Es verging noch eine geraume Weile, bis sich ihre Mutter endlich umdrehte und zu ihr zurückkam. »Du kannst herunterkommen. Es ist alles in Ordnung. Wir können heute Nacht hier bleiben.«
»Und das hat so lange gedauert?«, erwiderte Arri. »Ich dachte, diese Leute wären deine Freunde.«
»Das sind sie auch«, sagte Lea unwirsch. »Aber das heißt nicht, dass man unangemeldet und zu jeder Zeit einfach zu ihnen kommen kann.«
Das verwirrte Arri nun völlig. Das Gesetz der Gastfreundschaft war heilig. Nicht einmal Sarn, da war sie sicher, würde einen Fremden abweisen, der zu ihm kam und um eine Mahlzeit und Obdach für eine Nacht bat. Aber sie schluckte die entsprechende Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, herunter, und als sie umständlich und steif gesessen von dem ganzen Tag auf dem Kutschbock vom Wagen kletterte, fuhr ihre Mutter von selbst und in hörbar besorgtem Ton fort: »Wir sind nicht die ersten Gäste, die heute gekommen sind. Diese Menschen sind vorsichtig.«
Arri sah ihre Mutter fragend an, aber diesmal bekam sie keine Antwort. Stattdessen bedeutete ihr Lea mit einer knappen Geste, ihr zur Hand zu gehen, während sie die Pferde abschirrte. Nachdem sie damit fertig waren, nahm sie die Zügel der Tiere und führte sie nach links in die Dunkelheit hinein, fort von der offen stehenden Tür, in der der Mann, mit dem sie geredet hatte, noch immer stand und sie beobachtete. Arri folgte ihrer Mutter, schon, weil ihr diese schattenhafte Gestalt unheimlich war - und vor allem wegen des Wolfes! -, und all ihre Zweifel zerstreuten sich, als ihr schon nach wenigen Schritten klar wurde, dass Lea sich hier tatsächlich auskannte.
In der fast völligen Dunkelheit führte sie die Pferde um das Haus herum und zu einer niedrigen, aber sehr breiten Tür auf seiner Rückseite, die mit einem schweren Balken verschlossen war. Sie gebot Arri mit einer Kopfbewegung, ihr zu öffnen, und nachdem es dieser mit einiger Mühe gelungen war, hakte sie den Fuß um einen der Türflügel und zog ihn auf. Dahinter lag ein dunkler Raum unbekannter Größe, aus dem ihnen ein intensiver, aber nicht unbedingt unangenehmer Tiergeruch entgegenschlug; nicht nur der vertraute Geruch nach Kühen und Ziegen, sondern auch ein anderer, an den sich Arri in den zurückliegenden Tagen so sehr gewöhnt hatte, dass er ihr nicht mehr fremd erschien, obwohl er es im Grunde war: der Geruch nach Pferden. Der dunkle Raum, in den Lea die beiden Tiere am Zügel hineinführte, diente offensichtlich als Pferdestall.
Das war so ungewöhnlich wie das Haus selbst. Offensichtlich war ihre Mutter doch nicht die Einzige, die wusste, dass Pferde nicht nur herrlich anzusehende Geschöpfe waren, sondern auch von großem Nutzen. Sie fragte sich, wer dieses Geheimnis eigentlich von wem erfahren hatte, aber ihre Neugier ging nicht so weit, ihrer Mutter ins Innere des Stalls zu folgen. Leute, die Wölfe und Pferde hielten, mochten auch noch für ganz andere, viel unangenehmere Überraschungen gut sein.
Sie musste auch nicht lange warten. Lea kehrte schon nach wenigen Augenblicken zurück, schloss wortlos die Tür und legte ebenso wortlos den Balken wieder vor. Arri sah mit einem kurzen, aber heftigen Anflug von absurdem Neid, wie mühelos sie den schweren Stamm handhabte, unter dessen Gewicht sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.
»Was sind das für Leute?«, fragte sie, während sie ihrer Mutter zurück zum Wagen folgte.
»Freunde«, antwortete Lea, wenn auch in einem Ton, der diesem Wort eine Menge von seinem warmen Klang nahm. »Trotzdem solltest du vorsichtig sein. Sprich mit niemandem und sag nichts, es sei denn, ich erlaube es dir.«
»Aber ich spreche ihre Sprache doch sowieso nicht«, antwortete Arri.
Ihre Mutter lachte kurz. »Oh, sie sprechen die gleiche Sprache wie wir, ungefähr wenigstens. Targan macht sich nur manchmal einen Spaß daraus, Fremde in einem Kauderwelsch zu begrüßen, das er sich wahrscheinlich selbst ausgedacht hat.«
»Aha«, machte Arri. Das klang genauso hilflos, wie sie sich nach der Antwort ihrer Mutter fühlte, und Lea lachte noch einmal, und diesmal echt. »Du wirst schon sehen. Aber jetzt hilf mir. Es sei denn, du bist ganz versessen darauf, noch länger hier draußen in der Kälte zu bleiben, statt an einem warmen Feuer zu sitzen und dich satt zu essen.«
Sie hatten den Wagen wieder erreicht. Lea lud sich zwei der schweren Bündel, die darauf lagen, auf die Schultern und reichte Arri das dritte, leichteste; was nicht hieß, dass es leicht war. Arri taumelte unter dem Gewicht des Gepäckstücks und musste rasch einen Schritt zur Seite machen, um nicht vollends das Gleichgewicht zu verlieren. Der Tag, den sie auf dem Wagen zugebracht hatte, hatte sie mindestens genauso viel Kraft gekostet, als wäre sie die ganze Strecke zu Fuß gegangen. Targan machte zwar einen gemächlichen Schritt zur Seite, um sie und ihre Mutter ins Haus zu lassen, rührte aber keinen Finger, um ihnen ihre Last abzunehmen, obwohl er ganz so aussah, als könne er sich alle drei Bündel auf eine Schulter laden, ohne ihr Gewicht auch nur zu spüren.
Dennoch atmete Arri so hörbar erleichtert auf, dass es ihr fast selbst peinlich war, als sie hinter ihrer Mutter durch die Tür trat.
Das Allererste, was sie spürte, war die Wärme. Die Luft hier drinnen war so rauchgeschwängert und stickig, dass sie anfangs das Gefühl hatte, kaum atmen zu können, aber sie spürte auch plötzlich, wie kalt es draußen geworden war. Ihr Gesicht und ihre Finger und Zehen fühlten sich an, als wären sie mit einer dünnen Schicht aus Eis überzogen.
»Legt eure Sachen einfach ab«, sagte Targan. »Ich kümmere mich schon darum.«
Arri gehorchte zwar, froh, das Gewicht des sperrigen Bündels los zu sein, setzte aber praktisch im gleichen Moment den Fuß darauf und sah ihre Mutter fragend an. Auch Lea hatte sich ihrer Last entledigt und wirkte so erleichtert, als hätte sie sie den ganzen Weg hierher auf den Schultern getragen und nicht nur wenige Schritte weit. Sie erwiderte Arris Blick auf eine besondere Art, aber in ihren Augen blitzte es fast spöttisch auf, was sie nicht verstand.
