21

Runa und ihr vierbeiniger Begleiter hatten sie zurück in die Dachkammer gebracht, die Lea beschönigend als Zimmer bezeichnet hatte, für Arri aber nichts anderes als ein Gefängnis war. Sie hatten kein Wort miteinander gewechselt, auf dem Weg nach oben, aber Arri hatte das schadenfrohe Grinsen auf Runas Gesicht regelrecht gespürt, obwohl sie hinter ihr ging. Wortlos hatte sie sie nach oben geführt und sich selbstverständlich auch nicht entblödet, einen anderen Weg zu nehmen als zuvor, sodass Arri in der nahezu vollkommenen Dunkelheit ununterbrochen irgendwo anstieß und sich zwar diesmal nicht den Kopf, wohl aber beide Schienbeine und das rechte Knie prellte und sich eine heftig brennende Schramme auf dem linken Handrücken zuzog. Sie verbiss sich jeden Schmerzenslaut und gab Runa auch nicht die Genugtuung, sich zu beschweren, aber sie verbrachte einen gut Teil der Zeit, die sie für den Weg nach oben brauchten, damit, sich alle möglichen hässlichen Dinge auszumalen, die sie ihr antun könnte.

Die kleine Öllampe, die sie zurückgelassen hatten, brannte noch immer, doch es war spürbar kälter geworden. Arri warf dem Mädchen zum Abschied einen giftigen Blick zu, bei dem sie sich allerdings selbst ziemlich albern vorkam. Runa reagierte auch gar nicht darauf, sondern ging wortlos hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Arri wartete einen Moment lang auf das Geräusch ihrer Schritte auf der Stiege. Es kam nicht, aber sie verzichtete auch darauf, sofort zur Tür zu gehen und sie wieder zu öffnen. Sie war ziemlich sicher, dass Runa draußen stand und nur darauf wartete, dass sie ganz genau das tat, und auch diese Genugtuung gönnte sie ihr nicht.

Stattdessen ging sie zu ihrer Matratze, setzte sich und wickelte sich so eng in ihren Umhang, wie sie konnte. Es half nicht viel. Es war mittlerweile so kalt hier drinnen, dass sie ihren eigenen Atem als grauen Dampf im blassen Licht der Lampe sehen konnte; aber sie hatte auch nicht vor, allzu lange so sitzen zu bleiben.

Um genau zu sein, wartete sie gerade so lange, wie sie es an Runas Stelle getan hätte, wäre sie draußen vor der Tür gewesen - und noch eine Winzigkeit länger -, dann stand sie auf, schlich auf Zehenspitzen zur Tür und presste mit angehaltenem Atem das Ohr gegen das dünne Holz, um zu lauschen. Nichts. Arri gab noch ein halbes Dutzend Herzschläge zu, dann öffnete sie lautlos die Tür, trat in die vollkommene Dunkelheit hinaus und wäre um ein Haar kopfüber die Stufen hinuntergefallen, als sie über den Wolf stolperte, der unmittelbar hinter der Tür lag. Im letzten Augenblick gelang es ihr, die Arme auszustrecken und Halt an den rauen Wänden rechts und links zu finden, dann stolperte sie hastig einen Schritt zurück und ging dann tatsächlich ungeschickt zu Boden, denn der Wolf zeigte sich von ihrem Fußtritt wenig begeistert und schnappte knurrend nach ihr.

Mühsam rappelte Arri sich wieder hoch, machte abermals einen Schritt in Richtung Flur und blieb wieder stehen, als das Tier drohend die Zähne fletschte. Allerdings rührte es sich nicht von der Stufe weg, auf der es der Länge nach lag. Wenigstens war das dumme Vieh nicht hier, dachte Arri grimmig, um sie aufzufressen, sondern sollte offensichtlich nur dafür sorgen, dass sie das Zimmer nicht verließ.

Einen Moment lang spielte sie ernsthaft mit dem Gedanken, es einfach darauf ankommen zu lassen und auszuprobieren, wie ernst das Tier seine Aufgabe nahm, aber ein einziger weiterer Blick auf seine gefletschten Zähne ließ sie diesen Gedanken genauso schnell wieder verwerfen, wie er ihr gekommen war. Dieses Ungetüm würde seine Aufgabe ernst nehmen.

Übellaunig und in Wahrheit viel wütender auf sich selbst als auf Runa oder gar den Wolf, ging sie zu ihrem Lager zurück und wickelte sich abermals in ihren Umhang. Aus dem großen Abenteuer, als das sie diese Reise bisher trotz allem empfunden hatte, begann allmählich ein mindestens ebenso großer Albtraum zu werden.

