Arri erwachte erst am späten Nachmittag desselben Tages - oder des darauffolgenden, das kam ganz auf den Standpunkt an. Für Arri war morgen immer dann, wenn sie geschlafen hatte; ein reiner Verteidigungsmechanismus, den sie entwickelt hatte, nachdem ihre Mutter damit begonnen hatte, nahezu jede Nacht für sie zum Tage zu machen. Die Hütte war leer. Achks penetranter Altmännergeruch hing noch in der Luft, und die fast noch taufrische Matratze, auf der er gelegen hatte, war zerwühlt und an mehreren Stellen aufgerissen. Arri musterte sie kritisch - ein halber Tag Arbeit, der auf sie wartete - und reckte sich dann ausgiebig, bevor sie aufstand und die Hütte fast fluchtartig verließ, um mit wenigen Schritte die mit Kalk gefüllte Grube anzusteuern, die ihre Mutter für die Verrichtung ihrer Notdurft angelegt hatte. Bevor sie in den Schatten der umstehenden Bäume eintauchte, warf sie einen raschen Blick zum Dorf hinauf.
Sie war ein wenig enttäuscht. Die Stelle, an der noch gestern Achks Hütte gestanden hatte, klaffte jetzt wie eine schwarze Wunde, die tief in den Wald hineingerammt war - das hatte sie erwartet - und in der sich nichts rührte. Das hatte sie nicht erwartet. Ganz im Gegenteil: Nach dem, was ihre Mutter in der vergangenen Nacht gesagt hatte, hätte sie zumindest geglaubt, Rahn emsig hantieren und sägen und hämmern zu sehen, um die verbrannte Schmiede wieder aufzubauen.
Stattdessen sah sie gar nichts, und plötzlich fiel ihr auch die Stille auf. Ihre Hütte lag weit genug vom Dorf entfernt, dass es hier immer recht ruhig war, aber nun hörte sie gar nichts. Es schien, als wäre das Dorf, das sich bisher auf der Anhöhe gegenüber erhoben hatte, einfach nicht mehr da.
Arri setzte den Weg fort, folgte dem Ruf ihres Körpers und kehrte erst eine ganze Weile später und deutlich entspannter aus dem Schutz der Bäume zurück. Sie sah in den Himmel hinauf. Die Sonne hatte den Zenit schon lange überschritten und befand sich wieder auf dem absteigenden Teil ihrer Wanderung, und das gefiel Arri nicht. Wo war ihre Mutter? Und wo waren Rahn und der Schmied?
Plötzlich fühlte sie sich furchtbar allein, und vor allem: allein gelassen. Wieso sagte ihr niemand, was sie tun sollte?
Vielleicht wäre es eine gute Idee, sich erst einmal zu waschen. Arri ging gemächlichen Schrittes zur Hütte und steuerte den in mühsamer Schnitzarbeit ausgehöhlten Eichentrog an, in dem ihre Mutter Regenwasser sammelte. Auf halbem Wege ergriff ein spöttisches Lächeln von ihren Lippen Besitz. Wie lange war es her, dass sie sich furchtbar über die Macke ihrer Mutter aufgeregt hatte, sich ständig zu waschen, auch wenn sie gar nicht schmutzig war? Jetzt dachte sie ganz genau wie Lea. War es das, was ihre Mutter gemeint hatte, wenn sie behauptete, sie wäre jetzt erwachsen?
Sie beugte sich so tief über den Eichentrog, dass ihre Haare beinahe im kühlen Wasser eintauchten, und schaufelte sich ein paar Hand voll des eiskalten Wassers ins Gesicht. Sie prustete und japste nach Luft und bedachte sich selbst in Gedanken mit einer ganzen Reihe wenig schmeichelhafter Bezeichnungen, weil sie nicht auf sich selbst gehört und die morgendliche Wäsche einfach übersprungen hatte - zumal es nicht Morgen, sondern Nachmittag war. Dann zwang sie sich mit einer gewaltsamen Anstrengung, den unterbrochenen Gedanken fortzuführen: Wo waren alle?
Ihr Magen meldete sich mit einem hörbaren Knurren zu Wort und erinnerte sie daran, wie lang der gestrige Tag gewesen war und wie wenig sie gegessen hatte. Sie dachte an den Rest Fladenbrot, den sie in der Hütte gesehen hatte, aber die bloße Vorstellung, dass Achk vor ihr seine fauligen Zahnstümpfe hineingeschlagen haben könnte, löste ein so heftiges Gefühl von Übelkeit in ihr aus, dass sie sich plötzlich gar nicht mehr so hungrig fühlte.
Statt zurück in die Hütte zu gehen, lief sie in die Richtung, in der sich der Weg ins Dorf mit dem gewundenen Pfad zur alten Schmiede kreuzte. Was hatte ihre Mutter in der vergangenen Nacht gesagt? Nach dieser Nacht steht das ganze Dorf noch tiefer in meiner Schuld. Vielleicht würde es ja wenigstens für ein Stück Brot und einen Bissen Fleisch reichen.
Obwohl seit der Katastrophe ein halber Tag verstrichen war, war der Brandgeruch, der ihr entgegenschlug, noch immer eindringlich genug, um ihr den Atem zu nehmen. Sie hob die Hand vor den Mund und hielt sogar die Luft an, als sie den Bereich aus verbranntem Erdreich passierte, blieb dann aber trotzdem noch einmal stehen.
Sie war allein. Und das Heiligtum, das ihr schon seit geraumer Zeit Unbehagen verursachte, war so nah, dass sie nur den Kopf hätte drehen müssen, um einen Blick auf die steinernen Riesen zu werfen, den Wohnort der Götter, wie die Sippe glaubte. Vielleicht war das ja noch nicht einmal so verkehrt. Vielleicht hatten Sarns zornige Götter das Feuer geschickt, um die ungläubige fremde Frau in ihre Schranken zu weisen, und vielleicht hatten sie auch schon zuvor Unglück über den Schmied gebracht, indem sie seinen Brennofen hatten zerbersten lassen.
Es gelang Arri nicht, diesen Gedanken endgültig zu verscheuchen. Schauplätze von Katastrophen zogen Menschen für gewöhnlich an wie drei Tage altes Aas die Fliegen, und sie hätte zumindest erwartet, ein paar Neugierige anzutreffen, selbst wenn es nur ein paar Kinder waren. Rings um sie herum rührte sich jedoch nichts. Selbst der unversehrte Teil des Waldes, der sich an den verbrannten Bereich aus verkohlten Baumstämmen und zu Asche zerfallenem Unterholz anschloss, schien wie ausgestorben zu sein, als hätte das Inferno der vergangenen Nacht jedes Leben aus diesem Teil der Welt vertrieben.
Arri verspüre ein kurzes, aber eisiges Frösteln und hatte es plötzlich sehr eilig, auf den direkten Weg zum Dorf abzubiegen. Es waren allerdings nur einige wenige Schritte, bevor sie wieder stehen blieb und ihr Herz heftig zu klopfen anfing. Im allerersten Moment konnte sie nicht einmal sagen, was es war, das ihr solche Angst einjagte, aber es war da, und es wurde mit jedem Atemzug schlimmer. Ihr Herz hämmerte. Ihr Mund war mit einem Mal so trocken, als hätte sie seit drei Tagen nichts mehr getrunken, und ihre Hände und Knie zitterten immer stärker. Denn ganz plötzlich wurde ihr klar, dass sie nicht hierher gehörte.
Vielleicht war es dieser Moment, der ihr Leben endgültig und unwiderruflich änderte. Nicht all die zahllosen Gespräche mit ihrer Mutter. Nicht all die Gelegenheiten, bei denen sie weinend vor Angst oder Wut oder Scham nach Hause gerannt war. Nicht all die schlaflosen Nächte, in denen sie mit einem scheinbar grundlosen, aber quälend intensiven Gefühl von Einsamkeit und... Anderssein und mit klopfendem Herzen aufgewacht war. Sie verstand all das plötzlich, sie erinnerte sich an jeden einzelnen Moment der Enttäuschung und Scham, aber es war dieser Anblick, der ihr die Augen öffnete, und eine ganz einfache, aber grundlegende Erkenntnis: Nicht sie und ihre Mutter waren es, die anders waren.