»Nimm es ruhig mit, wenn du Angst um dein Bündel hast«, sagte Targan belustigt. »Du kannst es aber auch hier lassen, und einer meiner Söhne kümmert sich darum, dass es sicher verwahrt wird - es sei denn, in dem Beutel da ist etwas, wovon du dich auf keinen Fall trennen kannst.«
Verwirrt sah Arri den großen Mann an. Zum ersten Mal konnte sie Targans Gesicht erkennen, aber es war ihr nicht möglich, ihn wirklich einzuschätzen. Er war tatsächlich noch größer, als sie geglaubt hatte, dabei aber so massig, dass seine Größe kaum auffiel. Sein Haar war so kurz geschoren, dass er fast kahlköpfig wirkte, und Arri hatte noch nie einen Mann mit so schmutzigem Gesicht und Händen gesehen. Auf den allerersten Blick machte er einen fast grimmigen Eindruck, aber er wirkte gleichzeitig auch auf eine schwer in Worte zu fassende Weise freundlich; ein Riese, der aussah, als zerbräche er manchmal nur zum Zeitvertreib Baumstämme, könne aber zugleich auch keiner Fliege etwas zuleide tun. Arri sah rasch zu ihrer Mutter hin, dann wieder in Targans Gesicht. Sie überlegte, ob sich in seiner vermeintlich scherzhaften Bemerkung vielleicht eine Anspielung verbarg, denn das Bündel, das ihre Mutter ihr gegeben hatte, hatte tatsächlich gerade noch etwas enthalten, von dem außer ihr niemand etwas wusste: das Säckchen, das sie von Dragosz bekommen hatte.
Sie verscheuchte den Gedanken daran. Ihre Mutter konnte nichts von Dragosz’ Geschenk wissen, das sie sich soeben erst unter die Bluse geschoben hatte, und Targan schon gar nicht. Sie musste aufhören, hinter jeder harmlosen Bemerkung eine Anspielung und in jedem Scherz eine Falle zu vermuten. Vielleicht hatte ihre Mutter ja Recht gehabt, als sie sagte, dass sie in ihrem Bemühen, ihre Tochter Misstrauen zu lehren, möglicherweise zu erfolgreich gewesen war.
»Lass es ruhig hier«, sagte Lea. »Was in Targans Haus ist, ist sicher.«
»Ich... natürlich«, sagte Arri hastig und direkt an Targan gewandt. Dabei trat sie unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Ich wollte dich nicht beleidigen. Es war nur...«
»... ein bisschen viel«, fiel ihr Lea ins Wort, allerdings genau wie sie an den riesigen Mann gewandt. »Für uns beide. Der Weg war sehr anstrengend.« Irrte sich Arri, oder versuchte ihre Mutter, ihr einen raschen, verstohlenen Blick zuzuwerfen? Sag nichts.
»Du warst lange nicht mehr hier«, bestätigte Targan. »Umso mehr überrascht mich dein Besuch. Wir hatten nicht vor dem nächsten Frühjahr mit dir gerechnet.«
Arri sah beunruhigt zu ihrer Mutter auf. Im nächsten Frühjahr? War Targans Haus etwa die erste Etappe auf ihrer Suche nach einer neuen Heimat, wenn sie sich nach der Schneeschmelze vor Nors Nachstellungen in Sicherheit bringen würden?
»Wir mussten... unsere Pläne ändern«, antwortete Lea. Das fast unmerkliche Stocken in ihren Worten konnte Targan ebenso wenig entgangen sein wie Arri, und Lea machte es noch schlimmer, indem sie sich in ein verlegenes Lächeln und ein hoffnungslos übertriebenes Schulterzucken rettete. »Aber wir bleiben nicht lange.« Sie hob noch einmal die Schultern und fügte dann - fast zu Arris Entsetzen - hinzu: »Nur diese eine Nacht.«
»Vielleicht solltest du erst einmal ankommen, bevor du vom Gehen redest«, sagte Targan lächelnd. Er wandte sich direkt an Arri. »Du bist also Leandriis’ Tochter. Sie hat viel von dir erzählt. Aber sie hat nicht gesagt, dass du schon eine junge Frau geworden bist. Noch ein, zwei Sommer, und es wird schwer werden, euch zu unterscheiden.« Er machte einen halben Schritt zurück und maß Arri mit einem langen, von einem angedeuteten Kopfschütteln begleiteten, prüfenden Blick. »Ich habe eine Tochter in deinem Alter. Vielleicht sollte ich sie mir bei Gelegenheit doch einmal genauer ansehen. Für mich ist sie noch ein Kind, aber vielleicht stimmt das ja nicht.«
Allmählich wurde Arri das Gespräch peinlich. Fast feindselig starrte sie Targan an, von dem sie eher eine Frage zu ihrem ramponierten Äußeren erwartet hatte, statt dick aufgetragener Schmeicheleien, aber dieser lächelte nur.
Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten, bückte sich ihr Gastgeber und lud sich sowohl Leas als auch Arris Bündel ohne die allermindeste sichtbare Mühe auf nur einen Arm; gleichzeitig deutete er mit einer Kopfbewegung tiefer ins Haus hinein. »Ihr müsst hungrig sein. Kommt. Ich hoffe doch, unsere anderen Gäste haben noch ein wenig übrig gelassen.«
Bei der Erwähnung der anderen Gäste fuhr Lea abermals fast unmerklich zusammen, und ein Ausdruck von Unmut erschien auf ihrem Gesicht, verschwand jedoch wieder, als sie sich Arris fragender Blicke bewusst wurde. Ungeduldig winkte sie ihre Tochter an ihre Seite und wollte losgehen. Sie befanden sich in einem kleinen Vorraum, der gleich drei Türen hatte - die ungewöhnlichste Konstruktion, die Arri jemals zu Gesicht bekommen hatte. Mit Ausnahme des kleinen Vorratsraumes in ihrer eigenen Hütte und einigen ähnlichen Räumen im Dorf hatte sie noch niemals eine Unterteilung innerhalb eines Hauses gesehen, geschweige denn eine Tür, wie sie sie nur aus Leas Erzählungen über ihre alte Heimat kannte - und wozu sollte eine solche auch gut sein? Offensichtlich kannte sich Lea hier aus, denn sie steuerte ganz selbstverständlich eine dieser drei Türen an. Targan hielt sie jedoch mit einer fast schon erschrocken wirkenden, auf jeden Fall aber sehr hastigen Geste zurück.
»Meine Frau hat die Kammer für dich und deine Tochter vorbereitet«, sagte er. »Vielleicht schaut ihr sie euch einmal an.«
Lea wirkte ein bisschen verdutzt, und auch Arri drehte sich stirnrunzelnd zu ihrem Gastgeber um und maß ihn mit einem fragenden Blick. Es war nicht nur, dass Targan plötzlich fahrig klang; noch vor einem Augenblick hatte er ja selbst gesagt, wie sehr ihn Leas unangekündigter Besuch überrascht habe. Wie konnte da seine Frau - oder sonst wer - auch nur irgendetwas vorbereitet haben?
Targan schien seinen Versprecher wohl im gleichen Moment bemerkt zu haben wie sie, denn er wirkte plötzlich ebenso verlegen wie hilflos, dann aber unterstrich er seine Worte nur noch einmal mit einer wedelnden Handbewegung, und Lea deutete ein Schulterzucken an und ging auf die Tür zu, die er bezeichnet hatte. Arri folgte ihr gehorsam, aber dennoch mit einem sonderbaren Gefühl. Von der vorsichtigen Erleichterung, die sie ergriffen hatte, der Dunkelheit und Kälte und allem, was sich darin verborgen haben mochte, endlich entronnen zu sein, war nicht mehr viel geblieben. Auch wenn sie der Versicherung ihrer Mutter, Targan sei ihr Freund und sie könnten ihm und seiner Familie vorbehaltlos trauen, nach wie vor glaubte, so machte doch allein Leas Reaktion klar, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Hätte sie es nicht besser gewusst, sie hätte geschworen, dass Targan ihr plötzlicher Besuch mehr als unangenehm war und er sie viel lieber hätte gehen als kommen sehen.