Dennoch fühlte sie sich fast sofort schläfrig, kaum dass sie sich auf ihrem Lager ausgestreckt und den Umhang eng um sich gewickelt hatte. Ihre Mutter mochte wohl Recht haben, auch wenn sie das niemals offen zugegeben hätte: Die Reise war anstrengend gewesen, und sie war sehr müde. Jetzt, wo sie an ihrem Ziel angelangt waren, glaubte sie jeden Stein und jedes Kaninchenloch noch einmal zu spüren, über das die großen, hölzernen Räder des Wagens gerumpelt waren. Wahrscheinlich wäre es tatsächlich das Vernünftigste, dass sie versuchte zu schlafen, um morgen wenigstens einigermaßen ausgeruht zu sein, wenn sie sich auf den Rückweg machten.

Kaum hatte sie diesen Gedanken gedacht, da machte sich Schläfrigkeit in ihr breit, der fast unmittelbar ein Gefühl bleierner Schwere folgte, das ihre Glieder ergriff. Arri spürte, wie ihre Gedanken wegdrifteten, und verscheuchte das Gefühl hastig. Sie wollte nicht einschlafen, so müde sie auch war; nicht jetzt, eingesperrt und allein in diesem kalten Raum, wo dies doch eigentlich der aufregendste Tag ihres bisherigen Lebens sein sollte. Obwohl sie im Grunde ganz genau wusste, wie albern dieses Benehmen war, nahm sie sich schon aus schierem Trotz vor, wach zu bleiben, bis ihre Mutter kam, und sei es nur, um ihr ein schlechtes Gewissen zu bereiten, wenn sie zurückkam und sie frierend hier fand.

Mit diesem Gedanken schlief sie ein und erwachte in vollkommener Dunkelheit und von dem eindringlichen Gefühl geweckt, nicht mehr allein zu sein.

Im allerersten Moment dachte sie, es wäre ihre Mutter, die ihre Verhandlungen mit Targan endlich zum Abschluss gebracht hatte und heraufgekommen war, um sich schlafen zu legen, aber dann hörte sie das Tappen schwerer Pfoten und verspürte einen leisen Raubtiergeruch, und ein jäher Schrecken durchfuhr sie. Der Wolf war hier hereingekommen, und vielleicht würde er sich ja einen saftigeren Happen holen, wenn sie diesmal keine Suppe hatte, um ihn zu füttern. Mit einer hastigen Bewegung richtete sie sich auf und versuchte, aus weit aufgerissenen Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Es gelang ihr nicht, aber links von ihr ertönte ein gedämpftes Scharren, wie der Laut scharfer Krallen auf Holz, und dann sagte eine Stimme aus der entgegengesetzten Richtung: »Das solltest du lieber nicht tun. Er kann hastige Bewegungen nicht leiden, weißt du?«

Erschrocken - und noch hastiger - drehte Arri den Kopf in die andere Richtung und gewahrte immerhin einen blassen Schatten, der sich vor einem mattroten Rechteck abzeichnete; die Tür, an deren unterem Ende Licht schimmerte. »Runa?«, murmelte sie benommen. »Was tust du denn hier?«

Der Schatten machte eine hastige, wedelnde Geste, und aus der Stimme wurde ein erschrockenes Zischen. »Nicht so laut! Oder willst du, dass sie uns hören?«

»Wie?«, murmelte Arri benommen. »Wen meinst du mit sie?« Obwohl ihr das Herz bis zum Halse schlug, war sie noch immer schlaftrunken und hatte Mühe, den Worten eine Bedeutung abzugewinnen. Sie spürte, dass nicht viel Zeit vergangen war, seit ihr die Augen zugefallen waren, aber das Mädchen hatte sie aus einer Phase tiefsten Schlafes gerissen, sodass es ihr schwer fiel, mit der gewohnten Schnelligkeit ins Wachsein zurückzufinden.