Es waren alle anderen, die anders waren, und obwohl sie zuerst noch Schwierigkeiten hatte, diesem scheinbar unsinnigen Gedanken zu folgen, spürte sie doch zugleich, was für ein gewaltiger Unterschied das war.
Natürlich war das Dorf nicht wirklich ausgestorben, aber es bot doch einen so ganz anderen, beunruhigenden Anblick, dass dieser allein vielleicht schon der Auslöser für jenes sonderbare Gefühl der Fremdartigkeit war, das Arri in diesem Moment ergriff und ihr Leben auf so nachhaltige Weise veränderte. Auf dem großen Dorfplatz bewegten sich Menschen, aber es waren zu wenige für diese Tageszeit, und die meisten von ihnen schlichen mit hängenden Schultern und müden Bewegungen dahin, manche hockten oder standen auch einfach nur da und starrten ins Leere. Auf der anderen Seite, nahe beim Fluss, spielten ein paar Kinder, doch auch ihr Spiel erschien Arri lustlos und matt; wie eine Pflichtübung, die sie hinter sich bringen mussten, weil ihre Eltern sie aus der Hütte geschickt hatten, und nicht wie etwas, das sie tun wollten.
Eine allgemeine Stimmung dumpfer Müdigkeit lag über dem Dorf, die nicht nur alle Bewegungen, sondern auch alle Geräusche und jegliches Anzeichen von Leben dämpfte.
Aber das allein war es nicht. Das hätte Arri nachvollziehen können: Das ganze Dorf war schlichtweg müde. Alle hier, gleich ob Mann, Frau, Kind oder Greis, hatten eine ungemein anstrengende und Kräfte zehrende Nacht hinter sich, und wahrscheinlich hatten nur die allerwenigsten lange geschlafen, so wie sie. Doch es war nicht nur die körperliche Müdigkeit, die sie gewahrte. Darunter lag eine andere, dumpfere Mattigkeit, die sie vielleicht schon von Anfang an gespürt hatte, die ihr aber nun tatsächlich zum allerersten Mal bewusst wurde.
Zugleich sah sie, wie anders all diese Menschen waren, verschieden von der Gestalt her und dem Schnitt ihrer Gesichter, anders in ihrer Art, sich zu bewegen und zu reden, anders in ihrer Art, zu sein. Sie war inmitten dieser Menschen aufgewachsen. Ihr Anblick hatte zu ihrem täglichen Leben gehört, so lange sie sich zurückerinnern konnte. Und doch hatte sie plötzlich das Gefühl, sie zum allerersten Mal so zu sehen, wie sie wirklich waren. Alle hier waren von gedrungenerem Wuchs als sie und ihre Mutter, kräftiger, aber auch deutlich kleiner; selbst Rahn, der von allen Männern im Dorf der Allerstärkste und Kräftigste war, war nicht einmal so groß wie ihre Mutter, und kaum eine Handbreit größer als sie selbst. Die Gesichter der Leute hier waren flacher, grober und einfacher, und das unsichtbare Feuer in ihren Augen, das vielleicht einzig den wirklichen Unterschied zwischen dumpfem tierischem Verstand und dem eines Wesens ausmachte, das den Blick zum Himmel wandte und sich fragte, ob dort oben nicht vielleicht doch die Götter wohnten, schien weniger hell zu brennen.
Arri wusste, dass das ungerecht war. Diese Menschen waren weder besser noch schlechter als ihre Mutter und sie, sie waren einfach nur anders.
Und das bedeutete, dass sie nicht hierher gehörten.
Lange Zeit blieb Arri reglos und schweigend am Rande des großen Platzes stehen und versuchte mit dem Verstand zu erfassen, was ihr Herz längst begriffen hatte. Ihre Mutter hatte gesagt, dass sie allerspätestens im nächsten Frühjahr von hier weggehen würden, und nun wusste sie auch, warum. Es hatte vielleicht noch nicht einmal wirklich etwas mit Nors Drohung zu tun, und wenn doch, dann auf eine viel tiefere, umfassende Weise, die außer den Menschen hier auch Mardan und die anderen Götter mit einschloss, zu denen sie beteten, und mit der Lebensweise, die sie als die richtige erachteten.
Eine Bewegung am Rande ihres Gesichtsfelds erregte ihre Aufmerksamkeit. Arri sah genauer hin und erkannte eine sonderbar schief wirkende Gestalt, die auf der anderen Seite des Dorfplatzes aufgetaucht war und mitten im Schritt innegehalten hatte. Kron. Der Jäger musste sie im gleichen Moment erkannt haben wie sie ihn, und obwohl Arri viel zu weit entfernt war, um sein Gesicht zu erkennen, spürte sie seine Überraschung, sie hier zu sehen. Er schien auf eine ganz bestimmte Reaktion von ihr zu warten, aber Arri wusste nicht, auf welche.
Sie blieb noch einige weitere Atemzüge lang stehen und erwiderte Krons Blick, dann drehte sie sich wieder um und schlug den Weg zur alten Schmiede ein, um über diesen Umweg nach Hause zurückzukehren; warum sie das tat und warum sie damit auch wieder direkt auf das Heiligtum zuhielt, hätte sie nicht einmal zu sagen vermocht. Ganz plötzlich brannten ihr tausend Fragen auf der Seele, die sie ihrer Mutter stellen musste.
Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken, als sie die Stelle passierte, an der Achks Hütte gestanden hatte. Selbst jetzt schien noch ein spürbarer Hauch von Wärme in der Luft zu hängen; nicht die Wärme der Herbstsonne, die zu dieser Tageszeit noch immer eine erstaunliche Kraft hatte, sondern eine vollkommen andere, zerstörerische Kraft, die sich in der zurückliegenden Nacht hier ausgetobt hatte und deren Echo noch immer zu spüren war. Unter ihren Füßen wirbelte die weiße Asche auf, die alles war, was das Feuer von Achks Schmiede übrig gelassen hatte.
Ganz wie in der Nacht zuvor schlug sie unwillkürlich einen fast furchtsamen Bogen um den schwarz verbrannten Kreis auf der Erde, und es war auch dasselbe Gefühl wie zu jenem Zeitpunkt: Sie glaubte nicht nur das Feuer zu spüren, das hier getobt hatte, sondern noch etwas anderes, viel Dunkleres, als hätte das, was Sarn oder seine Götter getan hatten, unsichtbare Spuren hinterlassen, die man weder greifen noch sehen noch riechen konnte und die doch die Kraft hatten, ihrer aller Leben zu verändern und sie zu zwingen, sich mit unangenehmen Wahrheiten auseinander zu setzen.
Warum hatte sich Sarn so offen gegen sie gewandt? Arri hatte durchaus verstanden, was ihre Mutter ihr gesagt hatte, aber das bedeutete nicht, dass sie es auch begriff. Wie war es möglich, dass Sarn die Zukunft des ganzen Dorfes aufs Spiel setzte, nur aus verletztem Stolz heraus? Oder hatte es doch etwas mit dem Glauben an die alten grausamen Götter zu tun, der tief in die Seele des Schamanen und der ganzen anderen Sippe eingebrannt war?
Sie hatte den halben Weg zur Hütte hinab hinter sich gebracht, als sie eine Bewegung am Waldrand wahrnahm. Etwas schimmerte hell zwischen den Schatten der Bäume, und silberfarbenes Metall blitzte im Sonnenlicht. In Erwartung, dass es ihre Mutter war, beschleunigte sie ihre Schritte noch mehr und hob zugleich den Arm, um ihr zuzuwinken.