Sie sah sich mit unverhohlener Neugier um, während sie ihrer Mutter und Targan durch die Tür in einen kurzen, aus massiven Baumstämmen erbauten Korridor folgte. Die Tür, die sie durchschritten, war so schwer, dass es Lea sichtliche Mühe kostete, sie zu öffnen, und Arri entging auch nicht, dass auf ihrer Innenseite ein mehr als daumenbreiter bronzener Stab befestigt war, den man in eine metallverkleidete Vertiefung im Rahmen schieben konnte, um sie damit zu verschließen. Und endlich begriff sie den Sinn dieses kleinen Vorraumes mit seinen zusätzlichen Türen: Wer immer in dieses Haus hineinwollte, würde sich schwer tun, es ohne die Erlaubnis seiner Bewohner zu betreten. Es war nicht einfach nur ein großes Haus, es war zugleich eine Festung.
Arri hatte noch niemals eine solche gesehen, aber ihre Mutter hatte ihr davon erzählt, den Burgen und Festungen ihrer Heimat, großen wehrhaften Gebäuden, die ihren Bewohnern nicht nur Schutz vor den Jahreszeiten und den Unbilden der Natur boten, sondern auch jedweden Angreifer sicher zurückhielten. Eine sonderbare Aufregung ergriff von Arri Besitz, als sie sich klarmachte, wie wenig sie bisher begriffen hatte, wohin sie tatsächlich unterwegs waren. Diese Menschen hier waren nicht einfach nur Freunde ihrer Mutter. Es war eine vollkommen andere Welt, die sie nun betrat. Arri hatte noch niemals ein Haus gesehen, dessen Tür man verschließen konnte und das ganz offensichtlich viel mehr dem Zweck diente, andere draußen zu halten, als nur seinen Bewohnern Unterschlupf und Wärme zu gewähren. Aus einem Grund, den sie selbst nicht ganz nachvollziehen konnte, gefiel ihr diese Vorstellung nicht, aber sie war auch zugleich sehr aufregend.
Sie folgten dem Gang bis zu seinem Ende, wo es eine weitere, ebenso massive Tür gab, hinter der eine steile Stiege nach oben führte. Der Anblick hätte Arri nicht überraschen dürfen - selbst das Wenige, was sie von außen hatte erkennen können, hatte ihr klargemacht, dass dieses Haus auch sehr viel höher war als jedes andere Gebäude, das sie je zu Gesicht bekommen hatte, obwohl es nicht auf Stelzen stand wie die Hütten in ihrem Heimatdorf; allerdings hatte sie noch nie davon gehört, dass es irgendwo außerhalb der alten Welt ihrer Mutter Häuser mit mehr als einem Stockwerk gab. Jetzt befand sie sich in einem solchen. Targan eilte voraus und rumorte einen Augenblick in der Dunkelheit am anderen Ende der Treppe herum, dann glomm ein vertrautes gelbes Licht über ihnen auf, und der große Mann erschien unter einer niedrigen Tür und winkte ihnen mit der linken Hand zu. In der anderen hielt er eine kleine Öllampe, deren Machart Arri vertraut vorkam. In Targans Händen wirkte sie wie ein Spielzeug, und er hielt sie so, als hätte er Mühe, sie mit seinen groben Fingern nicht zu zerbrechen. »Kommt«, sagte er, »macht es euch nur gemütlich. Ich lasse euch gleich eine Schale heißer Suppe bringen.« Er gab sich keinerlei Mühe, seine Unruhe und sein Unbehagen zu verhehlen, und wartete nicht einmal ab, bis sich Lea und Arri an ihm vorbei durch die niedrige Tür geschoben hatten, bevor er die Lampe auf den Boden stellte und wortlos verschwand. Lea drehte sich um und sah ihm stirnrunzelnd nach, antwortete auf Arris fragenden Blick aber nur mit einem wenig überzeugenden Schulterzucken und schloss dann die Tür hinter ihnen. Sie war nicht so massiv wie die, die sie unten passiert hatten, aber mit offensichtlich großer Kunstfertigkeit gebaut, sodass zwischen den einzelnen Brettern nicht der winzigste Spalt blieb. Die Angeln aus breiten Lederstreifen knarrten hörbar, als sie sich bewegten, doch die Tür schloss so dicht, dass die Flamme der kleinen Öllampe auf dem Boden nun ruhig und ohne das mindeste Flackern brannte.
Was Arri in ihrem Licht sah, war ebenso faszinierend wie auch enttäuschend zugleich: Der Raum, in den Targan sie geführt hatte, war groß, aber nicht sehr hoch. Über ihren Köpfen berührten sich die beiden Hälften des schrägen Daches. Lea und auch sie selbst konnten gerade noch aufrecht darin stehen, Targan aber hätte sich allerhöchstens gebückt hier drinnen aufhalten können. Der Boden, der aus denselben, sorgsam gearbeiteten Brettern bestand wie die Tür, war unerwartet sauber, und der ganze Raum, der sich über einen gut Teil des Hauses erstrecken musste (es sei denn, das Gebäude war noch sehr viel größer, als Arri bisher ohnehin angenommen hatte), war vollkommen leer. In einer Ecke unweit der Tür befanden sich zwei, mit unordentlich zusammengeknüllten Tierfellen bedeckte Grasmatratzen, das war alles.
»Ich dachte, seine Frau hätte das Zimmer für uns vorbereitet!«, murmelte Arri.
»Targan ist immer auf Gäste eingerichtet«, antwortete ihre Mutter, halblaut und in einem sonderbaren Tonfall, als wäre ihr diese Antwort gerade in dem Moment eingefallen, in dem sie sie gegeben hatte, und als glaubte sie selbst nicht daran, zöge sie aber einer anderen, viel unangenehmeren Möglichkeit vor. Sie seufzte, zuckte noch einmal mit den Schultern und machte schließlich eine Kopfbewegung zur Matratze hin. »Ich werde später mit ihm reden. Warum versuchst du nicht, ein wenig zu schlafen? Du musst müde sein.«
Das war Arri in der Tat, müde und so erschöpft wie schon seit langer Zeit nicht mehr - aber ihre Mutter konnte doch nicht im Ernst annehmen, dass sie sich jetzt einfach hinlegte und einschlief, als wäre nichts geschehen? »Besonders erfreut scheinen deine Freunde ja über unseren Besuch nicht zu sein. Oder ist das ihre Auffassung von Gastfreundschaft, Freunde in einen leeren Raum zu sperren?«
Lea sah sie eine ganze Weile wortlos und stirnrunzelnd an, bevor sie schließlich - fast widerwillig - nickte. »Ja«, bestätigte sie. »Irgendetwas ist seltsam.«
»Vielleicht liegt es an den anderen Gästen, von denen Targan gesprochen hat?«, vermutete Arri.
»Targan hat oft Gäste. Sein Haus ist nicht umsonst so groß. Es vergeht kaum ein Tag, in dem niemand hierher kommt. Er lebt vom Handel, weißt du? Und es lässt sich schwer handeln, wenn man denjenigen, die kommen, um Ware zu tauschen, kein Dach über dem Kopf bietet.«
Das klang zu überzeugend, um lediglich eine spontan ausgedachte Ausrede zu sein. »Was geht hier eigentlich vor?«, fragte Arri.
