11

Es dauerte nicht zwei, sondern fünf Tage, in denen es nach den letzten heißen Sommertagen fast ununterbrochen regnete, aber am Schluss kam Kron zurück, und Achk nahm seine unterbrochene Ausbildung wieder auf, und damit wurde alles nur noch schlimmer. Arri selbst bekam kaum etwas davon mit, denn ihre Mutter verbot ihr nicht nur strengstens, das Dorf zu betreten und mit irgendeinem anderen außer ihr zu reden, sondern sogar die Hütte - außer in ihrer Begleitung - zu verlassen, und obwohl Arri über die Ungerechtigkeit und Willkür dieses Verbots aufs Äußerste empört war, hielt sie sich daran. Dennoch hätte sie schon blind sein müssen, um nicht zu spüren, wie die Stimmung im Dorf allmählich umschlug. Es war nicht so, dass jemand etwas gesagt oder sie oder ihre Mutter gar angegriffen hätte, doch Lea wurde immer wortkarger und abweisender, wenn sie Abends tropfnass wie eine streunende Wildkatze zurückkam und Arri sie fragte, was sie erlebt hatte, und bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie ihr gestattete, sie ins Dorf zu begleiten, konnte sie die Feindseligkeit, die ihnen entgegenschlug, mehr als deutlich spüren.

Zweifellos steckte Sarn dahinter. Lea weigerte sich beharrlich, auf jede entsprechende Frage zu reagieren, aber die Blicke, die ihnen die Menschen aus dem Dorf zuwarfen - oder eben auch gerade nicht -, sprachen ihre eigene, sehr deutliche Sprache. Was Arri spürte, war zwar noch weit von blankem Hass entfernt, aber es ging deutlich über die unterschwellige Ablehnung und das niemals ganz erloschene Misstrauen allen Fremden gegenüber hinaus, die Arri bereits zur Genüge kennen gelernt hatte. Etwas änderte sich, und es war keine Veränderung zum Guten.

Das Einzige, was sich nicht änderte, waren ihre heimlichen Ausflüge in den Wald, bei denen sie trotz der zunehmenden nächtlichen Kälte statt sorgfältig geschnürter Fußlappen nur leichte Sandalen trug, und die auch nur mit Widerwillen, da ihr Barfußlaufen immer noch am liebsten war. Nachdem ihre Mutter ihr verboten hatte, die Hütte zu verlassen, verbrachte sie ihre Tage außer mit den alltäglichen Verrichtungen wie der Pflege ihres Gartens und dem notdürftigen Flicken ihrer zerrissenen Sommerbluse mit nichts anderem, als eine neue Grasmatratze als Ersatz für die von Rahn entweihte und zuvor von Krons Blut besudelte zu fertigen. Ohne viel zu zögern, schob sie mit Beendigung ihrer Arbeit die alte Matratze im wahrsten Sinne des Wortes ihrer Mutter unter - zu ihrer Enttäuschung, ohne dass diese es überhaupt bemerkte.

Ihr Groll darüber währte allerdings nicht lange. Wie ihre Mutter es durchhielt, sich nahezu den ganzen Tag um Kron und den blinden Schmied zu kümmern, die Kranken und Verletzten des Dorfes zu versorgen, sich Rahns Nachstellungen zu erwehren (wenn auch nicht immer; das schien ein Teil ihrer Abmachung zu sein, auch wenn Arri sich hütete, sie danach zu fragen), nebenbei auch noch all ihren anderen Pflichten und unterschiedlichen Aufgaben nachzukommen und noch jede Nacht mit ihr hinaus in den Wald zu gehen, um ihre Ausbildung fortzusetzen, war ihr ein Rätsel. Aber sie tat es, und was Arri schon vorher und nicht unbedingt angenehm aufgefallen war, wurde noch deutlicher: Sobald sie - meist kurz nach dem Nachtzenit - die Hütte verließen und sich auf den Weg zur Quelle auf der Lichtung machten, schien aus ihrer Mutter eine vollkommen andere Person zu werden. Ihre Fahrigkeit und ihr übellauniges, abweisendes Wesen waren dahin, und sie wurde zu einer geduldigen, wenn auch strengen Lehrerin.

Auf diese Weise vergingen zehn oder zwölf Tage, in denen Arri zwar viel und begierig lernte, sich zugleich aber immer größere Sorgen um ihre Mutter machte. In Leas Gesicht waren jetzt dunkle Linien und Schatten, die jeden Tag ein wenig tiefer zu werden schienen und die es vorher noch nicht gegeben hatte, und ihre Bewegungen verloren mehr und mehr von ihrer natürlichen Anmut und wurden abgehackt und fahrig. Sie wurde nicht nur immer unduldsamer, sondern machte auch Fehler, was sie früher nie getan hatte, und wenn sie nicht gemeinsam draußen im Wald waren, wurde sie noch wortkarger und abweisender, obwohl Arri nicht verborgen blieb, dass Kron und sein blinder Lehrmeister ganz offensichtlich gute Fortschritte machten. Die heruntergekommene Hütte am Wegesrand, die bisher einfach nur ein Schandfleck für das ganze Dorf gewesen war, wurde von Rahn wieder aufgebaut, stabiler und größer, als sie jemals ausgesehen hatte, und aus dem Rauchabzug im Dach drang jetzt fast ununterbrochen grauer, scharf riechender Qualm.

Manchmal konnte man den roten Feuerschein des Schmelzofens bis tief in die Nacht hinein durch die Ritzen der Wände schimmern sehen. Arri stellte zwei- oder dreimal eine entsprechende Frage, bekam aber - wenn überhaupt - nur abweisende Antworten und gab es schließlich auf. Ihre Mutter drückten schwere Sorgen, so viel zumindest war ihr klar, und sie war nicht sicher, ob diese nur mit ihrem Streit mit dem Schamanen und dem verrückten Vorhaben zu tun hatten, aus zwei halben Männern wieder einen ganzen zu machen, oder ob da vielleicht nicht noch etwas anderes war.

Doch es gab auch schöne Momente. Allein zweimal in diesen Tagen besuchten sie Nachtwind und seine Herde, und vielleicht waren diese wenigen kostbaren Augenblicke die einzigen in all dieser Zeit, in denen ihre Mutter wirklich glücklich war; und vielleicht sogar zum letzten Mal in ihrem ganzen Leben, wie Arri später - aber dennoch viel, viel zu früh - einmal begreifen sollte.

Arri fand die Vorstellung immer noch ziemlich kindisch, ein Tier, selbst ein so beeindruckendes wie den riesigen schwarzen Hengst, nicht nur als seinen Freund zu betrachten, sondern auch noch mit ihm zu sprechen wie mit einem Menschen, aber sie wollte ihrer Mutter die Freude nicht verderben, und so nahm sie sich fest vor, einfach mitzuspielen und zumindest so zu tun, als erginge es ihr genauso.

In Wahrheit gelang es ihr selbst nicht, sich der Faszination dieser herrlichen Tiere zu entziehen. Sie redete sich ein, mit Nachtwind und den anderen Pferden herumzutollen, um ihrer Mutter einen Gefallen zu tun, aber in Wahrheit genoss sie es mindestens ebenso sehr wie Lea. Vor allem Sturmwind hatte es ihr angetan - oder sie es der schwarzweißen Stute, so genau vermochte sie das nicht zu sagen. Ganz wie bei ihrem ersten Zusammentreffen mit der Herde suchte die Stute nicht nur eindeutig ihre Nähe, sondern stupste sie immer wieder mit ihrer weichen Schnauze an, als wollte sie sie tatsächlich zum Spielen herausfordern.

