17

Bis spät in den Nachmittag hinein fuhren sie in gemäßigtem, aber gleichmäßigem Tempo nach Osten, ohne dass ihre Mutter auch nur ein einziges Wort gesprochen hatte. Auch ihr Gesicht blieb während der ganzen Zeit vollkommen ausdruckslos und starr. Arri warf ihr dann und wann einen verstohlenen Blick aus den Augenwinkeln zu - der Lea natürlich nicht verborgen belieb -, verfiel aber darüber hinaus in dasselbe verstockte Schweigen wie sie. Ihre Mutter war immer noch übelster Laune, das spürte sie trotz der vollkommenen Ausdruckslosigkeit, die sie wie eine Maske über ihr Gesicht gestülpt hatte. Aber es war nicht nur Zorn oder der Ärger über ihren Ungehorsam, der sie zwang, ihre Pläne so überstürzt zu ändern. Da war noch mehr. Arri kannte ihre Mutter gut genug, um zu spüren, dass sie schwere Sorgen plagten. Vielleicht Angst.

Und schließlich war es auch Arri, die das immer drückender werdende Schweigen nicht mehr ertrug. Den ganzen Nachmittag über waren sie durch eine ständig wechselnde Landschaft gefahren. Die weite, nur von einigen wenigen, in kleinen Gruppen wachsenden Bäumen unterbrochene Grasebene war einer sumpfigen Flusslandschaft gewichen, durch die sich der Wagen nur mühsam und äußerst vorsichtig seinen Weg hatte bahnen können, dann war es ein gutes Stück - weit weniger gefährlich, dafür aber umso langsamer - am Rande dichter Wälder vorbeigegangen, in denen die Zeit schneller voranzuschreiten schien, denn ein Großteil der Blätter hatte sich schon goldgelb gefärbt oder lag bereits als allmählich verfaulendes Laub am Boden, und schließlich wieder eine weite, flache Ebene, auf der nichts anderes als Gras und kümmerliches Gebüsch wuchsen.

Einmal waren ihnen mehrere Wisente begegnet, die ihrer Gegenwart aber nur flüchtig Beachtung schenkten und nicht einmal die Mahlzeit unterbrachen, die ihnen das noch immer saftig wachsende Gras bot. Arri betrachtete die großen, kräftigen Tiere mit den mächtigen Hörnern mit angemessenem Respekt, aber auch der Neugier, die sie aufgrund der großen Entfernung, an der sie an ihnen vorbeifuhren, ohne Scheu aufbringen konnte. Die Herde bot nicht nur einen beeindruckenden Anblick, die Gelassenheit, mit der die Tiere auf ihre Anwesenheit reagierten, brachte sie auch zu der Vermutung, dass sie sich in einem Landstrich befanden, in den sich nur sehr wenige Jäger verirrten, die hinter den riesigen, aber eigentümlich gutmütigen Tieren her waren; vielleicht überhaupt keine. Ein anderes Mal galoppierte eine Gruppe wilder Pferde in großem Abstand an ihnen vorbei, bei der es sich aber vermutlich nicht um Nachtwind und seine Familie handelte; so vertraut, wie ihre Mutter mit dem Hengst und seiner Herde war, wäre er sicherlich herangekommen, um sie zu begrüßen.

Für eine Weile beschäftigte Arri all das Neue und Unbekannte, das sie sah, hinlänglich genug, dass ihr die Zeit nicht lang wurde. Aber als sie dann auf Geheiß ihrer Mutter an einem Bach vom Bock kletterte und ihr half, die Pferde zu tränken, wurde ihr klar, was sie eigentlich getan hatte. Mit einem heftigen Anflug schlechten Gewissens sah sie die Sorge in Leas Augen, denn letzten Endes war sie es, die schuld an der niedergeschlagenen Stimmung war, in der sich ihre Mutter befand. Sie war immer noch ein wenig wütend, und sie empfand immer noch ein Gefühl tiefer Enttäuschung, dass das Wiedersehen mit ihrer Mutter so vollkommen anders verlaufen war, als sie gehofft hatte. Aber sie war immer weniger sicher, ob sie tatsächlich das Recht hatte, so zu empfinden. Sicherlich hatte sie das Recht, enttäuscht über die Erkenntnis zu sein, dass ihre Mutter die Gesellschaft dieses Fremden der ihren offensichtlich vorzog, und sei es nur für eine Weile - aber auf der anderen Seite sagte sie sich, dass auch ihre Mutter eine Frau mit eigenen Bedürfnissen und Gefühlen war. Vermutlich hatte Lea bei diesem Fremden - Dragosz - etwas gefunden, was ihr weder Rahn noch Grahl oder irgendein anderer aus dem Dorf geben konnte; und das ganz sicherlich nicht nur in körperlicher Hinsicht.

»Du wolltest wissen, was wirklich passiert ist«, begann sie, nachdem sie den Bach schon wieder eine ganze Weile hinter sich gelassen hatten.

Lea tat ihr nicht den Gefallen, es ihr leichter zu machen, indem sie darauf einging. Aber sie erwies sich zumindest als eine Spur erwachsener als sie, denn sie sagte zwar nichts, wandte aber nach ein paar Augenblicken den Kopf und sah sie scheinbar gleichgültig an.

»Es... es war nicht Rahns Schuld«, fuhr Arri stockend fort, jetzt, wo sie sich dazu durchgerungen hatte zu reden, sollte es ihr eigentlich leichter fallen, die richtigen Worte zu finden, doch das genaue Gegenteil war der Fall. Sie hatte sich fest vorgenommen, bei der Wahrheit zu bleiben, ganz gleich, wie ärgerlich ihre Mutter auch darauf reagieren würde, und doch ertappte sie sich schon wieder dabei, nach Worten und Wendungen zu suchen, die ihre eigene Rolle in dieser unrühmlichen Geschichte in einem etwas besseren Licht erscheinen ließen. Die Worte, die ihr über die Lippen kommen wollten, waren nicht die, die sie sich eigentlich zurechtgelegt hatte.

»Ich war wütend auf dich. Ich wollte nicht allein bleiben, und als Rahn mir dann auch noch erzählt hat, was du ihm aufgetragen hast, habe ich ihn so lange gereizt, bis er zornig wurde und auf mich losgegangen ist.«

Leas Blick wurde fragend, aber sie sagte immer noch nichts. Arri fuhr sich hastig mit dem Handrücken über den Mund, sammelte all ihre Kraft und erzählte dann, stockend und immer wieder innehaltend, um ihrer Mutter einen scheuen Blick zuzuwerfen und in ihrem Gesicht nach irgendeiner Reaktion auf das Gehörte zu suchen, sich aber dennoch streng an die Wahrheit haltend, was wirklich passiert war. Als sie bei der Stelle angelangt war, an der sie den sich schlafend stellenden Schmied zu einem glaubwürdigen Zeugen für etwas gemacht hatte, was in dieser Form niemals passiert war, glaubte sie es kurz und belustigt in Leas Augen aufblitzen zu sehen, war aber nicht ganz sicher, ob sie vielleicht nur etwas gewahrte, was sie sehen wollte. Ihre Mutter schwieg weiter und forderte sie mit keinem Wort, keiner Geste auf, irgendetwas zu erklären, sondern sah sie nur aufmerksam an. Als Arri erzählte, wie Rahn sie draußen vor der Hütte angegriffen und was genau er getan hatte, verdüsterte sich ihr Blick tatsächlich für einen kurzen Moment, aber sie sagte auch jetzt nichts, sondern wartete ab, bis Arri zu Ende berichtet hatte.

»Und dann bist du meiner Spur bis zur Ebene gefolgt?«, fragte sie in leicht zweifelndem Ton. »Habe ich eine so deutliche Fährte hinterlassen? Ich erinnere mich gar nicht, so unvorsichtig gewesen zu sein.«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Arri wahrheitsgemäß. »Als Rahn erzählt hat, dass du den Ochsenkarren nicht genommen hättest, habe ich einfach gehofft, dich dort zu finden.«

Diese Antwort schien ihrer Mutter nicht unbedingt zu gefallen; oder zumindest nicht das zu sein, was sie gern gehört hätte. »Bist du sicher, dass er dir nicht gefolgt ist?«

»Rahn?« Arri schüttelte überzeugt den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ihm nach einem Spaziergang zumute war.«

Lea blieb ernst. »Es wäre nicht gut, wenn er uns gesehen hätte.«

»Er ist mir nicht gefolgt«, versicherte Arri.

»Ich hoffe«, seufzte ihre Mutter. »In den letzten Tagen ist er mir mehrmals nachgeschlichen. Er ist ein solcher Tölpel, dass ich schon taub sein müsste, um ihn nicht zu hören, aber man kann nie wissen.«

»Rahn ist dir nachgeschlichen?«, vergewisserte sich Arri. »Glaubst du, er weiß von...«

»Von Dragosz?« Lea schüttelte heftig den Kopf und ließ die Bewegung dann übergangslos in einem Schulterzucken enden. »Ich weiß es nicht. Am Anfang habe ich es gedacht, aber vielleicht war es nur meine eigene Eitelkeit, die mich das glauben ließ.« Sie lachte leise und zuckte abermals und irgendwie bitterer mit den Schultern. »Vielleicht hofft er auch nur, dass ich ihn zu der Stelle führe, an der ich meinen Schatz vergraben habe.«

»Was für ein Schatz?«, entfuhr es Arri.