»Eure Freunde«, antwortete Runa. »Die Fremden.«

»Die drei Männer?« Arri blinzelte verschlafen und gähnte im Dunkeln ungeniert mit weit offenem Mund. »Das sind nicht unsere Freunde.«

»Stell dir vor, das ist mir auch schon aufgefallen«, sagte Runa spitz. »Aber warum verschwende ich überhaupt meine Zeit mit dir? Sag mir einfach, wo deine Mutter ist, und ich spreche gleich mit ihr.«

Das reichte, um Arri endgültig aufzuwecken. »Was soll das heißen - sag mir, wo deine Mutter ist?« Sie wandte den Kopf in die Richtung, in der sie Lea vermutete, sah aber nichts anderes als vollkommene Dunkelheit. »Ist sie denn nicht unten bei euch?«

»Wäre sie es, wäre ich kaum hier heraufgekommen«, antwortete Runa schnippisch, fügte aber dann doch erklärend hinzu: »Sie ist schon vor einiger Zeit gegangen und hat gesagt, sie wolle sich schlafen legen. Ich dachte, sie wäre hier.«

Arri lauschte konzentriert in die Schwärze hinein, ob sie vielleicht die Atemzüge ihrer Mutter hörte; immerhin war es hier oben so dunkel, dass man nicht einmal die Hand vor Augen sehen konnte. Aber da war nichts. Die einzigen Atemzüge, die sie hörte, waren ihre eigenen und die des Mädchens und seines Wolfs. Außerdem hätte sie die Nähe ihrer Mutter einfach gespürt. »Was gab es denn so Wichtiges?«, fragte sie.

Runa zögerte spürbar, dann hob sie die Schultern. »Der Fremde ist gestorben.«

»So schnell?«

»Deine Mutter hat gesagt, dass er die Nacht nicht überleben wird. Aber vielleicht hätte sie das besser nicht gesagt. Sein Kamerad ist jetzt sehr wütend auf sie. Ich glaube, er gibt ihr die Schuld.«

»Meiner Mutter?«, keuchte Arri. »Aber das ist doch Unsinn! Er lag doch schon im Sterben, als wir ankamen.«

»Der Kerl ist gefährlich«, maulte Runa. »Wenn ihr nicht gekommen wärt, hätte er sich wahrscheinlich einfach jemand anderen gewählt, dem er die Schuld geben kann. Aber ihr seid nun einmal gekommen.«

»Was genau hat er gesagt?«, wollte Arri wissen.

»Das weiß ich nicht«, behauptete Runa. »Sie haben geflüstert. Ich konnte nicht alles verstehen, aber der Eine - der vorhin schon so feindselig gegenüber deiner Mutter war - war sehr aufgebracht. Sein Kamerad hat versucht, ihn zu beruhigen, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass er besonders erfolgreich war. Ich habe ein paar Mal den Namen deiner Mutter gehört, und mehr weiß ich nicht... aber ich dachte mir, es ist besser, wenn ich es euch sage.«

Arri nickte zustimmend, und erst dann fiel ihr ein, dass Runa die Bewegung bei der herrschenden Dunkelheit nicht sehen konnte. So weit, ihre Dankbarkeit in Worte zu fassen, war sie allerdings noch nicht. »Wir müssen sie suchen. Hast du gesehen, wo sie hingegangen ist?«

»Sicher«, antwortete Runa ärgerlich. »Deshalb bin ich ja auch hierher gekommen, um nach ihr zu sehen, du Dummkopf.«

»Aber du weißt doch bestimmt, wohin sie gegangen sein könnte«, sagte Arri gepresst. Sie stand auf.

»Nein«, antwortete Runa. »Vielleicht.« Arri konnte hören, wie der Wolf an ihre Seite trat, dann bewegten sich die ledernen Türangeln knarrend. »Ich wüsste jedenfalls, wo ich nach ihr suchen würde.«

»Worauf warten wir dann noch?«, fragte Arri.

Runa zögerte. »Also eigentlich...«

»... sollst du darauf achten, dass ich hübsch artig hier oben bleibe, ich weiß«, fiel ihr Arri ins Wort. »Aber du bist nun einmal hier. Bildest du dir wirklich ein, ich lege mich hin und schlafe in aller Seelenruhe weiter, wenn meine Mutter in Gefahr ist?«

»Ich habe nicht gesagt, dass...«, begann Runa, brach dann aber mit einem Seufzen ab. »Meinetwegen komm mit. Aber ich habe dich nicht gehen lassen, damit das klar ist.«

Arri nickte auch diesmal nur wortlos. Was Runa ihr über die Fremden erzählt hatte, war viel zu alarmierend, als dass sie sich noch Gedanken über die albernen Sticheleien des Mädchens machen konnte. Sie war sogar ziemlich sicher, dass Runa ganz genau gewusst hatte, dass ihre Mutter nicht hier oben war, und dieses sonderbare Spielchen nur spielte, um sie in Schwierigkeiten zu bringen. Möglicherweise war sogar die ganze Geschichte von dem toten Fremden und seinen zornigen Kameraden einfach nur ausgedacht; aber die Gefahr, dass sie es nicht war, war einfach zu groß, und so folgte sie ihr die Stiege hinab wie zuvor.