Als sie das dritte Mal zu den Pferden kamen, wartete Sturmwind bereits auf sie, und diesmal musste sie sich kaum noch verstellen, um so zu tun, als bereite es ihr Freude, sich dem Tier zu widmen. Ihre Mutter enthielt sich zwar jeder Bemerkung, aber Arri entgingen die wohlwollenden Blicke nicht, die sie ihr immer wieder zuwarf. Anscheinend war es ihr wenigstens gelungen, ihrer Mutter eine Freude zu machen.

Doch sie kamen nicht nur den weiten Weg hier heraus, um mit der Herde zu spielen. Arri lernte eine Menge über die Tiere, nicht nur über Nachtwind und seine Herde, sondern über Pferde überhaupt, ihre Aufzucht und Pflege und ihre besonderen Charaktereigenschaften, und hätte sie es nicht schon längst gewusst, so hätte ihr spätestens der Ausdruck in den Augen ihrer Mutter klargemacht, wie glücklich sie in diesen wenigen Augenblicken war. Sie erzählte nicht bloß von Pferden im Allgemeinen, sondern auch von dem Tier, das sie selbst als Kind gehabt hatte, und so - vielleicht sogar, ohne dass sie es wollte - erzählte sie Arri auf diese Weise mehr über ihr früheres Leben, als sie es in all der Zeit zuvor freiwillig getan hatte. Arri hörte gebannt zu und hing nur so an ihren Lippen. Ihre Mutter hatte seit jener ersten Nacht im Wald nie wieder von ihrem früheren Leben und ihrer Heimat gesprochen und war auch allen direkten Fragen Arris beharrlich ausgewichen.

Sie befanden sich auf dem Rückweg und waren gar nicht mehr weit vom Dorf entfernt, als Arri all ihren Mut zusammennahm und sie schließlich die Frage stellte, die ihr schon so lange auf der Seele brannte. Es war tief in der Nacht. Wie jedes Mal, wenn sie bei den Pferden gewesen waren, war der Nachtzenit schon längst überschritten, und sie würden dem nächsten Morgen näher sein als dem vergangenen Abend, bis sie endgültig nach Hause kamen. Immerhin hatten sie den schwierigeren Teil des Weges bereits hinter sich gebracht und gerade die Quelle passiert, sodass sie nun ein wenig besser vorwärts kamen. Lea schritt mit einem hörbar erleichterten Seufzer rascher aus, kaum dass sie die Lichtung hinter sich gelassen hatten, und Arri schlang den schweren wollenen Umhang, den sie gleich ihrer Mutter um die Schultern geworfen hatte, zwar fröstelnd enger zusammen, versuchte aber gleichzeitig auch, ihre Schritte noch ein wenig mehr zu beschleunigen.

Der Sommer war endgültig vorbei, und auch wenn die Sonne sich tagsüber noch mit einem Übermaß an Wärme und klarer Helligkeit fast trotzig gegen das Unvermeidliche aufzulehnen schien, so wurde es doch nach Einbruch der Dunkelheit empfindlich kühl. Jetzt, in der kältesten Zeit der Nacht, konnte sie ihren Atem bereits als grauen Dampf vor dem Gesicht aufsteigen sehen. Die Luft legte sich wie ein dünner, eisiger Film auf ihre Haut, und Kälte und Feuchtigkeit krochen langsam, aber auch beharrlich durch ihre Kleider. Gar nicht mehr lange, dachte sie missmutig, und sie würde ebenso durchnässt sein, als wäre sie in ihren Kleidern ins Wasser gefallen. Sie sollten sich besser beeilen, nach Hause zu kommen, bevor sie am Ende noch beide krank wurden.

Dennoch blieb ihre Mutter nach einem knappen Dutzend weiterer, rascher Schritte stehen, legte fast erschrocken den Kopf auf die Seite und lauschte einen Moment lang sichtbar konzentriert. Auch Arri verhielt mitten im Schritt und sah gebannt zu ihrer Mutter hin. Sie sagte nichts, aber deren angespannte Haltung entging ihr so wenig wie die fast unmerkliche Bewegung, mit der ihre rechte Hand unter den Umhang glitt. Arri wusste, dass sie dort ihr Schwert trug. Seit Grahls und Sarns unangekündigtem nächtlichen Besuch nahm sie die Waffe immer mit, wenn sie die Hütte verließ. Arri gegenüber hatte sie behauptet, sie täte es aus Furcht, das Schwert könne ihr gestohlen werden, und sicherlich entsprach das auch zu einem Teil der Wahrheit - aber vielleicht eben nur zu einem Teil, und möglicherweise auch nur zu einem kleinen Teil.

»Was hast du?«, fragte sie.

Sie hatte im Flüsterton gesprochen, doch ihre Mutter hob so erschrocken die Hand, dass Arri fast schuldbewusst zusammenfuhr, und drehte sich dann langsam mit geschlossenen Augen und schräg gelegtem Kopf einmal um sich selbst. Sie lauschte konzentriert, und Arri tat dasselbe. Alles, was sie hörte, waren das erschrockene Klopfen ihres Herzens und die gedämpften Geräusche des nächtlichen Waldes. Aber nur, dass sie nichts hörte, bedeutete nicht, dass da auch tatsächlich nichts war.

»Ist... irgendetwas nicht in Ordnung?«, fragte sie schließlich, als ihre Mutter die Augen zwar wieder öffnete, aber keine Anstalten zu irgendeiner Erklärung machte und auch der Ausdruck auf ihrem Gesicht weiter so besorgt und angespannt blieb.

Lea schüttelte den Kopf. Ihre rechte Hand kroch wieder unter dem Umhang hervor. »Nein. Ich dachte, ich hätte etwas gehört, aber ich muss mich wohl getäuscht haben.« Sie schüttelte noch einmal und heftiger den Kopf, und auf ihrem Gesicht erschien nun ein ärgerlicher Ausdruck, von dem Arri allerdings fast sicher war, dass er ihr selbst galt. »Ich sehe allmählich wohl schon Gespenster.«

Sie straffte die Schultern, wie um ihren Weg fortzusetzen, machte aber nur einen einzigen Schritt und blieb dann abermals stehen. Sie hatte sich ausgezeichnet in der Gewalt. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht blieb unverändert, und auch ihre rechte Hand machte jetzt nicht mehr diese verräterische Bewegung, aber Arri sah trotzdem, dass der Anteil von Sorge in ihrem Blick eher noch größer geworden war. Plötzlich musste sie wieder an den Fremden denken, den sie getroffen hatte (und zwar, ob das nun Zufall war oder nicht, nahezu genau an dieser Stelle), und mit einem Mal hatte auch sie das Gefühl, dass sie nicht mehr allein waren. Jemand beobachtete sie.

Aber das konnte nicht sein, versuchte sie sich selbst in Gedanken zu beruhigen. Ganz egal, wie geschickt dieser mögliche Beobachter auch im Anschleichen und Heranpirschen sein mochte, Arri wusste, dass den scharfen Sinnen ihrer Mutter nicht der geringste verräterische Laut entgangen wäre.

»So geht das nicht weiter«, seufzte ihre Mutter.

»Was?«, fragte Arri, obwohl sie sicher war, dass die Worte nicht ihr gegolten hatten.

Ihre Mutter antwortete denn auch nicht, sondern warf ihr nur einen seltsamen Blick zu und ging dann weiter, blieb aber nach wenigen Schritten schon wieder stehen und hob den Kopf, diesmal aber nicht, um sich erschrocken umzusehen. Für eine geraume Weile blickte sie konzentriert in den Himmel hinauf, der durch eine Lücke im Blätterdach über ihren Köpfen an dieser Stelle besonders deutlich zu sehen war. Die Nacht war vollkommen wolkenlos, und da der Mond zu einer kaum noch kleinfingerbreiten, blassen Sichel zusammengeschmolzen war, schienen die Sterne doppelt hell und klar über ihnen am Firmament zu funkeln; wie unzählige winzige Augen, die aufmerksam auf sie herabblickten.