»Der, von dem dieser Dummkopf glaubt, dass ich ihn habe«, antwortete Lea abfällig.

Arri verstand immer noch nicht, wenigstens nicht gleich. Aber dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Die Oraichalkos-Perle?«

»Anscheinend bildet sich dieser Dummkopf ein, dass ich einen ganzen Sack voll davon irgendwo vergraben habe. Und wahrscheinlich wird dieser Sack in seiner Einbildung jedes Mal ein bisschen größer, wenn er darüber nachdenkt.«

»Und wie viel Oraichalkos hast du wirklich?«, fragte Arri.

Statt zu antworten, griff ihre Mutter unter ihr Kleid und streckte ihr dann den Arm hin. Auf ihrer Handfläche lag eine kleine, honigfarbene Träne. Die Perle, die Lea Rahn in jener Nacht angeboten hatte, als sie dabei gewesen war.

»Nur... nur diese eine?«, vergewisserte sie sich.

Ihre Mutter lachte leise und vollkommen humorlos und steckte ihren Schatz wieder ein. »Glaubst du, wir würden hier leben, wenn ich reich wäre?«

Arri wusste nicht genau, was das Wort reich bedeutete, zumindest nicht in dem Zusammenhang, in dem ihre Mutter es jetzt gebrauchte, aber sie begriff immerhin, was sie meinte.

»Aber wenn du nur diesen einen Stein hast...«, begann sie.

»Dann wird Rahn nicht besonders begeistert sein, wenn das Frühjahr kommt«, fügte Lea mit einem kühlen Lächeln hinzu. »Ich weiß.«

»Du hast ihm zwei Steine versprochen.«

»Und ich habe nur einen. Immerhin hat es den Vorteil, dass er mir meinen Schatz auch nicht stehlen kann.«

Arri lächelte zwar pflichtschuldig, aber sie verstand die Beiläufigkeit nicht, mit der ihre Mutter das sagte. Rahn war kein Mann, der sich ungestraft betrügen ließ.

»Und was willst du ihm sagen, wenn es Frühjahr wird, und er zwei Steine erwartet?«

»Bis zum Frühjahrsfest werde ich ihn vertrösten können. Und sei dir sicher: Bevor das letzte Feld bestellt ist, sind wir schon längst über alle Berge.« Plötzlich warf Lea den Kopf in den Nacken und begann laut und schallend zu lachen. »Schade, dass ich nicht dabei war, um sein Gesicht zu sehen, als er auf dich losgegangen ist«, kicherte sie, nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte. »Ich kann mir vorstellen, dass er ziemlich überrascht war.« Sie blinzelte ihr zu. »Und mach dir keine Sorgen. Er wird niemandem etwas erzählen. Rahn würde niemals zugeben, von einem Kind verprügelt worden zu sein.«

»Eigentlich hatte ich eher das Gefühl, dass er mich verprügelt hat«, antwortete Arri zerknirscht.

Um ganz genau zu sein, hatte sie dieses Gefühl nicht gehabt, sondern hatte es noch immer. Die Zeit, die sie ruhig neben ihrer Mutter auf dem Kutschbock gesessen und wenigstens innerlich etwas zur Ruhe gekommen war, hatte es sie fast vergessen lassen, aber nun, durch die Erinnerung geweckt, glaubte sie erneut jeden einzelnen Hieb und Tritt zu spüren, den der Fischer ihr versetzt hatte. Selbst das dünne Stechen in ihrer Seite, mit dem ihre angeknackste Rippe jeden einzelnen Atemzug kommentierte, war wieder da. Spätestens morgen früh, dachte sie missmutig, würde sie sich wohl nicht einmal mehr bewegen können, ohne vor Schmerz die Zähne zusammenzubeißen.

»Du hast mehr Glück als Verstand gehabt«, antwortete ihre Mutter in - zumindest Arris Meinung nach - vollkommen unangemessenem, fröhlichem Ton. »Rahn hätte dich ebenso gut auch umbringen können.« Sie legte den Kopf auf die Seite und sah ihre Tochter prüfend an. »Du hast doch nicht etwa wirklich geglaubt, es mit ihm aufnehmen zu können?«

Tatsächlich war es genau das gewesen, was Arri geglaubt hatte, obwohl ihr natürlich längst klar war, wie närrisch diese Vorstellung gewesen war. Sie zog es vor, nicht auf diese Frage zu antworten, aber ihr Gesichtsausdruck schien Lea Antwort genug zu sein, denn sie runzelte die Stirn und schüttelte abermals den Kopf. »Wenn das wirklich so ist, dann war ich eine schlechte Lehrerin. Und du hast die Tracht Prügel, die er dir versetzt hat, wahrscheinlich verdient.«

»Aber...«

»Ich habe dir ein paar Kniffe und ein paar kleine Gemeinheiten gezeigt, mit denen du dich deiner Haut erwehren kannst, wenn es nötig ist«, fuhr Lea unbeeindruckt fort. »Aber ich habe dir oft genug gesagt, dass du dich nicht überschätzen sollst. Rahn ist sicherlich ein Dummkopf, aber er ist ein verdammt starker Dummkopf. Abgesehen von Grahl und seinem Bruder ist er wahrscheinlich der stärkste Mann im Dorf. Nicht einmal ich hätte den Mut, ihn so zu reizen; zumindest nicht, wenn ich unbewaffnet wäre. Du hast verdammtes Glück, überhaupt noch an Leben zu sein, ist dir das klar?«

»Ja«, gestand Arri kleinlaut. Ihr Gefühl von Enttäuschung und Zorn verschwand zusehends. Ihre Mutter reagierte weitaus weniger heftig auf ihre Eröffnung, als sie erwartet hatte. Sie ging einfach zur Tagesordnung über, und vielleicht war das ihre Art, ihr zu sagen, dass sie verstand, was sie getan hatte, und warum. Arri aber gestand sich ihrerseits ein, dass sie allen Zorn und jede Strafe verdient hatte, die ihre Mutter sich für ihren Ungehorsam vielleicht noch einfallen lassen konnte.

Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, sagte Lea in diesem Augenblick: »Ich hoffe, dir ist klar, was du beinahe angerichtet hättest, Arianrhod. Es hätte dich das Leben kosten können.«

»Ich weiß«, antwortete Arri zerknirscht. »Es tut mir auch Leid, aber...« Hilflos hob sie die Schultern und wusste mit einem Male nicht mehr, wohin mit ihrem Blick und ihren Händen. Auch ohne sie anzusehen, spürte sie, dass diese Worte ihrer Mutter nicht reichten.

»Ich sollte enttäuscht sein«, fuhr Lea fort. »Ich dachte, du hättest verstanden, was ich dir beizubringen versucht habe, aber ich bin wohl doch keine so gute Lehrerin, wie ich mir eingebildet habe.«

»Aber ich wollte doch nur...«, begann Arri, aber Lea hörte ihr gar nicht zu, sondern fuhr mit einem Seufzen fort: »Du hast so ziemlich alles falsch gemacht, was man überhaupt nur falsch machen kann. Du musst lernen, vorher über die Folgen dessen nachzudenken, was du tust. Diesmal bist du mit ein paar blauen Flecken davongekommen. Aber es hätte auch anders ausgehen können. Es hätte auch ihn das Leben kosten können. Wolltest du das?«

Arri war ein wenig erstaunt, als ihr klar wurde, dass sie diese Frage nicht wirklich beantworten konnte. Abermals hob sie hilflos die Schultern. Vielleicht nur, um überhaupt etwas zu sagen, murmelte sie nach einer Weile: »Was stört mich dieser Dummkopf.«

Ohne dass sie hätte sagen können, warum, spürte sie, dass diese Antwort vielleicht die falscheste war, die sie in diesem Moment hätte geben können. Ihre Mutter sah sie eine kleine Ewigkeit lang durchdringend an, dann überzeugte sie sich mit einem raschen Blick davon, dass das Gelände vor ihnen eben und frei von Hindernissen war, sodass die Pferde zumindest für das nächsten Stück allein ihren Weg finden würden, ließ die Zügel in den Schoß sinken und drehte sich auf der schmalen Bank ganz zu ihr um. »Ist das alles, was er für dich ist? Ein Dummkopf?«

Arri wollte antworten, doch ihre Mutter schüttelte den Kopf, um ihr das Wort abzuschneiden, und fuhr mit ein wenig traurig klingender Stimme fort: »Du hasst ihn, nicht wahr? Ich meine, nicht erst, seitdem du ihn zusammen mit mir gesehen hast... Er hat dich ein Leben lang gequält und gedemütigt, und du hast dir schon lange gewünscht, es ihm heimzuzahlen. Ist es das, was du wolltest? Seinen Tod?«

»Nein!«, sagte Arri fast erschrocken - und vielleicht gerade so hastig, weil da ein winziger Teil in ihr war, der genau das gewollt hätte. Nur hatte sie es bis zu diesem Moment nicht wirklich begriffen. Oder nicht wahrhaben wollen.

