9

Sie waren noch fast bis Sonnenuntergang geblieben, und obwohl Arri die meiste Zeit über schweigsam und eher zurückhaltend gewesen war und sich (mit mehr oder weniger Erfolg) einzureden versucht hatte, dass sie dieses kindische Spiel nur mitmachte, um ihrer Mutter einen Gefallen zu tun, vermochte sie sich der Faszination, die von den großen, stolzen Tieren ausging, auf Dauer doch nicht zu entziehen. Erst als sich der Himmel im Westen bereits eindeutig grau färbte, machten sie sich auf den Rückweg.

Bei Dunkelheit erwies es sich als noch schwieriger, den verbotenen Wald zu durchqueren, als bei Tage, sodass der Nachtzenit bereits überschritten sein musste, bis Arri schließlich - erschöpft und völlig entkräftet, aber auch auf eine sonderbare Weise zufrieden, die sie sich selbst nicht genau erklären konnte und die ihr aber das intensive Gefühl gab, plötzlich Teil von etwas Neuem und sehr Kostbarem geworden zu sein - neben ihrer Mutter aus dem Wald trat und die wenigen Schritte zu ihrer Hütte zurücklegte. Als sie die Stiege fast erreicht hatten, blieb ihre Mutter abrupt stehen und hob die rechte Hand. Ihr linker Arm, der das Schwert hielt, blieb locker, doch Arri entging keineswegs, dass sich ihre Finger fester um den lederbezogenen Griff der Waffe schlossen.

»Was ist?«, fragte sie erschrocken.

»Nichts«, behauptete Lea. Ihr Gesichtsausdruck und ihre plötzlich angespannte Haltung besagten jedoch das Gegenteil. Auch Arri sah sich hastig nach allen Seiten hin um und lauschte einen Moment, so angestrengt sie konnte, aber ihr fiel nichts auf. Dennoch begann ihr Herz zu klopfen. Wenn ihre Mutter der Meinung war, etwas gehört zu haben, dann war da etwas. Obwohl Lea nicht müde wurde, ihr immer wieder zu versichern, dass ihre noch frischen jugendlichen Sinne viel schärfer waren als die jedes Erwachsenen, verging doch praktisch kein Tag, an dem sie ihr nicht bewies, dass zumindest sie eine Ausnahme von dieser Regel darstellte.

»Bleib zurück«, zischte sie, unbeschadet dessen, was sie gerade selbst gesagt hatte, wechselte das Schwert von der linken in die rechte Hand und bewegte sich, seitwärts gehend, nur auf den Zehenspitzen und vollkommen lautlos die Stiege hinauf. Unmittelbar vor dem Vorhang blieb sie stehen und lauschte, und dann drückte ihre Haltung plötzlich nichts anderes als blanke Überraschung aus. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, folgte Arri ihrer Mutter.

Lea war geduckt und durch und durch angespannt unter der Tür stehen geblieben. Mit der linken Hand hatte sie - ohne auch nur den geringsten Laut zu verursachen - den Muschelvorhang beiseite geschoben, sodass Arri an ihr vorbei in die Hütte blicken konnte. Ein leises, auf merkwürdige Weise vertraut erscheinendes Geräusch drang an ihr Ohr. Im allerersten Moment sah Arri so gut wie nichts, aber ihre Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit, und dann konnte sie die Verblüffung ihrer Mutter nur zu gut verstehen. Der Anblick, der sich ihr bot, hatte etwas Gespenstisches. Durch die Gucklöcher drang nur das blasse Licht der Nacht herein, sodass sie die Umrisse aller Dinge in der Hütte mehr erahnte als wirklich erkannte, aber das machte das Bild eher noch unheimlicher.