Eine geraume Weile stand sie einfach so da und sah zu den Sternen hinauf, und zumindest am Anfang tat Arri es ihr gleich. Ihre Mutter hatte sie auch einiges über die Sterne gelehrt. Sie hatte ihr erzählt, dass manche von ihnen Namen hatten und dass sie den Seefahrern ihres Volkes dabei geholfen hatten, ihren Weg durch die unendlichen Einöden des Meeres zu finden, und vor allem auch immer wieder unbeschadet nach Hause zu kommen. Arri hatte sich ehrliche Mühe gegeben, diesem Gedanken zu folgen, aber es war ihr nicht wirklich gelungen. Für sie waren diese winzigen funkelnden Lichter eben nichts mehr als funkelnde Lichter, und wenn sie darüber hinaus eine weitere, geheimnisvolle Bedeutung hatten, so hatte sie sich ihr zumindest bis jetzt noch nicht erschlossen.

»Komm her.« Lea forderte sie mit einer Handbewegung auf, an ihre Seite zu treten. Gleichzeitig hob sie den rechten Arm und deutete steil in den Himmel hinauf. Arris Blick folgte der Geste, aber sie erkannte dort nichts weiter als wahllos verstreute, glitzernde Punkte; wie Eiskristalle auf schwarzem Stein, oder auch die Augen teilnahmsloser Götter, die seit Anbeginn der Zeit auf die Erde herabblickten.

»Siehst du diese Sterne?«, fragte Lea.

Arri nickte, aber auf ihrem Gesicht musste sich wohl ein Ausdruck ziemlicher Verständnislosigkeit ausbreiten, denn ihre Mutter lachte plötzlich. Dann legte sie Arri den Arm um die Schultern, zog sie dicht an sich heran und deutete abermals mit der freien Hand nach oben. »Diese dort«, sagte sie. Arri versuchte es ehrlich, aber für sie blieben es bedeutungslose kalte Punkte. »Dort oben«, fuhr Lea fort. »Siehst du, genau dort, wo mein Finger hindeutet. Diese kleine Gruppe. Sie bilden fast einen Kreis, mit einem einzelnen, besonders hellen Stern in der Mitte.«

Arri tat ihr Möglichstes, und schließlich glaubte sie zumindest, diese ganz spezielle Konstellation zu sehen, auf die ihre Mutter sie aufmerksam zu machen versuchte. Aus irgendeinem Grund schien sie für sie von besonderer Bedeutung zu sein. Arri nickte.

Der Blick ihrer Mutter bekam etwas Zweifelndes, als frage sie sich, ob Arri vielleicht einfach nur mitspielte, um ihr einen Gefallen zu tun. Aber dann wiederholte sie ihr Nicken und fuhr fort: »Ganz egal, was auch passiert, merk dir diese Sterne. Wenn du sie wieder findest, dann hast du immer einen Anhaltspunkt für deine Orientierung, wo auch immer auf der Welt du dich gerade aufhältst.«

Sie nahm den Arm von Arris Schulter, griff mit der anderen Hand unter ihren Umhang und zog das Schwert hervor. »Hier. Schau.«

Vorsichtig, um sich nicht an der scharfen Klinge zu schneiden, ergriff sie das Schwert mit beiden Händen und hielt es so ins Licht, dass der silbrige Schein, der durch die Lücke im Blätterdach fiel, den Griff und vor allem den reich verzierten Knauf an seinem Ende beleuchtete. »Siehst du es?«

Arri sah im allerersten Moment nichts anderes als das, was sie schon unzählige Male zuvor gesehen hatte - solange sie sich zurückerinnern konnte, hing dieses Schwert an der Wand in ihrer Hütte, und sie hatte es schon so oft gesehen, dass sie bereits seit Jahren eigentlich nicht mehr wirklich hinschaute. Früher hatte sie sich manchmal den Kopf über die Bedeutung des komplizierten Musters in dem verzierten Knauf zerbrochen, es aber irgendwann einmal aufgegeben; vermutlich besagte die Anordnung aus unterschiedlich großen Kreisen und Sicheln, die in blitzendem Gold in den dunkelgrünen Stein des Knaufs eingelassen war, überhaupt nichts, sondern diente nur der Zierde. Jedenfalls hatte sie das bisher geglaubt. Nun aber - wenn auch erst, nachdem ihre Mutter abermals mit dem Finger in den Himmel und dann auf den wuchtigen Schwertknauf gedeutet hatte - fiel ihr plötzlich etwas auf. Sie sah in den Himmel empor, runzelte konzentriert die Stirn, blickte dann wieder auf den Schwertknauf, sah noch einmal in den Himmel und schließlich wieder auf den grünen, mit goldenen Kreisen bedeckten Stein.

»Das... das sind dieselben Sterne«, murmelte sie überrascht. Ihre Mutter nickte und sah sehr zufrieden aus, doch Arri fuhr nach einem weiteren, aufmerksamen Blick in den Himmel hinauf fort: »Aber es sind zu viele.«

»Nein«, erklärte ihre Mutter kopfschüttelnd. »Es sind sieben. Siehst du?« Ihr deutender Finger folgte ihren Worten. »Diese sechs hier bilden einen fast regelmäßigen Kreis, und der siebte, größte, ist genau in der Mitte. Es sind die Plejaden. Merke dir diesen Namen, auch wenn du vielleicht irgendwann einmal der einzige Mensch auf der Welt sein wirst, der ihn noch kennt.«

Das galt vielleicht für die winzigen, goldenen Abbilder der ruhig funkelnden Götteraugen dort oben am Himmel, aber nicht für die Sterne selbst. Arri sah noch einmal und jetzt mit höchster Konzentration hin, aber es blieb dabei. »Es sind nur fünf«, beharrte sie.

»Fünf, die man sofort sehen kann«, erwiderte Lea mit einem matten Lächeln und einem irgendwie sanft wirkenden Kopfschütteln. »Aber es sind sieben, glaub mir. Dort oben ist der Sitz der Götter, und von dort aus sehen sie uns zu und wachen über unser Schicksal.«

Arris Verunsicherung stieg noch weiter. Ihre Mutter sprach sehr selten über die Götter, und wenn, dann tat sie es zumindest mit bitterer Stimme, in der immer ein leiser, aus einem niemals ganz überwundenen Zorn geborener Vorwurf mitschwang, wenn sie nicht gleich ganz offen mit ihnen haderte; und doch spürte sie, dass die Worte in diesem Moment nicht einfach nur so dahingesagt waren. Viel mehr war da plötzlich etwas in ihrer Stimme - und auch auf ihrem Gesicht -, was Arri ein kurzes Frösteln über den Rücken laufen ließ. Sie hätte nicht geglaubt, dass ihre Mutter überhaupt zu einer solchen Empfindung fähig wäre, und doch spürte sie die Ehrfurcht, die sie plötzlich ergriffen hatte, aber auch etwas wie eine stille, resignierende Trauer; als spräche sie über etwas unglaublich Kostbares, das sie verloren hatte und von dem sie wusste, dass sie es nie wieder zurückerlangen konnte.