»Ich sage es dir«, antwortete Lea unwillig, »sobald ich es selbst herausgefunden habe.«
Arri fuhr spürbar zusammen, als sie den scharfen Unterton in der Stimme ihrer Mutter hörte, aber sie war immerhin klug genug, nichts darauf zu sagen, und presste nur die Lippen aufeinander. Sie gewann nichts, wenn sie ihre Mutter auch noch zusätzlich bestürmte.
Vielleicht nur, um überhaupt etwas zu sagen, was die Lage nicht noch schlimmer machte, fragte sie: »Was hast du damit gemeint, wir bleiben nur diese eine Nacht?«
Lea sah sie so verwirrt an, als hätte sie plötzlich in einer völlig unverständlichen Sprache gesprochen. »Was ich damit gemeint habe?« Sie hob die Schultern. »Wie wäre es mit dem, was ich gesagt habe? Wir bleiben heute Nacht hier, und morgen bei Sonnenaufgang machen wir uns auf den Rückweg.«
»So schnell?«
»So schnell«, bestätigte Lea. »Ich möchte so schnell wie möglich zurück ins Dorf.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Wir hätten niemals weggehen sollen. Nicht ausgerechnet so knapp vor dem Jagd-Ernte-Fest, das Sarn nutzen wird, um das Dorf gegen mich aufzuwiegeln.«
»Warum haben wir es dann getan?«, fragte Arri, während ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief, als sie sich daran erinnerte, dass Rahn sie mit fast den gleichen Worten gewarnt hatte - und dass das Opferfest im Steinkreis stattfinden würde, dem Ort, an dem sich vor gar nicht allzu langer Zeit Sarns Greisenhand um ihr Handgelenk gewunden hatte, als wollte er sie dort für die Ewigkeit festhalten.
»Weil es mit einem blinden Schmied und einem einarmigen Gehilfen schon schwer genug ist, eine Schmiede zu betreiben«, antwortete Lea mit sanftem Spott in der Stimme. »Aber ohne Werkzeug und Erz ist es noch viel schwerer. Deshalb«, fügte sie nach einer winzigen Pause mit ganz leicht veränderter Stimme hinzu, »habe ich entschieden, trotzdem zu gehen. Auch wenn es mir gar nicht passt, nicht da zu sein, wenn Sarn im Steinkreis seine lächerlichen Beschwörungen zum Opferfest vollführt und die Menschen gegen uns aufhetzt.«
»Aber du hast es entschieden«, wiederholte Arri. »Ich verstehe.«
»Das bezweifle ich«, erwiderte Lea kühl. Sie tat Arri nicht den Gefallen, ihr zu vergeben oder auch nur ein Verständnis zu heucheln, das sie ganz und gar nicht hatte. Ganz im Gegenteil verspürte Arri plötzlich das Bedürfnis, sich selbst zu ohrfeigen, als ihr klar wurde, dass sie ihrer Mutter anscheinend das Stichwort gegeben hatte, auf das sie seit zwei Tagen wartete.
»Es war wichtig für mich, Achk und Kron nicht allein im Dorf zurückzulassen, weißt du? Ich traue Sarn nicht.«
»Sarn?«, wiederholte Arri verständnislos. »Aber was sollte ich denn...«
»Es hätte schon gereicht, wenn du einfach da gewesen wärest«, unterbrach sie ihre Mutter. »Du darfst Männer wie Sarn niemals unterschätzen, Arianrhod. Sie sind vielleicht nicht besonders klug, aber das macht sie nicht weniger gefährlich; ganz im Gegenteil, sie spüren jede noch so winzige Schwäche, und sie nutzen sie gnadenlos aus.«
»Aber was hätte ich tun können?«, murmelte Arri niedergeschlagen.
»Einfach nur da sein«, antwortete Lea. »Sarn hätte dich wahrscheinlich beschimpft und vielleicht auch gedemütigt, aber ich glaube nicht, dass er es wirklich gewagt hätte, dir etwas anzutun. Er hätte zumindest nicht mit Achk und Kron sprechen können, nicht, wie er es jetzt kann.«
Arri schwieg. Da war so viel, was sie hätte sagen können, so viel, was ihr auf der Zunge lag, und dennoch brachte sie keinen Laut hervor. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Es spielte keine Rolle, ob sie tausend Einwände gegen das hatte, was Lea ihr vorhielt oder nicht, tief in sich spürte sie einfach, dass sie Recht hatte. Plötzlich fühlten sich ihre Augen mit brennender Hitze.
»Du hast gefragt«, sagte Lea kühl und mit einer Stimme, der jegliches Mitgefühl fehlte. Das mochte stimmen, dachte Arri bitter - aber was brachte ihre Mutter auf den Gedanken, dass sie diese Antwort hatte hören wollen?
»Ja«, antwortete Arri mit einiger Verspätung. Sie erschrak selbst über den verbitterten Klang ihrer Stimme. »Das habe ich.«
»Doch du wolltest die Antwort nicht hören.« Täuschte sie sich, oder genoss es Lea regelrecht, das Messer in der Wunde noch einmal herumzudrehen? »Dann solltest du vielleicht auch keine entsprechenden Fragen stellen.« Ganz plötzlich machte sie einen eher traurigen als vorwurfsvollen Eindruck. »Es tut mir Leid, Arianrhod, aber irgendwann musst du anfangen, es zu begreifen.«
»Was?«, fragte Arri, als ob sie es nicht wüsste. »Dass es auch dazu gehört, zu seinen Fehlern zu stehen, wenn man erwachsen wird«, antwortete Lea, nun endgültig erbarmungslos. »Oder sie wenigstens einzusehen und daraus zu lernen.«
Fehler? Es lag Arri auf der Zunge, mit einem schrillen Lachen zu antworten, aber sie presste auch jetzt nur die Lippen zu einem dünnen, fast blutleeren Strich aufeinander und schwieg. Bildete sich ihre Mutter tatsächlich ein, keine Fehler gemacht zu haben? Aber auch das sprach sie nicht aus. Sie konnte es nicht. Lea schwieg eine ganze Weile. Als klar wurde, dass ihre Tochter nichts mehr zu dem Thema sagen würde, nickte sie sichtbar zufrieden und deutete noch einmal auf das einfache Lager neben der Tür. »Ruh dich einfach ein wenig aus. Targan wird uns sicher gleich etwas zu essen bringen, und dann...«
Schritte auf der Stiege unterbrachen sie. Lea war mit einer so schnellen Bewegung bei der Tür, dass Arri schon wieder erschrocken zusammenfuhr. Während sie die linke Hand nach dem ausstreckte, was ihre Mutter kurz zuvor auf ihre dementsprechende Frage als Riegel bezeichnet hatte, schlug sie mit der anderen den Umhang zurück und schloss die Finger um den Schwertknauf. So viel zu ihrer Behauptung, dachte Arri besorgt, es wäre alles in Ordnung.