Runa bedeutete ihr mit einer übertriebenen Geste, nur keinen verräterischen Laut zu machen, schüttelte aber auch fast im gleichen Augenblick und mindestens genauso übertrieben den Kopf, als Arri an ihr vorbei und durch die Tür in den großen Gemeinschaftsraum treten wollte. Es war wesentlich dunkler geworden - nur noch eine der drei Feuerstellen brannte, und auch sie war im Grunde kaum noch mehr als ein Häufchen dunkelroter Glut, die kaum noch nennenswertes Licht und keine Wärme mehr verbreitete -, und es war sehr still. Jedermann hier schien zu schlafen; abgesehen von einem Säugling, der halblaut und auf sonderbar regelmäßige Weise leise vor sich hinweinte. Dennoch konnte sie erkennen, dass der Platz, an dem die drei Fremden vorhin gesessen hatten, nun leer war.

»Wo...«, begann sie, aber Runa unterbrach sie sofort, heftig winkend und Grimassen schneidend, wobei sie auf die andere Tür deutete.

Arri war ziemlich sicher, dass sich Runa nur wichtig machte, aber sie verschluckte die spitze Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, und folgte dem Mädchen nach draußen. »Wo sind sie?«

Runa hob die Schultern; die Bewegung wirkte nicht sehr überzeugend. »Vorhin waren sie noch da«, behauptete sie. »Ich sage doch: Die haben irgendetwas vor.« Sie schwieg kurz, indem sie scheinbar konzentriert in die Dunkelheit starrte, und zuckte dann abermals mit den Achseln. »Wir sollten wirklich nach deiner Mutter suchen... Oder ich wecke meinen Vater und erzähle ihm alles.«

»Nein!«, sagte Arri fast erschrocken. Runa blinzelte verwirrt, und Arri beeilte sich hinzuzufügen: »Ich meine... du weißt doch gar nicht, ob... ob sie wirklich etwas Böses planen. Vielleicht wollten sie sich ja nur wichtig machen.«

Vor wem?, fragte Runas Blick. Sie haben mit niemandem gesprochen.

»Wir suchen lieber nach meiner Mutter«, fuhr Arri hastig fort. »Sprechen wir erst mit ihr. Einverstanden? Danach können wir immer noch deinen Vater wecken. Er wird bestimmt ziemlich wütend werden, wenn wir ihn umsonst aufwecken.«

Runa sah sie weiter zweifelnd an, was Arri nicht besonders überraschte. Ihre Worte klangen nicht überzeugend, nicht einmal für sie selbst. Und sie waren auch nicht wirklich der Grund für ihr so unübersehbares Erschrecken. Sie wusste nicht, ob Runa sich nicht doch nur über sie lustig machen wollte, aber sie konnte sich gut vorstellen, wie ihre Mutter reagieren würde, wenn sie Targan weckten, statt zuerst zu ihr zu kommen. »Meine Mutter«, erinnerte sie.

Runa warf ihr einen unwilligen Blick zu, sah sich aber darüber hinaus nur weiter unschlüssig um, sodass Arri nun allmählich überzeugt war, dass sie sich doch nur einen bösen Scherz mit ihr erlaubte. Schließlich deutete sie nach rechts. »Dort.«

Arri folgte ihr zwar, aber sie blieb argwöhnisch. Irgendetwas stimmte hier nicht, doch sie hatte immer mehr das Gefühl, dass es nicht das war, was Targans Tochter vorgab.

Sie bewegten sich in die Richtung zurück, aus der sie und ihre Mutter am Abend gekommen waren. Ihr Wagen stand noch scheinbar unberührt dort, wo Lea ihn zurückgelassen hatte, doch als Arri im Vorübergehen einen Blick auf die Ladefläche warf, gewahrte sie eine Anzahl Bündel und geflochtener Körbe, die sie ganz eindeutig nicht mit hierher gebracht hatten. Lea und Runas Vater waren sich anscheinend schon größtenteils handelseinig geworden, und offensichtlich hatte Targan auch keine allzu große Angst vor Dieben.

Arri entging auch keineswegs der kurze, neugierige Blick, mit dem Runa den Wagen streifte. Obwohl sie sich Mühe gab, sich ihre Neugier nicht allzu deutlich anmerken zu lassen, war Arri doch sicher, dass dem Mädchen diese Bauweise völlig fremd war, was der Behauptung ihrer Mutter, dieser Wagen stamme von Dragosz’ Volk, merklich mehr Gewicht verlieh und ihr zugleich eine Menge über dieses Volk verriet, denn zweifellos sah Runa oft fremde und zum Teil vermutlich auch seltsamere Gefährte. Wenn sie einen solchen Wagen noch nie gesehen hatte, dann musste er wohl tatsächlich von weit herkommen.