»Die Götter?«, wiederholte sie. »Aber ich dachte, du glaubst nicht an sie?«

»Vielleicht glauben sie ja noch an mich«, erwiderte Lea traurig. »Und vielleicht will ich nur nicht mehr an sie glauben.«

»Weil sie dir so viel genommen haben?«

»Ich habe es versucht«, antwortete Lea, ohne damit wirklich auf ihre Frage zu antworten. Ihr Blick war wieder nach oben gerichtet, doch Arri hatte das Gefühl, dass ihre Mutter dort etwas vollkommen anderes sah als sie. »Es ist mir nicht gelungen. Vielleicht bin ich zu schwach. Vielleicht sind die Menschen auch dazu verdammt, an etwas wie die Götter zu glauben. Vielleicht ist auch einfach nur die Vorstellung unerträglich, dass es sie nicht gibt.«

»Warum?«, fragte Arri verstört. »Wieso willst du an etwas glauben, das du doch eigentlich hasst?«

»Weil es leichter ist, etwas zu haben, dem man die Schuld geben kann«, antwortete Lea fast im Flüsterton. Bildete es sich Arri nur ein, oder schimmerten plötzlich Tränen in ihren Augen? »Wenn da oben nichts ist, Arianrhod, wozu sind wir dann hier? Wenn das alles hier keinem höheren Ziel dient, wozu gibt es uns dann?«

Es war keine Frage, auf die ihre Mutter wirklich eine Antwort erwartet hätte, das spürte sie, und doch zerbrach Arri sich für einen Moment den Kopf darüber, was sie darauf sagen könnte. Ihre Mutter kam ihr zuvor, indem sie den Blick mit einem Ruck von den kalt blitzenden Diamantsplittern oben am Nachthimmel losriss und sich zu einem Lächeln zwang.

»Du hast mich gefragt«, fuhr sie nach einer spürbaren Pause und in verändertem, aber gefasstem Ton fort, »warum dieses Schwert so wertvoll für mich ist.«

»Weil es das Einzige ist, was du aus deiner Heimat mitgebracht hast«, antwortete Arri, »und weil es eine mächtige Waffe ist, der nichts widersteht.«

Ihre Mutter lächelte, als hätte sie etwas sehr Dummes gesagt, was sie aber nicht besser wissen konnte. Sie nickte zwar, sagte dann aber: »Nein. Jede Waffe ist immer nur so mächtig wie derjenige, der sie führt. Du hast Recht - dieses Schwert ist das Einzige, was ich mitbringen konnte, aber es ist nicht nur ein bloßes Erinnerungsstück, und es ist sehr viel mehr als nur eine Waffe.«

Sie drehte das Schwert behutsam auf der Handfläche herum, sodass Arri nun die Rückseite des Knaufes sehen konnte. Sie unterschied sich von der vorderen. Auch sie bestand aus dunkelgrünem Stein, der mit goldenen Einlegearbeiten verziert war, kleine Punkte, Striche und Halbkreise, die sich jedoch in einer vollkommen anderen Anordnung darboten als auf der vorderen Seite. »Dieses Schwert wird eines Tages dir gehören, Arianrhod. Es ist dein Erbe; vielleicht das Kostbarste, was jemals einem Menschen hinterlassen worden ist. Es ist nicht die Schärfe seiner Klinge, die es so wertvoll macht, auch wenn sie alles zerschmettern kann, was die Menschen in diesem Land dagegen aufbieten könnten. Aber dies hier ist sein wahres Geheimnis.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Arri.

Lea nickte verständnisvoll. »Und wie auch? Das ist ja gerade das Geheimnis dieser Waffe, dass sie denen, die sie in Händen halten, die Macht über das Wohl und Wehe so vieler Menschen verleiht, und dass sie es auf so völlig andere Weise tut, als jeder ahnt, der ihr Geheimnis nicht ganz genau kennt.«

Arri wartete darauf, dass sie von sich aus weitersprach, aber das tat ihre Mutter nicht. Sie sah sie nur an, als wäre dies allein schon das große Geheimnis gewesen, das sie ihr offenbaren wollte, und als verstünde sie gar nicht, warum Arri sie so verwirrt und verständnislos anblickte.

Eine ganze Weile verging, ohne dass einer von ihnen etwas sagte, und schließlich räusperte sich Arri unbehaglich, und ihre Mutter schlug den Umhang zurück und setzte dazu an, das Schwert wieder in die mit einer Bronzeeinfassung verstärkte Lederschlaufe zurückzuschieben, die sie in den Gürtel geknüpft hatte, der ihr Kleid um die Taille herum zusammenhielt. Aber sie führte die Bewegung nicht zu Ende, sondern hob plötzlich und mit einem neuerlichen, erschrockenen Ruck den Kopf und schien zu lauschen. Und diesmal war Arri sicher, sich den Ausdruck von Schrecken auf ihren Zügen nicht nur einzubilden. »Was ist los?«, flüsterte sie alarmiert.

Lea bedeutete ihr auch jetzt mit einem hastigen Wink, still zu sein, drehte sich aber gleichzeitig mit einem Ruck um und lief mit raschen Schritten und alles andere als leise los. Arri folgte ihr mit klopfendem Herzen, doch obwohl sie jegliche Vorsicht aufgab und ohne Rücksicht auf den Lärm, den sie dabei machte, so schnell ausschritt, wie sie es nur konnte, fiel sie rasch hinter ihrer Mutter zurück und hätte womöglich ganz den Anschluss verloren, wäre Lea nicht nach zwei oder drei Dutzend Schritten ebenso abrupt wieder stehen geblieben, wie sie losgelaufen war. Keuchend gelangte Arri bei ihr an und wollte eine entsprechende Frage stellen, doch ihre Mutter machte erneut eine befehlende Geste, sah sich aufmerksam nach rechts und links um und deutete dann mit dem Schwert nach vorne, in die Richtung, in der das Dorf liegen musste.

Arris Blick folgte der Bewegung, und sie fuhr zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit so erschrocken zusammen, dass sie gerade noch einen Aufschrei unterdrücken konnte.

Vor ihnen schimmerte es rot durch das Unterholz.

»Feuer«, flüsterte Lea. »Es brennt.«

Aber was sollte dort brennen?, fragte sich Arri. In dieser Richtung lag nur das Dorf und... ihre Hütte!

Als wäre diese Erkenntnis ihnen beiden im gleichen Moment gekommen, rannten Arri und ihre Mutter auch schon los.

Lea nahm jetzt überhaupt keine Rücksicht mehr darauf, ob Arri mit ihr Schritt halten konnte oder nicht, sondern brach durch das Unterholz, und wo sie nicht schnell genug von der Stelle kam, hackte sie sich ihren Weg mit dem Schwert frei. Arri hörte das Geräusch reißenden Stoffes, als ihr Umhang an den dornigen Zweigen des Gestrüpps hängen blieb, aber auch darauf nahm sie keine Rücksicht, sondern schien ganz im Gegenteil nur noch schneller vorwärts zu hasten. Obwohl sie mit ihrem eigenen Körper und der scharfen Klinge einen Weg für sie bahnte, fiel Arri abermals zurück und verlor sie schon nach wenigen Dutzend Schritten aus den Augen.

Dennoch bestand nicht die Gefahr, gänzlich den Anschluss zu verlieren, denn das düsterrote Flackern vor ihnen nahm jetzt immer rascher an Intensität zu, sodass sich der huschende Schatten, in den sich ihre Mutter verwandelt hatte, immer deutlicher davor abzeichnete. Was immer dort vorne brannte, es musste ein gewaltiges Feuer sein, und obwohl Arri wusste, dass es nicht möglich war, glaubte sie bereits einen Schwall trockener Hitze zu spüren, der ihr entgegenschlug, und den Geruch brennenden Holzes wahrzunehmen, der die Luft schwängerte. Ihr Zuhause! Es durfte nicht ihre Hütte sein! Diese Hütte und das Wenige, was darin war, waren alles, was sie besaßen, alles, was ihr Leben ausmachte.

