es ist wohl an der Zeit.«

Augenblicklich wurde es still, denn auch die anderen Priester unterbrachen ihre Gespräche. Das aufgeregte Murmeln und Wispern der Menschen ringsum verstummte nach und nach, als sich die Stille auf dem großen Platz ausbreitete wie eine kreisförmige Welle, die ein ins Wasser geworfener Stein verursachte. Nor wartete mit erstaunlicher Geduld, bis es so ruhig geworden war, wie es Arri angesichts einer so großen Menschenmenge nur möglich schien, dann hob er betont langsam den Kopf und sah aus zusammengekniffenen Augen in den Himmel hinauf. Obwohl er direkt in die grelle Sonnenscheibe blickte, blinzelte er nicht ein einziges Mal. »Es ist an der Zeit«, sagte er, noch einmal und jetzt hörbar lauter. »Lasst uns beginnen.«

»Ich halte es immer noch für Zeitverschwendung«, protestierte Sarn. Er streifte Arri mit einem kurzen, verächtlichen Blick, stockte aber nicht einmal in der Bewegung, sondern wandte sich langsam und mit eindeutig herausfordernder Miene ganz zu Nor um. »Während wir hier stehen und unsere Zeit verschwenden und die Geduld der Götter vielleicht übermäßig strapazieren, ist ihre Mutter zweifellos schon auf dem Weg zu unseren Feinden, um zusammen mit ihnen unseren Untergang zu planen.«

Nicht nur Arri war überrascht, als sie den scharfen, eindeutig herausfordernden Ton in Sarns Stimme vernahm und den dazu passenden Ausdruck auf seinem faltigen Gesicht erblickte. Auch Nor runzelte verwirrt die Stirn, bevor er sich wieder fing und - gefährlich leise - fragte: »Willst du meinen Entschluss in Zweifel ziehen, Sarn? Muss ich dich erinnern, wer ich bin und wer du bist?«

Sarn schüttelte heftig den Kopf. Er wirkte unruhig, aber nicht ängstlich. »Nein! Ihr seid der Hohepriester und der Herr von Goseg, Nor. Aber Ihr seid auch ein Mensch, und Ihr seid für Eure Güte und Barmherzigkeit überall im Land bekannt.«

Arri hätte laut aufgelacht, wären ihr Sarns Worte nicht gleichzeitig so völlig aberwitzig vorgekommen, dass sie ihr wortwörtlich die Sprache verschlugen - und hätte sie nicht gespürt, wie die Spannung zwischen den beiden ungleichen Männern plötzlich eine vollkommen andere, gefährlichere Qualität annahm. Dass Sarn Nor so offen widersprach, war an sich schon ungewöhnlich genug - und für den greisen Schamanen sicherlich nicht ganz ohne Gefahr. Aber da war noch mehr. Was sie in Sarns Stimme hörte und auf seinem Gesicht las, das waren nicht einfach nur Trotz oder Ärger darüber, dass Nor sie nicht auf der Stelle hatte hinrichten lassen. Und plötzlich begriff sie, was hier wirklich vor sich ging. Sarn bot Nor nicht nur aus Verärgerung und gekränktem Stolz so offen die Stirn. Was sich da vor ihren Augen anbahnte, war nichts anderes als eine Machtprobe. Aber konnte Sarn tatsächlich so dumm sein, Nor ausgerechnet hier herauszufordern, im Zentrum seiner Macht und umgeben von all seinen Anhängern und Kriegern?

Verstohlen sah sie sich um, und es dauerte nur noch einen kurzen Moment, bis sie ihren Irrtum bemerkte.

Sarn war nicht allein gekommen. Abgesehen von Jamu und einem der beiden Krieger, die sie am Morgen ins Haus begleitet hatten, sah sie niemanden von Nors schwer bewaffneter Truppe, dafür aber ein paar andere, ihr nur allzu bekannte Gesichter. Zwei oder drei Männer aus ihrem heimatlichen Dorf, aber auch andere, die dann und wann zu Besuch gekommen waren, um zu tauschen oder einfach um ein Nachtlager zu bitten. Und es waren allesamt Männer, die sie auf die eine oder andere Weise mit Sarn in Verbindung brachte. Ihr Herz begann ein wenig schneller zu schlagen. Selbst jetzt, wo sie es mit eigenen Augen sah, erschien ihr die bloße Vorstellung einfach nur widersinnig - und doch war sie plötzlich vollkommen sicher, dass Sarn mit der festen Absicht hierher gekommen war, den Hohepriester herauszufordern; und er war alles andere als unvorbereitet. Sie sah, wie auch auf Rahns Gesicht plötzlich ein angespannter, sehr aufmerksamer Ausdruck erschien, und fragte sich, wem seine Treue wohl gehören würde, sollte es tatsächlich zum Schlimmsten kommen.

»Was willst du damit sagen?«, fragte Nor, noch immer ruhig, als hätte er noch nicht wirklich begriffen, was sich hier abspielte.

»Dass wir alle Euch ehren und schätzen, Nor«, antwortete Sarn und deutete ein demütiges Kopfnicken an. »Ihr seid es, zu dem die Götter sprechen und der über unser aller Sicherheit und Wohlergehen wacht. Aber nun geht es nicht mehr darum, um eine gute Ernte zu beten, oder dass die Götter uns einen milden Winter bescheren und unsere Herden von Raubtieren verschont bleiben.« Er deutete anklagend auf Arri. »Vielleicht hat der Anblick dieses unschuldigen Kindes Euer Herz gerührt, Nor. Ich glaube, dass es so ist, und es ehrt Euch. Aber ich kenne sie besser als Ihr. Sie und ihre Mutter leben seit mehr als zehn Sommern bei uns, und vom ersten Tag an waren sie wie eine schwärende Wunde im Fleisch, die unser aller Gedanken allmählich vergiftet hat. Sie ist nicht unschuldig. Sie ist so schlecht und verdorben wie ihre Mutter, und was Ihr zu spüren glaubt, das ist nicht die Seele eines unschuldigen Kindes, das ausgenutzt und fehlgeleitet wurde, sondern es sind ihre verdorbenen Zauberkräfte, die auch in ihr schon stark sind. Tötet sie! Tötet sie auf der Stelle, und dann schickt all Eure Krieger aus, um nach ihrer Mutter zu suchen und auch sie zu töten! In jedem Augenblick, den wir hier sinnlos vertun, rücken sie und unsere Feinde vielleicht schon näher!«

Hinter Arri erscholl der eine oder andere überraschte Ausruf, und nicht nur sie verwirrte es, dass Nor noch immer ruhig blieb, ja, sich im Stillen sogar über Sarns Worte zu amüsieren schien.