»Die Welt wäre bald ein ziemlich einsamer Ort, wenn wir jedem, der uns einmal gedemütigt oder beleidigt hat, den Tod wünschen und alle diese Wünsche in Erfüllung gehen würden«, fuhr Lea fort. »Ich mag Rahn ebenso wenig wie du, aber das gibt mir nicht das Recht, sein Leben aufs Spiel zu setzen, nur um eines kleinen Vorteils willen. Was hättest du getan, hätte ich deine Lüge geglaubt und ihn zur Rechenschaft gezogen? Hättest du zugesehen, wie ich ihn töte?«

Arri wusste es nicht. Aber sie fühlte sich zunehmend unwohler. Ihre Mutter hatte vollkommen Recht, mit jedem Wort. Sie hatte so ziemlich alles falsch gemacht, was man nur falsch machen konnte. »Es tut mir Leid«, murmelte sie nur noch einmal.

»Das hoffe ich«, sagte Lea ernst. »Ich werde dich nicht für das bestrafen, was du getan hast, obwohl du es wahrlich verdient hättest. Aber ich will, dass du darüber nachdenkst. Nicht so sehr über das, was du getan hast, sondern über das, was hätte passieren können. Versprichst du mir das?«

Arri nickte. Sie meinte es ernst.

»Gut«, sagte Lea. »Dann ist die Angelegenheit für mich erledigt. Ich werde nie wieder darüber sprechen, es sei denn, du willst es.«

Sie wandte sich wieder nach vorn, hob die Zügel und ließ die geflochtenen Stricke abermals mit dieser schnappenden Bewegung aus dem Handgelenk heraus knallen. Ein sachter Ruck ging durch den Wagen, als die Pferde rascher ausgriffen und dann wieder in ihre gewohnte, gleichmäßige Geschwindigkeit zurückfielen.

Wieder fuhren sie eine geraume Weile schweigend dahin. Die Landschaft, durch die das Fuhrwerk rollte, änderte sich jetzt zusehends, aber es fiel Arri sonderbar schwer, sich darauf zu konzentrieren. Ganz gleich, was Lea auch gesagt hatte, es gelang ihr nicht, tatsächlich Verständnis für Rahn aufzubringen oder ihn auch nur als etwas zu sehen, das auch nur entfernt mit einem menschlichen Wesen zu tun hatte, und doch hatten Leas Worte an etwas gerührt, das ihr zu schaffen machte. Der Tod und das Sterben gehörten so selbstverständlich zum Leben der Menschen im Dorf, dass sie eigentlich noch nie bewusst darüber nachgedacht hatte. Und doch glaubte sie plötzlich zu spüren, dass von allen Lektionen, die ihre Mutter ihr in diesem Sommer erteilt hatte, diese eine vielleicht die allerwichtigste gewesen war. Es gab Dinge, mit denen man spielen durfte, und andere, mit denen nicht. Und das Leben eines Menschen - selbst eines solchen, wie Rahn es war - gehörte ganz eindeutig nicht dazu.

Aber wenn ein Menschenleben so kostbar und wertvoll war, wieso hatte ihre Mutter ihr dann allein in den zurückliegenden beiden Wochen mindestens ein Dutzend Möglichkeiten beigebracht, um es mit einer einzigen Handbewegung auszulöschen?

»Wir müssen uns bald eine Stelle zum Übernachten suchen«, sagte Lea nach einer Weile. Arri schrak aus ihren Gedanken hoch und sah erst sie an, dann in den Himmel hinauf. Fast wäre sie erschrocken, als sie sah, wie tief die Sonne schon stand, und als hätte es dieses Anblicks bedurft, spürte sie auch plötzlich, wie empfindlich kalt es bereits geworden war. Der wolkenlose, strahlend blaue Himmel und das saftige Grün der Landschaft rund um sie herum vermochten jetzt nicht mehr darüber hinwegzutäuschen, wie nah der Winter bereits war. Nicht mehr lange, und am Morgen würde sich bereits der erste Raureif im Gras zeigen.

Ohne auf eine Antwort zu warten, deutete Lea mit einer Kopfbewegung auf eine kleine Felsgruppe, nur noch einen guten Steinwurf entfernt. Der Wagen steuerte bereits in gerader Linie darauf zu. »Das da vorn scheint ein günstiger Platz zu sein. Was meinst du?«

Arri wusste genau, dass ihre Mutter sich längst entschieden hatte; vermutlich schon lange, bevor sie sie überhaupt auf die Felsgruppe aufmerksam gemacht hatte. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie diese Frage vielleicht nur stellte, damit sie sie bejahte, dann aber wurde ihr klar, dass Lea sie einfach auf die Probe stellen wollte. Sie hatte keine wirkliche Lust zu antworten. An diesem Tag war zu viel geschehen, als dass ihr der Sinn noch nach irgendwelchen Spielchen stand. Sie hob nur die Schultern.

Ihre Mutter bedachte sie mit einem tadelnden Blick, beließ es zu Arris Erleichterung aber dabei und hielt den Wagen an, als sie sich den Felsen bis auf ein paar Schritte genähert hatten. Arri wollte aufstehen und vom Bock klettern, doch ihre Mutter machte eine rasche, abwehrende Geste, sprang vom Wagen und verschwand mit schnellen Schritten in dem dicht wuchernden Grün, das die Felsen an drei Seiten einrahmte. Arri entging keineswegs, dass sie dabei den Umhang zurückschlug und die rechte Hand griffbereit auf das Schwert legte. Ganz abgesehen von den wilden Tieren, die sich vielleicht ganz in ihrer Nähe herumtrieben, gab es hier noch ganz andere, möglicherweise weit gefährlichere Räuber: Menschen. Oder um genauer zu sein: Menschen, die ihnen nicht wohlgesonnen waren.

Es vergingen nur wenige Augenblicke, bis ihre Mutter zurückkam. Sie bemühte sich zwar, möglichst gelassen zu erscheinen, aber es gelang ihr nicht wirklich, den Ausdruck von Erleichterung auf ihrem Gesicht zu verbergen.

»Wonach hast du gesucht?«, fragte Arri.

»Gesucht?« Lea schüttelte unwirsch den Kopf. »Nach nichts. Ich habe mich umgesehen, das ist alles. Es bietet sich an, das zu tun, wenn man sein Lager in einer Umgebung aufschlägt, die man nicht kennt. Es sei denn, es macht dir nicht aus, in unmittelbarer Nähe einer Bärenhöhle zu übernachten oder im Revier einer Wildschweinrotte.«

Arri stieg wortlos vom Wagen. Ihre Mutter hatte zwar Recht, aber das änderte nichts daran, dass das ganz bestimmt nicht der Grund für die Erleichterung gewesen war, die sie in ihren Augen las. Sie hatte etwas ganz Bestimmtes erwartet - nein: befürchtet - und es nicht vorgefunden.

Sie hütete sich, auch nur eine entsprechende Bemerkung zu machen, sondern maß ihre Umgebung mit einem zwar verstohlenen, aber dennoch sehr aufmerksamen Blick. Die verwitterten Felsen, vor denen der Wagen angehalten hatte, bildeten eine nach drei Seiten hin geschlossene Barriere, die sie zuverlässig gegen Wind und Kälte, aber auch allzu neugierige Blicke schützen würde. Aber sie waren sichtlich nicht die ersten, die diesen Ort zu einer Übernachtung nutzten: Die Erde zwischen den Felsen trug die schwarzen Brandspuren zahlreicher Lagerfeuer, und hier und da meinte sie auch etwas zu gewahren, was verrottete Abfälle sein konnten. Misstrauisch geworden, blieb sie stehen und sah noch einmal in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren.

Schon seit einer geraumen Weile waren sie bergab gefahren, obwohl das Gelände unweit vor ihnen wieder anstieg und, vielleicht noch mehrere Pfeilschüsse entfernt, zu einer steilwandigen Schlucht zwischen karstigen Hügeln wurde, die die Landschaft vor ihnen beherrschten. Arri hatte nicht wirklich auf den Weg geachtet, aber jetzt, als sie darüber nachdachte, war sie doch ziemlich sicher, dass der Wagen die meiste Zeit über in gerader Linie auf diesen Durchlass zwischen den Hügeln zugerollt war. Nur auf dem letzten Stück war er deutlich von diesem Kurs abgewichen und hatte einen regelrechten Schlenker gemacht. Nein, es war kein Zufall, dass sie an dieser kleinen Felsgruppe vorbeikamen, und ihre Mutter hatte sie ebenso wenig rein zufällig entdeckt.

»Wie oft bist du schon hier gewesen?«, fragte sie geradeheraus.

Ihre Mutter bedachte sie nur mit einem kühlen Blick und eilte an ihr vorbei zum hinteren Ende des Wagens. Während sie weiter geflissentlich so tat, als hätte sie ihre Frage gar nicht gehört, nahm sie zwei der großen Bündel, die auf der Ladefläche lagen, warf sie sich so mühelos über die Schultern, als wögen sie gar nichts, und trug sie, immer noch schweigend, zum Felsen hin. Arri fasste sich in Geduld, bis sich Lea ihrer Last entledigt hatte und abermals zurückkam, diesmal aber die Pferde ansteuerte.