Sie hörte einen dumpfen Laut und dann die Stimme ihrer Mutter, die einen Fluch in einer Arri vollkommen unbekannten Sprache ausstieß, dann hob das Geräusch ihrer Schritte wieder an, ertönte jetzt aber langsamer und auch nicht mehr ganz so regelmäßig.

Tatsächlich war sie langsamer geworden. Als Arri, von einer neuen Sorge um ihre Mutter ergriffen, schneller ausschritt, holte sie tatsächlich wieder auf, und kurz bevor sie den Waldrand erreichten, hatte sie nahezu zu ihr aufgeschlossen. Noch immer war ihre Mutter kaum mehr als ein verwaschener Schatten, den sie nur sah, weil er sich dunkel gegen den flackernden Lichtschein abhob, doch sie konnte erkennen - dass sie deutlich humpelte.

»Mutter!«, keuchte sie. »Was ist passiert?«

Möglicherweise wollte Lea sogar antworten, denn sie stockte fast unmerklich im Schritt und setzte dazu an, den Kopf in Arris Richtung zu drehen, doch in diesem Augenblick hatte sie den Waldrand erreicht, und sie blieb abrupt stehen und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.

Sie waren kaum einen Steinwurf von ihrer Hütte entfernt aus dem Wald herausgetreten, und Arri erkannte nicht einmal einen Atemzug nach ihrer Mutter, dass die schilfgedeckte, auf doppelt armdicken Stelzen stehende Hütte unversehrt war. Der Feuerschein war jetzt viel deutlicher zu sehen, und für einen Augenblick ließ die Helligkeit die Umrisse des Hauses mit scharf abgegrenzten Linien vor dem flackernden roten Hintergrund erscheinen. Es war nicht ihr Heim, das brannte, dachte Arri erleichtert. Das Feuer - es war ein gewaltiges, scheinbar himmelhoch loderndes Feuer - brannte irgendwo dahinter, und ein Stück höher.

Es war das Dorf, das brannte.

Arris Erleichterung, ihr Heim unversehrt vorzufinden, hielt kaum einen Augenblick länger an als das ganz ähnliche Gefühl, das ihre Mutter gehabt haben musste. Lea stieß einen zweiten, diesmal erschrockenen Seufzer aus und stürzte weiter, und Arri zögerte nur einen Herzschlag lang, bevor sie ihr folgte. Nicht mehr von den Bäumen und dem Unterholz des Waldes abgeschirmt, war der Feuerschein jetzt so grell, dass er in den Augen schmerzte, und sie spürte die Hitze tatsächlich. Auch der durchdringende Gestank von brennendem Holz war nicht mehr eingebildet, und darunter war noch ein anderer, schlimmerer Geruch, den sie in ihrer Aufregung nicht sofort einzuordnen vermochte, der ihrer Furcht aber neue Nahrung gab.

Arri rannte, doch sie verlor den Anschluss, noch bevor sie die halbe Strecke zur Schmiede hinauf zurückgelegt hatte, und ihre Angst um ihre Mutter bekam einen neuen, hässlicheren Unterton. Ganz egal, wie abfällig und bitter sich ihre Mutter manchmal über die Menschen im Dorf äußern mochte - Arri kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie keinen Augenblick zögern würde, ihr eigenes Leben für einen von ihnen aufs Spiel zu setzen. Und so, wie es vor ihnen aussah, musste das ganze Dorf in Flammen stehen.

Arri versuchte fast verzweifelt, noch schneller zu laufen. Auf halbem Wege ließ sie ihren Umhang fallen, und als sie das letzte, steil ansteigende Stück in Angriff nahm, schleuderte sie auch die Sandalen von den Füßen. Dennoch schienen sich die Umrisse ihrer Mutter in dem lodernden Rot einfach aufgelöst zu haben, lange, bevor sie die Stelle erreichte, an der die Hütte des blinden Mannes stand.

Um genau zu sein, erreichte sie sie gar nicht, denn schon, als sie noch ein Dutzend Schritte davon entfernt war, wurden die Hitze und das grelle, jetzt nicht mehr rote, sondern fast weiße Licht so unerträglich, dass sie schützend den Arm vor das Gesicht riss und stehen bleiben musste. Aufgeregte Stimmen und Schreie drangen an ihr Ohr, das Trappeln zahlloser schwerer Schritte, Rufe und Gebrüll. Sie glaubte Schatten im tanzenden Weiß vor sich zu erkennen, dann drehte der Wind und fegte ihr eine so gnadenlose Hitze ins Gesicht, dass sie zwei oder drei Schritte zurückstolperte und qualvoll hustete. Das gleißende Licht trieb ihr die Tränen in die Augen. Halb blind und noch immer den rechten Arm schützend vor das Gesicht gehoben, drang sie in das dichte Unterholz am Wegesrand ein, stolperte prompt über eine Wurzel und wäre um ein Haar gefallen, hätte sie sich nicht im letzten Augenblick mit ausgestreckten Händen an einem Baum abgestützt.

Doch sie zog die Arme mit einem Schmerzensschrei wieder zurück. Der Baum war so heiß, dass seine Rinde zu glühen schien. Hitze und Licht waren so gewaltig, dass sie ständig gegen einen heftigen Hustenreiz ankämpfen musste und nur verschwommene Schatten und Bereiche unerträglicher Helligkeit wahrnahm. Immerhin sah sie, dass sich das Feuer auf einen kleinen Bereich links von ihr konzentrierte. Auch der Hintergrund dort glühte rot, aber nicht mehr so unerträglich, als wäre der Sonnenwagen hinabgestürzt.

Arri taumelte hustend auf diesen Bereich zu, und die Stimmen und der Lärm wurden lauter. Sie glaubte in all dem Durcheinander die Stimme Rahns herauszuhören, aber wo war ihre Mutter? Mittlerweile war der Brandgeruch so unerträglich geworden, dass sie schon allein deshalb kaum noch atmen konnte. Hustend und qualvoll nach Luft ringend, taumelte sie auf den Weg zurück - und riss mit einem erschrockenen Keuchen die Hände vors Gesicht, als sie von einem eiskalten Wasserschwall getroffen wurde.

Nach der grausamen Hitze war das Wasser so kalt, dass es wie ein Schlag ins Gesicht war. Schatten tanzten in ihren Augenwinkeln, und sie hörte eine aufgebrachte Stimme schreien: »Aus dem Weg, du dummes Gör! Verschwinde!«

Mühsam wischte sich Arri das Wasser aus den Augen, musste aber dennoch mehrmals blinzeln, um überhaupt etwas sehen zu können. Der Wasserschwall, der sie getroffen hatte, war nicht der Einzige. Vor ihr ragte die riesige Gestalt eines Mannes auf, der abwechselnd sie und den leeren Tonkrug in seinen Händen wütend musterte, bevor er sich umdrehte und davonstürmte. Hinter ihm eilten andere herbei, Kessel, Krüge und sogar Schalen mit Wasser schleppend, mit denen sie sich so dicht an den Brandherd herankämpften, wie es die grausame Hitze zuließ, bevor sie die Flammen zu löschen versuchten. Das gesamte Dorf schien zusammengelaufen zu sein, und Arri vernahm einen Chor aufgeregter, panischer Stimmen, die aus der Dunkelheit jenseits des Feuerscheins drangen und alle auf die eine oder andere Weise nach Wasser schrieen. Die Menschen mussten eine Kette gebildet haben, die bis zur Zella hinunterreichte - aber bis dahin, dachte sie, waren es mindestens zweihundert Schritte, viel zu weit, um wirklich eine geschlossene Kette zu bilden, die wahrscheinlich die einzige Möglichkeit gewesen wäre, schnell genug und in ausreichender Menge Wasser herbeizuschaffen, um das, was von Achks Hütte noch übrig war, zu retten.