Die Tür wurde von außen geöffnet, noch bevor Lea es tun konnte, doch es war nicht Targan, der hereinkam. In dem unsteten Licht, zu dem der Kerzenschein wieder wurde, nachdem die Tür die Zugluft nicht mehr zurückhielt, erkannte Arri ein dunkelhaariges Mädchen, das ungefähr in ihrem Alter sein mochte und vermutlich sehr hübsch war, auch wenn das unter all dem Schmutz und eingetrockneten Ruß auf ihrem Gesicht eher zu erraten als wirklich zu erkennen war. Vielleicht das Mädchen, von dem Targan gesprochen hatte, überlegte Arri. Seine Tochter. Schmutzig genug dazu war sie allemal. Ihre Mutter entspannte sich sichtbar, als sie sah, wer da zu ihnen hereinkam, und trat rasch einen Schritt zurück und zugleich zur Seite, um Platz zu machen. Arri wunderte sich ein bisschen, wie es dem Mädchen überhaupt gelungen war, die Tür zu öffnen, denn es trug in jeder Hand eine große Schale mit dampfender Suppe, und unter jeden Arm hatte es zusätzlich ein dickes Fladenbrot geklemmt.
»Runa«, sagte ihre Mutter erfreut. »Wie schön, dich zu sehen!«
Das Mädchen suchte sich mit seiner Last einen Weg zwischen ihr und Arri hindurch und setzte die beiden Schalen mit einer geschickten Bewegung zu Boden. Die Suppe konnte doch nicht ganz so heiß sein, wie Arri angenommen hatte - oder die Kleine war ziemlich hart im Nehmen, denn sie hatte beide Daumen in die Schalen gehakt, um sie sicher tragen zu können. Als Runa aufstand, nahm Arri ihr rasch die beiden Brote ab, bevor sie sie ihr am Ende noch mit den Füßen zuschob.
»Mein Vater bittet dich, noch ein bisschen Geduld zu haben«, sagte Runa, nachdem sie sich vollends aufgerichtet (und die Daumen an ihrem Kleid abgewischt) hatte. »Er kommt zu dir, sobald er Zeit hat.«
»Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«, erkundigte sich Lea.
Runa hob die Schultern. »Weiß nicht. Einer von unseren Gästen ist verletzt, ziemlich schlimm. Er sieht sogar noch übler aus als du.« Runa grinste Arri frech an. »Wer hat dich eigentlich so zugerichtet? Du siehst ja furchtbar aus.«
»Verletzt?« Leas erschrockener Tonfall erstickte Arris Empörung über Runas Bemerkung schon im Ansatz. »Wie viele sind es denn? Wenn du sagst, einer ist verletzt?«
»Drei«, antwortete Runa zögernd. »Aber mein Vater scheint zu glauben, dass sie nicht allein sind.«
»Wieso?«, fragte Arri.
Runa maß sie mit einem Blick, als fragte sie sich, ob sie einer Antwort überhaupt wert wäre, hob dann aber die Schultern und sagte: »Weil Vater ein paar meiner Brüder losgeschickt hat, um sich umzusehen. Vielleicht hat er Angst, dass noch mehr von ihnen draußen herumschleichen.«
Ihre Mutter sah sie erneut und fast noch erschrockener an. Vielleicht dachte sie in diesem Moment an dasselbe wie Arri; Blutflecken im Gras, die in der Nacht schwarz schimmerten. Als sie jedoch weitersprach, klang ihre Stimme ruhig und allenfalls auf eine mitfühlende Weise besorgt, aber nicht alarmiert. »Wenn dein Vater es wünscht, sehe ich mir den Verletzten gern an.«
»Nein«, antwortete Runa, »das möchte er nicht.«
»Du hast ihn doch noch gar nicht gefragt«, sagte Arri.
Diesmal war der Blick, den ihr das dunkelhaarige Mädchen zuwarf, nicht abschätzend, sondern eindeutig verächtlich. »Aber er hat gewusst, dass du diese Frage stellen wirst«, antwortete sie, allerdings an Lea gewandt, nicht an Arri. »Und mir aufgetragen, dir zu sagen, dass es nicht nötig ist.« Sie machte eine Kopfbewegung auf die beiden hölzernen Schalen. »Esst eure Suppe, so lange sie heiß ist. Ich bringe euch später noch mehr, wenn ihr wollt. Ihr braucht nur zu rufen.«
Arri sah ihr verwirrt nach, als sie das Zimmer verließ und die Tür hinter sich zuzog, und auch zwischen den Augenbrauen ihrer Mutter entstand eine steile Falte. Arri wiederholte in Gedanken das, was sie schon mehr als einmal gedacht hatte, seit sie hierher gekommen waren: Dafür, dass Lea diese Leute als ihre Freunde bezeichnete, benahmen sie sich ziemlich sonderbar. Auch wenn Runa es nicht laut ausgesprochen hatte, so bedeuteten ihre Worte doch nichts anderes, als dass sie in dieser Kammer bleiben und sie nicht ohne Erlaubnis verlassen sollten.
»Ich glaube, Runa hat Recht«, seufzte ihre Mutter. »Lass uns essen, solange die Suppe noch heiß ist.«
Wie zur Antwort begann Arris Magen genau in diesem Moment hörbar zu knurren. Sie reichte ihrer Mutter eines der beiden Brote, bückte sich nach der Schale und nippte vorsichtig von ihrem Inhalt. Die Suppe war so heiß, dass sie ihren Geschmack im ersten Moment nicht einmal feststellen konnte, aber sie duftete köstlich, und zwischen den Gemüse- und Wurzelstücken, die sie enthielt, schwamm auch das eine oder andere Stück Fleisch, das von ebenso zäher wie faseriger Konsistenz war, aber ausgezeichnet schmeckte. Arri kannte dieses Fleisch nicht, doch als sie ihre Mutter danach fragte, erntete sie nur ein unwilliges Stirnrunzeln, als hätte sie sie mit ihrer Frage an etwas erinnert, das sie lieber nicht wissen wollte.
Arri schnüffelte misstrauisch an ihrem Brot. Es roch gut, wie gerade frisch gebacken, aber Arri musste daran denken, wo Runa es getragen hatte.
»Iss ruhig«, sagte ihre Mutter. Sie selbst ging mit gutem Beispiel voran, biss herzhaft in ihr Brot und fuhr mit vollem Mund kauend fort: »Targans Frau ist eine ausgezeichnete Köchin.« Sie lachte. »Ich glaube, so mancher kommt in Wahrheit nur hierher, um ihr Essen zu genießen.«
Arri fragte sich, warum sie in Wahrheit hierher gekommen waren, aber statt die Frage laut auszusprechen, raffte sie all ihren Mut zusammen, brach ein Stück von ihrem Brot ab und knabberte zaghaft daran. Es schmeckte nicht ganz so gut, wie sie es nach den Worten ihrer Mutter erwartet hatte, aber auch nicht schlecht.
»Und?«, fragte Lea. »Wie schmeckt es dir?«
»Immerhin nicht nach Achselschweiß«, antwortete Arri.
Lea stutzte, sah sie einen Moment lang verwirrt an - und begann dann herzhaft zu lachen.
»Warum sind diese Leute so schmutzig?«, beschwerte sich Arri.
»Und das ausgerechnet von einer gewissen jungen Dame, die mich als verrückt bezeichnet hat, weil ich von ihr verlangt habe, sich wenigstens dann und wann zu waschen?« Lea schüttelte den Kopf und wurde wieder ernst. »Sie sind nicht schmutzig. Jedenfalls nicht so, wie du jetzt vielleicht denkst.«
»Du meinst, es gibt verschiedene Arten von Schmutz?« Sie legte den Kopf schräg. »Oder ist Schmutz bei verschiedenen Leuten nur unterschiedlich schlimm?«
»Wie?«
»Bin ich schmutziger, wenn ich genau so schmutzig bin wie Runa?«
»Irgendwie schon.« Lea schüttelte rasch den Kopf, als Arri auffahren wollte. »Es liegt an ihrer Arbeit.«
»An ihrer Arbeit?«
»Sie schürfen Erz«, antwortete Lea. »Wenn du nur lange genug in Staub und Schmutz herumgewühlt hast, dann bekommst du das Zeug irgendwann nicht mehr ab, weil es sich in die Haut gefressen hat... Aber ich glaube, du hast auch Recht, und sie waschen sich nicht sehr oft.« Sie hob die Schultern und brach ihr Brot, um den Rest Suppe aus ihrer Schale zu tunken, die sie im Gegensatz zu Arri schon fast geleert hatte.