»Alles, was nötig ist, wurde bereits in die Wege geleitet«, antwortete er ruhig. »Ich habe die besten meiner Krieger ausgeschickt, um nach ihr zu suchen. Sie werden sie aufspüren und töten, und wir sind auch gewappnet, wenn die Feinde kommen. Falls sie kommen, Sarn.« Er hob rasch die Hand, als Sarn widersprechen wollte, und plötzlich wurde seine Stimme doch scharf; nicht einmal wirklich lauter, aber so schneidend wie die Klinge eines Schwertes. »Unser Volk ist stark, Sarn. Stark genug, um jedem Feind die Stirn zu bieten, der von außen kommt. Aber ich beginne mich zu fragen, ob unsere wahren Feinde vielleicht nicht von außen kommen, sondern aus unseren eigenen Reihen.«

Das war deutlich. Das unruhige Raunen ringsum wurde lauter, und Arri entging auch nicht die eine oder andere Hand, die zum Schwert glitt oder sich fester um einen Speer, einen Knüppel oder einen Axtstiel schloss. Sie unterdrückte den Impuls, sich hastig umzusehen, spannte sich aber innerlich. Wenn Sarn tatsächlich so dumm war, einen offenen Kampf zu riskieren, dann würde in diesem hölzernen Rund im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle losbrechen, und möglicherweise wäre das die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte.

»Ich bin nicht Euer Feind, Nor«, antwortete Sarn fast sanft. »Im Gegenteil. Ich achte und verehre Euch, wie jeder hier, doch ich sorge mich um unser Volk! Der Feind rüstet zum Krieg! Ihr könnt es nicht wissen, aber ich habe die Schlange gesehen, die wir seit so vielen Sommern in unserer Mitte geduldet haben!«

Nors Blick wurde noch kühler. »Was willst du damit sagen?«

Sarn senkte scheinbar ehrerbietig den Kopf, aber irgendwie gelang es ihm, selbst diese Geste herausfordernd wirken zu lassen. Arri spürte, wie die Spannung ringsum stieg. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass sich etwas entladen wollte. »Vielleicht haben wir zu lange auf Euch gehört, Nor«, fuhr er fort, unbeschadet seiner demütigen Haltung und dem, was er gerade selbst gesagt hatte. »Ihr seid ein guter Herrscher, Nor. Ihr habt uns viele Sommer lang weise und erfolgreich geleitet, unseren Wohlstand gemehrt und über die Sicherheit unseres Volkes gewacht. Aber vielleicht seid Ihr ja jetzt schwach geworden.«

Diesmal war es kein unruhiges Raunen, das durch die Menschenmenge lief, sondern ein erschrockenes Zusammenfahren, als hielten all diese Leute wie auf einen unhörbaren, gemeinsamen Befehl hin gleichzeitig den Atem an. Arri konnte aber auch spüren, wie rings um sie herum eine verstohlene, dennoch aber sehr zielstrebige Bewegung einsetzte. Gingen die Männer, die Sarn mitgebracht hatte, in Position? Wurde sie nicht nur Zeuge einer Kraftprobe, sondern gar eines... Aufstandes?

Sie hoffte es fast. Wenn es tatsächlich zu einem Kampf käme, dann stünden ihre Aussichten gar nicht so schlecht, in dem allgemeinen Durcheinander zu entkommen. Arri hatte schmerzhaft lernen müssen, dass all die schmutzigen kleinen Listen und Finten, die ihre Mutter ihr beigebracht hatte, sie nicht wirklich in die Lage versetzten, einen erwachsenen Mann zu besiegen oder gar einen erfahrenen Krieger - aber in dem Durcheinander, das hier möglicherweise gleich losbrechen würde, hätte sie trotzdem eine Möglichkeit zu entkommen - und die eine oder andere böse Überraschung für jeden parat, der glaubte, leichtes Spiel mit ihr zu haben.

»Ich bin also schwach geworden«, wiederholte Nor in fast nachdenklichem Ton. »Ist es das, was du sagen willst, Sarn? Sag... willst du meinen Platz?«

»Nicht schwach«, antwortete Sarn. »Aber weich. Ihr seid zu sanft, Nor. Euer Herz ist zu groß.« Er deutete erneut herausfordernd auf Arri, ballte die Hand dabei aber zur Faust. »Sie und ihre Mutter haben uns verraten. Sie haben uns dazu gebracht, unseren Glauben und unsere Sitten zu vergessen und uns neuen Dingen zuzuwenden, und die Götter sind zornig. Sie verlangen nach Blut!«

»Nun, dann sollten sie es auch bekommen«, sagte Nor.

Falls Sarn die kaum noch verhohlene Drohung in diesen Worten hörte, so überging er sie. »Die Götter haben zu mir gesprochen, und ich sage Euch, dass wir dieses Kind töten müssen. Auf der Stelle!«

»Das ist seltsam, Sarn«, erwiderte Nor, immer noch auf mittlerweile kaum noch verständliche Art ruhig. »Denn mir haben sie das nicht gesagt. Willst du mich einen Lügner nennen?«

»Nein«, antwortete Sarn. »Aber vielleicht habt Ihr sie nur nicht richtig verstanden. Manchmal ist es nicht leicht, die Worte der Götter zu deuten. Vielleicht haben Euch zu viele Jahre des Friedens und Wohlergehens weich werden lassen, Nor. Aber die friedlichen Jahre sind vorbei! Unser Volk braucht einen starken Herrscher.«

Arri sah Rahn an, der nur ein kleines Stück hinter dem Schamanen stand und nun wie durch Zufall zwei Schritte zur Seite trat und dabei unter seinen Umhang griff. Sie vermutete, dass er eine Waffe dort verborgen hatte, aber sie konnte immer noch nicht einschätzen, auf welcher Seite Rahn nun stand. Auch die Krieger, die sie hierher begleitet hatten, spannten sich offensichtlich, und Arri konnte erneut spüren, wie eine unsichtbare, einzeln nicht wahrnehmbare Bewegung durch die Menge der Zuschauer ging. Hier und da blitzte Metall auf.