»Du kennst diesen Platz, habe ich Recht?«, fragte sie. »Du übernachtest nicht zum ersten Mal hier.«

Wenn auch eindeutig widerwillig, so wandte Lea doch jetzt zumindest den Kopf in ihre Richtung und bedachte sie mit einem langen, stirnrunzelnden Blick. »Ja«, gestand sie. »Aber das ist schon eine Ewigkeit her. Hilf mir.«

Dies war auch wieder eine von Leas Antworten, die im Grunde keine waren, sondern vielmehr ihre Art klarzumachen, dass sie über diese Angelegenheit nicht reden wollte. Aber Arri gedachte dieses Mal nicht, sich so einfach abspeisen zu lassen. Sie hatte kein besonders gutes Gefühl dabei - das Eis, auf dem sie sich bewegte, war dünn. Ihre Mutter hatte ihr offensichtlich vergeben, aber das bedeutete ganz gewiss nicht, dass sie dieses gerade erst so mühsam zurückgewonnene Vertrauen nach Belieben belasten und auf die Probe stellen konnte. Und trotzdem: Ihre Mutter wurde nicht müde, ihr immer wieder zu versichern, dass sie kein Kind mehr war, sondern eine beinahe erwachsene Frau. Aber dann sollte sie sie gefälligst auch nicht länger wie ein Kind behandeln!

Ihre Mutter ergriff den Zügel eines Pferdes und führte die Tiere so weit um die Felsen und an den Waldrand dahinter heran, bis das Gefährt im Schutz des grauen Gesteins verschwunden war, und auch das war Arris Meinung nach ganz und gar kein Zufall, denn wenn jetzt jemand auf demselben Weg wie sie zuvor näher käme, dann konnte er es praktisch erst sehen, wenn er eigentlich schon daran vorbei war. Arri stieg vom Wagen und setzte vorsichtig den Fuß auf. Der Knöchel schmerzte noch ein wenig, schien aber ansonsten wieder in Ordnung zu sein, und aus einem unerklärlichen Grund war sie vor allem deswegen darüber erleichtert, weil sie ihre Mutter nicht bitten musste, ihn sich anzusehen. Stattdessen half sie mit, die Tiere von ihrem sonderbaren Geschirr zu befreien und ein kleines Stück weit weg zu führen, bevor sie sie am Waldrand wieder anbanden. Als Lea jedoch mit einem ärgerlichen Kopfschütteln die Leine wieder löste, mit der Arri ihr Pferd ganz absichtlich lang genug an einem Baumstamm festgebunden hatte, dass es sich ein wenig bewegen und zumindest ein paar kümmerliche Grashalme erreichen konnte, und es zwei Schritte weit ins Unterholz hineinführte, um es dort kürzer anzubinden, war es mit ihrer Geduld endgültig vorbei.

»Warum sagst du mir nicht endlich, was hier los ist?«, forderte sie. »Du hast Angst, dass uns jemand verfolgt, habe ich Recht? Wer ist es?«

Leas Gesicht verdüsterte sich noch weiter; ob als Reaktion auf ihren unverschämten Ton oder weil sie mit ihrer Vermutung der Wahrheit ziemlich nahe gekommen war, konnte Arri nicht sagen. Sie rechnete auch nicht wirklich mit einer Antwort, doch sie bekam eine.

»Vielleicht«, gestand Lea, ausweichend und ohne sie direkt anzusehen. »Ich glaube es eigentlich nicht, aber es ist besser, wir sind vorsichtig.«

»Warum?«, fragte Arri. »Hast du Angst, dass uns jemand überfällt, oder möchtest du nicht, dass man im Dorf erfährt, wohin wir eigentlich gehen?«

Diesmal starrte ihre Mutter sie schon länger und fast feindselig an. Mit einer ihrer beiden Vermutungen hatte Arri ganz offensichtlich ins Schwarze getroffen.

»Vielleicht von beidem etwas«, antwortete sie nach einer Weile. Dann hob sie die Schultern und rang sich ein Lächeln ab. »Du hast Recht. Es wäre mir nicht angenehm, wenn man im Dorf wüsste, wohin ich unterwegs bin. Obwohl es wahrscheinlich überhaupt keine Rolle spielt. Jetzt nicht mehr.« Ihr Lächeln entgleiste ihr zusehends. »Aber alte Gewohnheiten lassen sich so schnell nicht ablegen, weißt du?«

»Nein«, sagte Arri. »Ich weiß nicht.«

Der Blick ihrer Mutter wurde anklagend. Zu Arris Überraschung aber beließ sie es bei einem Seufzen und einem traurigen Kopfschütteln, bevor sie sich umdrehte und zu den Felsen zurückging. Arri folgte ihr, schweigend und hin- und hergerissen zwischen Zorn und einem Gefühl von tiefem Mitleid, das fast gegen ihren Willen in ihr aufkam, als sie den inneren Zweikampf spürte, den ihre Mutter ausfocht. Aber sie konnte auch nicht mehr zurück. Vielleicht, dachte sie, gehörte auch das zu dem, was ihre Mutter so gern als erwachsen werden bezeichnete; Fragen zu stellen, die man eigentlich nicht stellen wollte, weil man Angst vor der Antwort hatte.

Ihre Mutter warf noch einen langen Blick zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, dann ließ sie sich mit untergeschlagenen Beinen niedersinken, lehnte den Hinterkopf und Rücken gegen den rauen Fels und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Arri konnte sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Als sie die Lider wieder hob, hatte sich etwas in ihrem Blick geändert.

»Ja, du hast Recht«, sagte sie. »Ich möchte nicht, dass man im Dorf weiß, wohin ich gegangen bin. Es wäre nicht gut. Nicht gut für uns und nicht gut für die Menschen, zu denen wir gehen.«

Auch Arri setzte sich, verharrte aber in stocksteif aufgerichteter Haltung, fast als hätte sie Angst, ihre Entschlossenheit könne ins Wanken geraten, wenn sie es sich auch nur erlaubte, die Muskeln zu entspannen. »Und wohin genau fahren wir?«

»Zu Freunden«, antwortete Lea. »Menschen, die ich schon seit langer Zeit kenne und schätze. Gerade deshalb wäre es mir nicht angenehm, wenn Sarn oder gar Nor erführen, dass ich mit diesen Leuten Handel treibe.«

Handel? Arri fragte sich, womit ihre Mutter eigentlich handeln wollte. Sie besaß doch nichts. »Liegen sie im Streit mit dem Hohepriester?«, fragte sie.

Ein kurzes, humorloses Lächeln huschte über Leas Züge, und ihre Stimme wurde abfällig. »Goseg liegt mit jedem im Streit, der sich seinem Willen nicht beugt und keinen Tribut zahlt«, antwortete sie, schüttelte aber gleich darauf den Kopf und fuhr mit leiserer Stimme fort: »Nein. So weit würde ich nicht gehen. Diese Leute haben nichts mit Nor und den anderen Priestern aus Goseg zu schaffen, und sie wollen es auch nicht. Aber es ist trotzdem besser, wenn niemand weiß, dass ich sie kenne. Ich habe schon genügend Menschen Unglück gebracht, nur weil ich da war. Und manchmal ist es durchaus von Vorteil, wenn man einen Ort hat, an den man gehen kann und von dem nicht jedermann weiß.«

»Oder einen Menschen«, vermutete Arri.

Diesmal bekam sie nur ein geheimnisvolles Lächeln zur Antwort, doch ihre Mutter wirkte versöhnlicher, als sie weitersprach. »Ich glaube, ich muss mich bei dir entschuldigen, Arianrhod. Ich verlange von dir, dass du aufhörst, dich wie ein Kind zu benehmen, und dabei behandle ich dich die ganze Zeit über noch immer wie eines. Es war nicht recht von mir, dir nicht zu sagen, was ich wirklich plane.«

»Dafür sagst du es mir ja jetzt«, vermutete Arri, wartete jedoch vergebens auf eine Antwort und fügte mit schräg gehaltenem Kopf und fragendem Ausdruck hinzu: »Oder?«

Lea zögerte weiterhin. Die Finger ihrer rechten Hand fuhren über den verzierten Griff ihres Schwertes und zeichneten die Konturen der darauf abgebildeten Sonnen- und Mondsymbole nach, ohne dass sie sich der Bewegung selbst bewusst zu sein schien. »Ich könnte dir sagen, was ich vorhatte«, antwortete Lea schließlich und mit einem neuerlichen, traurigen Lächeln. »Aber wozu über Pläne reden, die sich längst zerschlagen haben?«

»Zerschlagen?«

»Ich hatte alles genau geplant«, bestätigte Lea. »Perfekt, wie ich dachte. Vielleicht ein bisschen zu perfekt. Ich dachte, ich hätte alles vorausgesehen, aber anscheinend habe ich mich für klüger gehalten als ich bin, und das nicht zum ersten Mal.«

»Was ist denn passiert?«, fragte Arri.