»Hier in der Nähe?«
»Wenn uns morgen noch die Zeit bleibt, dann zeigt dir Targan vielleicht die Mine«, sagte Lea. »Falls du sie sehen möchtest, heißt das - aber stell dir nichts allzu Großartiges vor. Eigentlich ist es nicht viel mehr als ein Loch im Boden, das sich unterirdisch weiter verzweigt... allerdings ziemlich weit.«
»Müssen wir wirklich gleich morgen früh wieder zurück?«
Lea wirkte leicht verärgert, dass sie schon wieder davon anfing, aber zu Arris Überraschung verzichtete sie darauf, diese Verärgerung in Worte zu kleiden, sondern reagierte nur mit einem bedauernden Schulterzucken und einem Nicken.
Arri versuchte nicht noch einmal, ihre Mutter zum Bleiben zu überreden, aber sie machte auch keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung. Immerhin war es das erste Mal, so lange sie sich erinnern konnte, dass sie sich wesentlich weiter als einen halben Tagesmarsch von ihrer Hütte entfernte und andere Menschen traf als die Bewohner des Nachbardorfes; und vielleicht einen gelegentlichen Besucher, den sie aber meist nur von weitem sah, falls sie nicht sowieso erst davon hörte, wenn er bereits wieder abgereist war. Sie konnte die Einwände ihrer Mutter ja durchaus nachvollziehen, aber sie war trotzdem zutiefst enttäuscht. Da verließ sie zum allerersten Mal überhaupt ihr heimatliches Dorf, reiste fast zum anderen Ende der Welt, und das alles nur, um ein leeres Zimmer zu sehen und einen Mann mit einem schmutzigen Gesicht und seine ziemlich unfreundliche Tochter zu treffen - o ja, und vielleicht noch einen Blick in ein ziemlich tiefes Loch im Boden zu werfen!
Ein leises Scharren an der Tür ließ sie aufsehen. Auch Lea hob mit einem Ruck den Kopf. Ein alarmierter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht, doch sie winkte Arri trotzdem beruhigend zu, während sie mit einer fließenden Bewegung aufstand und sich zur Tür wandte. Ihre Hand glitt zum Schwert.
Sie hatte noch nicht den ersten Schritt getan, als die Tür aufging und der Wolf hereinkam.
Lea atmete erleichtert auf und entspannte sich, doch Arri reagierte genau entgegengesetzt: Sie fuhr so heftig zusammen, dass sie beinahe ihre Schale fallen gelassen hätte, und wäre am liebsten entsetzt aufgesprungen, hätte sie der bloße Anblick des Ungeheuers nicht gleichzeitig auch gelähmt.
Der Wolf blieb vor ihrer Mutter stehen und sah mit einem Ausdruck, den Arri nicht anders als freundliche Neugier bezeichnen konnte, zu ihr hoch, dann tappte er weiter und geradewegs auf sie zu. Arris Herz schien einen Schlag zu überspringen und dann doppelt schnell und direkt in ihrem Hals weiter zu hämmern, als das riesige Tier näher kam, für einen Moment verharrte und sie mit der gleichen, unübersehbaren Neugier (wie es ihr vorkam, aber nicht annähernd so freundlich) anstarrte und seinen Weg dann fortsetzte. Langsam kam es näher, hielt unmittelbar vor Arri an und beschnüffelte erst ihre Hände, dann ihre Arme. Arri stockte der Atem, als der Wolf den Kopf hob und ihr Gesicht beschnüffelte - und dann einen halben Schritt zurücktrat und die Schnauze in ihre gerade zur Hälfte geleerte Suppenschale senkte.
Ihre Mutter lachte. »Ich glaube, du hast gerade einen neuen Freund gefunden.«
Arri ächzte vor Unglauben und Schrecken, aber sie war noch immer so gelähmt, dass sie keinen einzigen Muskel rühren konnte, sondern die Schale festhielt, während der Wolf in aller Seelenruhe deren Inhalt ausschlabberte.
»Er ist vollkommen harmlos, keine Angst«, sagte Lea belustigt. »So lange du ihm nichts tust oder er spürt, dass du Angst vor ihm hast.«
Arri war klar, dass sie den zweiten Teil dieses Satzes nur gesagt hatte, um sie zu foppen. Hätte das Tier wirklich mit einem Angriff auf Angst reagiert, dann hätte es sie schon unten vor dem Haus in Stücke gerissen. Trotzdem wagte sie es nicht, sich zu rühren oder gar die Schüssel zu senken. Reglos und wie erstarrt saß sie da, bis der Wolf die Schale zur Gänze geleert hatte, endlich wieder den Kopf hob und sie so vorwurfsvoll und verlangend anblickte, als hätte er fest mit einem Nachschlag gerechnet und wäre jetzt enttäuscht, ihn nicht zu bekommen, wobei er sich genießerisch mit der Zunge über das Maul leckte.
»Wenn du ihn jetzt auch noch streichelst«, sagte ihre Mutter, »dann hast du wirklich einen neuen Freund.«
Arri starrte sie einen Herzschlag lang ungläubig an, aber Lea machte eine auffordernde Bewegung, und so setzte sie schließlich die Schale zu Boden, streckte zögernd die Hand aus und fuhr dem Tier mit den Fingerspitzen flüchtig über den Schädel, bevor sie die Hand hastig wieder zurückzog. Der Wolf legte den Kopf auf die Seite und sah ihr ins Gesicht, und hätte Arri nicht ganz genau gewusst, wie unmöglich so etwas war, sie hätte in diesem Moment geschworen, es in seinen Augen spöttisch aufblitzen zu sehen.
»Du brauchst wirklich keine Angst vor ihm zu haben«, sagte Lea noch einmal. »Er ist zahmer und harmloser als die meisten Hunde, die ich kenne, und vor allem viel gelehriger - so lange man ihn nicht reizt oder er glaubt, Targan und seine Familie verteidigen zu müssen. Ich nehme an, für ihn sind sie so etwas wie sein Rudel, das er beschützen muss.«
»Das ist ein Wolf«, sagte Arri. Ihre Stimme zitterte.
»Targan hat ihn als kaum zwei Monate alten Welpen mitgebracht«, erwiderte ihre Mutter, »nachdem er seine Mutter und den Rest des Rudels getötet hatte. Dieses eine Tier hat er mitgebracht und gezähmt.« Sie kam näher, ließ sich neben dem Wolf in die Hocke sinken und schlug ihm zwei oder drei Mal mit der flachen Hand so kräftig auf den Rücken, dass jeder normale Hund, den Arri kannte, wahrscheinlich nach ihr geschnappt hätte. Das riesige Raubtier aber sah sie nur einen Moment lang an und begann dann, ihre Hand abzulecken. Arri kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ihre eigenen Erfahrungen mit Wölfen beschränkten sich auf eine einzige, wenig angenehme Gelegenheit, aber sie hatte genug über diese gefährlichen Räuber gehört, um zu wissen, wie erstaunlich das war, was ihre Mutter gerade vor ihren Augen getan hatte. Und wie gefährlich.