»Mir ist schon vor einer geraumen Weile zu Ohren gekommen, dass du meine Worte in Zweifel ziehst und danach trachtest, an meine Stelle zu treten, Sarn«, sagte Nor. Er wirkte nicht wütend, sondern eher enttäuscht. »Aber ich wusste nicht, dass du so weit gehen würdest.« Für einen Moment schien er regelrecht in sich zusammenzusacken, als wiche mit einem Mal jede Kraft aus seinem Körper. Er stützte sich schwer auf seinen Stock und sah sich dann lange und aufmerksam und mit unübersehbarer Trauer auf dem Gesicht um. »Das hier ist heiliger Boden, Sarn. Noch nie wurde das Blut eines Menschen auf diesem Boden vergossen, wenn es denn nicht während einer Opferzeremonie geschah. Bist du wirklich bereit, die Männer, die du mitgebracht hast, an diesem Ort nach ihren Waffen greifen zu lassen?«

»Nicht, wenn es nicht sein muss«, antwortete Sarn. Er wirkte nun doch angespannt, auch wenn er sich alle Mühe gab, es zu verhehlen. »Es ist nicht Euer Blut, das ich will, Nor«, Sarn maß den um einen Kopf größeren Hohepriester dabei mit einem Blick, der das genaue Gegenteil auszusagen schien. »Wir alle verehren und schätzen Euch und achten Eure Macht und vor allem Eure Weisheit. Doch nun gilt es, den Willen der Götter zu befolgen.«

Und noch einmal spürte Arri, wie die Spannung ringsum stieg. Es war ein Gefühl wie unmittelbar vor dem Ausbruch eines Gewitters. Etwas schien in der Luft zu knistern, unsichtbar, aber so spürbar wie das Kribbeln zahlloser winziger Insektenbeine auf der Haut.

Der Hohepriester blieb Sarn die Antwort für eine geraume Weile schuldig. Er maß ihn nur mit einem sonderbaren, schwer zu deutenden Blick, dann schüttelte er noch einmal traurig den Kopf und sah wieder in den Himmel hinauf. Schließlich seufzte er tief. »Es ist Zeit«, murmelte er. »Die Sonne steht hoch.«

»Zeit wofür?«, erkundigte sich Sarn misstrauisch.

»Zu den Göttern zu sprechen und ihren Rat zu erflehen«, antwortete Nor. Ein müdes Lächeln erschien auf seinen Lippen und verschwand wieder, als er den Blick von der grellen Sonnenscheibe am Himmel losriss und sich wieder dem Schamanen zuwandte. »Vielleicht hast du Recht, mein Freund«, sagte er sanft.

Von allen Reaktionen, die er erwartet hatte, schien das für Sarn die überraschendste zu sein, denn für einen Moment wirkte er einfach nur fassungslos. Dann machte ein Ausdruck von Misstrauen in seinen Augen Platz. »Ihr...?«, begann er.

»Vielleicht haben wir zu lange in Frieden gelebt, und vielleicht habe ich tatsächlich verlernt, die Stimmen der Götter richtig zu deuten«, unterbrach ihn Nor. »Niemals darf auf diesem heiligen Boden Blut vergossen werden, Sarn, es sei denn das eines Opfers, nach dem die Götter verlangen. Aber vielleicht hast du ja Recht, und es ist das Leben dieses Mädchens, das sie begehren. Lass uns die Götter gemeinsam fragen, und wir werden sehen, wen von uns sie erleuchten.«

Sarn wirkte noch immer misstrauisch, hatte auch ebenso sichtlich mit seiner Überraschung zu kämpfen. Und auch Arri glaubte nicht, dass Nor einfach so aufgeben würde. Was immer der Hohepriester vorhatte, es konnte kaum das sein, was Sarn erwartete.

Der greise Schamane schien für sich zu dem gleichen Schluss gekommen zu sein, denn mit einem Mal wich die Überraschung auf seinem Gesicht Trotz und Entschlossenheit, und er setzte dazu an, etwas zu sagen, doch diesmal kam ihm Nor zuvor. Rasch drehte sich der Hohepriester um und machte eine gebieterische Geste mit seinem Stab, und das halbe Dutzend Dienerinnen, das die Opferschalen und das Holz gebracht hatten, trat wieder näher und begann das Reisig mit geschickten Bewegungen vor ihm auf der Oberseite des Altars aufzuschichten, bis ein spitzer Kegel entstanden war, der Nor fast überragte. Auch die Opferschalen wurden rechts und links davon aufgebaut, zwei Schalen mit Wasser, zwei mit Nahrung, dann entzündete eine der jungen Frauen den Inhalt einer weiteren, kleineren Schale, der aber nur einen kurzen Augenblick mit heller Flamme brannte, bevor sie in dunkle Glut überging, aus der ein zäher, blaugrauer Rauch aufstieg. Nor senkte seinen Stab, und irgendwo, so geschickt versteckt und postiert, dass man seinen Ursprung weder erkennen noch mit dem Gehör orten konnte, hob ein dumpfer, rhythmischer Trommelschlag an.

»Lasst uns zu den Göttern sprechen«, sagte Nor nun mit lauter, weit tragender Stimme. Die unruhige Bewegung auf dem Platz nahm zu, war nun aber von gänzlich anderer Art und strahlte mehr Furcht als Angriffslust aus, und Arri konnte fast körperlich spüren, wie sich etwas in der Menge, die sie umgab, veränderte. Vielleicht hatte Sarn noch vor Augenblicken eine gar nicht mal geringe Aussicht gehabt, die Menschen hier auf seine Seite zu ziehen, doch nun war sie vorbei.

Aber selbstverständlich gab er nicht so einfach auf. Für einen ganz kurzen Moment noch wirkte er verwirrt, zornig und hilflos, dann aber presste er trotzig die Lippen aufeinander und nickte. »Dann lasst die Götter entscheiden.«

Der Trommelschlag wurde lauter. Auch die anderen Priester traten näher an den Altar heran und begannen die gleiche Art von monotonem, an- und abschwellendem Singsang, den Arri schon am Morgen unten im Haus gehört hatte. Sarn rührte sich im allerersten Moment nicht von der Stelle, obwohl die Männer in ihren Reihen einen freien Platz für ihn gelassen hatten, sondern starrte Nor jetzt unverhohlen feindselig an, dann aber wich er mit einem trotzigen Schritt zurück auf den ihm zugewiesenen Platz - oder wollte es. Arri war ganz sicher, dass Nor abgewartet hatte, wie Sarn sich entschied, dann jedoch machte er eine rasche, abwehrende Geste und winkte den Schamanen ganz im Gegenteil wieder näher zu sich und dem Altar heran.

»Nicht doch, mein Bruder«, sagte er. »Wir wollen gemeinsam mit den Göttern reden, ihre Antwort gemeinsam vernehmen und den Menschen hier verkünden.«

Im allerersten Moment wirkte Sarn überrascht und rührte sich nicht von der Stelle, sondern ließ den Blick misstrauisch über Nors hoch aufgeschossene, barhäuptige Gestalt mit dem vollkommen haarlosen Gesicht schweifen, doch bevor sein Zögern wirklich auffallen konnte, trat er wieder auf den Hohepriester zu und nahm an seiner Seite Aufstellung. Nor nickte zufrieden, drehte sich mit einer betont langsamen Bewegung wieder zum Altar um und stampfte wuchtig mit seinem Stock auf. Der Zeremoniengesang der Priester hinter ihm wurde lauter, und auch der Schlag der unsichtbaren Trommeln nahm an Lautstärke und Hektik zu. Wieder traten zwei der jungen Dienerinnen an den Altar heran. Sie brachten weitere kleine Schalen, die sie mit einem brennenden Holz entzündeten und mit ehrfürchtigen Bewegungen vor den beiden so ungleichen Männern auf den schwarzen Stein setzten.