»Ich habe mich zu wichtig genommen, das ist passiert«, antwortete ihre Mutter. »Als wir damals hierher kamen, habe ich mich für klüger gehalten als die Menschen, die hier lebten, und ich fürchte, das rächt sich jetzt.«

»Klüger noch als Rahn?«, fragte Arri in dem schwachen Versuch, einen Scherz zu machen. »Das war in der Tat vermessen.«

Ihre Mutter lachte zwar leise, aber ihr Blick wurde eher noch trauriger. »Damals glaubte ich, ich wäre so viel klüger als all diese Leute hier«, fuhr sie fort. »Ich meinte, alles zu verstehen und ganz genau zu wissen, was ich zu tun hätte. Ich wusste es nicht.«

»Wie meinst du das?«

»Die Leute in diesem Land sind nicht dumm«, antwortete Lea. »Wenn jemand dumm war, dann ich. Ich habe mich ihnen überlegen gefühlt, nur weil ich mehr wusste als sie. Oder es mir wenigstens eingebildet habe.« Sie stieß sich mit einer müde wirkenden Bewegung von ihrem steinernen Halt ab und streckte ächzend den rechten Arm nach einem der beiden Bündel aus, die sie vom Wagen genommen hatte.

Arri war dem Bündel deutlich näher und hob ihrerseits die Hand, um ihrer Mutter zu helfen, aber dann erkannte sie, dass es genau das war, das sie vorhin durchsucht hatte, und stockte mitten in der Bewegung. Glücklicherweise entging Lea ihre schuldbewusste Geste. Ächzend zog sie das Bündel zu sich heran, knotete es auf und begann darin zu kramen.

»Wir können kein Feuer machen«, fuhr Lea fort, »aber wir haben kaltes Fleisch und Brot, und nur ein paar Schritte hinter dem Wald fließt der Bach, an dessen Unterlauf wir vorhin die Pferde getränkt haben. Wenn du uns etwas Wasser holst, zaubere ich uns etwas Essbares.«

Arri verbiss sich gerade noch rechtzeitig die Frage, warum sie nicht das Wasser aus dem Schlauch nahm, der sich in ihrem Bündel befand. Obwohl im Grunde nichts Verbotenes an dem war, was sie getan hatte, wäre es ihr in diesem Augenblick unangenehm gewesen zuzugeben, dass sie das Gepäck durchsucht hatte. Widerstrebend stand sie auf, ging zwei Schritte weit und kam dann wieder zurück. »Und worin soll ich es herschaffen?«

Lea sah sie einen Moment lang fast ratlos an, dann kramte sie hastig in dem Bündel und förderte eine hölzerne Schale zutage, die sie ihr reichte.

»Du bist wirklich auf alles vorbereitet, wie?«, fragte Arri leicht überrascht.

»Ich will nie wieder in die Verlegenheit geraten, mich mit nichts anderem als einem alten Schwert am Gürtel und einem schreienden Säugling im Arm mitten im Meer wieder zu finden«, antwortete ihre Mutter mit todernstem Gesicht.

Arri blinzelte. »Wie?«

»Geh schon.« Lea wedelte ungeduldig mit der Hand, aber in ihren Augen war nun auch ein verräterisches Funkeln. Arri sah sie noch einen weiteren Herzschlag lang verwirrt an, dann aber beeilte sie sich, nach dem Bach zu suchen, von dem ihre Mutter gesprochen hatte.

Angelockt von einem plätschernden Geräusch umging sie ein kleines Waldstück und stieß an seinem Rand auf den Bach, der diesen Namen überdies nicht wirklich verdiente, denn er war nicht einmal zwei Schritte tief und vielleicht doppelt so breit, nur einer der für diesen Teil des Landes so typischen schmalen Wasserläufe, die das wogende Meer aus Gras und hüfthohem Heidekraut durchschnitten. Arri kam diese Landschaft ungewöhnlich und anziehend vor, aber auch ein bisschen unheimlich. Das Dorf, an dessen Rand sie aufgewachsen war und ihr gesamtes Leben verbracht hatte, lag inmitten dichter, scheinbar endloser und vielerorts wortwörtlich undurchdringlicher Wälder, sodass sie die ungewohnte Weite ringsum erschreckte. Wenn ihre Mutter ihr von ihrem früheren Leben und dem Meer erzählt hatte, hatte sie diese Geschichten immer sehr aufregend gefunden, aber eigentlich nicht wirklich verstanden, wovon sie sprach. Doch es musste dem hier nahe kommen - eine Landschaft, die nahezu vollkommen leer war, so weit das Auge reichte, und in der sich der Blick verlieren konnte, wenn man nicht Acht gab.

Arri ließ sich Zeit, dem Befehl ihrer Mutter nachzukommen. Nachdem sie sich am Ufer des kaum zwei Handflächen breiten Baches in die Hocke gelassen und die Schale randvoll mit Wasser gefüllt hatte, setzte sie sie behutsam zu Boden, ließ sich vollends auf die Knie sinken und trank lange und ausgiebig von dem Wasser, das zwar kristallklar war und köstlich schmeckte, aber auch so kalt, dass sich ihre Lippen beinahe taub anfühlten, nachdem sie ihren Durst endlich gelöscht hatte. Sie stand auch jetzt noch nicht auf, sondern setzte sich ganz im Gegenteil ins Gras und schloss für einen Moment die Augen, um zu lauschen; nicht nur auf das leise Geräusch des Windes, der knisternd mit dem trocken werdenden Laub der Baumkronen über ihr spielte und auf dem kniehohen Gras Töne wie auf den Saiten eines fremdartigen, aber nicht unangenehm klingenden Instruments hervorrief, sondern auch und vor allem in sich hinein, auf das Durcheinander von Gefühlen und Gedanken, die sich zum Teil so heftig widersprachen, dass sie einfach nicht wusste, was nun richtig und was falsch war, oder überhaupt etwas davon.

Da war eine dünne, schwache Stimme in ihr, die ihr sagte, dass sie zurückgehen sollte, bevor ihre Mutter anfing, sich Sorgen um sie zu machen und vielleicht kam, um nach ihr zu suchen, aber zugleich spürte sie auch, dass es nicht geschehen würde. Ihre Mutter hatte sie wahrscheinlich nicht wirklich fortgeschickt, um Wasser zu holen. In dem Beutel, aus dem sie die Schale genommen hatte, befand sich mehr als genug Wasser für sie beide und einen einzigen Abend. Vielleicht hatte sie sie weggeschickt, weil sie einfach allein sein wollte, und vielleicht hatte sie auch gespürt, dass es ihr, Arri, ganz genau so erging.

Arri war verstört, verunsichert, verwirrt und ängstlich wie schon seit langer Zeit nicht mehr, und sie wusste auch nicht mehr, was sie glauben sollte. Alles war plötzlich so ganz anders. Die wenigen Worte, die ihre Mutter vorhin gesprochen hatte, hatten ihr Leben erneut und vielleicht noch grundlegender aus der Bahn geworfen als all die Veränderungen zuvor, die sie für so gewaltig gehalten hatte. Vielleicht hatte sie ihre Mutter zum allerersten Mal wirklich zweifelnd erlebt. Trotz allem, trotz aller Fehler, die sie gemacht hatte, allem, was Arri als ungerecht empfand und nicht annehmen mochte, trotz ihrer Launen und des unbestreitbaren Umstandes, dass sie manchmal ungerecht und selbstsüchtig war, auch ihrer eigenen Tochter gegenüber, war sie Arri bisher zugleich dennoch unfehlbar erschienen; der Mensch auf der Welt, der ihr Leben wie kein anderer bestimmte und letzten Endes behütete. Nun hatte sie zugegeben, einen Fehler gemacht zu haben, und auch wenn Arri noch nicht wirklich verstand, was sie damit gemeint hatte, so spürte sie zugleich doch tief in sich drinnen, dass dieser Fehler gewaltig gewesen sein musste. Schlimm genug, um ihrer beider Leben vollkommen aus der Bahn zu werfen.

Vielleicht war es das. Vielleicht fing sie an zu begreifen, dass ihre Mutter nicht unfehlbar war und dass sie eben nicht immer da sein würde, um ihre Tochter zu beschützen und alles wieder ins rechte Lot zu bringen, wenn diese Fehler beging oder das Schicksal ihr übel mitspielte. Leas Eingeständnis machte aus der Mutter, die für Arris Verständnis bisher schlichtweg die stärkste Macht unter dem von den Göttern gespannten Himmel war, stärker noch als das Schicksal selbst, einen ganz gewöhnlichen Menschen.

Aber das wollte sie nicht glauben.

Ein leises Knacken drang in ihre Gedanken. Arri schrak auf, sah sich hastig nach rechts und links um und zwang ein gequältes Lächeln auf ihre Lippen, als sie nichts sah. Vermutlich war es auch nichts gewesen. Ein trockener Zweig, der unter seinem eigenen Gewicht abgebrochen war, ein verspätetes Echo auf ihre Schritte oder ein kleines Tier, das vor dem unbekannten Eindringling in seine Welt floh. Es gab ein Dutzend Erklärungen, und eine war so überzeugend wie die andere. Dennoch schlug ihr Herz immer schneller, und sie hatte plötzlich wieder das sichere Gefühl, beobachtet zu werden. Sie versuchte - vergeblich -, sich selbst in Gedanken zur Ordnung zu rufen, gab aber fast sofort wieder auf und erhob sich.

Als sie sich nach der Schale bückte und sie behutsam aufhob, um nichts von ihrem Inhalt zu verschütten, löste sich ein Schatten aus dem Waldrand und trat auf sie zu.