Sie blieben stehen, als sie den Stall erreichten, in dem ihre Mutter die Pferde untergebracht hatte. Runa legte den Kopf schräg und schien zu lauschen, dann ging sie - schneller - weiter. Arri folgte ihr zwar weiter gehorsam, hielt aber einen vorsichtigen Abstand ein und war sehr angespannt. Wenn Runa glaubte, ihr irgendeinen kindischen Streich spielen zu können, würde sie eine unangenehme Überraschung erleben.

Obwohl Arri erwartet hätte, dass sich das Mädchen hier so unmittelbar in seinem Zuhause selbst mit verbundenen Augen zurecht gefunden hätte, wurden seine Schritte immer langsamer, je weiter sie gingen, und auch merklich unsicherer. Schließlich blieb Runa abermals stehen und lauschte, und auch der Wolf hielt inne und stellte aufmerksam die Ohren auf. Arri trat neben Runa und sah sie fragend an. Auch sie lauschte sehr konzentriert, aber sie hörte nichts. Runa bedeutete ihr jedoch mit einem hastigen Blick, still zu sein, und wenn Arri bis zu diesem Moment noch Zweifel gehabt hätte, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte: das, was sie in Runas Augen las, hätte sie endgültig beseitigt.

Es verging noch ein kurzer Moment, aber dann hörte sie es auch: Irgendwo in der Dunkelheit vor ihnen waren Stimmen. Zu weit entfernt und zu undeutlich, um die Worte zu verstehen, aber deutlich genug, um sie zu erkennen. Die eine gehörte ihrer Mutter, die andere erkannte sie erstaunlicherweise noch zweifelsfreier, obwohl sie sie bisher nur zweimal gehört hatte: Sie gehörte Dragosz.

Runa machte einen zaghaften Schritt, blieb wieder stehen und sah sie unschlüssig (oder ängstlich?) an, und sie wirkte eindeutig erleichtert, als Arri ihr mit einer hastigen Geste bedeutete, nicht weiterzugehen. Ihr Wolf stieß ein leises Knurren aus und verstummte augenblicklich, als Runa ihm die Hand zwischen die Ohren legte.

»Vielleicht ist es doch besser, wenn wir zuerst...«, begann sie.

»Nicht so laut«, zischte Arri. »Warte hier.« Ohne Runas Reaktion abzuwarten, bewegte sie sich ein paar Schritte weit in Richtung der flüsternden Stimmen und hielt dann inne. Sie war immer noch nicht nahe genug heran, um mehr als ein paar zusammenhanglose Wortfetzen verstehen zu können, aber näher wagte sie sich nicht. Der Himmel war immer noch zugezogen, und er war im wahrsten Sinne des Wortes pechschwarz. Sie sah nicht einmal genau, wo sie hintrat, aber dafür wusste sie nur zu genau, dass ihre Mutter besser hörte als eine Eule.

Arri schloss die Augen und versuchte sich ebenfalls in dieser Kunst, aber ihr Erfolg war mäßig. Die Stimmen schienen ein kleines bisschen deutlicher zu werden, aber wirklich verstehen konnte sie immer noch nichts. »... bereit, glaub mir«, schien Lea zu sagen. Dragosz’ Antwort konnte sie gar nicht verstehen, aber seine Stimme klang scharf, und ausgelöst durch diese Erkenntnis wurde ihr im Nachhinein klar, dass sich auch ihre Mutter unwillig anhörte - vorsichtig ausgedrückt. Arri konnte nicht sagen, ob sie tatsächlich Zeugin eines Streits wurde, aber die beiden hatten sich nicht für ein heimliches Stelldichein hier getroffen, so viel war klar. Wenn sie doch wenigstens wüsste, ob Dragosz ihr von ihrem Treffen am Fluss erzählt hatte! Sie versuchte, noch konzentrierter zu lauschen, aber das Einzige, was lauter wurde, war das Geräusch ihres eigenen Herzschlages in ihren Ohren. Immerhin war sie jetzt sicher, einen Streit zu belauschen; oder zumindest doch etwas, das gute Aussichten hatte, zu einem solchen zu werden. Sie versuchte vergeblich, den Stimmen, die durch die Dunkelheit wehten, einen Sinn abzugewinnen, dann gab sie auf und kehrte so lautlos zu Runa zurück, wie sie gekommen war.