Der Trommelschlag wurde noch einmal lauter, und auch der Gesang der Priester nahm an Eindringlichkeit zu und wurde zugleich noch rhythmischer, härter, bis er einen nahezu hypnotischen Takt angenommen hatte, der schließlich sogar ihren Herzschlag in seinen Rhythmus zu zwingen begann, vielleicht sogar ihre Gedanken. Die Priester begannen sich jetzt im Takt ihres eigenen Gesanges hin und her zu wiegen, und einzig Nor und der greise Schamane standen weiterhin vollkommen reglos da; Nor mit geschlossenen Augen und einem Gesicht, auf dem sich ein Ausdruck höchster Konzentration spiegelte, Sarn ebenfalls reglos, aber sichtlich beunruhigt, beinahe als wüsste er nicht genau, was nun geschehen würde, oder hätte Angst davor. Er hatte hoch gespielt, dachte Arri, und vielleicht kam ihm allmählich zu Bewusstsein, dass es möglicherweise zu hoch gewesen war. Wenn er den Zweikampf der Magier verlor, zu dem er Nor herausgefordert hatte, dann stand möglicherweise sein Leben auf dem Spiel.

Arri sah noch einmal zu Rahn und den beiden anderen Männern hin, konzentrierte sich dann aber wieder ganz auf das Geschehen am Altar. Auch wenn sie es nicht wollte, konnte sie doch eine gewisse Neugier nicht ganz verhehlen. Wie jeder im Dorf hatte sie zahllose Male zugesehen, wenn Sarn seine Beschwörungen und Heilzeremonien abhielt, das Orakel las oder die Götter anrief, aber das hier war... etwas anderes. Wenn sie den Ausdruck immer mühsamer unterdrückter Anspannung und Furcht auf Sarns Zügen richtig deutete, dann war es offensichtlich auch ihm fremd; oder bereitete ihm zumindest Unbehagen. Dabei stand Nor noch immer völlig reglos und mit geschlossenen Augen da, als warte er darauf, dass etwas Bestimmtes geschähe, während sich der Gesang der Priester und der dumpfe Trommelschlag, der ihn untermalte, immer weiter und weiter steigerten.

Die Glut in den kleinen, steinernen Schalen, welche die Dienerinnen abgestellt hatten, wurde allmählich dunkler, der Rauch aber, der aus ihnen aufstieg, nahm im Gegenteil noch zu und wirkte jetzt wie der zähe, schwarze Qualm, der entsteht, wenn man Pech in Brand setzt. Ein leicht süßlicher, nicht einmal unangenehmer Geruch wehte zu Arri herüber, und sie spürte, wie ein ganz sachtes Schwindelgefühl von ihr Besitz ergriff und dann wieder verschwand, bevor es ihre Gedanken tatsächlich verwirren konnte. Der Rauch, der aus den Opferschalen emporstieg, musste eine berauschende Wirkung haben, aber das überraschte sie keineswegs. Sarn verwendete für seinen Zeremonien im Dorf oft berauschende Kräuter oder auch gewisse Pilze und Flechten, die ihm halfen, seinen Geist zu befreien und mit den Göttern Kontakt aufzunehmen; wenigstens war es das, was er behauptete.

Die Meinung ihrer Mutter war dazu ein wenig anders gewesen und hatte sich hauptsächlich darauf beschränkt, Arri davor zu warnen, so etwas auch nur zu versuchen. Viele der geheimnisvollen Essenzen, die er und die anderen heiligen Männer benutzten, um ihren Geist zu befreien, mochten dies tatsächlich tun, waren dafür aber umso schädlicher für den Körper, und Arri hatte sich schon lange ihre eigenen Gedanken darüber gemacht. Vielleicht war es ja kein Zufall, dass eigentlich alle heiligen Männer und Priester, die sie kannte, so böse und verbittert waren. Was, wenn diese berauschenden Mittel, auf Dauer verwendet, eben nicht nur den Geist befreiten, sondern auch den Charakter veränderten? Vielleicht waren die Götter, von denen Sarn und Nor und die anderen Priester so oft sprachen, ja gar nicht so hart und gnadenlos. Vielleicht waren es die Männer, die behaupteten, in ihrem Auftrag zu reden.

Zeit verging. Eine lange Zeit, in der sich der Gesang und der dumpfe Trommelschlag weiter und weiter steigerten und Nor immer noch völlig reglos dastand und den dunkelgrauen Rauch einatmete, der aus den Opferschalen stieg. Auf seinem Gesicht lag jetzt ein Ausdruck von Verzückung, vielleicht aber auch von Schmerz, und seine Stirn und die Wangen glänzten vor Schweiß. Auch Sarn stand so da, dass der schwarze Rauch sein Gesicht und seinen Oberkörper fast zur Gänze einhüllte, aber Arri fiel auf, dass er den Kopf leicht zur Seite gedreht hatte und nur flach atmete. Zweifellos erlag er trotzdem der berauschenden Wirkung des Rauches, vielleicht aber nicht im gleichen Ausmaß wie der Hohepriester, und Arri sah sich in ihrer Meinung über den alten Schamanen abermals bestätigt. Sarn hatte erkannt, dass die Sache ganz und gar nicht so lief, wie er es sich vorgestellt hatte, und war wohl zu dem durchaus richtigen Schluss gekommen, dass es besser war, einen klaren Kopf zu bewahren. Arri hatte jedoch das sehr sichere Gefühl, dass ihm das nicht allzu viel nutzen würde. Was hier geschah, war nur das Vorspiel zu etwas viel Größerem, das Nor plante.

Und endlich erwachte auch der Hohepriester aus seiner Erstarrung. Es begann damit, dass er ganz leicht zuerst den Kopf, dann die Schultern und schließlich den gesamten Oberkörper hin und her wiegte, eine sachte Bewegung, fast wie ein Beben am Anfang, die aber rasch deutlicher und schneller wurde. Nors Lippen begannen zu zittern. Am Anfang noch lautlos, dann aber mit schriller, hoher Stimme stieß er Laute hervor, von denen Arri nicht sagen konnte, ob es Worte einer ihr unbekannten fremden Sprache oder einfach nur sinnloses Gestammel waren; in Rhythmus und Intonation jedoch fügten sie sich gänzlich in den Gesang der Priester ein, der mittlerweile hart und befehlend geworden war. Nor stampfte jetzt rhythmisch mit den Beinen auf und bewegte Kopf und Oberkörper immer hektischer hin und her. Auf seinem Gesicht erschien der Ausdruck heiliger Verzückung, und Schweiß bedeckte mittlerweile längst nicht mehr nur seine Stirn, sondern sein gesamtes Gesicht und den Hals und lief in Strömen an seiner nackten Brust hinab.