Ihr Gruß wurde nicht erwidert, und die Gestalt trat auch nicht weiter aus dem Wald heraus, sondern verschmolz ganz im Gegenteil erneut mit den Schatten und war einen Augenblick später endgültig verschwunden.
Arri war verwirrt. Ihre Mutter musste sie gesehen haben. Wieso hatte sie nicht auf ihr Winken reagiert oder war wenigstens stehen geblieben?
Sie beschleunigte ihre Schritte abermals, erreichte die Stelle am Waldrand und blieb wieder stehen. Sie lauschte. All die üblichen Geräusche des Waldes drangen aus dem schattigen Grün an ihr Ohr, und vielleicht - aber auch wirklich nur vielleicht - das Geräusch leichter Schritte, die sich rasch entfernten.
Arri war beunruhigter, als sie zugeben wollte. Wenn es ihre Mutter war, die sie gesehen hatte, warum zeigte sie sich dann nicht, sondern lief im Gegenteil davon - und wenn es ein Fremder war, was wollte er dann hier, und wieso zeigte er sich nicht, um das Gastrecht in Anspruch zu nehmen?
Sie dachte daran, der vermeintlichen Gestalt nachzugehen, aber ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, ganz allein diesen düsteren, von Schatten und sonderbaren Geräuschen erfüllten Wald ganz in der Nähe des Heiligtums zu betreten. Mit aller Gewalt zwang sie sich, nicht daran zu denken, dass der Schatten von etwas ganz anderem stammen könnte, von etwas, das mit Sarns Göttern zu tun hatte und mit den blutigen Beschwörungsriten, die der greise Schamane ab und zu in dem düsteren Kreis steinerner Giganten zelebrierte...
Es musste ihre Mutter gewesen sind. Ganz sicher. Und wenn das tatsächlich stimmte, dann hatte sie ihre Gründe gehabt, nicht auf ihr Winken zu reagieren, und wäre ganz bestimmt nicht erfreut, wenn sie ihr jetzt nachging. Und wenn nicht...
Arri konnte ein eisiges Frösteln nicht unterdrücken, das ihr zwischen den Schulterblättern den Rücken hinablief. Es gab Gerüchte, dass sich im Steinkreis etwas herumtrieb, das nichts Menschliches an sich hatte. Aber das war mit Sicherheit dummes Gerede. Es gab ja auch noch ganz andere, viel greifbarere Gefahren.
Plötzlich musste Arri an den sonderbaren Fremden denken, der ihr das Leben gerettet hatte. Was, fragte sie sich, wenn Sarn und die anderen Recht hatten und dieser Mann nur der Späher war, dem andere folgen würden; vielleicht ein ganzes Heer, das sich jetzt schon bereitmachte und ihren Untergang plante...
Die Vorstellung war kindisch. Schon ihre Vernunft sagte ihr, dass es nicht so sein konnte. Wäre dieser Fremde, auf den sie im Wald gestoßen war, in feindlicher Absicht hier, hätte er ihr schwerlich das Leben gerettet und somit die Gefahr auf sich genommen, seine Anwesenheit frühzeitig zu offenbaren. Er hätte nicht einmal die Hand gegen sie zu erheben brauchen; es hätte ja vollkommen ausgereicht, wenn er gar nichts getan und einfach abgewartet hätte, bis der Wolf sie tötete.
Der Fehler in diesem Gedankengang fiel ihr auf, noch bevor sie ihn ganz zu Ende gedacht hatte. Wenn dieser Fremde tatsächlich nur die Vorhut einer ganzen Horde wilder Krieger darstellte, konnte er es sich gar nicht leisten, dass jemand vermisst wurde und womöglich das ganze Dorf nach ihm suchte und die umliegenden Wälder durchkämmte.
Was war denn dieser unheimliche Fremde nun - ihr geheimer Schutzengel oder ihr schlimmster Feind? Oder stammte der Schatten, den sie gesehen hatte, doch von jemand - oder etwas - ganz anderem, von etwas, das mit dem Heiligtum und ihrem heimlichen Besuch dort zu tun hatte?
Es war verwirrend. Verwirrend und sehr beängstigend.
Sie scheute davor zurück, wieder ins Dorf zu gehen. Dort gab es nichts für sie zu tun, und sie wollte auch nicht dorthin, schon aus Angst, den Schamanen oder vielleicht auch Kron zu treffen. Aber auch ihr eigenes Zuhause erschien ihr im Augenblick nicht sicher genug. Wäre doch nur ihre Mutter hier gewesen!
Das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, ließ sie zusammenzucken. Gehetzt sah sie nach rechts und links, drehte sich schließlich um, und ihr Gesicht verfinsterte sich, als sie die beiden Gestalten erkannte, die oben am Ende des Weges aufgetaucht waren. Es waren Kron und der Schamane. Im allerersten Augenblick hatte sie Angst, sie hätten sie gesehen (was zumindest auf Kron ja auch zutraf) und wären ihretwegen gekommen, dann aber bemerkte sie, dass die beiden in einen heftigen Streit verwickelt waren. Kron deutete immer wieder mit seinem verbliebenen Arm dorthin, wo sich gestern zu dieser Zeit noch die Hütte des Schmieds befunden hatte, und auch Sarn tat dasselbe, allerdings abwechselnd mit dem linken Arm und seinem Stock, wobei er immer wieder heftig den Kopf schüttelte. Mehrmals deutete er auch zu Arris Hütte hinunter, und schließlich schien es ihm zu bunt zu werden, denn er umfasste seinen Stock mit beiden Händen und stampfte wütend damit auf den Boden.
Vielleicht hätte er das besser nicht getan, wenigstens nicht da, wo er gerade stand, denn das Ergebnis seiner jähzornigen Bewegung war eine gewaltige weiße Staub- und Aschewolke, die hochwirbelte und ihn und Kron zum Husten brachte. Beide wedelten unverzüglich mit der Hand vor dem Gesicht herum und wichen hastig ein paar Schritte zurück, und auch Arri trat ein kleines Stück in die Schatten des Waldes hinein; falls Kron und der Schamane sie nicht bereits gesehen hatten, dann mussten sie es ja auch nicht unbedingt noch tun. Sarns Laune war durch sein Ungeschick ganz gewiss nicht gestiegen - und wie sie den Schamanen kannte, würde er wahrscheinlich sie für seine eigene Dummheit verantwortlich machen.
Ihr schadenfrohes Grinsen erlosch schlagartig, als sie zwischen die Bäume trat. Es war hier spürbar kühler als draußen im Sonnenschein; eine unangenehme, feuchte Kälte, die das Nahen des Herbstes ungleich brutaler ankündigte, als es das warme Licht der Spätsommersonne draußen glauben ließ. Und ihre eigenen Gedanken, die sie gerade bewegt hatten, waren noch nicht vergessen. Der fremde Schatten war noch in ihrem Kopf, intensiv genug, sie schon wieder die Blicke unsichtbarer, lauernder Augen spüren zu lassen, die sie aus dem Hinterhalt heraus beobachteten.
Arri rief sich in Gedanken zur Ordnung und zwang sich, sich langsam und sehr aufmerksam umzusehen. Der Wald war düster und kalt und feucht, aber das war auch schon alles. Niemand war da.
Solcherart beruhigt - wenn auch nicht so sehr, wie sie es sich gewünscht hätte -, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder den beiden Männern oben am Weg zu und stellte verärgert fest, dass Kron zwar mittlerweile gegangen war, der Schamane aber gar nicht daran dachte, ihr denselben Gefallen zu tun und wieder zu verschwinden. Im Gegenteil: Er blieb eine geraume Weile reglos und mit trotzig gespannten Schultern stehen und sah schließlich so genau in Arris Richtung, dass sie nahezu sicher war, er habe sie gesehen, unbeschadet des Umstands, dass sie tief in den Schatten des Waldes zurückgewichen war. Sein Blick suchte aufmerksam den Waldrand ab, nicht nur den Punkt, wo Arri stand, sondern auch den Bereich rechts und links davon, verharrte für eine geraume Weile auf der Hütte und kehrte dann wieder ziemlich genau zu der Stelle zurück, an der sich Arri verborgen hatte.