»Mit wem... spricht deine Mutter da?«, fragte das Mädchen, diesmal unaufgefordert ganz von selbst im Flüsterton. Arri hob zur Antwort nur die Schultern. Sollte sie Runa etwa von Dragosz erzählen und davon, dass ihre Mutter ihr offensichtlich schon wieder etwas verschwieg (nein, verdammt - sie belog!)!

Fast zu ihrer Überraschung gab sich Runa mit dem Schulterzucken zufrieden und drehte sich halb um, wie um zum Haus zurückzugehen, hielt dann aber nach einigen Schritten inne und machte ein unschlüssiges Gesicht, als wäre ihr plötzlich noch etwas eingefallen. »Wenn wir schon einmal hier sind«, sagte sie, »möchtest du dann die Mine sehen?«

Arri benötigte einige Augenblicke, um dem Wort überhaupt eine Bedeutung zuzuordnen. Zweifelnd sah sie das Mädchen an. »Jetzt? Es ist mitten in der Nacht.«

»Und?«, erwiderte Runa. »Dort unten ist es immer dunkel.«

Arri blieb weiterhin argwöhnisch. Die Worte ihrer Mutter hatten sie neugierig gemacht, zweifellos - sie wollte nichts mehr als diese geheimnisvolle Mine mit eigenen Augen zu sehen -, aber sie war im Augenblick viel zu aufgewühlt, um sich auf irgendetwas anderes als auf die Frage konzentrieren zu können, was ihre Mutter und Dragosz gerade miteinander geredet hatten. Sie bedauerte längst, nicht einfach weitergegangen zu sein, um zu lauschen, selbst auf die Gefahr hin, dass die beiden sie bemerkten. Wahrscheinlich, dachte sie, hatte dieses Versteckspiel ohnehin von Anfang an keinen Sinn gehabt, ja, wahrscheinlich hatten sich ihre Mutter und Dragosz insgeheim köstlich über das kleine dumme Mädchen amüsiert, das sich allen Ernstes einbildete, ein Geheimnis vor ihnen zu haben. Die Vorstellung machte sie wütend. Wieso verlangte ihre Mutter ständig von ihr, sich wie eine Erwachsene zu benehmen, behandelte sie aber nach wie vor wie ein kleines Kind? Und Dragosz? Zweifellos war er der Schlimmere von beiden. Von ihrer Mutter war sie eine solche Behandlung gewöhnt, und auf irgendeine Art, die Arri weder in Worte fassen konnte noch wollte, hatte sie sogar das Recht dazu, aber das galt nicht für Dragosz. Ihm stand das einfach... nicht zu.

»Also?«, fragte Runa, als Arri noch immer nicht antwortete. Sie klang verunsichert. Aber vielleicht war ihr auch einfach nur kalt.

»Also was?«, gab Arri unwillig zurück und im ersten Moment ehrlich verständnislos. Ihre Gedanken kreisten so intensiv um Dragosz und ihre Mutter, dass sie für den Augenblick Mühe hatte, sich zu erinnern, worüber Runa und sie gerade gesprochen hatten.

»Die Mine«, antwortete Runa. »Es ist wirklich nicht weit. Ich meine: Wenn wir schon einmal hier draußen in der Kälte sind...«

»Eigentlich...«, begann Arri zögernd, rettete sich in ein hilfloses Achselzucken, mit dem sie noch einmal ein wenig Zeit gewann, und brachte immerhin genug Ordnung in ihre Gedanken, um sich wenigstens wieder daran zu erinnern, worüber sie vor einigen Augenblicken gesprochen hatten. Und genau das war auch der Moment, in dem ihr auffiel, was an Runas Benehmen nicht stimmte. »Warte«, sagte sie, leise, aber in einem plötzlich so misstrauischen Ton, dass Runa zusammenfuhr und einen Schritt vor ihr zurückwich. »Du hast doch gesagt, dass du meine Mutter und mich vor diesen Fremden warnen willst...« Sie kramte angestrengt in ihrem Gedächtnis, bekam aber den genauen Wortlaut nicht mehr zusammen, sehr wohl aber den Sinn. »Also: Wie kommst du auf die Idee, dass ich jetzt diese verdammte Mine sehen wollte?«

Runa suchte so sichtbar angestrengt nach einer Ausrede, dass es im Grunde vollkommen egal war, was sie letzten Endes antwortete. Selbst wenn es die Wahrheit gewesen wäre, hätte Arri ihr unmöglich glauben können. »Ich... ich dachte ja nur... weil du dich vorhin so dafür interessiert hast und...«

Nichts dergleichen hatte Arri getan, zumindest nicht in Runas Gegenwart. Sie warf dem Mädchen einen so eisigen Blick zu, dass es für einen Moment vollends ins Stammeln geriet und dann abbrach.