Arri schrak so heftig zusammen, dass sie sich das Wasser nicht nur über den Rock schüttete, sondern die Schale gänzlich fallen ließ. Sie prallte auf dem Uferstreifen auf, sprang noch einmal in die Höhe und fiel ins Wasser, wo sie der Strömung einen Moment lang schaukelnd Widerstand entgegenzusetzen versuchte und dann wie ein winziges Boot davontrieb.

Arri starrte die Gestalt, die unversehens aus dem Wald gekommen war, aus entsetzt aufgerissenen Augen an. Sie wollte schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie brachte keinen Laut hervor. Trotzdem schlug sie die Hand vor den Mund und prallte einen Schritt zurück, als der Fremde weiter auf sie zukam.

Sie erkannte ihn jetzt. Es war der schwarzhaarige Mann, der sie vor dem Wolf gerettet hatte. Der, den sie zusammen mit ihrer Mutter im Wald gesehen hatte. Dragosz.

Rasch, aber ohne Hast ging er an ihr vorbei, machte zwei schnellere Schritte, um die davonschwimmende Schale einzuholen, und fischte sie mit einer übertriebenen Bewegung aus dem Wasser. Dann kam er zurück und streckte ihr die Schale hin. »Das hast du fallen lassen, Arianrhod. Du solltest vorsichtiger sein. Deine Mutter wäre nicht erfreut, wenn du sie verlieren würdest.«

Arri griff unwillkürlich nach der Schale, aber sie nahm die Worte kaum zur Kenntnis. Ihr Herz hämmerte, und ihre Hände zitterten so stark, dass sie sich eher an der Schale festklammerte, statt sie zu halten. Sie war der Panik so nahe, dass sie am liebsten schreiend davongelaufen wäre, und gleichzeitig auch gelähmt vor Schrecken und vollkommen unfähig, sich zu bewegen.

Dragosz blieb eine ganze Weile einfach so stehen und sah sie an. Er sagte nichts, und in seinem sonderbar geschnittenen Gesicht rührte sich nicht der kleinste Muskel, aber in seinen Augen erschien plötzlich ein nahezu belustigtes Funkeln, auch wenn Arri das unangenehme Gefühl hatte, den wahren Grund für seinen Spott nicht zu kennen; und auch gar nicht kennen zu wollen.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er schließlich. Sein Akzent kam Arri viel stärker vor als bei ihrem ersten Zusammentreffen. Er sprach zwar klar verständlich, aber langsam, als müsse er über jedes einzelne Wort nachdenken, bevor er es wählte, und was er sagte, klang sonderbar hart und auf schwer zu greifende Weise fremdartig.

»Ich... habe auch keine Angst«, antwortete Arri schleppend. Es klang selbst in ihren eigenen Ohren albern.

Das Funkeln in Dragosz’ Augen nahm zu. »Ja, das scheint mir auch so«, sagte er spöttisch. »Obwohl du es solltest... ich meine, nicht vor mir. Aber es ist nicht ungefährlich für zwei Frauen, allein unterwegs zu sein.«

»Wir sind ja nicht allein. Du bist doch hier, um auf uns aufzupassen«, antwortete Arri, und hätte ihre Stimme nicht vor Furcht und Anspannung gezittert, dann hätten die Worte vielleicht auch tatsächlich so patzig geklungen, wie sie es sollten.

Trotzdem lachte Dragosz. »Leandriis irrt sich, weißt du das?«, meinte er. »Sie hat behauptet, du wärst nicht wie sie. Aber das stimmt nicht. Ihr seid euch ähnlicher, als sie ahnt.«

Vielleicht nur ähnlicher, als sie wahrhaben will, dachte Arri. »Hast du dich nur an mich angeschlichen, um mit das zu sagen?«

»Hätte ich mich angeschlichen«, antwortete Dragosz, »hättest du mich nicht bemerkt, Arianrhod.« Er lächelte unerschütterlich weiter, und auch sein Gesicht blieb nahezu ausdruckslos, und doch meinte Arri etwas wie eine ganz sachte Drohung aus seinen Worten herauszuhören.

Sie spürte, dass ihre Hände noch immer zitterten, jetzt vielleicht sogar noch mehr als zuvor, versuchte einen Moment lang vergeblich, es zu unterdrücken, indem sie die Finger mit aller Kraft um die hölzerne Schale schloss, bis sie diese schließlich verärgert auf den Boden stellte. Dragosz beobachtete sie aufmerksam, und sie musterte umgekehrt nun ihn ganz offen und mit schon fast herausfordernder Neugierde. Was sie sah, überraschte und irritierte sie gleichermaßen. Sie hatte Dragosz im Grunde ja bisher nur einmal gesehen, und damals war sie in Todesangst und vollkommen verstört gewesen, sodass sie sein Gesicht nicht einmal dann hätte wirklich beschreiben können, hätte sie es schon wenige Augenblicke nach der unheimlichen Begegnung versucht.

Nun stand er knapp auf Armeslänge und im hellen Tageslicht vor ihr, geradezu als wollte er ihr Gelegenheit geben, ihn genauer in Augenschein zu nehmen, und da er offensichtlich nichts dagegen hatte, tat sie es auch. Sie korrigierte ihre Schätzung, was sein Alter anging, um etliche Jahre nach unten; er war deutlich älter als sie und auch älter als Rahn, aber auch ein gutes Stück jünger als ihre Mutter. Er war von kräftigem Wuchs und seine Haut war eine Spur dunkler als die der Dorfbewohner. Sein Haar war schwarz wie die Nacht, und das Auffälligste an ihm überhaupt war sein Bart, der nicht ungezügelt bis auf die Brust hinabhing, sondern so kurz abgeschnitten war, dass man hier und da die Haut seiner Wangen und seines kräftigen Kinns hindurchschimmern sehen konnte.

»Was willst du von mir?«, fragte sie, als Dragosz auch weiter keine Anstalten machte, irgendetwas zu sagen oder in irgendeiner anderen Art auf ihre fragenden Blicke einzugehen.

»Hast du das nicht gerade selbst gesagt?«, entgegnete Dragosz. »Ich passe auf, dass euch nichts geschieht.«

»Meine Mutter kann gut auf sich selbst aufpassen«, erwiderte Arri.

»Ich weiß. Und wenn sie allein unterwegs wäre, würde ich mir auch keine Sorgen um sie machen.« Dragosz lachte ganz leise. »Allerhöchstem um denjenigen, der so dumm wäre, einen Streit mit ihr anzufangen. Unglücklicherweise ist sie nicht allein unterwegs.«

Arris Blick verdüsterte sich noch mehr, als ihr klar wurde, was der Fremde damit sagen wollte. »Du meinst, du willst darauf aufpassen, dass ich keine Dummheiten mache? Hat meine Mutter dir das aufgetragen?«

»Leandriis?« Dragosz schüttelte den Kopf. Erst jetzt, im Nachhinein, fiel Arri auf, dass er ihren wahren Namen gebrauchte, so, wie er auch sie mit Arianrhod angesprochen hatte, nicht mit der verkürzten Form, als die sie jedermann im Dorf kannte. Ihre Mutter musste diesem Fremden wirklich sehr vertrauen, wenn sie ihm ihre wahren Namen verraten hatte, die sie sonst jedem anderen gegenüber hütete wie einen kostbaren Schatz. »Nein. Ganz im Gegenteil. Ich glaube nicht, dass sie sehr begeistert wäre, wenn sie uns jetzt hier miteinander reden sähe.«

»Wieso?«, fragte Arri.

»Ich gestehe, dass ich anfangs ein wenig verärgert war, dass sie mich mit ein paar eiligen Worten wie einen Bettler fortgejagt hat, nur weil du plötzlich aufgetaucht bist.« Dragosz trat einen halben Schritt zurück und maß Arri mit einem langen Blick von der Art, wie sie auch Rahn angesehen hatte, und der ihr beinahe ebenso unangenehm war. Aber dann lächelte er, und obwohl auch dieses Lächeln fast ebenso anzüglich war wie das des Fischers, fehlte ihm doch etwas, das Rahns Blick ganz besonders schwer zu ertragen gemacht hatte. »Aber jetzt, wo ich dich genauer sehe, kann ich sie beinahe verstehen. Wenn ich eine Tochter hätte, die so hübsch wäre wie du, dann würde ich sie auch vor jedem Mann verstecken.«

Arri spürte, dass sie rot wurde. Sie versuchte sich einzureden, es geschähe aus Zorn, aber das stimmte nicht. »Ist es denn nötig?«

»Was? Dich vor jedem fremden Mann zu verstecken?«

»Mich vor dir zu verstecken«, antwortete Arri.