Auch Sarn hatte angefangen, sich wie in Trance zu bewegen und schrille, unverständliche Rufe auszustoßen, aber seine Bewegungen wirkten ungelenker und gezwungener, und Arri sah, wie er Nor immer wieder ebenso verwirrte wie misstrauische Blicke zuwarf. Nor mochte sich in Trance befinden, der greise Schamane aber keineswegs, und wenn doch, dann nicht annähernd so tief wie der Herr von Goseg. Was immer Nor plante, dachte sie, Sarn hatte bereits verloren. Und anscheinend wusste er es.

Nor bewegte sich immer hektischer und schneller, stampfte jetzt nicht mit den Füßen auf, sondern tanzte auf der Stelle, und dann, ganz plötzlich, brachen Gesang und Trommelschlag nach einem letzten, gewaltigen Höhepunkt ab, und etwas wie ein erwartungsvolles Seufzen ging durch die versammelte Menschenmenge.

Sie wurden nicht enttäuscht. Plötzlich warf Nor mit einem schrillen Schrei den Kopf in den Nacken, schleuderte seinen Stab davon und streifte in derselben Bewegung sowohl seinen Kopfschmuck als auch den federgeschmückten Mantel ab. Darunter war er nackt bis auf einen schmalen Lendenschurz, und Arri konnte zum ersten Mal sehen, wie knochig und ausgezehrt der Hohepriester in Wahrheit war. Seine Haut, die am ganzen Körper vor Schweiß glänzte, als hätte er sich mit Öl eingerieben, und je nachdem, wie das Licht der Sonne darauf fiel, einen schwachen, blaugrünen Schimmer zu haben schien, spannte sich über seine schweren Knochen und war übersät mit Narben, die zum Teil zeremonieller Natur waren, zum allergrößten Teil aber die Spuren darstellten, die ein sehr langes und nicht immer friedliches Leben an ihm hinterlassen hatte.

Der Bereich rings um seinen Nabel sah aus, als hätte vor langer Zeit jemand (mit Erfolg) versucht, seinen Bauch aufzuschlitzen, und Arri fragte sich vergebens, wie ein Mensch, der nicht über das große Wissen und die Heilkräfte ihrer Mutter verfügte, eine solche Verletzung überleben konnte. Arme und Beine waren mit Schlangenlinien und Runen übersät, die er sich offensichtlich freiwillig in die Haut geschnitten hatte, und da waren überall kleine, harte Stellen, die an rissig gewordenes altes Leder erinnerten und vielleicht alte Brandwunden sein mochten. Ein erschrockenes Raunen lief durch die Reihen der nächststehenden Zuschauer, und auch Sarn riss erstaunt die Augen auf und starrte den Hohepriester an.

Und es war noch nicht vorbei. Nors Tanz wurde immer wilder und hektischer. Wie in Krämpfen warf er den Kopf hin und her und streckte die Hände gegen den Himmel aus, als versuche er, die lodernde Sonnenscheibe dort oben zu fassen und auf die Erde herabzuziehen...

... und dann griff er mit beiden Händen in die Opferschale, die vor ihm auf dem Altar stand!

Vielleicht war es ein Schmerzensschrei, der über seine Lippen kam, vielleicht auch ein Ausruf der Verzückung, als er die Arme hochriss und zwei Hände voller dunkelrot lodernder Glut zwischen den Fingern zerquetschte. Aus den erstaunten Ausrufen der Menschen wurden Schreckens- und Entsetzensschreie, und die am nächsten Stehenden prallten unwillkürlich zurück. Nor rief immer lauter, schrie seinen Schmerz hinaus oder erflehte den Beistand der Götter oder beides, warf sich schließlich in einer nahezu grotesk wirkenden Verrenkung herum und ließ die Reste der Glut, die sich noch zwischen seinen Fingern befanden, auf das aufgeschichtete Reisig fallen.

Das Holz war so trocken, dass es augenblicklich Feuer fing. Eine mehr als mannshohe Stichflamme schoss in die Höhe, und ein ganzer Chor erschrockener Schreie und Rufe wurde rings um Arri laut. Aus dem aufgeschichteten Reisig stoben Funken, unzähligen, winzigen glühenden Insekten gleich, die sich gierig auf alles stürzten, was sie erreichen konnten, und die Hitze war mit einem Mal so gewaltig, dass selbst Arri das Gefühl hatte, eine trockene, heiße Hand streiche über ihr Gesicht. Dort, wo Nor und Sarn standen, musste sie unerträglich sein.

Vielleicht, weil es nicht nur Reisig und trockenes Holz waren, die brannten.

Arris Augen weiteten sich ungläubig, und auch ihrer Kehle entrang sich ein spitzer, erschrockener Schrei, als sie sah, wie die Flammen nach Nors Fingern und Unterarmen züngelten, sie in Brand setzten und rasend schnell an seinen Schultern hinaufkrochen. Mit einem dumpfen, weithin hörbaren Wusch! fingen Nors Kopf und Oberkörper Feuer, dann brannte er plötzlich zur Gänze! Der Chor gellender Entsetzensschreie rings um Arri wurde lauter, und etliche Menschen fuhren herum und suchten ihr Heil in der Flucht, die meisten aber starrten den hell lodernden Hohepriester einfach nur fassungslos und voller Entsetzen an.

Auch Sarn war zwei oder drei Schritte weit zurückgeprallt. Sein Umhang schwelte. Die fliegenden Funken hatten Dutzende winziger Löcher in seinen Federschmuck gebrannt, von denen einige rot glommen, und auch aus seinem Haar und sogar von seinem Gesicht stieg dünner, grauer Rauch auf, doch er schien es nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen. Fassungslos starrte er den Hohepriester an, der vollkommen ruhig inmitten der tobenden Flammen stand.

Hinterher, wenn Arri an die unglaubliche Szene zurückdachte, wurde ihr klar, dass es nicht lange gedauert hatte; allenfalls die Dauer eines einzelnen, schweren Atemzugs. Aber während es andauerte, schien die Zeit stillzustehen, und es war ein Anblick, den sie nie wieder gänzlich vergessen sollte. Auch sie schrie auf und prallte zurück und wäre davongerannt, hätte sich nicht plötzlich eine starke Hand von hinten um ihren Arm geschlossen und sie festgehalten. Ebenso instinktiv wie vergeblich versuchte sie, sich loszureißen, doch ihr Blick hing die ganze Zeit wie gebannt an der brennenden Gestalt des Hohepriesters.