Sarn, der Dorfälteste, saß in Leas aufwändig gefertigtem, aber bereits an vielen Stellen gerissenen Korbstuhl und hatte Kopf und Schultern gegen die geflochtene hohe Lehne sinken lassen. Er schnarchte mit weit offen stehendem, zahnlosem Mund. Sein mit bunten Federn geschmückter Umhang war im Schlaf über seiner Brust auseinander gefallen, sodass man seinen ausgemergelten, dürren Leib darunter erkennen konnte. Ein dünner Speichelfaden, der im hereinfallenden Mondlicht wie nasses Silber glänzte, lief aus seinem Mundwinkel und besabberte den Kragen seines Federumhangs. Sarn war nicht allein gekommen. Eine zweite, ebenfalls schlafende Gestalt hatte sich zu seinen Füßen zusammengerollt und schnarchte mit ihm um die Wette. Es war zu dunkel, als dass Arri ihr Gesicht hätte erkennen können, aber anhand seiner Gestalt vermutete Arri, dass es sich um Grahl handelte.

Lea blieb noch einige Augenblicke reglos unter der Tür stehen und schüttelte immer wieder den Kopf, als könne sie einfach nicht glauben, was sie mit eigenen Augen sah. Dann schlug sie mit einem Ruck den Vorhang vollends beiseite und polterte so lautstark in die Hütte hinein, dass die schlafende Gestalt am Boden mit einem Ruck aufsprang und Sarn so erschrocken zusammenfuhr, dass er fast vom Stuhl gefallen wäre. Arri hätte am liebsten laut aufgelacht, aber das wäre vermutlich unangebracht gewesen; irgendwie gelang es ihr, sich zu beherrschen.

Ihre Mutter schien da weit weniger Skrupel zu haben. Sie lachte zwar nicht schallend auf, sondern beließ es bei einem kurzen, spöttischen Laut, aber irgendwie hörte es sich in Arris Ohren genau so an - und ganz offensichtlich nicht nur in ihren. Grahl funkelte sie zornig an, während Sarn im allerersten Moment einfach nur orientierungslos ins Leere starrte. Schlaftrunken versuchte er sich in die Höhe zu stemmen und wäre um ein Haar nun endgültig vom Stuhl gefallen. Der Stock rutschte ihm von den Knien und polterte so lautstark zu Boden, dass Grahl heftig zusammenfuhr und sein Blick das Gesicht ihrer Mutter losließ.

»Guten Morgen, die Herren«, sagte Lea ruhig. »Ich hoffe doch, ich habe euch nicht zu unsanft geweckt?«

Grahl war klug genug, gar nichts zu sagen, sondern fuhr sich nur mit dem Handrücken über das Gesicht und versuchte sich den Schlaf aus den Augen zu blinzeln, während sich Sarn Sabber vom Mund wischte und zumindest zu antworten versuchte. Er brachte im ersten Moment aber nur ein unverständliches Krächzen zustande, räusperte sich und nutzte die gewonnene Zeit, um ein paar Mal zu blinzeln. In die Benommenheit in seinem Blick mischte sich eine Art müder Zorn, der aber wohl mehr aus seinem Verstand als aus seinem Herzen kam.

»Da bist du ja endlich«, begann er mit immer noch belegter Stimme, räusperte sich erneut und fuhr dann in schärferem Ton fort: »Wo seid ihr gewesen? Der Nachtzenit ist weit überschritten!«

Lea warf einen flüchtigen Blick zum Guckloch, als müsse sie sich davon überzeugen, dass das auch stimmte, dann schüttelte sie den Kopf und sagte: »Und das schon eine ganze Weile. Ihr zwei scheint einen guten Schlaf zu haben.«

»Um so schlimmer«, polterte Sarn. »Wo seid ihr den ganzen Tag und die halbe Nacht gewesen?«

»Meine Tochter und ich waren an einem geheimen Ort im Wald, wo wir in jeder dritten Nacht nackt um einen Stein herumtanzen, um böse Geister zu beschwören«, antwortete Lea bissig. »Bisher hatten wir noch nie Erfolg damit, aber jetzt bin ich nicht mehr sicher, ob es nicht vielleicht doch geklappt hat.« Sie warf Arri einen fragenden Blick zu. »Was meinst du?«

Arri hob zur Antwort nur die Schultern. Natürlich wusste sie, wie Lea diese Worte gemeint hatte, und ganz gewiss wusste es Sarn auch. Trotzdem wäre es ihr lieber gewesen, sie hätte das nicht gesagt. Sarn war kein Mann, der sich beißenden Spott gefallen ließ. In seinen Augen blitzte es denn auch prompt auf. Er fuchtelte ungeduldig in Grahls Richtung, und der Jäger beeilte sich, sich nach seinem Stock zu bücken und ihn dem Schamanen zu reichen. Als er sich vorbeugte, sah Arri es unter seinem Umhang kurz aufblitzen. Der Jäger hatte eine Waffe mitgebracht.