»Arianrhod!« In all dem Durcheinander von Stimmen, Lärm und dem Prasseln der Flammen erkannte sie nicht die Stimme ihrer Mutter, wohl aber den scharfen Ton, der darin mitschwang. Noch immer heftig blinzelnd und mit halb verschleiertem Blick, drehte sie sich um und sah ihre Mutter auf sich zustürmen. Obwohl erst wenige Augenblicke vergangen waren, seit sie sie das letzte Mal gesehen hatte, erschrak Arri bei ihrem Anblick. Ihr Umhang war verkohlt, und der Saum qualmte sichtbar. Ihr Gesicht war rußverschmiert und ihr Haar auf der linken Seite angesengt. Auch sie hatte einen Kupferkessel in der Hand, den sie vermutlich kurzerhand jemandem abgenommen hatte. »Was willst du hier?«, herrschte sie sie noch einmal an. »Willst du dich umbringen? Verschwinde!«

Arri konnte sie nur verwirrt anstarren. »Aber ich...«, begann sie, doch ihre Mutter hörte gar nicht mehr zu, sondern fuhr auf dem Absatz herum und verschwand mit ihrem Kupferkessel in der Dunkelheit, allerdings nur, um fast unmittelbar darauf mit einem weiteren, gefüllten Gefäß zurückzukommen. Näher als jeder andere wagte sie sich an das Feuer heran und kippte das Wasser zielsicher in die weiß lodernde Glut. Ein hörbares Zischen erklang, aber das Feuer verlor nicht wirklich an Kraft. So heiß, wie es brannte, dachte Arri schaudernd, musste das Wasser einfach verdampfen, bevor es die Flammen auch nur erreichte. Was immer dort brannte - es war nicht nur Holz.

Immerhin erkannte sie jetzt, dass es keineswegs das ganze Dorf war, das in Flammen stand, wie sie in ihrem allerersten Schrecken angenommen hatte. Es war die abgelegene Hütte des Schmieds, und vielleicht war das auch die Erklärung für die fast schon unnatürliche Kraft, mit der das Feuer wütete. Sie hatte sich nie sonderlich um das gekümmert, was er tat, aber sie wusste natürlich, dass er neben Erz und Holzkohle auch noch eine Menge anderer, geheimnisvoller Zutaten in seiner Hütte aufbewahrte, mit denen er seine Metalle veredelte oder auch das Feuer heißer brennen lassen konnte als jeder andere. Irgendetwas musste hier schrecklich schief gegangen sein.

Ihre Mutter kam zurück, warf ihr im Vorbeistürmen einen zornigen Blick zu und verschwand wieder in der Dunkelheit, um abermals nach wenigen Augenblicken mit einem Gefäß voller Wasser zurückzukommen. »Also gut!«, schrie sie über das Brüllen der Flammen hinweg, als sie an ihr vorbeirannte. »Dann mach dich nützlich! Hilf mit, eine Kette zu bilden!«

»Wo sind Kron und Achk?«, rief Arri ihr nach. Sie bekam keine Antwort, wahrscheinlich hatte ihre Mutter die Worte unter all dem Lärm gar nicht gehört. Als sie das nächste Mal zurückkam, schloss Arri sich ihr an. Sie stürmten weiter und auf den Dorfplatz hinaus, der vom Lodern der Flammen in ein unheimliches, düsteres Rot getaucht wurde. Das flackernde Licht zerhackte die Bewegungen der Menschen zu einer rasenden Abfolge einzelner Bilder und machte sie zu einem höllischen Tanz. Tatsächlich hatten die Dorfbewohner eine unregelmäßige zerbrochene Kette quer über den Platz und bis hinunter zum Fluss gebildet, die jedoch aus viel zu wenigen Gliedern bestand, sodass sie die gefüllten Behältnisse unterschiedlichster Form und Größe nicht einfach weiterreichen konnten, sondern zu einem kräftezehrenden und vor allem zeitraubenden Hin und Her gezwungen waren. Lea riss einem Kind, das unter dem Gewicht eines gefüllten Kruges fast zusammenzubrechen schien, seine Last kurzerhand aus den Fingern, fuhr herum und versetzte Arri aus der Bewegung heraus einen Stoß, der sie an den Platz des Jungen beförderte. »Hilf mit!«, schrie sie, während sie bereits im Laufschritt wieder davonhetzte.

Und genau das tat Arri. Kessel, Krüge, Töpfe - einmal sogar eine geflochtene Schale, auf deren Boden wie durch ein Wunder eine winzige Wasserpfütze schwappte (Arri warf sie in hohem Bogen weg) - wurden ihr gereicht, und sie gab sie weiter, wankte hin und her, vor und zurück und sah immer wieder zu der brennenden Hütte hin. Die Flammen schienen nicht kleiner zu werden, beinahe als gäbe das Wasser, das die verzweifelten Dorfbewohner hineinschütteten, ihnen neue Nahrung, statt sie zu ersticken. Von Achks Hütte konnte längst nichts mehr übrig sein.

Arri verdrängte die Frage, was aus dem blinden Schmied und seinem einarmigen Gehilfen geworden sein mochte, mit fast verzweifelter Kraft an den Rand ihres Bewusstseins. Sie hatte geglaubt, den Alten zu verachten und den Jäger zu fürchten, und etwas davon entsprach auch der Wahrheit, und doch wurde ihr plötzlich klar, wie sehr sie sich in den wenigen zurückliegenden Tagen an diese beiden ungleichen Männer gewöhnt hatte. Nicht, weil sie plötzlich ihre Verbundenheit gegenüber den Dorfbewohnern im Allgemeinen entdeckt hätte, sondern weil diese beiden vielleicht mittlerweile die Einzigen waren, die ihre Mutter zwar sicherlich nicht als ihre Freunde bezeichnen konnte, die aber zumindest nicht ihre Feinde waren.

Das Feuer wütete noch eine geraume Weile. Allen Bemühungen der Dorfbewohner zum Trotz schienen die Flammen anfangs tatsächlich noch höher zu lodern, statt an Kraft einzubüßen. Die Hitze war selbst hier mitten auf dem Dorfplatz deutlich zu spüren, und der Wind trug den Qualm in erstickenden Schwaden zu ihnen herauf, sodass nicht nur Arri ihre Arbeit immer wieder unterbrechen musste, um qualvoll und hustend nach Atem zu ringen.

Dazu kam die Sorge um ihre Mutter. Lea tauchte immer wieder auf, um irgendein Gefäß mit Löschwasser an sich zu reißen und damit davonzustürzen, als hätte sie sich vorgenommen, das Feuer ganz allein zu löschen, und Arri entging nicht, dass die Anzahl der Brandflecken auf ihren Kleidern nahezu jedes Mal zunahm. Sie versuchte sich damit zu beruhigen, dass ihre Mutter von allen im Dorf mit Sicherheit am besten wusste, wie sie auf sich aufpassen konnte, aber dieser Gedanke änderte rein gar nichts daran, dass sie ein Dutzend Mal am Rande der Panik war, wenn ihre Mutter länger als ein paar Augenblicke wegblieb.