Für sie war es nicht Nor, den sie sah. Plötzlich war sie wieder im Haus des Händlers, spürte noch immer den Schmerz über Runas Tod, und der brennende Mann war wieder da, der Krieger, den sie selbst in Brand gesetzt hatte, um ihn auf die schrecklichste nur denkbare Art zu töten. Er war zurückgekommen, um sie zu holen und für das zu bestrafen, was sie ihm angetan hatte. Ihre Mutter hatte sich geirrt, und Nor und die anderen Prediger hatten Recht. Es gab die Götter, und sie achteten genau auf das, was die Menschen taten, und bestraften sie hart, wenn sie sich ihrem Willen widersetzten.

Dann trat Nor - ganz ruhig - zurück und senkte die Arme, und im gleichen Maße, in dem er es tat, wurden die Flammen, die ihn einhüllten, kleiner und erloschen nur einen Augenblick später ganz.

Der Hohepriester taumelte. Rauch stieg von seiner Haut auf, die plötzlich grau und von einer Schicht feiner Asche bedeckt schien, er machte einen mühsamen, unsicheren Schritt zur Seite und sank dann auf die Knie. Sarn stieß ein erschrockenes Keuchen aus und machte einen Schritt auf ihn zu, blieb aber sofort wieder stehen, und auch das entsetzte Schreien und Flüchten und Wegrennen ringsum hörte plötzlich wie abgeschnitten auf. Nor wankte auf den Knien, drohte nach vorn zu kippen und richtete sich mit einer gewaltigen Kraftanstrengung wieder auf, und dann geschah etwas ganz und gar Unglaubliches: langsam, unendlich mühevoll, stemmte sich Nor wieder in die Höhe, stand einen Moment lang schwankend und mit beiden Händen schwer auf den Rand des Altars gestützt da und ließ schließlich auch diesen Halt los. Sein Körper und sein Gesicht boten einen Grauen erregenden Anblick. Seine gesamte Haut schien zu Asche verbrannt zu sein. Seine Lippen waren gerissen und nässten, und aus seinen Augen liefen Tränen, die schmierige Spuren in die Ascheschicht auf seinem Gesicht zeichneten und die an eine barbarische Kriegsbemalung erinnerten. Er taumelte vor Schwäche und Schmerz, und doch war der Ausdruck auf seinen Zügen noch immer der höchster Verzückung, wenn auch zugleich abgrundtiefer Erschöpfung.

Arris Herz raste, als wollte es zerspringen. Sie zitterte am ganzen Leib. Ihr Verstand sagte ihr, dass die Gefahr vorüber war. Es war nicht der brennende Mann aus dem Bergwerk. Er war es nie gewesen. Es war Nor, und sie war keinen Moment lang wirklich in Gefahr gewesen, aber das war nur die Stimme ihres Verstandes. Da war plötzlich etwas in ihr, das stärker war als ihre Vernunft, stärker als alles, was sie gelernt und gesehen hatte, und das ihr sagte, dass gleich etwas noch viel Schrecklicheres geschehen würde, dass sie bezahlen musste für das, was sie getan hatte.

Noch einmal vergingen Atemzüge, die sich zu schieren Ewigkeiten dehnten, dann machte Nor einen weiteren, wankenden Schritt zur Seite, sodass er nun vollkommen frei stand, hob die Hände und fuhr sich mühsam damit über das Gesicht. Tränen und graue Asche vermischten sich zu einer schmierigen Schicht, die aus der vermeintlichen Kriegsbemalung das Antlitz eines Raubtiers werden ließ, doch die Haut, die darunter zum Vorschein kam, war unversehrt.

Für einen Moment schien jedermann auf dem weiten Platz den Atem anzuhalten, und abermals kam es Arri vor, als wäre die Zeit einfach stehen geblieben. Dann schrie irgendwo eine Frau - vielleicht auch ein Mann -, und Arri bemerkte aus den Augenwinkeln, wie sich etliche Männer und Frauen in schierer Panik zur Flucht wandten; ja, sie war sogar sicher, dass mehr als einer der Zuschauer schlichtweg in Ohnmacht fiel. Die allermeisten aber standen einfach genau wie sie reglos da und starrten das unglaubliche Bild an, das sich ihnen bot.

Nors Haut rauchte. Da, wo er sich die Ascheschicht heruntergewischt hatte, schimmerte sie in einem blassen Graugrün, und hier und da sah es gar aus, als wäre sie geschmolzen und hätte Blasen geschlagen. Sein Gesicht war noch immer verzerrt, aber es war Arri unmöglich zu sagen, warum.

»Nun... habe ich... zu den Göttern... gesprochen«, murmelte Nor. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Selbst Arri, die ihm von allen hier auf dem Platz beinahe am nächsten stand, hatte Mühe, die gekrächzten Worte zu verstehen - aber sie galten auch nicht ihr oder irgendeinem sonst hier, sondern einzig Sarn.

Der Schamane starrte ihn aus großen Augen an. Seine Lippen zitterten, als er zu antworten versuchte, aber er brachte keinen Laut hervor. Sein Blick irrte zwischen Nors Gestalt und dem längst zusammengefallenen Scheiterhaufen aus dürrem Reisig hin und her, und der Ausdruck, der allmählich darin aufglomm, spiegelte pures Entsetzen.

»Aber...«

»Die Götter haben zu mir gesprochen«, sagte Nor noch einmal, und jetzt mit lauterer, fester Stimme. Er wankte noch immer leicht, und Arri war ziemlich sicher, dass er Schmerzen litt, hatte sich aber trotzdem weit genug in der Gewalt, um sich umzudrehen und gemessenen Schrittes um den Altar herumzutreten, sodass er nun in voller Größe und unversehrt von jedermann zu sehen war. »Sie haben zu mir gesprochen, und ich soll euch allen ihren Willen kundtun!«

Seine dramatische Eröffnung sollte ihre Wirkung auf die Menge nicht verfehlen. Arri las noch immer Angst und pures Entsetzen auf zahlreichen Gesichtern, aber sie konnte die atemlose Ehrfurcht, die sich unter der Menge ausbreitete, fast körperlich spüren. Mehr als ein Mann und eine Frau sanken auf die Knie und senkten zitternd vor Furcht die Häupter, aber die Mehrzahl stand noch immer wie gelähmt da und starrte die halb nackte Gestalt des Hohepriesters an, von dessen Haut weiterhin dünner grauer Rauch aufstieg. Er hatte etwas von einem Dämon, fand Arri.

Eine der Dienerinnen - Arri erkannte sie erst jetzt als Nors jüngere Frau, das Mädchen, das sie am Morgen so feindselig angestarrt hatte - kam heran und versuchte Nor seinen Umhang um die Schultern zu legen, aber er schob sie nur unwillig zur Seite und hob in der gleichen Bewegung die Arme.