Wieder im Besitz seines Stabes, schien Sarn auch sein altes Selbstvertrauen zurückgewonnen zu haben. Er stampfte mit dem Ende des Stockes auf, dass die ganze Hütte dröhnte, und herrschte Lea an: »Wo ihr gewesen seid, habe ich gefragt!«

Zu Arris Erleichterung blieb ihre Mutter vollkommen ruhig. »Ich habe dich verstanden, Sarn. Ich finde nur, dass das eine sehr seltsame Frage ist für einen Mann, der uneingeladen in meine Hütte eingedrungen ist. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dir einen Schlafplatz angeboten zu haben - so wenig wie dir, Grahl. Oder hat dich deine Frau rausgeworfen, weil du wieder einmal hinter fremden Röcken her warst?«

Sarns Gesicht verdüsterte sich noch weiter. Er warf dem Jäger einen herausfordernden Blick zu, aber Grahl funkelte Lea nur trotzig an und rührte sich nicht.

»Was wollt ihr?«, fragte Lea.

»Du hast Rahn weggeschickt«, antwortete Sarn. »Wohin? Und zu welchem Zweck?«

»Er macht ein paar Besorgungen für mich«, antwortete Lea. »Keine Angst. Er wird bald zurück sein und seine Arbeit nicht vernachlässigen.«

Das hatte Sarn nicht gefragt. Seine Augen wurden schmal. »Wieso schickst du ihn fort, ohne mein Wissen?«

»Oh, verzeiht, edler Sarn«, antwortete Lea spöttisch. »Ich wusste nicht, dass ich Eure Erlaubnis brauche, wenn ich jemanden auf einen Botengang schicke.«

»Wenn dieser Botengang die Sicherheit meines Dorfes gefährdet...«

»Eures Dorfes?«, unterbrach ihn Lea.

Sarn ignorierte den Einwurf. »... geht es mich sehr wohl etwas an«, fauchte er.

»Die Sicherheit des Dorfes?« Lea verzog abfällig die Lippen. »Es geht dich zwar nichts an, Sarn, aber ich habe Rahn ins Nachbardorf geschickt, um eine Wagenladung Kupfererz und Zinn sowie Treibhämmer, Meißel, Stichel und Schlegel zu holen. Wie sollte das die Sicherheit Eures Dorfes gefährden?«

Kupfererz und Zinn?, dachte Arri überrascht. Und Schmiedewerkzeug? Wozu benötigte ihre Mutter all diese Dinge? Das Dorf hatte keinen Schmied mehr, seit Achk sein Augenlicht verloren hatte, und alles, was sie jetzt an Bronzewaren brauchten, mussten sie mit Gosegs Genehmigung andernorts eintauschen.

»Es ist gefährlich, das Dorf zu verlassen!«, beharrte Sarn und stampfte abermals mit seinem Stock auf. »Hast du die Fremden vergessen, die in den Wäldern umherstreifen?«

»Du meinst die, die noch niemand zu Gesicht bekommen hat?«, fragte Lea kühl.

Grahl sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und spannte sich, während Sarn zum dritten Mal mit seinem Stock aufstampfte. »Genug«, sagte er scharf. »Sie haben einen von Grahls Brüdern getötet und einen anderen verkrüppelt!«

»Wofür wir auch nur Grahls Wort haben«, sagte Lea schulterzuckend. Grahl wurde noch ein bisschen blasser, aber Lea fuhr völlig unbeeindruckt fort: »Ich weiß nicht, was wirklich passiert ist. Vielleicht war es so, wie Kron und Grahl berichten, vielleicht auch nicht. Es spielt keine Rolle.«

»Es spielt keine Rolle, wenn Fremde durch unsere Wälder streichen und uns auskundschaften, weil sie vielleicht einen Angriff planen?«, ächzte der Dorfälteste.