Sie überlegte ernsthaft, noch ein Stück tiefer in den Wald hineinzugehen und einen Bogen zu schlagen, um sich der Hütte so zu nähern, dass Sarn sie von seiner Position oben auf dem Weg nicht sehen konnte, doch der Schamane nahm ihr die Entscheidung ab. Schwer auf seinen Stock gestützt, kam er den abschüssigen Pfad herunter.
Einen Augenblick lang fand sie Gefallen an der Vorstellung, dass Sarn auf dem abschüssigen Weg den Halt verlieren, stürzen und sich den Hals brechen könnte, aber auch diesen Gefallen tat er ihr nicht. Er ging sehr langsam, und er hatte noch nicht die Hälfte des Weges zurückgelegt, als eine weitere Gestalt hinter ihm erschien. Im ersten Moment konnte Arri sie im Gegenlicht der bereits tief stehenden Sonne nur als schwarzen Schatten erkennen, der dem Schamanen folgte, und als Sarn, der offensichtlich seine Schritte gehört hatte, stehen blieb und sich zu ihm umdrehte, erkannte ihn auch Arri. Es war Grahl, Krons Bruder.
Gebannt und mit klopfendem Herzen sah sie zu, wie Grahl rasch auf den Schamanen zuging und einige wenige, von heftigen Gesten und einem fast wütenden Deuten und Winken begleitete Worte mit ihm wechselte. Schließlich deutete Grahl wieder zum Dorf hin, doch Sarn schüttelte entschieden den Kopf und vollführte eine befehlende Geste mit seinem Stock, indem er auf Arris Hütte wies. Grahl zögerte sichtbar, gab sich dann aber mit einem Schulterzucken geschlagen, und die beiden setzten nebeneinander ihren Weg in diese Richtung fort. Arri löste sich aus ihrem Versteck und folgte den beiden im Schutz der Bäume. Als die beiden Männer schließlich vor der Hütte angekommen waren, sah Arri mit wachsendem Ärger zu, wie der Schamane die Stufen zur Tür hinaufstieg und dann in der Hütte verschwand, dicht gefolgt von Grahl.
Vielleicht sollte sie froh sein, dass ihre Mutter nicht da war. Sarn und der Jäger waren gewiss nicht gekommen, um sich für die vergangene Nacht zu entschuldigen oder ihrer Mutter einen Freundschaftsbesuch abzustatten.
Was sollte sie nun tun? Einen Moment lang dachte sie ernsthaft daran, die letzten Schritte bis zur Hütte hinabzulaufen und die beiden unverschämten Eindringlinge zur Rede zu stellen, verwarf diesen Gedanken aber fast so schnell wieder, wie er ihr gekommen war. Bevor sie einen Entschluss fassen konnte, was sie als Nächstes tun sollte, tauchte der Schamane bereits wieder unter der Türöffnung auf und tastete sich mit seinem Stock vorsichtig die schmalen Stufen hinab, sodass sich Arri nur noch mit einem schnellen Sprung hinter dem nahen Holunderbusch in Sicherheit bringen konnte. Grahl folgte ihm nach einer Weile, die gerade lang genug andauerte, um Arri sicher sein zu lassen, dass er nicht nur einen schnellen Blick in die Runde geworfen, sondern die Hütte gründlich durchsucht hatte. Die beiden entfernten sich ein paar Schritte von der Stiege, dann blieb Sarn wieder stehen und deutete mit seinem Stock fordernd auf den Waldrand.
Arri wich vorsichtshalber ein paar Schritte tiefer in das Unterholz zurück, obwohl sie vollkommen sicher war, dass die beiden Männer sie nicht sehen konnten. Grahl und der Schamane stritten aufgeregt weiter miteinander, dann machte Sarn eine abschließende Geste, und Grahl fügte sich. Nebeneinander und so schnell, wie es der alte Mann gerade noch konnte, gingen sie am Eichentrog vorbei und steuerten den Waldrand an.
Arri drohte in Panik zu geraten. Im allerersten Augenblick war sie sicher, dass die beiden sie nicht nur gesehen hatten, sondern auch auf dem Weg zu ihr waren, um ihr irgendetwas Schreckliches anzutun. Dann endlich fiel ihr auf, dass sich Sarn gar nicht direkt auf sie zubewegte, und sie erkannte, wie unsinnig dieser Gedanke war. Wenn Sarn ihr etwas zu sagen hatte, dann würde er sie einfach zu sich befehlen.
Es fiel ihr nicht besonders schwer, schneller in die Schatten zurückzuweichen, als Sarn und Grahl sich dem Waldrand näherten, aber ihre Beunruhigung steigerte sich, als sie sah, wie die beiden in den Wald eindrangen, wobei Grahl sein Messer zu Hilfe nehmen musste, um einen Pfad für den greisen Schamanen frei zu hacken. Sarn stolperte dennoch mehr, als dass er ging, und ohne seinen Stock hätte er nicht einmal die ersten drei Schritte geschafft, ohne auf die Nase zu fallen. Arri fand die Vorstellung einigermaßen erbaulich, aber es gab ihr auch zu denken. Sarn war ein alter Mann; wenn er stürzte, dann war das für ihn ganz und gar nicht komisch. Er musste schon einen triftigen Grund haben, ein solches Wagnis auf sich zu nehmen.
Wie dieser Grund aussah, das wurde Arri in dem Moment klar, als sie sah, dass Grahl nicht nur den Blick gesenkt hatte, um einen Pfad für den Dorfältesten frei zu hacken. Grahl suchte etwas.
Eine Spur.
Arris ungutes Gefühl zerstob schlagartig zu reinem Entsetzen, als ihr klar wurde, dass Grahl der Spur ihrer Mutter folgte. Sie wusste nicht, warum sich ihre Mutter so heimlich davongemacht hatte, und das sogar, ohne auf ihr Winken zu reagieren; doch warum und immer sie es getan hatte, sie hatte ganz gewiss einen triftigen Grund dafür gehabt. Und wenn das, weswegen sie in den Wald gegangen war, schon nicht für ihre Augen bestimmt war, dann erst recht nicht für die des Schamanen.
Für die Dauer eines Herzschlags drohte sie in Panik zu geraten, dann aber zwang sie sich mit einer gewaltsamen Anstrengung zur Ruhe und erwog hastig alle Möglichkeiten, die ihr offen standen. Besonders viele waren es nicht. Sie konnte versuchen, Grahl und den Schamanen irgendwie abzulenken (was aber vermutlich vollkommen aussichtslos war), sie konnte jemanden um Hilfe bitten (aber wen? Kron vielleicht oder den blinden Schmied? Lächerlich!), und sie konnte versuchen, ihre Mutter irgendwie zu warnen. Da das ohnehin die einzige Möglichkeit war, die im Mindesten Erfolg versprach, entschloss sie sich für Letzteres.
Reglos und mit angehaltenem Atem wartete sie, bis die beiden ungleichen Männer an ihrem Versteck vorübergegangen waren, spähte gebannt in die Richtung, in die sie sich entfernten, und erinnerte sich voller Unbehagen daran, dass Grahl des Spurenlesens mindestens ebenso mächtig war wie sie selbst und vermutlich sogar um einiges besser. Schließlich war er Jäger und noch dazu einer der Besten, die der Stamm jemals hervorgebracht hatte. Hinzu kam, dass er vermutlich nicht einmal besonders begabt sein musste, um die Spur ihrer Mutter zu finden. Sie waren in den letzten Tagen so oft in diese Richtung gegangen, das es selbst für einen Mann mit weitaus weniger scharfen Augen ein Leichtes sein musste, ihrer Fährte zu folgen.