»Unser Bruder Sarn hatte Recht«, rief er mit lauter und nun wieder festerer Stimme. »Ich habe die Götter befragt, und sie haben mir ihren Willen offenbart!«

Sarn drehte mit einem Ruck den Kopf und starrte aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen zu Nor hin, sagte aber nichts. Er wirkte mit einem Mal sehr aufmerksam.

»Wir sind zu weich geworden«, fuhr Nor fort. »Unser Volk hat verlernt, für sein Überleben zu kämpfen und die nötige Härte walten zu lassen, und es ist wahr, dass sich unsere Feinde bereitmachen, uns zu überfallen und uns alles zu nehmen, wofür unsere Väter und deren Väter gekämpft und ihre Leben gegeben haben. Deshalb sei Folgendes beschlossen: Wir werden wieder nach den Regeln unserer Väter leben und nur die bei uns dulden, die für ihr Essen auch arbeiten können. Wir werden den alten Gesetzen gehorchen und die alten Götter anbeten und ihnen opfern, nicht fremden Göttern, die uns mit ihren Gaben einzulullen versuchen, damit unsere Wachsamkeit nachlässt und unsere Feinde leichtes Spiel mit uns haben.«

Sarn wirkte plötzlich eher noch misstrauischer, kam aber trotzdem mit langsamen Schritten näher. Er stützte sich schwer auf seinen Stab, als bereite ihm das Gehen mit einem Male Mühe, und seine freie Hand suchte zusätzlich Halt an der Kante des schwarzen steinernen Altars und berührte dabei wie zufällig die Schale, aus der Nor die vermeintliche Glut genommen hatte. Seine Hand zuckte zurück, und ein plötzlicher Ausdruck von Schmerz verzerrte seine Lippen und verschwand dann wieder.

Nor wartete reglos, bis der Schamane an seine Seite getreten war, und ließ auch dann noch eine weitere Zeitspanne verstreichen, bevor er sich halb umdrehte und gebieterisch auf Rahn wies. »Die beiden Männer, die du mitgebracht hast, können nicht länger in unserer Mitte bleiben. Wir alle wissen, was sie für uns getan haben, und in unseren Herzen wird immer ein Platz für sie sein, aber nicht mehr an unseren Feuern. Das haben die Götter über ihr weiteres Schicksal entschieden.«

Krons Gesicht verlor jede Farbe, während der Schmied einfach nur verwirrt dreinblickte und offensichtlich nicht wirklich verstanden hatte, was Nors Worte bedeuteten. Rahn jedoch sog ungläubig die Luft ein und starrte den Hohepriester aus aufgerissenen Augen an. »Aber das... das könnt Ihr doch nicht machen«, stammelte er. »Nor!«

»Schweig!«, fuhr ihn Sarn an. »Was fällt dir ein, dem Hohepriester zu widersprechen? Du hast seine Worte gehört!«

»Aber das ist nicht gerecht!«, protestierte Rahn. »Du hast doch selbst gesagt, dass...«

»Lass es gut sein, Sarn«, unterbrach ihn Nor. Er streckte den Arm aus, wie um Sarn die Hand auf die Schulter zu legen, führte die Bewegung dann aber im letzten Moment nicht zu Ende, sondern prallte fast erschrocken zurück, was Arri nicht verstand, obwohl sie das Gefühl hatte, es eigentlich verstehen zu müssen. »Du darfst Rahn nicht zürnen, Sarn. Diese Männer sind seine Freunde, die er sein Leben lang kennt, und er hat sie sicher im Vertrauen darauf hierher gebracht, dass die Götter auch jetzt wieder die gleiche Milde walten lassen werden, an die wir uns seit Längerem gewöhnt haben.«

Sarn funkelte ihn an. Der Vorwurf in Nors Stimme war kaum noch verhohlen gewesen. Er schluckte die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag, im letzten Moment herunter, maß Nor noch einmal mit einem Blick, in dem sich beißender Zorn, aber auch mindestens ebenso starke Angst mischten, und wandte sich wieder zu Rahn und seinen beiden Begleitern um, vermutlich, um seinen Zorn nun an ihnen auszulassen. Doch Nor kam ihm auch jetzt wieder zuvor, indem er sich mit fester Stimme, aber überraschend sanftem, fast um Vergebung bittendem Ton an den Fischer wandte.

»Nicht ich bin es, der das entschieden hat, Rahn«, sagte er bedauernd. »Ginge es nach mir, hätten diese beiden so lange sie leben einen Platz in unserer Mitte, denn ich weiß, dass sie aufrechte Männer sind, und was ihnen zugestoßen ist, das geschah im Dienste unseres Volkes.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Aber die Götter haben anders entschieden, und es steht uns nicht zu, ihre Entscheidung zu kritisieren, oder uns ihr gar zu widersetzen. Es tut mir Leid, aber das ist der Befehl der Götter: Du wirst diese beiden bis zum Rand unseres Landes begleiten, von wo aus sie allein weiterziehen müssen. Sie mögen so viel Wasser und Nahrung mitnehmen, wie sie tragen können, warme Kleidung und Waffen für die Jagd, aber es ist ihnen verboten, jemals wieder einen Fuß auf unser Land zu setzen.«

Sarn sah immer noch überrascht aus, zugleich auch äußerst zufrieden, und während er sich wieder umdrehte, um Rahns Reaktion zu beobachten, streifte sein Blick kurz und voller boshafter Vorfreude Arris Gesicht, und erst in diesem Moment, dafür aber mit umso größerer Wucht, wurde ihr klar, was die Worte des Hohepriesters wirklich bedeuteten - und was sie unter Umständen für sie bedeuten mochten. Wenn Nor über diese beiden Männer, die nicht ganz unschuldig an ihrem Schicksal waren, so grausam und unbarmherzig entschied, welches Schicksal mochte er dann erst ihr zugedacht haben?

»Aber das ist...« Rahn brach mit einem hilflosen Kopfschütteln ab und drehte die Hände fast flehend in Nors Richtung. »Das ist nicht... nicht gerecht.«

»Es ist der Wille der Götter«, sagte Nor nur noch einmal. »Und es steht uns Menschen nicht zu, nach dem Sinn ihrer Worte zu fragen. Du wirst gehorchen.«

Einen Moment lang sah Rahn so aus, als wolle er noch einmal widersprechen, dann aber neigte er demütig den Kopf und ließ in einer plötzlich kraftlosen Geste auch die Arme wieder sinken. Achk hatte offensichtlich immer noch nicht wirklich begriffen, was geschah, vielleicht wollte er es auch nicht, während sich auf Krons Gesicht ein Ausdruck zwischen abgrundtiefem Entsetzen und bitterer Enttäuschung ausbreitete. Der Winter stand vor der Tür. Vielleicht würde es in wenigen Tagen bereits zu schneien anfangen. Ein Einarmiger und ein Blinder, allein auf sich gestellt in der Wildnis und in dieser Jahreszeit - Nors Worte bedeuteten nichts anderes als ihr sicheres Todesurteil.