»Seit wann bist du so ängstlich?«, fragte Lea.
»Bin ich nicht«, erwiderte Arri, was aber nicht einmal in ihren eigenen Ohren irgendwie überzeugend klang. Sie rettete sich in ein Lächeln und ein verlegendes Schulterzucken. »Ich habe... schlechte Erfahrungen mit Wölfen gemacht«, erinnerte sie.
»Ich weiß«, antwortete Lea. »Aber das war etwas anderes. Der Wolf, der dich angegriffen hat, war krank und halb verrückt vor Hunger, und er war ein wildes Tier.« Etwas in ihrem Blick veränderte sich, aber Arri konnte nicht sagen, in welche Richtung. »Dragosz hat mir davon erzählt. Du hast dich gut geschlagen.«
Für Leas Verhältnisse war dies ein gewaltiges Lob und vielleicht auch etwas wie ein Friedensangebot, aber Arri war weder in der Stimmung für das eine noch empfänglich für das andere. »Gut geschlagen?«, wiederholte sie und schüttelte traurig den Kopf. »Wenn Dragosz nicht gekommen wäre, dann hätte er mich getötet.«
»Selbstverständlich hätte er das. Ein Kind mit einem Stock als Waffe gegen einen kampferprobten alten Wolf, den der Hunger fast wahnsinnig gemacht hat, das ist kein gerechter Kampf.« Lea schüttelte bekräftigend den Kopf. »Du hattest keine Aussicht zu überleben.«
Arri streifte den Wolf, der zwar noch immer die Hand ihrer Mutter ableckte, dabei aber so unverwandt zu ihr aufsah, als verfolge er ihre Unterhaltung und sei gespannt auf ihre Antwort, mit einem besorgten Blick und wich vorsichtshalber ein kleines Stück vor beiden zurück, bevor sie antwortete. »Warum hast du es mir nicht gesagt?«
»Was?«
»Dass du von meiner Begegnung mit dem Wolf gewusst hast... und Dragosz.«
»Das hätte ich«, erwiderte ihre Mutter ruhig, »wenn ich davon gewusst hätte. Dragosz hat mir erst zwei Tage später erzählt, was geschehen ist. Warum hast du nichts gesagt?«
Arri hätte sich ohrfeigen können, diese Frage überhaupt gestellt zu haben. Sie hätte sich die Antwort ihrer Mutter denken können. Aber nun war es zu spät. Sie kannte ihre Mutter wahrlich gut genug, um zu wissen, dass sie nur auf ein Stichwort gewartet hatte und nun nicht mehr locker lassen würde. Vielleicht, überlegte sie, war es an der Zeit, einmal eine ihrer eigenen Lektionen auszuprobieren, nämlich die, dass Angriff oft die beste Verteidigung war. »Du wolltest nicht, dass ich etwas von ihm erfahre, habe ich Recht?«
Lea hörte auf, den Wolf zu streicheln. »Wie meinst du das?«
»Du hättest mir nichts von ihm erzählt, wenn ich euch nicht im Wald gesehen hätte, nicht wahr?«, fragte Arri. »Warum?«
»Warum sollte ich mich vor dir rechtfertigen?«, gab Lea spröde zurück. »Ich hätte dir von ihm erzählt, aber noch nicht.«
»Und warum nicht?«
»Ich hatte meine Gründe«, erwiderte ihre Mutter. »Ich war...« Sie brach ab, schwieg einen Moment und setzte dann neu an. »Dragosz ist nicht der, für den du ihn hältst, Arianrhod. Ich war nicht sicher, ob es richtig ist, dass du ihn kennen lernst. Oder er dich.«
»Aber er hatte mich doch schon gesehen«, erinnerte Arri. »Spätestens, als er mich vor dem Wolf gerettet hat.«
»Aber da wusste er nicht, dass du meine Tochter bist«, antwortete Lea.
Arri sagte zwar nichts dazu, sah ihre Mutter aber ungläubig an. Sie konnte doch unmöglich so naiv sein, tatsächlich zu glauben, dass Dragosz durch einen reinen Zufall ganz genau im richtigen Augenblick aufgetaucht war, um sie vor dem Wolf zu retten. Solche Zufälle gab es nicht. Er hatte sie beobachtet, und nicht erst seit diesem Tag.
»Erzähl mir von ihm«, verlangte sie geradeheraus. Was nach den Maßstäben ihrer Mutter eine reine Unverschämtheit war.
Dennoch antwortete Lea. »Ich weiß nicht viel über ihn. Nur das, was er mir erzählt hat.«
»Und du glaubst ihm nicht.«
Lea zögerte gerade einen Moment zu lange, um ihre Antwort glaubhaft klingen zu lassen. »Es spielt keine Rolle, ob ich ihm glaube oder nicht«, sagte sie, um fast im selben Atemzug zu sagen: »Selbstverständlich glaube ich ihm. Dragosz ist kein Mann, der lügen würde. Das hat er nicht nötig.«
»Du liebst ihn?«, vermutete Arri.
Ihre Mutter blickte sie stirnrunzelnd an, blieb aber immer noch ruhig. »Ich fürchte, auch das spielt keine Rolle. Dragosz ist...« Sie hob die Schultern. »Er ist ein aufrechter Mann, das ist vielleicht schon mehr, als ich erwarten durfte.«
»Woher kommt er?«, fragte Arri. »Von hier?«
Lea lächelte flüchtig. »Nein. Er kommt von weit her. Sein Volk kommt aus dem Osten.« Sie machte eine unbestimmte Geste. »Von jenseits der Berge.«
Es dauerte eine kleine Weile, aber dann begriff Arri. »Das sind nicht die Männer, die...« Sie atmete hörbar ein. »Das sind nicht die Männer, die Grahl und seine Brüder angegriffen haben?«, setzte sie neu an.
»Ich weiß nicht, wer wen angegriffen hat«, antwortete Lea. »Ich war nicht dabei.«
»Also waren sie es«, sagte Arri. Diesmal wartete sie vergeblich auf eine Antwort.
»Dann ist... alles andere auch wahr?«, fragte sie unsicher. »Was Grahl und die anderen behaupten?«
»Dieser Unsinn? Dass sie einen Angriff planen und alle töten wollen?«, fragte Lea verächtlich. »Ja, das ist genau so überzeugend wie Sarns Behauptung, dass ich vor zehn Jahren ins Dorf gekommen bin, um es auszuspähen.« Sie lächelte wieder. »Nein. Sie planen keinen Angriff. Das wäre dumm. Warum sollten sie von so weit her kommen, nur um Krieg zu führen? Noch dazu einen Krieg, den sie nicht gewinnen können?«
»Wieso nicht?«
»Goseg ist viel zu stark«, antwortete Lea. »Selbst wenn Dragosz die Krieger besiegen könnte, wäre der Preis viel zu hoch.« Sie schüttelte noch einmal und vielleicht sogar eine Spur zu heftig den Kopf. »Und selbst wenn es nicht so wäre: Warum sollte Dragosz einen Krieg führen? Er hätte viel zu verlieren, aber kaum etwas zu gewinnen. Dieses Land ist groß. Es bietet mehr als genug Platz für eine weitere Sippe.«
Das klang nicht besonders überzeugend, fand Arri. Nicht einmal so, als glaube ihre Mutter selbst daran. Auf welche Frage wollte sie eigentlich nicht antworten?, dachte sie. Auf die nach Dragosz’ Sippe oder auf die nach Dragosz selbst?