Immerhin hatte sie einen Vorteil: Sie ahnte, wohin sich ihre Mutter gewandt hatte, und war nicht darauf angewiesen, ihrer Spur zu folgen, und sie musste auch nicht auf einen uralten Greis Rücksicht nehmen, der fünf Schritte brauchte, wenn Grahl einen einzigen machte, und der mindestens bei zweien davon gestützt werden musste.
Arri ließ noch einige weitere Augenblicke verstreichen, bis sie ganz sicher war, dass sich die beiden tatsächlich außer Hörweite befanden, dann huschte sie los. Da sie darauf baute, dass Sarn den Jäger auch weiter so zuverlässig behindern würde wie bisher, ging sie das Wagnis ein, die beiden in großem Bogen zu umgehen, was sie zwar weitere Zeit kostete, die sie jedoch durch ihre größere Schnelligkeit und bessere Kenntnis des Waldes leicht wieder wettzumachen hoffte. Sie kam jedoch nicht annähernd so gut von der Stelle, wie sie gehofft hatte, denn auch sie musste immer wieder stehen bleiben und lauschen, um sicherzugehen, dass sie Grahl und seinem Begleiter nicht etwa ganz aus Versehen in die Arme lief.
Der Weg zur Lichtung war ihr noch nie so weit vorgekommen wie jetzt. Sie stieß unterwegs zwei- oder dreimal auf frische Spuren, die von ihrer Mutter stammten, und ihre Hoffnung stieg, dass Grahl einer älteren Fährte aufgesessen war, die zwar unweigerlich auch zur Lichtung führen musste, aber vielleicht nicht auf direktem Weg, sodass ihr ein wenig mehr Zeit blieb, um ihre Mutter zu warnen. Warum hatte sie nur das Risiko auf sich genommen, am helllichten Tag dorthin zu gehen?
Nach einer schieren Ewigkeit erreichte sie den Rand der kleinen Waldlichtung. Alles war ruhig. Von ihrer Mutter war weder etwas zu sehen noch zu hören, so wenig wie von Sarn und seinem Begleiter. Aber das konnte sich bald ändern. Arri war so schnell gelaufen wie sie konnte, doch sie hatte trotzdem viel Zeit verloren. Die beiden konnten nicht allzu weit hinter ihr sein. Unschlüssig sah sie sich um. Sie hatte fest damit gerechnet, ihre Mutter hier vorzufinden, und war nun zugleich erleichtert wie enttäuscht. Aber wenn sie nicht hier war, wo dann?
Als ob sie die Antwort nicht wüsste. Arri sah mit klopfendem Herzen zum gegenüberliegenden Rand der Lichtung und noch einmal über die Schulter zurück. Sie glaubte die Stimmen Grahls und des Schamanen bereits zu hören, was vielleicht Einbildung war. Aber sie hatte keine Zeit, hier herumzustehen und zu trödeln!
Entschlossen straffte sie die Schultern und machte sich daran, die Lichtung mit schnellen Schritten zu überqueren. Obwohl ihr die Zeit unter den Nägeln brannte, nahm sie den kleinen Umweg in Kauf und ließ ihren Blick auch über die Felsen schweifen, die die Quelle umgaben, nur um sicher zu sein, dass sich ihre Mutter nicht dahinter verbarg - warum auch immer sie das hätte tun sollen. Fast widerstrebend steuerte sie dann das gegenüberliegende Ende der Lichtung an. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass es im angrenzenden Verbotenen Wald rein gar nichts Unheimliches oder gar Gefährliches gab, und sie glaubte ihr - schließlich hatte sie ihn in ihrer Begleitung mittlerweile mehrmals durchquert. Dennoch machte ihr der bloße Anblick Angst. Die Gräuelgeschichten über diesen Teil des Waldes, die sie ihr Leben lang gehört hatte, und der Schatten, den sie vorhin ganz in der Nähe des Heiligtums gesehen hatte, verdichteten sich zu einem Gefühl purer Beunruhigung.
Ihre Schritte wurden immer langsamer, je näher sie dem Waldrand kam, und vielleicht wäre sie tatsächlich stehen geblieben und hätte sogar kehrtgemacht, wäre ihr nicht plötzlich etwas aufgefallen. Nahezu genau dort, wo die ersten Buchen standen, gewahrte sie einen geknickten Ast, nicht weit daneben ein niedergedrücktes Mooskissen...
Arri versuchte die Augen vor dem Offensichtlichen zu verschließen, aber es half nichts: Es war eine Spur. Eine Spur, die zweifellos ihre Mutter hinterlassen hatte, als sie unvorsichtig - vielleicht in großer Eile? - in den Wald eingedrungen war.
Arri machte sich nichts vor - wenn sie diese Spur sah, dann musste Grahl sie erst recht entdecken. Sie verstand nicht, wieso ihre Mutter so leichtsinnig gewesen war, eine so deutlich sichtbare Spur zu hinterlassen. Hatte nicht ausgerechnet sie ihr immer wieder eingeschärft, wie wichtig es war, das Geheimnis zu wahren, das hinter diesem verbotenen Wald verborgen lag?
Es gab im Grunde nur zwei Erklärungen: Ihre Mutter begann leichtsinnig zu werden - was Arri gerade nach der vergangenen Nacht wenig wahrscheinlich erschien -, oder sie hatte es wirklich verdammt eilig gehabt...
Irgendwo auf der anderen Seite der Lichtung raschelte es. Arri fuhr erschrocken herum und atmete im nächsten Augenblick erleichtert auf, als sie sah, dass es nur ein Schwarm Vögel war, der sich lärmend aus einer Baumkrone erhob. Ihre Erleichterung hielt aber nur einen winzigen Moment vor; gerade so lange, wie sie brauchte, um zu begreifen, dass diese Vögel bestimmt nicht von ungefähr aufgeflogen waren.
Ihre Verfolger waren ihr dicht auf den Fersen.
Arri wies auch die letzten Bedenken von sich, die die Vorstellung in ihr auslöste, sich ganz allein einen Weg zwischen den mächtigen Eichen und Buchen zu bahnen, wo frisches Tannengrün, dichte Büsche und hüfthohes Gras wie ein natürlicher Schutzwall wucherten und ein paar unüberlegte Schritte nur zu schnell in den Sumpf führen mochten, vor dem ihre Mutter sie eindringlich gewarnt hatte. So schnell sie nur konnte, folgte sie der Spur, die ihre Mutter hinterlassen hatte. Es fiel ihr nicht besonders schwer. Obwohl es mit jedem Schritt, den sie tiefer in den Wald eindrang, dunkler zu werden schien, verlor sie die Fährte, die den Weg ihrer Mutter markierte, kein einziges Mal. Nach einer Weile gab es keinen Zweifel mehr: Ihre Mutter war auf dem Weg zu den Pferden.
Arris Besorgnis wuchs. Sie beschleunigte ihre Schritte, um ihren Vorsprung vor den beiden Männern auszubauen, obwohl sie dadurch Gefahr lief, ein Hindernis zu übersehen und zu stürzen oder sich anderweitig zu verletzen. Sie hatte noch nicht einmal einen nennenswerten Bruchteil der Entfernung zum anderen Rand des Verbotenen Waldes zurückgelegt, als sie eine Bewegung vor sich wahrzunehmen glaubte und einen Moment später ein Geräusch hörte. Abrupt hielt sie mitten im Lauf inne und wäre vom Schwung ihrer eigenen Bewegung um ein Haar aus dem Gleichgewicht gerissen worden.