Und sie selbst?, dachte Arri. Welches Schicksal mochten Nors Götter für sie bereithalten? Sie fühlte sich wie betäubt. Für einige kurze Augenblicke hatte sie Hoffnung geschöpft und sich eingebildet, Nor wäre tatsächlich der gerechte, weise Herrscher, als der er sich so gern gab, oder wenigstens ein Mann, in dessen Herzen noch Platz für Mitleid verblieben war, aber nun begriff sie, wie lächerlich diese Hoffnung gewesen war. Nichts anderes als eine Lüge, mit der sie sich selbst etwas vorgemacht hatte. Viel zu spät wurde ihr klar, dass sie in dem Augenblick, in dem Nor in den Mantel aus Flammen gehüllt dagestanden hatte, tatsächlich eine gute Aussicht gehabt hätte zu entkommen, denn niemand hätte ihr größere Beachtung geschenkt, wäre sie herumgefahren und davongerannt. Aber sie hatte wie alle anderen dagestanden und das unglaubliche Schauspiel angestarrt, und damit unwiderruflich ihre letzte Gelegenheit vertan, am Leben zu bleiben. Letzten Endes hatte der brennende Mann aus der Mine seine Rache doch noch bekommen.

»Und die Götter«, fuhr Nor mit unveränderter, ruhiger Stimme fort, »haben auch entschieden, was mit diesem Kind zu geschehen hat.«

Arris Herz begann schneller zu hämmern und schien ihr gleichsam aus der Brust springen zu wollen. Sie versuchte, den Hohepriester so gefasst und herausfordernd anzusehen, wie sie nur konnte, aber ihre Augen füllten sich plötzlich mit Tränen, und ihre Kraft reichte nicht aus, seinem Blick standzuhalten.

»Es ist ihr Wille, dass dieses Mädchen bei uns bleiben und eine der Unseren werden soll«, fuhr Nor fort. »Sie wird Jamus Weib werden und ihm dienen und kräftige Söhne gebären.«

Etwas in Arri zerbrach. Das war also das Ende. Ihr Leben hatte noch nicht einmal richtig angefangen, und jetzt würde sie...

... was?!

Verwirrt und hoffnungslos überrascht sah sie sich um. Ihre Ohren mussten ihr einen bösen Streich gespielt haben. Aber wenn, dann waren es nicht nur ihre Ohren gewesen. Auch auf Sarns faltenzerfurchtem Gesicht zeichnete sich für einen Moment ein Ausdruck ungläubiger Verblüffung ab, dann Fassungslosigkeit und jäh auflodernde Wut, und als Arri sich verstört umsah, erblickte sie auf den Gesichtern aller anderen dieselbe Überraschung und den gleichen Ausdruck ungläubigen Zweifels.

Aber das konnte doch nicht sein. Sie... sie musste sich getäuscht haben!

»Ihr... Ihr wollt mich nicht... nicht töten?«, murmelte sie stockend.

»Nicht was ich will, zählt«, antwortete Nor. »Ginge es nach mir und dem Willen vieler anderer hier, so würdest du für die Schuld deiner Mutter bezahlen, wie es Sitte und Brauch bei uns ist. Aber die Götter haben entschieden, dein Leben zu verschonen. Du wirst eine der Unseren und kannst mit deiner Hände Arbeit den Schaden wieder gutmachen, den deine Mutter angerichtet hat.«

Es fiel Arri immer noch schwer zu glauben, was sie hörte. Auch wenn sie dem groben Jamu als Eheweib versprochen war, hatte sie mittlerweile doch längst mit ihrem Leben abgeschlossen. Warum sollte Nor sie verschonen? Noch dazu jetzt, wo der Machtkampf zwischen ihm und Sarn so offensichtlich geworden war? Sarn würde rücksichtslos jede Gnade, die er ihr gegenüber walten ließ, zu seinem Vorteil nutzen und gegen ihn wenden!

»Das... das kann nicht der Wille der Götter sein«, murmelte Sarn. Seine Stimme bebte, auch wenn das Zittern darin eher Unglauben und Fassungslosigkeit entsprang als Zorn. Er war noch viel zu überrascht, um wirklich wütend zu werden. »Sie... dieses Balg ist genau so schlimm wie seine Mutter, wenn nicht gefährlicher! Ihr legt eine Schlange an Eure Brust, Nor!«

Arri behielt die beiden ungleichen Männer aufmerksam im Auge, aber ihr entging dennoch nicht die Reaktion der anderen hier. Nicht nur auf den Gesichtern der Priester, die auf der anderen Seite des Altars standen, zeigte sich ein Ausdruck von Unmut, hier und da wurde auch schon wieder ein unwilliges Murren laut oder das eine oder andere geflüsterte Wort, das klarmachte, dass die Menschen hier nicht unbedingt einverstanden mit Nors Entscheidung waren.

»Zweifelst du den Willen der Götter an?«, fragte Nor kalt. Er deutete mit einer verächtlichen Geste auf den Altar und den noch immer glimmenden Reisighaufen. »Wenn es so ist, dann frage sie selbst.«

Sarn ging gar nicht auf diese Herausforderung ein - und was hätte er auch schon tun sollen? -, aber er strich sich mit der freien linken Hand über die Finger der rechten, die er sich gerade an der Opferschale verbrannt hatte, vermutlich, ohne es selbst auch nur zu merken. Auf seinem Gesicht lieferten sich Wut und Enttäuschung einen stummen Zweikampf, aber schließlich senkte er demütig das Haupt und trat, ohne noch ein Wort gesagt zu haben, einen Schritt zurück.

»Die Götter haben entschieden, und so soll es geschehen«, sagte Nor noch einmal. Er maß Arri mit einem sonderbaren Blick, den sie zwar nicht deuten konnte, der aber plötzlich viel sanfter und verständnisvoller war als alles, was sie jemals an ihm gesehen hatte, hob dann müde den Kopf und schien jemanden zu suchen.

»Geht jetzt wieder an eure Arbeit«, fuhr er fort. »Es ist genug für einen Tag. Wir wollen die Götter nicht erzürnen, indem wir über ihren Beschluss reden und ihn in Zweifel ziehen. Ich bin erschöpft und muss mich ausruhen. Wartet eine Weile, und dann bringt Jamu zu mir und das Mädchen. Die Vermählung wird noch heute stattfinden.«

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