»Was ist hier los?«, fragte Arri. Mit einem Mal war sie mehr als nur besorgt. »Wieso hast du mich wirklich hierher geführt?« Ganz sicherlich nicht, um Lea zu treffen. Und plötzlich hatte sie Angst.

Aber auch dafür war es zu spät.

Der Wolf stieß ein leises, drohendes Knurren aus; ein Geräusch, das tief aus seiner Brust kam und wie es kein Hund je zustande bringen konnte, und aus der Dunkelheit hinter Runa trat eine hoch gewachsene Gestalt mit langem Haar und einem knöchellangen Umhang aus dunklem Fell, und ohne dass es nötig gewesen wäre, sich auch nur umzudrehen oder einen Laut zu hören, wusste Arri einfach, dass neben ihr ein zweiter Schatten aufgetaucht war. Sie musste auch die Gesichter der beiden Männer nicht erkennen, um zu wissen, um wen es sich handelte.

»Das hast du gut gemacht, Kind«, sagte eine Stimme hinter ihr. »Danke dir.«

Arri spannte sich. Für einen winzigen Moment war sie bereit, einfach herumzufahren und wegzulaufen, aber sie verwarf den Gedanken nahezu im gleichen Augenblick. In der vollkommenen Dunkelheit wäre sie ohnehin nur wenige Schritte weit gekommen, und der Mann hinter ihr hätte schon mehr als dumm sein müssen, um nicht mit genau dieser Reaktion zu rechnen und darauf vorbereitet zu sein. Aber vielleicht schätzte sie die Lage ja auch falsch ein, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Vielleicht war ja alles ganz anders. Vielleicht...

... hatten die beiden sie nur hier herausgelockt, um ein Schwätzchen mit ihr zu halten? Das war lächerlich!

Sie versuchte die Panik niederzukämpfen, die wiederum Besitz von ihr ergreifen wollte, und fast zu ihrer eigenen Überraschung gelang es ihr auch; zumindest ein wenig. »Was soll das?«, fragte sie so laut, wie sie konnte, ohne wirklich zu schreien. Zumindest aber laut genug, damit ihre Mutter und Dragosz die Worte - wenn schon nicht verstehen, so doch - hören mussten. »Was wollt ihr von mir?«

»Wir wollen nur mit dir reden«, antwortete der Mann, der hinter ihr stand. Der andere hatte bisher geschwiegen, und er schwieg auch weiterhin, trat aber noch einen halben Schritt näher, sodass er nun fast unmittelbar hinter Runa aufragte. Trotz des schwachen Lichtes konnte Arri erkennen, dass es sich um denjenigen der beiden handelte, der vorhin schon so feindselig ihrer Mutter gegenüber gewesen war. Ihr Blick tastete über sein Gesicht, glitt dann an seiner Gestalt hinab und verharrte kurz, aber sehr aufmerksam auf seinen Händen. Sie waren leer.

»Wir wollen nur mit dir reden, Kind«, fuhr die Stimme hinter ihr fort. »Du brauchst keine Angst zu haben.«

Vermutlich war es gerade die letzte Bemerkung, die Arris Angst erst richtig schürte. Ihr Herz begann so heftig zu pochen, dass sie meinte, das Geräusch allein müsse ausreichen, um ihre Mutter und Dragosz zu alarmieren. »Wer sagt, dass ich Angst habe?«, fragte sie mit einer Stimme, die ihre eigene Frage sogleich beantwortete.

»Sie wollen wirklich nur mit dir reden«, sagte Runa hastig. »Das haben sie mir versprochen.«

Hätte Arri nicht viel zu viel Angst gehabt, hätte sie ihr einen mitleidigen Blick zugeworfen, aber das wäre wohl auch kaum mehr nötig gewesen. Runa sah weder so aus noch hörte sie sich so an, als ob sie selbst an das glaubte, was sie sagte. Vielmehr machte sie den Eindruck wie jemand, der etwas, was er gerade getan hatte, zutiefst bedauerte und verzweifelt nach einem Ausweg suchte.