Im letzten Moment fand sie an einem Baumstamm Halt, schloss für einen Moment die Augen und wartete, bis sich ihr Herzschlag wenigstens so weit wieder beruhigt hatte, dass sein dumpfes Hämmern nicht jeden anderen Laut übertönte. Sie hob die Lider und blinzelte in das schattenerfüllte Halbdunkel vor sich. In ihren Ohren rauschte das Blut noch immer so laut, dass sie gar nicht erst versuchte, etwas anderes zu hören, aber nun sah sie wenigstens die Bewegung wieder: Etwas Helles regte sich im Unterholz, direkt hinter einem mannshohen Gebüsch, kaum eine Armeslänge vor ihr, und sie spürte die Nähe von jemand anderem mehr, als dass sie ihn sah oder hörte. Ohne ihre aufgewühlten Gedanken unter Kontrolle zu bringen, bewegte sie sich direkt darauf zu, obwohl ihr eine Stimme immer drängender zuflüsterte, dass sie sich sofort umdrehen und so schnell wie möglich weglaufen sollte...
Im nächsten Augenblick war sie sehr froh, nicht darauf gehört zu haben.
Zunächst erkannte Arri nur die Stimme, obwohl ihre Mutter gar nichts sagte, sondern nur ein tiefes, lang anhaltendes Seufzen hören ließ, dann bewegte sie sich vorsichtig weiter, ließ sich vor dem dornigen Gebüsch in die Hocke sinken und bog unendlich behutsam die Zweige auseinander.
Nein, sie hatte sich nicht getäuscht. Es war ihre Mutter, und sie war nicht allein.
Auf der anderen Seite des Gebüschs befand sich eine freie Stelle am Waldboden, auf dem Moos und wuchernde Flechten fast so etwas wie eine natürliche Lagerstatt bildeten. Ihre Mutter lag nackt auf dem Rücken auf diesem weichen Bett und hatte die Beine um die Hüften einer muskulösen, dunkelhaarigen Gestalt geschlungen, die auf ihr lag und sich langsam und rhythmisch vor und zurück bewegte. Arri konnte das Gesicht des Mannes in dem schattigen Halbdunkel nicht erkennen, aber zweifellos war es niemand anderes als Rahn (wer sollte es sonst sein?), den sie nun das zweite Mal zusammen mit ihrer Mutter überraschte. Nur, dass es Lea diesmal nicht annähernd so unangenehm zu sein schien wie vor ein paar Nächten in ihrem Haus. Ganz im Gegenteil: Ihr Seufzen und Stöhnen wurde immer heftiger (und es waren ganz eindeutig keine Schmerzenslaute), und ihre Schenkel umklammerten Rahns Leib mit immer größerer Kraft. Ihre Hände gruben sich so fest in seinen Rücken, dass ihre Fingernägel blutige Schrammen auf seiner Haut hinterließen.
Arri bog die Äste vorsichtig noch ein wenig weiter auseinander, um besser sehen zu können, obwohl sie kein gutes Gefühl dabei hatte. Durch das nahezu vollkommen geschlossene Blätterdach des Waldes drang nur sehr wenig Licht, sodass sie kaum mehr als Schemen wahrnahm; zwei ineinander verschlungene Leiber, die sich jetzt immer schneller und hektischer bewegten, im gleichen Maße, wie auch das Seufzen ihrer Mutter zunahm und Rahns Atemzüge schneller und schärfer wurden.
Es war sonderbar. Der Anblick war Arri ebenso peinlich, wie er sie auch in den Bann schlug und es ihr fast unmöglich machte, sich von ihm zu lösen. Sie wollte das nicht sehen, nicht bei ihrer Mutter, und dennoch saugte sich ihr Blick beinahe gierig an jeder Bewegung fest, löste das, was sie eigentlich viel mehr erahnte als sah, doch eine sonderbare Sehnsucht in ihr aus; ein Sehnen nach etwas, das sie gar nicht kannte und auf das sie doch zeit ihres Lebens gewartet hatte, ohne es bis zu diesem Moment auch nur zu wissen.
Nach jener Nacht, in der sie Lea und Rahn überrascht hatte, hatte ihre Mutter ihr geduldig und in aller Ausführlichkeit erklärt, was sie da eigentlich gesehen hatte, und sie hatte geglaubt, es auch verstanden zu haben. Aber das stimmte nicht. Sie hatte die Worte verstanden, aber nicht, was sie bedeuteten. Jetzt verstand sie es, aber zugleich wuchs ihre Verstörtheit ins Unermessliche. Was sie sah, wurde ihr mit jedem Atemzug peinlicher, aber auch das Sehnen und Wünschen in ihr nahm zu; wenngleich auf eine erschreckende, verbotene Weise.
Das Ringen stöhnender Schatten ging weiter, und plötzlich warf sich ihre Mutter herum, schob Rahn von sich und glitt mit einer fließenden Bewegung hoch, bis sie rittlings auf ihm saß und mit einem Seufzen, das schon fast wie ein kleiner Schrei klang, den Kopf in den Nacken warf. Ihre Augen waren geschlossen, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, der irgendwo zwischen höchster Verzückung und abgrundtiefer Qual zu schwanken schien, aber sie hatte das Gesicht jetzt genau in Arris Richtung gedreht, und wenn sie die Augen auch nur um einen winzigen Spalt öffnete, dann musste sie sie einfach sehen.
Vorsichtig ließ Arri den Zweig wieder an seinen Platz zurückgleiten, bewegte sich dann in der Hocke zwei, drei Schritte weit zurück und stand lautlos auf - was im Grunde wenig Sinn ergab, denn Leas Keuchen und Seufzen musste mittlerweile weithin hörbar sein -, und sie wich auch dann noch einmal ein gutes Stück auf Zehenspitzen und mit angehaltenem Atem zurück, bevor sie es auch nur wagte, sich umzudrehen und hörbar aufzuatmen.
Ihre Wangen glühten, und ihr Herz schlug als bitterer, harter Kloß direkt in ihrem Hals. All ihre Gedanken und Gefühle befanden sich in hellem Aufruhr. Sie wollte nur noch weg von hier, so weit und so schnell weg, wie sie nur konnte, aber zugleich wurde die Faszination des Verbotenen, Verruchten, das sie gesehen und getan hatte, immer stärker. Sie musste...
... ihre Mutter und Rahn warnen. Sarn und sein Führer konnten nicht mehr allzu weit entfernt sein, und es konnte nicht mehr allzu lange dauern, bis sie Rahn und ihre Mutter hörten. Arri hätte selbst nicht sagen können warum, aber sie wusste einfach, dass es zu einer Katastrophe führen würde, wenn Sarn Lea und den Fischer miteinander sah.
Sie drehte sich vollends herum, und ein eisiger Schauer rann ihr über den Rücken, als ihr klar wurde, dass Sarn sie unweigerlich finden musste und dass niemand anderes als sie daran schuld war.
Sie hatte sich Sorgen gemacht, dass Grahl der Spur ihrer Mutter folgen würde. Aber das war gar nicht mehr nötig. In ihrem Bemühen, ihre Mutter möglichst schnell zu finden und zu warnen, war sie vollkommen rücksichtslos durch Gestrüpp und Unterholz gebrochen und hatte ihrerseits eine Fährte hinterlassen, wie sie breiter und auffälliger kaum sein konnte. Der Jäger musste schon blind sein, um die Spur aus zertrampeltem Moos, abgebrochenen Ästen und geknickten Zweigen zu übersehen, die ihren Weg hierher markierte.
Arris Gedanken überschlugen sich. Sie wusste nicht, wie weit Grahl und der Dorfälteste noch hinter ihr waren, doch es konnte nicht mehr allzu weit sein. Was sollte sie tun?
Sie spielte mit dem Gedanken, ihre Mutter und Rahn zu warnen. Aber es war tatsächlich nur ihr allererster Gedanke. Sie zweifelte nicht daran, dass ihre Mutter mit der Situation fertig werden würde - und nötigenfalls auch mit Grahl und dem Schamanen -, aber das Allerletzte, was ihre Mutter jetzt gebrauchen konnte, war eine weitere, offene Konfrontation mit Sarn. Und letzten Endes war sie nicht ganz unschuldig daran, dass es überhaupt so weit gekommen war. Warum hatte sie nicht viel früher reagiert und Sarn und den Jäger aufgehalten oder irgendwie abgelenkt, noch bevor sie überhaupt die Verfolgung ihrer Mutter aufgenommen hatte?