»Einen Angriff?«, wiederholte Lea. »Wer sollte das tun, und warum? Die Rache Gosegs wäre ihnen gewiss.«

»Uns haben sie vollkommen grundlos angegriffen«, warf Grahl ein.

»Vielleicht sind sie auf Eroberung aus«, sagte Sarn. »Es gibt Gerüchte über ein fremdes Volk, das aus dem Osten über die Berge drängt und ein Dorf nach dem anderen erobert. Es heißt, sie lassen keine Überlebenden zurück.«

»Dann geht nach Goseg, damit Nor euch Krieger schickt, um euch zu beschützen«, sagte Lea. »Immerhin entrichtet das Dorf genau zu diesem Zweck Jahr für Jahr Tribut an das Heiligtum.«

»Vielleicht wäre es gar nicht nötig, Nor um Hilfe zu bitten«, sagte Sarn böse.

»Was genau willst du damit sagen?«, fragte Lea. Ihre Stimme war ruhig, fast schon gefährlich ruhig, fand Arri, und auch der Ausdruck in ihrem Gesicht änderte sich nicht im Mindesten. Aber ihre Augen sprühten Funken, und die Finger ihrer rechten Hand schlossen sich ein ganz kleines bisschen fester um den Schwertgriff.

Sarn hielt ihrem Blick stand, und auch in Grahls Augen zeigte sich ein Ausdruck, der über Trotz und mühsam unterdrückte Furcht hinausging. Er war nicht so dumm, nach seiner Waffe zu greifen, doch irgendetwas an seiner bloßen Art dazustehen schien nicht nur Arri zu zeigen, dass er durchaus bereit dazu wäre, wenn es sein musste.

In diesem Moment, das spürte sie genau, waren sie alle nur ein winziges Stückchen vom Ausbruch offener Gewalttätigkeiten entfernt - obgleich niemand vermutlich wirklich sagen konnte, warum.

Es war ausgerechnet Sarn, der die Lage wieder entspannte, wenn auch vermutlich, ohne es selbst zu ahnen, denn seine nächsten Worte kamen scharf und in herausforderndem, aggressivem Ton. »Ich will damit sagen, dass das Unglück bei uns Einzug gehalten hat, seit du und deine Tochter hier seid.«

»Diesen Zustand können wir rasch ändern«, erwiderte Lea. »Wenn du darauf bestehst, dann ziehen Arianrhod und ich noch in dieser Nacht weiter. Das Wenige, was wir besitzen, ist schnell zusammengepackt.« Sie machte eine ausholende Handbewegung, und Sarn fuhr erschrocken zusammen und wich ein ganz kleines Stückchen zurück, als hätte er Angst, Lea könne ihn schlagen, während Grahls Blick mit wachsender Unruhe über das Schwert in ihrer Rechten tastete. »Ein einziges Wort genügt, Sarn«, fuhr sie fort, »und dieses Haus ist bei Sonnenaufgang leer. Doch vielleicht solltest du zuvor die Menschen im Dorf fragen, was sie davon halten. Wer wird ihnen sagen, wann die Zeit gekommen ist, die Saat auf die Felder zu bringen? Wer wird den Fischern sagen, wie sie bessere Reusen bauen und welche Fische sie fangen können und welche nicht, um den Bestand des nächsten Jahres nicht zu gefährden? Wer sagt den Jägern, in welche Himmelsrichtung sie gehen müssen, um mehr Beute zu machen? Wer kümmert sich um die Kranken und Verwundeten?«