Der Kampf gegen das Feuer schien die ganze Nacht zu dauern. In Wahrheit verging nur ein Bruchteil dieser Zeit, bis die Flammen schließlich doch kleiner wurden und aus dem verzehrenden Weiß zuerst ein loderndes Gelb und dann ein ganz allmählich dunkler werdendes Rot wurde, bevor sich das Feuer in seiner Raserei selbst zu verzehren begann. Doch Arri war schon lange vor Ablauf dieser Zeit zu Tode erschöpft von den schweren Krügen und Töpfen, die sie ununterbrochen entgegennehmen und weiter tragen und reichen musste. Jeder einzelne Muskel in ihrem Körper war verkrampft und schmerzte, und mit jeder noch so winzigen Bewegung kam sie dem Punkt näher, an dem sie einfach nicht mehr weiterkönnen und zusammenbrechen würde. Ein- oder zweimal sah sie Rahn, der mit gleich zwei randvoll gefüllten Wasserkrügen in den Armen vorüberhastete, und sie glaubte auch Kron zu sehen, war aber nicht ganz sicher und hatte nicht die Kraft, auch nur mit Blicken nach ihm zu suchen.

Die Wut des Feuers ließ stetig nach, und das Licht war bald nicht mehr so grell, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb, wenn sie auch nur in die falsche Richtung sah. Von Achks Hütte würde am Ende nicht mehr als Asche übrig bleiben, und vielleicht nicht einmal das. Doch mittlerweile mussten sie sich um einen neuen Brandherd kümmern. Mindestens ein Dutzend umstehender Bäume hatten Feuer gefangen, und die Dorfbewohner kämpften jetzt nicht mehr darum, die Hütte des blinden Schmieds zu retten (falls sie das je getan hatten), sondern darum, ein Übergreifen der Flammen auf den angrenzenden Wald zu verhindern, was den Untergang des gesamten Dorfes bedeutet hätte. Selbst diesen Kampf gewannen sie nur knapp und wahrscheinlich nur, weil es in den letzten Tagen so heftig geregnet hatte und der Wald mit Feuchtigkeit getränkt war wie Moos, das drei Tage im Wasser gelegen hatte. Unterholz und Blätter waren einfach zu nass, um richtig zu brennen.

Schließlich versagten Arris Kräfte endgültig. Jemand reichte ihr einen gefüllten Eimer, aber ihre tauben Finger waren nicht mehr in der Lage, ihn zu halten. Der geflochtene Henkel entglitt ihr, und der Eimer fiel zu Boden und ergoss seinen Inhalt über den aufgeweichten Morast, und im nächsten Moment sank auch Arri auf die Knie und dann kraftlos nach vorn. Es gelang ihr, den Sturz mit ausgestreckten Armen aufzufangen, aber ihre verkrampften Muskeln waren nicht mehr in der Lage, das Gewicht ihres Körpers in die Höhe zu stemmen. In ihren Ohren rauschte das Blut. Ihr war übel, und wenn sie die Augen schloss, dann drehte sich die Dunkelheit hinter ihren Lidern immer rascher.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«

Die Stimme drang so dumpf und verzerrt an ihr Bewusstsein, als hätte sie Wasser in den Ohren. Mit einiger Mühe gelang es ihr, die Lider zu heben, aber das Gesicht, in das sie emporblickte, trieb immer wieder vor ihren Augen auseinander und brach in Stücke, wie eine Spiegelung auf bewegtem Wasser. Sie wollte nicken, aber selbst dafür fehlte ihr die Kraft. Das Gesicht trieb noch einmal auseinander und setzte sich dann endgültig zu dem eines dunkelhaarigen Burschen mit breiter Nase und einem löcherigen Bart zusammen.

Rahn. Abgesehen von Sarn wohl der Mensch, den sie im Moment am allerwenigsten sehen wollte.

Ihr Stolz reichte allerdings nicht so weit, dass sie die Hand ausschlug, die er ihr hinhielt, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. Kaum allerdings stand sie wieder auf den Beinen (und hatte sich davon überzeugt, dass sie es auch tatsächlich aus eigener Kraft konnte), zog sie mit einem Ruck die Hand zurück und funkelte den Fischer an. »Es geht schon«, schnappte sie. Mit einer winzigen Verzögerung, aber deutlich widerwilliger fügte sie hinzu: »Danke.«

Rahn reagierte ganz anders, als sie erwartet hätte. Der Blick, mit dem er sie maß, wirkte allenfalls belustigt, zu Arris Ärger aber auch ganz eindeutig ein wenig mitleidig.

»Wo ist meine Mutter?«, fauchte sie. Als ob ausgerechnet Rahn das wüsste! Es war einfach das Erste, was ihr eingefallen war.

»Wahrscheinlich ist sie damit beschäftigt, sich anzusehen, welches Unheil sie diesmal angerichtet hat«, antwortete eine Stimme, von der Arri erst nach einigen Augenblicken begriff, dass es nicht die Rahns war. Noch etliche Atemzüge mehr brauchte sie, um die nötige Kraft zusammenzukratzen, den Kopf zu drehen und in das faltige Gesicht des Besitzers dieser Stimme zu blicken.

»Ich kann nur hoffen, dass sie nicht zu enttäuscht ist«, fuhr Sarn fort. »Immerhin ist es uns gelungen, das Allerschlimmste zu verhindern und wenigstens das Dorf zu retten.«

Arri war sich nicht ganz sicher, ob sie über diese Worte wirklich nachdenken wollte, geschweige denn, sie verstehen. Ihr lag eine ganze Menge auf der Zunge, was sie dazu sagen konnte, aber sie war in diesem Moment - glücklicherweise - einfach zu benommen, um auch nur einen Ton herauszubringen. Sie starrte den Schamanen einfach nur an.

Immerhin fiel ihr auf, dass Sarn kein bisschen anders aussah als sonst - ein dürrer, alter Mann, der ein ausgemergeltes und von Falten zerfurchtes Gesicht mit einem sorgfältig gestutzten Bart und bis auf die Schultern fallendes, strähniges graues Haar hatte und stets wie unter einer unsichtbaren Last nach vorn gebeugt dastand. Sein Wickelgewand und der buntfarbene Umhang waren schmutzig und an zahllosen Stellen geflickt, doch weder an seinen Kleidern noch auf seinem Gesicht oder seinen Händen war Ruß, und sein Gesicht glänzte auch nicht vor Schweiß, noch war er außer Atem und so vollkommen erschöpft wie alle anderen hier. Seine Beteiligung an den Löscharbeiten hatte sich offensichtlich auf reines Zusehen beschränkt.

Arri hütete sich, eine entsprechende Bemerkung zu machen, doch allein der Blick, mit dem sie den Dorfältesten maß, schien verräterisch genug zu sein, denn sein Gesicht verdüsterte sich noch weiter, und in seinen vom Alter trüb gewordenen Augen blitzte es wütend auf. »Was starrst du mich so an, Hexenkind?«, zischte er.

Arri schwieg noch immer beharrlich, aber sie bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Rahn ein Stück von ihr zurückwich und hinter den Schamanen trat; als hätte er Angst, in etwas hineingezogen zu werden, mit dem er lieber nichts zu tun haben wollte. Für einen winzigen Moment wollte sich der verrückte Gedanke in Arris Kopf einnisten, dass er es auch tat, um den Alten im Zweifelsfall packen und von ihr wegzerren zu können, doch sie sagte sich zugleich selbst, wie närrisch diese Vorstellung war. Ganz egal, was ihre Mutter Rahn auch versprochen oder bereits gegeben hatte, der Fischer war viel zu feige, um in der Öffentlichkeit derart deutlich Stellung zu beziehen.

»Wirst du gefälligst antworten, wenn ich mit dir rede?«, fuhr Sarn fort. Arris beharrliches Schweigen schien ihn immer wütender zu machen. Herausfordernd trat er auf sie zu und schwenkte den knorrigen Stab, auf den er sich bisher gestützt hatte.