Arri warf einen raschen, fast gequälten Blick über die Schulter auf das Gebüsch zurück, hinter dem noch immer die keuchenden Atemzüge Rahns und ihrer Mutter hörbar waren, dann kam sie zu einem Entschluss. Rasch wandte sie sich um und ging auf ihrer eigenen Spur zurück, die die ihrer Mutter tatsächlich zum größten Teil überdeckte und fast unkenntlich machte.
Sie musste nicht allzu weit gehen. Schon nachdem sie zwei oder drei Dutzend Schritte zurückgelegt hatte, hörte sie vor sich Geräusche - das Brechen von Zweigen, Schritte auf dem weichen, mit Moos bedeckten federnden Boden und eine gedämpfte, misstönende Stimme, die sie zweifelsfrei als die des Schamanen erkannte. Arri erschrak. Hatte sie so lange dagesessen und ihre Mutter und Rahn beobachtet?
Ihr blieb keine Zeit, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Ein Schatten tauchte vor ihr auf und wurde zu der breitschultrigen Gestalt des Jägers, zu der sich nur einen Augenblick später auch der Schamane gesellte. Arri hätte nicht sagen können, wer von beiden erschrockener war, aber Sarn sah eindeutig zornig aus, kaum, dass er sie erkannt hatte. Abrupt verhielt er mitten im Schritt, zog die Augenbrauen zusammen und fuhr sie übergangslos an: »Was suchst du hier? Wo ist deine Mutter?«
Es lag Arri auf der Zunge zu antworten, dass ihn das nichts angehe, doch sie beherrschte sich im letzten Moment. Sarn war auch jetzt schon wütend genug, ohne dass sie ihn noch weiter reizen musste.
»Ich suche sie ebenfalls«, antwortete sie, die Überraschte spielend. »Ich dachte, sie wäre hier, aber ich habe sie nicht gefunden.« Sie machte eine Kopfbewegung in den Wald hinter sich und sprach ganz bewusst mit leicht veränderter Stimme weiter; nicht einmal wirklich lauter, aber in jener hellen, durchdringenden Tonlage, vor der ihre Mutter sie eindringlich gewarnt hatte, weil man sie ganz besonders weit hörte, selbst wenn man nicht besonders laut sprach. Wenn ihre Mutter nicht ganz in einem Strudel aus Leidenschaft versunken war, würde sie ihre Stimme hören und entsprechend handeln. Unglückseligerweise war Arri sich in diesem Fall ganz und gar nicht sicher, was ihre Mutter unter entsprechend handeln verstehen würde, wenn sie begriff, dass Sarn und der Jäger ihr nachgeschlichen waren.
Oder auch ihre eigene Tochter...
Doch sie hatte gar keine andere Wahl, als es darauf ankommen zu lassen.
»Der Wald wird dort hinten immer dichter«, fuhr sie fort. »Ich hatte Angst, mich zu verirren. Außerdem ist es hier sumpfig.« Sie zögerte einen ganz kurzen, genau berechneten Moment und fuhr mit einem schiefen Lächeln fort: »Und es ist... seltsam hier. Meine Mutter hat mir erzählt, dass es hier Ungeheuer und böse Geister gibt.«
Sarn zog eine Grimasse. »Ja, das sagt man«, murmelte er. Das misstrauische Funkeln in seinen vom Alter trüb gewordenen Augen legte sich kein bisschen. »Aber wenn es so ist, dann frage ich mich, was deine Mutter hier verloren hat. Es sei denn, sie ist mit diesen bösen Geistern im Bunde.«
Arri lächelte unerschütterlich weiter. Grahl sagte gar nichts, aber sein Blick tastete aufmerksamer und misstrauisch das Dunkel hinter ihr ab. »Sie wollte in den Wald gehen, um Kräuter zu suchen«, sagte sie. »Es sind eine Menge Verletzter zu versorgen, und sie muss neue Medizin herstellen.«
»Und die sucht sie ausgerechnet hier, im Verbotenen Wald?«, fragte Sarn misstrauisch.
Arri zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich dachte, ich finde sie hier, aber ich habe ihre Spur verloren.« Sie ließ abermals eine winzige Zeitspanne verstreichen und fügte dann in leicht schuldbewusstem Ton hinzu: »Wahrscheinlich habe ich mich getäuscht. Weiter als bis zur Lichtung sind wir eigentlich nie gegangen. Meiner Mutter ist dieser Wald auch nicht geheuer.«
Grahls Gesichtsausdruck nach zu schließen erging es ihm ganz genauso, und auch Sarn wirkte unruhig, auch wenn Arri nicht sicher war, ob es nicht zum allergrößten Teil Zorn war, den sie in seinen Augen las. Ihr fiel allerdings auch noch etwas auf: als sie das Wort Spur aussprach, wurde Grahls Blick eindeutig misstrauischer. Seine Augen tasteten sich an der tatsächlich schwer übersehbaren Fährte entlang, die Arri selbst hinterlassen hatte, und für einen winzigen Moment erschien ein sehr nachdenklicher Ausdruck darin. Dann aber wandte er zu ihrer Erleichterung den Blick ab, zuckte mit den Achseln und starrte sie an. Er gab sich Mühe, möglichst gelangweilt zu wirken, aber im Grunde, das spürte Arri, war ihm die Situation einfach nur unangenehm.
»Du lügst doch, du unverschämtes Balg«, behauptete Sarn. »Jetzt sag die Wahrheit! Was sucht deine Mutter, die Hexe, gerade hier?«
»Kräuter«, antwortete Arri mit einer Ruhe, die sie selbst überraschte. Aber obwohl sie wusste, dass es nicht besonders klug war, konnte sie nicht anders, als hinzuzufügen: »Sie braucht eine Menge Heilkräuter, um den Menschen im Dorf zu helfen. Es sind so viele Verletzte, und sie ist ganz allein.«
Sarn japste hörbar nach Luft und sah einen Moment lang so wütend aus, dass Arri allen Ernstes darauf wartete, dass er sich auf sie stürzte und sie schlug, während Grahl einen Atemzug lang einfach nur verblüfft wirkte und dann alle Mühe hatte, nicht breit zu grinsen. Vielleicht war es an der Zeit, die Wogen wieder ein wenig zu glätten.
»Du könntest mir helfen, nach meiner Mutter zu suchen«, wandte sie sich direkt an den Jäger. »Je schneller sie im Dorf ist, desto rascher kann sie ein neues Heilmittel herstellen, um die Verwundeten zu versorgen.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf Grahls Hände, auf denen eine ganze Anzahl hässlicher, frischer Brandblasen glänzten. »Du hast ja auch etwas abgekriegt, wie ich sehe.«
»Ja, und es ist nur Mardans Gnade zu verdanken, dass es nicht noch mehr und schlimmere Opfer gegeben hat«, lamentierte Sarn. »Wir alle hätten zu Tode kommen können, nur weil deine Mutter ihr Gift in die Köpfe zweier kranker Männer gepflanzt hat.«
Er fuchtelte aufgebracht mit seinem Stab herum, wie um seinen auf so abrupte Weise unterbrochenen Auftritt von vergangener Nacht fortzusetzen, und Arri wich unauffällig einen halben Schritt zurück, nur falls er etwa auf die Idee käme, erneut mit seinem Stock auf sie loszugehen.
»Wenn du wirklich nach deiner Mutter suchst, warum rufst du nicht einfach nach ihr?«, erkundigte sich Grahl. Er sah sie an, als wolle er ihr unauffällig etwas signalisieren, aber sie verstand nicht, was. Hatte er das etwa nur gesagt, um sie zu unterbrechen und sie auf diese Weise zu beschützen? Seltsam - sie war in den letzten Tagen der Meinung gewesen, dass Grahl vollkommen auf Sarns Seite stand.
Aber vielleicht bildete sie sich auch nur ein, etwas zu sehen, was sie unbedingt sehen wollte.