Und auch das, wünschte sich Arri, hätte sie besser nicht gesagt. Nichts davon war übertrieben oder gar gelogen. Die Menschen in diesem Dorf hatten auch vor ihrer Ankunft gejagt, Fische gefangen und ihre Kranken und Verletzten geheilt, doch das geheime Wissen ihrer Mutter übertraf ihre Fertigkeit bei weitem. Auch wenn sie die anderen Zeiten gar nicht bewusst miterlebt hatte, so wusste sie doch von ihrer Mutter, dass mit ihr und ihrer Tochter ein - wenn auch bescheidener - Wohlstand in das Dorf Einzug gehalten hatte, und was noch wichtiger war: Selbst im Winter hatten jetzt alle genug zu essen. Aber da war noch etwas, das ihre Mutter ihr vor gar nicht einmal langer Zeit gesagt hatte: Die Menschen hassten es, daran erinnert zu werden, dass sie einem etwas schuldeten.

Das wütende Aufblitzen in Sarns Augen gab ihrer Einschätzung Recht. Für einen winzigen Moment sah der alte Mann tatsächlich so aus, als wolle er seinen Stock nehmen und sich auf Lea stürzen. Natürlich tat er es nicht, und doch spürte Arri, dass ihre Mutter mit diesen letzten Worten eine Grenze überschritten hatte, die besser unangetastet geblieben wäre. Es gab Wahrheiten, die alle kannten und die vielleicht doch nur so lange erträglich blieben, wie niemand sie aussprach.

»Ihr seid also nur hierher gekommen und habt die halbe Nacht auf mich gewartet«, fuhr sie fort, als Sarn nicht antwortete und auch Grahl ebenso beharrlich schwieg, wie er sie mit kaum noch verhohlener Wut anstarrte, »um mir zu sagen, dass ihr mir nicht traut?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ihr hättet euch die Mühe sparen können. Das wusste ich bereits.«

»Was ist das für ein Unsinn, den du meinem Bruder einflüstern willst?« fragte Grahl schließlich. »Bist du völlig von Sinnen? Reicht es dir nicht, was du ihm bisher angetan hast?«

»Angetan?«, wiederholte Lea und sah den Jäger mit ehrlicher Verständnislosigkeit an.

»Du hast ihm den Arm abgeschnitten«, antwortete Sarn an seiner Stelle. »Du hast ihn zu einem Krüppel gemacht, der den Rest seines Lebens auf die Almosen anderer angewiesen sein wird.«

»Ein Rest, den er sonst nicht gehabt hätte«, sagte Lea scharf. In ihrer Stimme war plötzlich ein neuer Klang. Nichts von alledem, was der Schamane und Grahl bisher gesagt hatten, hatte sie wirklich treffen oder gar verletzen können, doch dieser Vorwurf, das spürte Arri, ging eindeutig zu weit. Sie sah ihrer Mutter an, dass sie sich noch mit letzter Kraft beherrschte, einigermaßen ruhig zu bleiben.

»Du hast ihn verkrüppelt«, beharrte Sarn stur, als hätte er diese Worte gar nicht gehört, »und jetzt willst du ihn auch noch zum Gespött aller anderen machen.«

»Oh«, murmelte Lea. »Er hat es dir erzählt, ich verstehe.« Sie schwieg für eine geraume Zeit und schüttelte traurig den Kopf. Nach einem kurzen resignierenden Seufzen fuhr sie fort. »Das ist schade. Er hatte mir versprochen, nichts zu sagen. Es hätte so vieles leichter gemacht, nur noch eine kleine Weile zu schweigen.«

»Du hast ihm dieses Versprechen abgepresst«, behauptete Sarn, »oder ihn mit deinen Hexenkräften dazu gebracht, es dir voreilig zu geben. Was wolltest du damit erreichen? Hat dir das, was du ihm angetan hast, immer noch nicht gereicht? Du hast ihm das Leben gerettet, aber vielleicht wäre es besser gewesen, du hättest es nicht getan.«