Dragosz lachte. »Wenn es nur meine Blicke sind, die sie fürchtet, ja. Aber darüber hinaus? Nein.«

»Meine Mutter scheint da anderer Meinung zu sein«, antwortete Arri spitz. »Irgendeinen Grund wird sie schon haben, warum sie nicht will, dass du mich siehst.«

»Deine Mutter ist deine Mutter«, erwiderte Dragosz, »und ich glaube fast, das ist Grund genug. Jedenfalls wäre es für jede Mutter meines Volkes Grund genug, hätten sie eine Tochter wie dich.«

»Deines Volkes?«, wiederholte Arri. »Welches Volk ist es denn?«

Dragosz wirkte überrascht, aber nicht sehr. »Deine Mutter scheint dir nicht sehr viel über mich erzählt zu haben«, sagte er, statt ihre Frage zu beantworten. Er deutete ein Schulterzucken an. »Wahrscheinlich wird sie ihre Gründe dafür haben. Und wahrscheinlich ist es doch besser, wenn ich diese Gründe achte, auch wenn ich sie nicht kenne.«

»Du meinst, du willst meine Frage nicht beantworten«, sagte Arri verärgert. Es war ihr selbst nicht bewusst in diesem Moment, aber ihre Angst war längst verflogen, so wie auch ihre Hände und Knie schon lange aufgehört hatten zu zittern; und auch das spürte sie nicht einmal. »Warum bist du dann hergekommen, außer um meine Fragen nicht zu beantworten und mich zu verspotten?«

Sie hätte erwartet, dass Dragosz jetzt ärgerlich reagieren oder sie zumindest zurechtweisen würde, aber er wirkte nur leicht überrascht und lachte plötzlich wieder. »Tatsächlich - deine Mutter hat die Unwahrheit gesagt. Du bist ihr noch ähnlicher, als ich sowieso geglaubt habe. Zumindest hast du ihre Zurückhaltung und Scheu geerbt.«

Das verstand sogar Arri. Sie lauschte zwar vergebens auf einen Unterton von Tadel oder gar Drohung in diesen Worten, rief sich in Gedanken aber dennoch scharf zur Ordnung. Dragosz würde ihr nichts tun, davon war sie mittlerweile überzeugt, aber sie würde auch nichts von ihm erfahren, wenn sie ihn unnötig reizte. »Was willst du von mir?«, fragte sie nur noch einmal und jetzt in gezwungen ruhigem Ton.

»Im Grunde wollte ich einfach nur ein paar Worte mit dir wechseln«, antwortete der schwarzhaarige Fremde. »Ich war neugierig auf dich, das ist alles.«

»Wieso?«, erkundigte sich Arri misstrauisch. »Hat meine Mutter so viel über mich erzählt?«

Dragosz schüttelte heftig den Kopf. Die aus Reißzähnen und Klauen gefertigte Kette an seinem Hals klimperte leise. »Im Gegenteil. Sie hat eigentlich gar nichts über dich erzählt, und genau das hat mich neugierig gemacht.«

»Und?«, fragte sie. »Bist du zufrieden mit dem, was du siehst?«

»Zumindest verstehe ich sie jetzt ein wenig besser«, antwortete Dragosz. Arri verspürte einen leisen Anflug von Ärger. Auch wenn Dragosz das bestimmt nicht wusste, so waren er und ihre Mutter sich doch zumindest in diesem einen Punkt ähnlich: Sie verstanden es meisterhaft, auf Fragen, die ihnen nicht gefielen, einfach nicht zu antworten. Doch was für ihre Mutter galt, das musste sie diesem Fremden nicht unbedingt auch durchgehen lassen.

»Was suchst du hier?«, fragte sie erneut und in noch schärferem und fast schon unverschämtem Ton. »Bist du nur gekommen, um dich über mich und meine Mutter lustig zu machen?«

»Nein«, antwortete Dragosz rasch. Sein Lächeln erlosch endgültig, und an seiner Stelle machte sich ein Ausdruck von tiefer, ehrlich empfundener Sorge in seinen Augen breit. »Ich wollte dich nur wissen lassen, dass ich da bin. Früher oder später hättest du es ohnehin gemerkt. Ich nehme doch an, deine Mutter hat dir das Spurenlesen beigebracht?«

»Ja«, antwortete Arri. »Aber ich bin nicht so gut wie sie.«

»Dann wäre sie auch keine gute Lehrerin«, antwortete Dragosz, was Arri im allerersten Moment nicht verstand, bevor er hinzufügte: »Die Frage ist wohl eher, ob du so gut bist wie sie in deinem Alter.« Er legte eine hörbare Pause ein, und Arri hatte das Gefühl, als wäre er nicht gänzlich sicher, ob er tatsächlich weitersprechen sollte. Als er es dann tat, war seine Rede möglicherweise nicht nur deshalb noch ein wenig schleppender, weil er sich die Worte mühsam zurechtzulegen musste. »Ich möchte dich um etwas bitten«, sagte er.

»Mich?«, entfuhr es Arri überrascht.

Dragosz nickte. Er griff unter seinen schwarzen Fellumhang, und Arri konnte sehen, wie er die Hand um etwas schloss, das er darunter trug, dann aber zog er den Arm wieder zurück. Seine Hand war leer. »Ihr habt noch einen langen und nicht ungefährlichen Weg vor euch«, fuhr er fort. »Ich möchte, dass du ein wenig auf deine Mutter Acht gibst.«

Diesmal musste Arri ihre Überraschung nicht mehr vorspiegeln. »Ich?«, vergewisserte sie sich. »Aber wieso denn ich?«

»Weil deine Mutter zwar eine ebenso tapfere wie kluge Frau ist«, antwortete Dragosz, »aber auch eine sehr stolze. Vielleicht ein bisschen zu stolz. Sie würde meine Hilfe niemals annehmen. Sie weiß, wie gefährlich diese Reise ist, aber sie würde mir nicht erlauben, euch zu begleiten, um euch zu beschützen und darauf Acht zu geben, dass euch nichts passiert.«

Arri war noch immer so überrascht, dass sie gar nicht antworten konnte. Sie starrte den schwarzhaarigen Fremden nur an. Dragosz seinerseits schien auf eine ganz bestimmte Reaktion ihrerseits zu warten und machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung, als sie nicht kam. »Und... was genau... erwartest du von mir?«, fragte sie schließlich lahm.

»Nicht viel«, antwortete Dragosz. Arri war ziemlich sicher, dass er eigentlich etwas ganz anderes hatte sagen wollen. »Vielleicht nur, dass du die Augen aufhältst - und ein wenig auf deine Mutter achtest. Sie ist eine sehr kluge Frau, aber im Augenblick neigt sie zu unbedachten Reaktionen, fürchte ich. Und es wäre gut, wenn du ihr nichts von unserem Gespräch erzählst. Es würde sie nur zusätzlich belasten, wenn sie wüsste, dass wir uns begegnet sind.«

Es dauerte noch einen Moment, aber dann begriff Arri - endlich -, wovon Dragosz überhaupt sprach. Ihre Augenbrauen rutschten ein Stück nach oben, und sie konnte selbst hören, wie sich ein schriller Unterton in ihre Stimme schlich, als sie antwortete: »Du meinst, ich soll sie für dich bespitzeln?«

»Unsinn«, erwiderte Dragosz - im unduldsamen Ton des ertappten Sünders. »Wie kommst du darauf?«

»Weil du es gerade gesagt hast?«, schlug Arri vor.

Dragosz’ Augen blitzten noch zorniger. »Für wie dumm hältst du mich?«, fauchte er. »Sie ist deine Mutter, oder? Und ich bin ein vollkommen Fremder für dich, habe ich Recht? Wie kommst du auf die Idee, ich könnte ernsthaft von dir erwarten, deine eigene Mutter für einen Mann zu belügen, über dessen Ziele und Absichten du rein gar nichts weißt?«

Arri kam in diesem Moment vor allem der Gedanke, dass dies ein äußerst komplizierter Satz für einen Mann war, der ihrer Sprache anscheinend nur mit Mühe mächtig zu sein schien; zumal er ihn fließend und ohne das geringste Stocken hervorgebracht hatte. Sie sagte nichts dazu.

»Vielleicht hätte ich nicht kommen sollen«, fuhr Dragosz fort, nachdem er eine geraume Weile vergeblich darauf gewartet hatte, dass sie ihm eine Antwort gab. Er schüttelte den Kopf und sah Arri dabei beinahe erwartungsvoll an, doch sie hüllte sich weiterhin in beharrliches Schweigen. »Ich überlasse es dir, ob du deiner Mutter etwas davon erzählst oder nicht«, fuhr er fort, allerdings in einem Ton, der wenig Zweifel daran aufkommen ließ, welcher der beiden Möglichkeiten er den Vorzug gab. »Letzten Endes spielt es wahrscheinlich gar keine Rolle. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass ich in der Nähe bin, um auf euch aufzupassen.«

Nein, dachte Arri, das war ganz gewiss nicht der Grund, aus dem er sich ihr gezeigt hatte; zumindest nicht der einzige. Sie behielt auch diesen Gedanken vorsichtshalber für sich, aber sie sah Dragosz nun noch aufmerksamer an und versuchte in seinem Gesicht zu lesen, was ihm ganz eindeutig unangenehm zu sein schien, denn irgendwie gelang es ihm plötzlich nicht mehr, vollkommen ruhig dazustehen oder auch nur seine Hände still zu halten. Auch wenn es ihr noch immer nicht wirklich gelang, in seinem fremdartig geschnittenen Gesicht zu lesen, so war jedoch zumindest eines klar: Dragosz bedauerte es längst, überhaupt gekommen zu sein.