»Ich... ich weiß nicht«, sagte sie ausweichend. Das verlegene Lächeln, das sich dabei auf ihr Gesicht schlich, musste sie nicht schauspielern. »Ich meine... meine Mutter hat mir verboten, in diesen Teil des Waldes zu gehen und... und vielleicht gibt es hier ja tatsächlich Geister und... und andere Dinge. Dinge, die man besser nicht weckt.«
Sarn machte ein verächtliches Geräusch. »Vielleicht treibt sie hier aber auch nur Dinge, die niemand von uns sehen soll«, sagte er böse, womit er der Wahrheit ziemlich nahe kam, wenn auch in vollkommen anderem Sinne, als er annehmen mochte.
Wieder war es zu ihrem Erstaunen Grahl, der ihr zu Hilfe kam. »Vielleicht hat das Mädchen Recht.« Sarn schenkte ihm einen bösen Blick, doch der Jäger fuhr mit einem verkrampften Lächeln fort. »Es stimmt, was man sich über diesen Wald erzählt. Hier geschehen seltsame Dinge. Ich selbst habe des Nachts unheimliche Lichter gesehen, die zwischen den Bäumen brannten. Und man sagt, dass gefährliche Kreaturen ihr Unwesen treiben, die einen in den Sumpf locken, bis man im Morast versinkt und erbärmlich verreckt. Wir sollten... vielleicht nicht weitergehen.«
»Hast du Angst?«, fragte Sarn verächtlich.
»Jeder Jäger weiß, dass es Momente gibt, in denen man mit Vorsicht weiterkommt statt mit falschem Mut.« Grahl machte eine unschlüssige Geste an Arri vorbei. »Es ist schwer, bei diesem Licht einer Spur zu folgen.«
Sarns Gesicht wurde noch missmutiger, und Arri fragte sich, ob der Jäger den Bogen nicht überspannte. Die Spur, die sie selbst in den Wald getrampelt hatte, war so breit, dass selbst Sarn sie sehen musste. Dennoch nickte er schließlich widerwillig.
»Also gut«, sagte er. »Aber damit ist die Sache nicht erledigt. Sag deiner Mutter, dass ich mit ihr zu sprechen habe. Noch heute.«
Arri schluckte die patzige Antwort herunter, die ihr auf der Zunge lag, und beließ es bei einem bloßen trotzigen Blick; schon, weil Sarn dies vermutlich von ihr erwartete und allerhöchstem misstrauisch werden würde, wenn sie plötzlich zu gefügig wurde.
Sarn drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort, und auch Grahl schloss sich ihm an, allerdings nicht, ohne Arri noch einen weiteren dieser sonderbaren Blicke zugeworfen zu haben. Arri sah ihm sehr nachdenklich hinterher. Sie wurde nicht schlau aus dem Jäger. Er gehörte zu den Wenigen im Dorf, zu denen ihre Mutter bisher ein einigermaßen gutes Verhältnis gehabt hatte. Selbst nach Krons Unglück hatte er sich mehr oder weniger offen auf ihre Seite gestellt, und nun schien er erst Sarns treuester Verbündeter zu sein, um dann in gleichem Maße doch wieder von ihm abzurücken.
Wenigstens hatte sie das bis vor ein paar Augenblicken noch gedacht.
Es war verwirrend. Der Machtkampf, der zwischen ihrer Mutter und dem Schamanen seit dem Tag ihrer Ankunft im Dorf tobte, war nun ganz offen ausgebrochen, aber er wurde anscheinend nach sehr viel undurchsichtigeren Regeln ausgetragen, als Arri verstand.
Vielleicht wollte sie sie auch gar nicht verstehen.
Sie wartete, bis sie ganz sicher war, dass die beiden auch wirklich gegangen waren und sich nicht etwa nur ein paar Schritte weit entfernt hatten, um sie zu beobachten; dann drehte sie sich um, machte einen einzelnen Schritt und blieb dann wieder stehen. Ein ärgerlicher Ausdruck huschte über ihr Gesicht, als sie das Knacken eines Zweiges hinter sich vernahm, aber dieser Ärger galt ausschließlich ihr selbst. Sie war sicher gewesen, dass Sarn und der Jäger tatsächlich gegangen waren, aber ganz offensichtlich hatte sie sich getäuscht. Sie war zu vertrauensselig - auch sich selbst gegenüber - und was sie über ihre Mutter gedacht hatte, das schien für sie selbst erst recht zu gelten: Sie begann Fehler zu machen. Und das war nicht gut. Ärgerlich fuhr sie auf dem Absatz herum...
... und riss erstaunt die Augen auf.
Nur wenige Schritte hinter ihr war tatsächlich eine Gestalt hinter einem Baum hervorgetreten, aber es war weder Sarn noch der Jäger, sondern...
»Rahn?«, murmelte sie überrascht. »Was... ich meine wie...« Sie brach ab, fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und unterdrückte im letzten Moment den Impuls, einen Blick über die Schulter zurückzuwerfen. »Was tust du denn hier?«, fragte sie schließlich.
Die Frage schien Rahn zu überraschen. »Das, was deine Mutter mir aufgetragen hat«, antwortete er. »Ich passe auf, dass dir nichts passiert.«
Arri starrte ihn nur weiter an, und das offenbar so verständnislos, dass Rahn sich genötigt sah, einen Schritt auf sie zuzutreten und mit einer erklärenden Geste in die Richtung fortzufahren, in die Grahl und der Schamane verschwunden waren. »Ich war die ganze Zeit in deiner Nähe, keine Angst. Wenn Grahl auch nur versucht hätte, dir ein Haar zu krümmen...« Er überließ es ihrer Phantasie, sich auszumalen, was dann geschehen wäre, legte den Kopf schräg und fuhr fort: »Ich dachte nur, es wäre besser, wenn ich mich nicht zeige.«
»Du... du warst... die ganze Zeit über hier?«, vergewisserte sich Arri.
»Ich weiß, was du sagen willst«, sagte Rahn. »Eigentlich hätte er mich hören müssen, unser großer Jäger und Spurenleser. Vielleicht ist es mit seinen Fähigkeiten ja doch nicht so weit her, wie er immer behauptet.« Er lachte leise. »Wer weiß - vielleicht ist das ja auch der Grund, aus dem er sich plötzlich so bei Sarn Liebkind macht.«
Und was ist der Grund, aus dem du dich bei meiner Mutter Liebkind machst?, dachte Arri. Sie sprach es nicht aus - sie war ja schließlich nicht verrückt -, aber Rahn bemerkte immerhin ihr Schweigen, auch wenn er es falsch deutete.
»Du brauchst wirklich keine Angst zu haben.« Er klang ein wenig beleidigt. »Deine Mutter hat mir aufgetragen, auf dich Acht zu geben, und das tue ich.« Ein schmutziges Grinsen erschien auf seinem Gesicht, und Arri bemerkte erst jetzt, dass er einen fast armlangen Knüppel in der rechten Hand hielt, den er jetzt schwungvoll in die geöffnete Linke klatschen ließ.
Dennoch fiel es ihr schwer, sich auf Rahns Worte zu konzentrieren. »Und du warst wirklich die ganze Zeit über in meiner Nähe?«, vergewisserte sie sich.
»Ja«, behauptete Rahn unwillig, schlug sich noch einmal mit dem Stock in die geöffnete Linke und schränkte dann ein: »Beinahe, jedenfalls. Ich habe gesehen, wie du im Wald verschwunden bist, und dann sind Grahl und der Dorfälteste dir nach. Also habe ich sie verfolgt.«
Arri spürte, dass er die Wahrheit sagte. Aber wenn es so war, dachte sie verwirrt - dann erklärte es vielleicht, wessen Schatten ihr in der Nähe des Heiligtums einen Schrecken eingejagt hatte. Aber wer war dann der Mann, den sie gerade zusammen mit ihrer Mutter gesehen hatte?