Ganz kurz blitzte es so wütend in Leas Augen auf, dass Sarn zusammenfuhr und sich Grahl sichtbar spannte, dann aber erlosch ihr Zorn ebenso plötzlich, wie er gekommen war, und machte einem Ausdruck mindestens ebenso tiefen Bedauerns Platz. »Vielleicht wäre es besser gewesen, wir wären überhaupt nicht hierher gekommen«, murmelte sie, aber nicht als Antwort auf Sarns Worte, sondern nur an sich selbst gewandt, und so leise, dass Arri nicht einmal sicher war, dass der Schamane und sein Begleiter die Worte überhaupt hörten. Nach einem neuerlichen Zögern, fuhr sie lauter und in verändertem, nunmehr um reine Sachlichkeit bemühtem Ton fort: »Das ist deine Meinung, Sarn. Ich glaube, dass es richtig war, und ich glaube auch, dass mein Vorhaben von Erfolg gekrönt sein wird.«

»Und wenn nicht?«

»Eben - und wenn nicht«, erwiderte Lea. Sie schüttelte den Kopf. »Gib mir, Kron und Achk nur ein paar Tage Zeit. Sollte ich scheitern, verliert ihr alle nichts, im Gegenteil: Du kannst jedem sagen, du hättest es gleich gewusst und wärest von Anfang an dagegen gewesen. Sollte ich Erfolg haben, profitieren alle davon. Und du, Sarn, kannst hinterher immer noch behaupten, es wären nur meine Hexenkräfte gewesen.« Ihre Stimme veränderte sich ein ganz kleines bisschen, kaum hörbar, und doch schwang etwas darin mit, das Sarn noch ein bisschen blasser werden ließ, auch wenn Arri dies vor wenigen Augenblicken noch gar nicht für möglich gehalten hätte.

»So oder so«, fuhr sie fort, »bist du auf jeden Fall gut beraten, nichts zu tun, bis Rahn zurück ist. Vermutlich könntest du mich daran hindern, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen, doch dann gäbe es immer welche im Dorf, die sich fragen würden, ob du es vielleicht nicht nur getan hast, weil du Angst hattest, ich könnte Erfolg haben. Warte einfach ab und lass mich gewähren, und du kannst nur gewinnen.«

Arri verstand mittlerweile rein gar nichts mehr. Zwar war ihr klar, dass es irgendetwas mit dem zu tun hatte, weswegen ihre Mutter Rahn fortgeschickt hatte, und wohl auch mit Grahls Bruder und dem blinden Mann, aber nichts davon schien in diesem Moment irgendeinen Sinn zu ergeben. Darüber hinaus kreisten ihre Gedanken um ein vollkommen anderes Thema. Die Spuren, die Sarn erwähnt hatte. Die Fremden, von denen Grahl behauptete, sie hätten ihn und seine beiden Brüder so grundlos angegriffen, und an deren Existenz ihre Mutter so offensichtlich nicht glaubte. Sie hätte es ihr sagen können. Sie hätte es ihr schon vor drei Tagen sagen müssen. Es waren keine Gerüchte, und es waren auch nicht nur Spuren. Die Fremden waren hier. Arri hatte mindestens einen von ihnen gesehen, und auch wenn dieser eine ihr das Leben gerettet hatte, sagte das rein gar nichts über ihre Ziele aus. In ihr sträubte sich alles, dem Schamanen Recht zu geben, aber in diesem einen Punkt hatte er es womöglich. Warum schwieg sie? Warum hatte sie bislang nichts gesagt?

Arri spürte, dass dies vielleicht ihre unwiderruflich letzte Gelegenheit war, von ihrer unheimlichen Begegnung im Wald zu erzählen, zugleich wusste sie aber auch, dass ihr niemand glauben würde. Sarn würde behaupten, ihr zu glauben, es aber nicht wirklich tun, und ihre Mutter schon gar nicht - und wenn doch, so würde sie sehr wütend sein, dass sie, Arri, nicht längst davon erzählt hatte, sondern im allerungünstigsten aller nur denkbaren Augenblicke damit herausrückte.