»Das Mädchen hat Recht, Arri«, sagte der Mann hinter ihr. »Das war doch dein Name, oder? Arri.« Er sprach ihn falsch aus, als könne er sich nicht mehr ganz genau darauf besinnen, doch Arri war nahezu sicher, dass das Absicht war. Sie maß den zweiten Mann, der hinter Runa Aufstellung genommen hatte, mit einem weiteren misstrauischen Blick, dann drehte sie sich betont langsam um und brauchte plötzlich all ihre Willenskraft, um nicht erschrocken einen Schritt zurückzuprallen. Jetzt, wo er unmittelbar hinter ihr stand, fiel Arri erst auf, wie groß und muskulös der Mann wirklich war; sicherlich so groß wie Rahn und mindestens ebenso so stark, wenn nicht stärker. Im Gegensatz zu seinem Kameraden, der einen brutalen Zug im Gesicht hatte und etwas eindeutig Tückisches ausstrahlte, hatte er ein eher gutmütiges Gesicht. Dennoch spürte Arri instinktiv, dass er eindeutig der Gefährlichere der beiden war.

»Ist das wahr?«, fragte sie mit schon etwas ruhigerer Stimme, aber noch immer eine Spur lauter, als nötig war. Wo blieben nur ihre Mutter und Dragosz?

»Wenn wir dir etwas zuleide tun wollten, hätten wir das schon längst getan, meinst du nicht?« Der Fremde schüttelte leicht den Kopf. »Wir wollen wirklich nur mit dir reden.«

»Mit mir?«

»Eigentlich eher mit deiner Mutter«, antwortete der Mann, »aber sie ist im Moment...« Er suchte nach Worten und setzte neu an: »Deine Mutter ist im Moment... nicht besonders gut auf uns zu sprechen, fürchte ich.« Er deutete auf den Mann hinter Runa. »Mein Kamerad war vielleicht ein wenig... unbedacht in der Wahl seiner Worte.«

»Du meinst, weil er sie als Hexe bezeichnet hat?«, gab Arri zurück.

Ein rasches, leicht verkniffenes Lächeln huschte über die Lippen des Bärtigen, aber er hatte sich augenblicklich wieder in der Gewalt. »Du musst ihn verstehen. Unser toter Kamerad war sein Bruder. Der Schmerz über seinen Tod war zu viel für ihn. Er hat in seinem Kummer vielleicht Dinge gesagt, die besser ungesagt geblieben wären.«

»Ja, das scheint mir auch so«, meinte Arri. Sie musste sich beherrschen, um die Dunkelheit hinter der hoch aufragenden Gestalt nicht fast panisch mit Blicken abzusuchen. Wo blieb nur ihre Mutter? Sie musste ihre Worte doch einfach hören!

»Ich kann mich irren«, fuhr Arri hastig fort, »aber hat er sie nicht schon beschimpft, bevor sein Bruder gestorben ist?«

Abermals blitzte es kurz und beinahe gehetzt im Blick ihres Gegenübers auf; der Blick eines ertappten Sünders, der sich allmählich in die Enge getrieben sah. Ohne hinsehen zu müssen, spürte Arri, wie sich auch Runa spannte. Möglicherweise ging dem Mädchen ja nun endgültig auf, dass es eine ziemliche Dummheit begangen hatte, und möglicherweise ein wenig zu spät. Der Wolf knurrte leise.

»Das ist richtig«, sagte der Fremde, diesmal mit unbewegtem Gesicht und vollkommen beherrscht, aber mit einer Stimme, in der irgendetwas falsch war. »Wir haben das eine oder andere über deine Mutter gehört.«

»Und was?«, wollte Arri wissen.

Der andere bewegte sich unruhig. »Deine Mutter ist eine mächtige Frau. Man sagt, ihre Heilkräfte vermögen wahre Wunderdinge zu vollbringen.«

»Und ihr bittet also um diese Wunderdinge, indem ihr sie beschimpft?«, fragte Arri herausfordernd. Ein Teil von ihr schrie fast in Panik auf, der Teil, der sich darüber im Klaren war, dass sie sich gerade um Kopf und Kragen redete, aber im Grunde war es völlig egal, was sie sagte. Sie musste nur reden, damit ihre Mutter und Dragosz die Worte hörten und endlich herkamen. Sie konnte die Spannung, die von den beiden Männern Besitz ergriffen hatte, mittlerweile fast körperlich spüren. Etwas würde geschehen. Etwas Schlimmes, und zwar gleich.

»Warum redet ihr nicht mit Leandriis selbst?«, mischte sich Runa ein. »Oder mit meinem Vater? Ich bin sicher, er kann alle Missverständnisse aufklären.«

»Ja«, sagte der Mann hinter ihr, »aber wer sagt dir, dass wir das wollen?«

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