»Ich werde in eurer Nähe bleiben, solange ich es kann«, fuhr er fort. Seine Hand bewegte sich abermals unter den Umhang, und als sie diesmal wieder aus den schwarzen Fellen auftauchte, hielt sie einen kleinen Beutel aus Leder umklammert, den er ihr nach kurzem Zögern reichte. Arri zögerte deutlich länger, die Hand auszustrecken, tat es aber schließlich doch, und Dragosz ließ den Beutel in ihre Handfläche fallen. Er war unerwartet schwer und schien irgendetwas von körnig-grober Konsistenz zu enthalten.

»Falls ihr in Gefahr geratet und ich nicht in der Nähe bin, um euch sofort zu helfen«, sagte er, »dann wirf einfach diesen Beutel ins Feuer. Er brennt sehr hell, sodass man den Feuerschein nachts weit sieht, und tagsüber entwickelt er einen starken Rauch.«

Arri schloss unsicher die Finger um das kleine Säckchen. Es war nicht so, dass sie Dragosz nicht glaubte - aber diesen Beutel anzunehmen war fast so, wie einen Pakt mit ihm zu schließen; einen Pakt, der vielleicht weit mehr beinhaltete, als ihr zu diesem Zeitpunkt schon klar war. Schließlich aber nickte sie zustimmend. Was hatte sie schon zu verlieren?

»Was ist denn an unserer Reise so gefährlich?«, erkundigte sie sich zögernd. Sie war ziemlich sicher, dass die ehrliche Antwort nichts gelautet hätte und sich Dragosz nur wichtig machen wollte; und sie war mehr als nur ziemlich, sondern vollkommen sicher, dass es ein Fehler war, überhaupt mit ihm zu reden. Das Einzige, was sie vernünftigerweise tun sollte, wäre, auf der Stelle zu ihrer Mutter zurückzugehen und ihr von diesem Treffen zu berichten.

»Reisen sind immer gefährlich«, antwortete Dragosz, »vor allem, wenn sie durch unbekanntes Land führen. Ist euch nicht aufgefallen, dass ihr verfolgt werdet?«

»Doch. Gerade jetzt, vor ein paar Augenblicken.«

Dragosz blieb ernst. »Ich weiß nicht, wer es ist, aber jemand folgt euch, seit du bei deiner Mutter aufgetaucht bist.« Er hob rasch die Hand, als Arri etwas sagen wollte. »Keine Sorge, ich werde mich darum kümmern. Aber ihr solltet ein wenig vorsichtiger sein.«

Arri fragte sich, was genau er unter sich darum kümmern verstand, auch wenn sie die Antwort im Grunde gar nicht wissen wollte. Laut fragte sie: »Du weißt, wohin wir fahren?«

»Deine Mutter hat es mir nicht gesagt«, antwortete Dragosz - was im Grunde keine Antwort war. Aber dergleichen hatte sie beinahe schon erwartet. »Weißt du es denn nicht?«

Dann hätte ich wohl nicht gefragt, dachte Arri verärgert. Sie schüttelte nur den Kopf, worauf sich ein unbehagliches Schweigen zwischen ihnen ausbreitete, das Dragosz schließlich mit einem unechten Räuspern beendete.

»Verlier den Beutel nicht, den ich dir gegeben habe«, sagte er hastig. »Und sei vorsichtig damit, wenn ein Feuer in der Nähe ist. Das Pulver brennt sehr leicht.« Er sah sie auffordernd an, trat noch unbehaglicher von einem Fuß auf den anderen und bückte sich schließlich nach der Schale, die sie ins Gras gestellt hatte. Mit einer raschen Bewegung füllte er sie, richtete sich wieder auf und hielt ihr die randvoll gefüllte Schale hin. »Geh jetzt zurück, bevor sich deine Mutter zu fragen beginnt, wo du bleibst. Nimm.«

Als Arri nach der Schale griff, berührten sich ihre Finger, und Arri fuhr so heftig zusammen, dass sie wiederum einen Teil des Wassers verschüttete, aber sie merkte es kaum. Dragosz zog die Hand nicht zurück, obwohl das kalte Wasser auch über seine Finger lief. Stattdessen griff er plötzlich zu und umfasste ihre rechte Hand und das Gelenk; auf eine sonderbare Weise zugleich fest wie auch so sacht, dass sie es kaum spürte.

Dennoch jagte ihr die Berührung einen eisigen Schauer über den Rücken, ein Gefühl, das sie im allerersten Moment für Furcht hielt, bevor sie begriff, dass es etwas völlig anderes und Neues war. Sie konnte nicht sagen, ob ihr dieses Gefühl angenehm war oder ob es sie in Panik versetzte. Vielleicht beides zugleich.

»Was...?«, begann sie.

Dragosz ließ ihre Hand los, aber nur, um ihr im nächsten Moment den Zeigefinger über die Lippen zu legen und zugleich sacht den Kopf zu schütteln. Arris Herz begann zu hämmern. Aus dem kalten Schauer wurde eine ganzes Heer winziger eiskalter Ameisen, die ihr Rückgrat hinunterliefen, und die Panik war nun da, auch wenn es eine seltsam stille Art der Panik war, frei von jeglicher Furcht. Ihre Hände und Knie begannen zu zittern.

Dragosz’ Zeigefinger blieb einen scheinbar endlosen Augenblick auf ihren Lippen liegen, dann fuhr er ihr mit dem Handrücken sanft über die Wange. Sein Gesicht war dem ihren plötzlich so nahe, dass sie seinen Atem spüren konnte, der sonderbar roch, warm und nach einem Gewürz, das sie nicht kannte, aber nicht unangenehm. Ihr Herz schlug jetzt unmittelbar in ihrem Hals, und ihre Finger fühlten sich so kalt an, als wären sie erfroren. Sie hatte furchtbare Angst, aber zugleich war da auf einmal auch der absurde Wunsch in ihr, er möge weitermachen mit dem, was er tat.

Und einen Moment lang schien es tatsächlich so. Er hörte auf, ihre Wange zu streicheln, und umfasste stattdessen ihr Gesicht mit beiden Händen. Er kam noch näher. Aber nur für einen Moment. Dann konnte sie regelrecht sehen, wie etwas in seinem Blick erlosch. Fast hastig ließ er ihr Gesicht los und zog sich zwei Schritte weit zurück. Er wirkte erschrocken, fast ein bisschen schuldbewusst. »Geh jetzt«, sagte er. Und war verschwunden.

Arri blinzelte benommen in die Runde. Ihr Herz hämmerte noch immer so hart, als wollte es ihr aus der Brust springen, und es vergingen noch einige weitere verwirrende Augenblicke, bis Arri begriff, dass Dragosz sich natürlich nicht einfach in Luft aufgelöst hatte. Vielmehr war sie es gewesen, die einfach aufgehört hatte, die Welt um sich herum wahrzunehmen.

Dafür brach diese Welt nun mit um so größerer Wucht über sie herein. Mit einem Mal wurde ihr klar, dass es längst nicht mehr nur ihre Hände und Knie allein waren, die zitterten. Sie bebte am ganzen Leib. Die Wasserschale, die sie in den Händen hielt, war längst wieder leer. Ihre Wangen glühten, als hätte sie Fieber, das Blut, das durch ihre Adern rauschte, schien sich in siedendes Öl verwandelt zu haben. Ihre Finger fühlten sich an, als wären sie zu Eis erstarrt. Die Welt schien sich rings um sie zu drehen, und fast kam es ihr vor, als bewege sich selbst der Boden, auf dem sie stand.

Was war nur mit ihr los?

Tief in sich drinnen wusste sie sehr wohl, was es war, aber es war ein verbotenes Wissen, vor dem sie zurückschrak wie vor einer ebenso verlockenden wie verzehrenden Flamme.

Wo war Dragosz?

Arris Blick tastete unstet über den Waldrand, suchte in den Schatten nach ihm und versuchte eine Spur zu erhaschen, irgendein Zeichen, dass er da gewesen war, als benötige sie einen Beweis dafür, dass es diese Begegnung überhaupt gegeben hatte.

Es gab keinen. Der geheimnisvolle Fremde war so lautlos und rasch wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war.

Sie musste zurück! Sie musste ihrer Mutter davon berichten, von allem, was er gesagt hatte, und vor allem davon, was er beinahe getan hätte!

Hastig fuhr sie herum, war mit zwei Schritten am Waldrand und machte dann noch einmal kehrt, um zum Bach zu gehen und die Wasserschale zum dritten Mal zu füllen. Im Grunde war es völlig aberwitzig. Ihre Mutter hatte Wasser, und nach dem, was gerade geschehen war, spielte es überhaupt keine Rolle, und zugleich war es ihr mit einem Mal unglaublich wichtig, dieses Wasser zurückzubringen; nicht weil Lea das Wasser brauchte, sondern weil sie ihr aufgetragen hatte, es zu holen. Ihr schlechtes Gewissen (warum eigentlich?) brannte wie eine Flamme in ihr und machte es ihr fast unmöglich, auch nur zu atmen. Behutsam, die Schale mit Wasser mit ausgestreckten Armen vor sich haltend wie einen unendlich kostbaren Schatz, von dem sie unter gar keinen Umständen auch nur den winzigsten Tropfen verschütten durfte, machte sie sich auf den Rückweg.

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