»Es ist spät, Ältester«, sagte Lea. »Meine Tochter und ich sind jedenfalls müde. Zweifellos habt auch ihr beide morgen einen mühsamen und anstrengenden Tag vor euch und braucht euren Schlaf.«

Das war ein kaum verhohlener Hinauswurf, eine schiere Ungeheuerlichkeit, die Sarn unter gewöhnlichen Umständen niemals hingenommen hätte. Doch an diesem nächtlichen Treffen war nichts gewöhnlich. So funkelte er Lea nur noch zornig an, dann eilte er, übertrieben schwer mit seinem Stock aufstampfend, zur Tür und ging vorsichtig die schmalen Stufen hinunter. Grahl - der ihre Mutter in so großem Bogen umging, wie es überhaupt möglich war - folgte ihm, und sie konnte hören, wie die beiden lautstark und heftig miteinander zu streiten begannen, kaum dass sie unten angekommen waren und sich auf den Weg ins Dorf machten.

Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten trat Lea rasch ans Guckloch und blickte ihnen nach, bis die Dunkelheit sie aufgesogen hatte. Ihre Stimmen waren noch einen Moment zu hören, verklangen dann aber. »Dieser dumme, alte Mann«, seufzte Lea. »Er weiß genau, was Nor von mir gefordert hat und dass ich entweder an Einfluss verlieren werde oder zusammen mit dir weggehe. Warum kann er es nicht einfach dabei bewenden lassen und Ruhe geben?«

Sag es ihr!, flüsterte eine Stimme in Arris Gedanken. Jetzt! Sie musste ihr von dem Fremden erzählen, auch auf die Gefahr hin, dass ihre Mutter ihr vielleicht nicht glauben oder, falls sie es doch tat, sehr wütend auf sie sein würde.

Aber sie schwieg.

Ihre Mutter trat vom Guckloch zurück, lehnte das Schwert gegen die Wand darunter und verhängte die Öffnung dann mit einem Biberfell. Erst nachdem sie auch mit dem zweiten Guckloch auf die gleiche Weise verfahren war, nahm sie das Schwert wieder zur Hand, trug es aber nicht an seinen Platz an der Wand zurück, wie Arri erwartet hatte, sondern betrachtete die Waffe auf eine sehr sonderbare, schwer zu deutende Weise. Zwei- oder dreimal hob sie den Blick und sah ihre Tochter an, als gäbe es da etwas, das mit diesem Schwert zusammenhing und auch sie betraf, dann aber hängte sie es doch zurück und ließ sich mit einem schweren Seufzer in den brüchigen Korbstuhl fallen, in dem Sarn zuvor geschnarcht hatte.

Nun, nachdem sie die Biberfelle vorgehängt hatte, war es fast vollkommen dunkel hier drinnen, doch Arri spürte das Gefühl tiefer Trauer, das ihre Mutter überkam. Dies war eine für Arri vollkommen unerwartete Reaktion auf den Besuch der beiden Männer. Sie hatte mit Zorn gerechnet, Wut, Ärger, vielleicht sogar Sorge - aber nicht damit. Außer dem, was sie gerade gehört hatte, war noch viel mehr zwischen ihrer Mutter und dem Schamanen. Umso schwerer fiel es ihr, ihrer Mutter die Geschehnisse im Wald zu beichten. Aber sie musste es tun. Wenn sie es jetzt nicht tat, würde sie nie wieder die Kraft dafür aufbringen.

»Ich... ich muss dir etwas sagen«, begann sie.

»Ich weiß.« Der Schatten in der fast vollkommenen Dunkelheit vor ihr, der ihre Mutter war, bewegte sich unruhig, und Arri konnte das Knarren des sorgfältig geflochtenen Stuhles hören, in dem sie hin und her rückte, als hätte Sarn ihn mit seiner Anwesenheit irgendwie verändert oder beschmutzt, sodass sie nun nicht mehr sicher war, bequem darauf sitzen zu können.

»Du weißt?«, murmelte Arri erschrocken. Aber wie? Wie konnte ihre Mutter um ihr Geheimnis wissen, und selbst wenn sie bereits davon erfahren hatte, warum hatte sie bisher geschwiegen?