Arri machte eine erschrockene und ganz unbewusst abwehrende Bewegung mit beiden Händen, die Sarn jedoch als Angriff auszulegen schien; vielleicht hatte er auch nur auf einen Vorwand gewartet. Bevor Arri ihre Bewegung auch nur halb zu Ende gebracht hatte, schwang er seinen Stock und schlug nach ihr.

Der Hieb war lächerlich langsam und unbeholfen, und es bereitete ihr trotz aller Erschöpfung nicht die geringste Mühe, dem Schlag auszuweichen. Worauf sie nicht gefasst war, war Sarns zweiter Hieb, bei dem seine flache Hand so hart gegen ihre Schulter schlug, dass sie mit haltlos rudernden Armen rückwärts taumelte und dann ungeschickt auf das Hinterteil plumpste. Es tat so weh, dass ihr die Tränen in die Augen schossen, was Sarn aber anscheinend nicht zu genügen schien. Noch immer seinen Stock schwenkend und lautstark zeternd, setzte er ihr nach, während Rahn sich ebenso unauffällig wie konsequent ein gutes Stück zurückzog. So viel zu ihrer Hoffnung, dass er tatsächlich in ihrer Nähe blieb, um das zu tun, wofür ihre Mutter ihn bezahlte, nämlich auf sie aufzupassen...

»Du unverschämtes Balg!«, zeterte Sarn. »Du wagst es, die Hand gegen mich zu heben? Ich werde dir den Respekt beibringen, den deine Mutter dich offensichtlich nicht gelehrt hat!«

Er schwang den Stock noch höher und jetzt mit beiden Armen, und Arri wusste, dass er diesmal treffen würde.

Als Sarn zuschlug, blitzte es silberhell hinter ihm auf. Sein Stock fuhr nicht auf Arri herab, sondern flog in hohem Bogen davon und verschwand in der Dunkelheit, und Sarn selbst taumelte zwei Schritte zur Seite und wäre um ein Haar gestürzt, wäre Rahn nicht plötzlich wie aus dem Boden gewachsen hinter ihm aufgetaucht, um ihn aufzufangen.

»Was ist hier los?«, fragte Lea scharf. Sie hatte das Schwert wieder gesenkt, machte aber keine Anstalten, es vollends einzustecken, sondern funkelte Sarn und Rahn abwechselnd und auf eine Art an, als wäre nun sie es, die nur auf einen Vorwand wartete, um zuzuschlagen. »Musst du dich jetzt schon mit Kindern schlagen, Sarn?«, fragte sie aufgebracht. »Wenn du kämpfen willst, dann heb deinen Stock auf und greif mich an. Oder hast du Angst, von einer Frau besiegt zu werden?«

Sie warf Arri einen raschen, aber aufmerksamen Blick zu - Alles in Ordnung? -, wandte sich dann wieder an den Schamanen und schob das Schwert in die breite Lederschlaufe an ihrem Gürtel. Die Härte in ihrem Blick nahm noch zu, als sie die Arme ausbreitete und in unverändertem Ton, aber hörbar lauter fortfuhr: »Nur zu, Sarn. Falls es mein Schwert ist, das du fürchtest - ich verspreche dir, dass ich es nicht ziehen werde. Nimm ruhig deinen Stock, wenn du Angst hast, gegen eine Frau zu kämpfen.«

Arri stemmte sich umständlich in die Höhe. Ihre Knie zitterten noch immer, und ihr Herz jagte, als wolle es in ihrer Brust zerspringen. Sie war erleichtert, dass ihre Mutter ihr im letzten Moment zu Hilfe gekommen war - von Sarns Stock getroffen zu werden war nicht lustig. Der knorrige, halb mannslange Stab war schwer wie Stein und vermutlich ebenso hart. Ein Schlag damit hätte ihr glatt den Schädel zertrümmert - aber sie verstand nicht wirklich, was Lea jetzt tat. Niemand im Dorf mochte den Schamanen, aber er war ein alter Mann, der schon länger lebte als irgendein anderer aus ihrer Mitte, und sie selbst war die stärkste Frau, der Arri jemals begegnet war; vielleicht sogar der stärkste Mensch. Selbst Rahn fürchtete sie, auch wenn er das niemals zugeben würde. Lea gewann nichts, wenn sie diesen alten Mann einschüchterte. Ganz im Gegenteil. Wenn Sarn etwas vollkommen beherrschte, dann die Macht auszuspielen, die die Schwachen über die Starken hatten. Ihre Mutter musste das ebenso gut wissen wie sie.

»Du wagst es, mich zu bedrohen?«, giftete der Schamane. »Aber was habe ich erwartet, von einer wie dir? Was du angerichtet hast, reicht dir ja anscheinend noch nicht.« Er riss seinen Arm los und bückte sich tatsächlich nach seinem Stock, allerdings nur, um sich schwer darauf zu stützen, und nicht, um damit auf Lea loszugehen. Er sprach auch nicht sofort weiter, sondern sah sich rasch nach allen Seiten um - vermutlich um sicherzugehen, dass er auch genügend Zuhörer hatte.

»Seht ihr denn nicht, dass mit dieser Hexe das Unglück über uns alle gekommen ist?«, rief er mit nicht einmal viel lauterer, aber mit einem Male durchdringender und weithin hörbarer Stimme. »Sie behauptet, es gut mit uns zu meinen! Sie sagt, dass sie Geschenke bringt, aber ihre Geschenke bringen den Tod: Das neue Metall, das sie uns versprochen hat, hat Achk das Augenlicht gekostet! Sie hat uns gelehrt, bessere Ernten zu erzielen, aber seither sind die Winter kälter geworden, und das Frühjahr kommt immer später! Sie hat uns gelehrt, mehr Wild zu jagen, doch seither sind die Wälder voller Ungeheuer und böser Geister, und sie hat gesagt, sie werde uns helfen, in Frieden mit unseren Nachbarn zu leben und besseren Handel zu treiben, und jetzt schleichen Fremde durch die Wälder, die unsere Jäger töten und vielleicht unser aller Untergang planen!«

Er fuchtelte mit seinem Stock in die Richtung, in der die Glut der brennenden Schmiede allmählich zu verblassen begann. »Wir haben es nur der Gnade der Götter zu verdanken, dass das Feuer nicht auf das ganze Dorf übergegriffen hat! Wir alle hätten zugrunde gehen können!«

Wenn diese Worte ihre Mutter irgendwie beeindruckten, so ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Lea strich mit den Fingerknöcheln über den Schwertgriff. »Ich frage mich, der Gnade welcher Götter wir es wohl zu verdanken haben, dass das Feuer überhaupt ausgebrochen ist«, sagte sie in fast heiterem Tonfall. Sie lächelte sogar, aber ihre Augen blieben dabei so kalt und hart wie Eis.

Sarn ächzte. »Du wagst es, die Götter auch noch zu verhöhnen, Weib?«

»Ich wage es, eine Frage zu stellen«, erwiderte Lea ruhig, schnitt dem Dorfältesten aber zugleich mit der linken Hand das Wort ab, noch bevor er überhaupt noch etwas sagen konnte. Ihre andere Hand ruhte weiter auf dem Schwergriff. »Und wenn du fertig damit bist, den Zorn der Götter auf mein Haupt herabzubeschwören, alter Mann, dann könntest du mir ja dabei helfen, die Verwundeten zu versorgen.« Sie drehte sich mit einem Ruck herum. »Arianrhod, komm mit! Wir haben eine Menge Arbeit.«

Загрузка...