Ein leises, aber fast traurig klingendes Lachen drang als Antwort aus den Schatten zu ihr. »Arianrhod, du bist meine Tochter. Irgendwann wirst du es verstehen, aber für heute glaub mir einfach, dass Kinder sehr selten Geheimnisse vor ihren Eltern bewahren können. Ich weiß, dass du hier nicht wegwillst, weder wenn der erste Schnee fällt noch im nächsten Frühjahr. Ich habe es in deinem Gesicht gewesen, als ich dir von Nors Forderung erzählt habe. Und ich kann dich verstehen, glaub mir.«

»Aber...«, begann Arri, wurde aber sofort wieder von ihrer Mutter unterbrochen, die im gleichen, ebenso sanften wie verständnisvollen, aber auch fast unnahbaren Ton fortfuhr, als hätte sie ihre Entgegnung gar nicht gehört.

»Glaub mir, auch ich will nicht wirklich fort von hier. So sehr uns dieser Ort und seine Menschen auch einengen mögen, ist er doch seit zehn Jahren meine Heimat. Ich habe sonst niemanden. Es gibt keinen Ort, an den wir gehen könnten, jedenfalls keinen, der nicht schlimmer wäre als dieser hier, gebeutelt von Hungersnöten und einem Elend, wie es zu meiner Ankunft auch hier noch geherrscht hat. Aber wir müssen es. Nor wird nicht nachgeben, und selbst wenn, so wird Sarn es bestimmt nicht tun.« Arri konnte hören, wie sie traurig den Kopf schüttelte. »Ich werde diesen Menschen hier ein letztes Geschenk zum Abschied machen, und dann ziehen wir weiter.«

Arri schwieg. Die Gelegenheit war vorbei. Sie hatte nichts gesagt und würde auch nichts mehr sagen. Jetzt nicht mehr. Das Gefühl der Trauer, das sie gerade auf ihre Mutter übertragen hatte, war in Wahrheit ihr eigenes, und es war auch nicht wirklich Trauer, sondern Mitleid, denn sie spürte den Schmerz ihrer Mutter fast so deutlich, als wäre er ihr eigener. Sie konnte es ihr jetzt nicht sagen und später vielleicht auch nicht mehr.

Vielleicht nur, um überhaupt etwas zu sagen und das immer lastender werdende Schweigen zu brechen, fragte sie: »Warum war Grahl plötzlich so feindselig dir gegenüber? Noch vor wenigen Tagen...«

»... war er auf meiner Seite und hätte selbst Sarn die Stirn geboten«, unterbrach sie ihre Mutter, »ich weiß.« Sie lachte ganz leise, doch jetzt klang es einfach nur bitter. »Aber nicht, weil er der Meinung war, ich sei im Recht.«

»Warum dann?«, fragte Arri.

»Vielleicht war er einfach verzweifelt«, antwortete ihre Mutter. »Vielleicht hat Sarn ihm auch aufgetragen, sich so zu geben, um sich auf diese Weise in mein Vertrauen zu schleichen.« Sie hob die Schultern. »Vielleicht hat er geglaubt, auf diese Weise etwas von mir bekommen zu können, was ich ihm nur dann und wann einmal geschenkt habe, wenn mir danach war.«

»Du meinst...?«

»Ich war noch nie das Eigentum eines Mannes, und ich werde es niemals sein«, sagte ihre Mutter ruhig. »Was Grahl für ein Geschenk gehalten haben mag, das war in Wahrheit etwas, das ich mir von ihm genommen habe. Vielleicht hat er das begriffen und ist nun zornig.«

Arri war sich nicht ganz sicher, ob sie diesem wirren Gedankengang folgen konnte, und sie wollte es auch nicht, jedenfalls nicht jetzt. »Aber was hat er gemeint, als er sagte, du hättest seinem Bruder...«, sie versuchte sich an den genauen Wortlaut zu erinnern, war aber nicht ganz sicher, ob es ihr gelang, »... Unsinn in den Kopf gesetzt?«

»Warum wartest du nicht einfach ab, bis Rahn zurück ist?«, erwiderte ihre Mutter. »Dann wirst du schon sehen, was ich gemeint habe.« Sie seufzte ganz leise und sehr tief. »Wer weiß? Vielleicht haben sie ja Recht.«

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