Als ob sie die Antwort nicht wüsste!
Sie dachte an Dragosz und daran, wie sie ihn am Bach getroffen hatte. Sie war verwirrt. Prompt meldete sich auch ihr schlechtes Gewissen wieder, denn es war nun das zweite Mal, dass sie ihrer Mutter das Zusammentreffen mit Dragosz verschwieg, wobei sie selbst nicht sagen konnte, warum. Da war irgendetwas an Dragosz gewesen, das sie unendlich verstörte. Ihr Verstand, alles, was sie von ihrer Mutter gehört hatte, alles, was sie selbst erlebt und über diesen Mann in Erfahrung gebracht hatte, das alles schrie ihr zu, dass sie ihm nicht trauen durfte - aber da war zugleich noch eine andere Stimme in ihr, der all diese Gründe vollkommen gleichgültig waren. Etwas war zwischen Dragosz und ihr, das sie nicht in Worte fassen konnte, das aber immer stärker wurde. Erst jetzt, im Nachhinein, wurde ihr klar, dass seit ihrer letzten Begegnung mit diesem ungewöhnlichen Mann kein Augenblick vergangen war, in dem nicht ein Teil von ihr an ihn gedacht hatte.
Vorsichtig und in - wie sie hoffte - beiläufigem Ton sagte sie: »Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn er mitgekommen wäre.« Vielleicht hatte sie nicht beiläufig genug geklungen, denn ihre Mutter sah sie mit gerunzelter Stirn an, bevor sie - allerdings mit einem Kopfschütteln - antwortete: »Nein, er wäre sowieso nicht mit hierher gekommen.«
»Wieso?«, fragte Arri.
»Weil ich nicht wollte, dass er... das hier sieht«, antwortete ihre Mutter zögernd.
Aber traute sie ihm denn nicht?, dachte Arri verwirrt. Ein Teil von ihr konnte sie sehr gut verstehen, aber ein anderer war regelrecht empört. Und vielleicht sah man ihr ihre Gedanken deutlicher an, als es ihr recht sein konnte, denn ihre Mutter fuhr rasch und in fast um Verzeihung heischendem Ton fort: »Targan ist in dieser Beziehung etwas... sonderbar. Er lebt davon, dass Fremde hierher kommen und mit ihm Handel treiben, und dennoch misstraut er ihnen grundsätzlich.«
»Vielleicht hat er schlechte Erfahrungen gemacht«, murmelte Arri - eigentlich nur, um überhaupt etwas zu sagen.
»Vielleicht«, antwortete ihre Mutter.
Aber das war nicht der wirkliche Grund, fügte Arri in Gedanken hinzu, so wenig, wie es tatsächlich an Targan lag, dass sie Dragosz nicht hatte mit hierher bringen wollen. Irgendwie schien das Verhältnis zwischen Lea und dem schwarzhaarigen Fremden doch um einiges komplizierter zu sein, als Arri bisher angenommen hatte. Und ihre eigene Rolle dabei machte es auch nicht unbedingt einfacher. »Irgendwann wird er es kennen lernen«, sagte sie.
»Nein«, antwortete Lea. »Das glaube ich nicht. Es ist wahrscheinlich das letzte Mal, dass ich hierher komme.«
»Wieso?«
»Weil wir fortgehen werden«, erinnerte Lea.
»Und du willst mir immer noch nicht sagen, wohin«, vermutete Arri.
Ihre Mutter schwieg eine ganze Weile. Sie ließ sich wieder in die Hocke sinken und fuhr dem Wolf mit der Hand über Kopf und Nacken, aber das tat sie zweifellos nur, um ihre Finger zu beschäftigen und Zeit zu gewinnen. Der Wolf schien das zu spüren, denn er entzog sich ihrer Berührung zwar nicht, blickte aber weiter sehr aufmerksam in Arris Gesicht hinauf, und schließlich, gerade als Arri zu dem Schluss gekommen war, dass ihre Mutter gar nicht auf ihre Frage antworten würde, sagte sie: »Wir gehen mit Dragosz.«
Seltsam - Arri war nicht einmal überrascht. Irgendwie hatte sie es gewusst. »Und wann?«
Lea hob die Schultern. »Ich hoffe immer noch, dass uns Zeit bis zum Frühjahr bleibt, aber ich bin mir nicht mehr ganz sicher. Sarns Aktivitäten gefallen mir nicht. Vielleicht müssen wir schon bald gehen.«
Arri fragte sich ganz ernsthaft, ob Dragosz überhaupt etwas von den Plänen ihrer Mutter wusste. Wahrscheinlich schon, aber sicher war es nicht. Dann verscheuchte sie den Gedanken. »Zu seinem Volk?«, vermutete sie.
»Ja«, antwortete Lea. »Es wird dir dort gefallen.«
»Woher weißt du das?«, fragte Arri. »Du warst doch noch gar nicht bei ihnen.«
»Weil ich sicher bin, dass es an jedem Ort besser ist als an dem, an dem wir jetzt leben«, antwortete Lea. »Zumindest, seitdem Sarn die Schlinge enger um meinen Hals zu ziehen versucht.«
Und wenn nicht?, dachte Arri. Was ist, wenn du dich täuschst? Sie war völlig verstört. Ein Teil von ihr war zwar vollkommen empört über ihre eigenen Gedanken - wie konnte sie es nur wagen, Dragosz irgendetwas anderes als gute Absichten zu unterstellen? -, ein viel größerer aber wunderte sich doch sehr über die Reaktion ihrer Mutter. Abgesehen von dem Wenigen, was er selbst erzählt hatte, konnte Lea kaum mehr über Dragosz wissen als sie selbst, und wenn es tatsächlich stimmte, dass sein Volk jenseits der Berge lebte, konnte sie darüber erst recht nichts wissen, denn sie war so wenig wie Arri oder irgendein anderer, den sie kannten, jemals in diesem Land hinter den Bergen gewesen. Dass Lea einem anderen Menschen so vorbehaltlos glaubte (oder wenigstens so tat als ob), war mehr als ungewöhnlich, und es konnte dafür eigentlich nur zwei Gründe geben - sie war entweder blind vor Liebe oder vollkommen verzweifelt. Arri war nicht sicher, welche Möglichkeit sie mehr fürchten sollte.
Leichte Schritte näherten sich auf der Treppe. Der Kopf des Wolfes fuhr mit einer ruckartigen Bewegung herum, und ein aufmerksamer, aber nicht besorgter Ausdruck erschien in seinen Augen. Auch Lea sah hoch und wirkte für einen winzigen Moment, in dem sie sich nicht vollends in der Gewalt hatte, einfach nur erleichtert. Das Gespräch musste ihr wohl doch unangenehmer gewesen sein, als sie zugeben mochte. Gleich darauf erschien Runa wieder unter der Tür, und kaum erblickte sie Lea und den Wolf, verfinsterte sich ihr Gesicht auch schon wieder - falls es darauf überhaupt jemals so etwas wie einen freundlichen Ausdruck gegeben hatte, dachte Arri.
»Da bist du ja«, sagte sie, in tadelndem Ton und an den Wolf gewandt. »Ich habe dich schon im ganzen Haus gesucht. Du weißt doch, dass Vater nicht will, dass du unseren Besuch belästigst.«
Als hätte der Wolf die Worte verstanden, senkte er den Kopf und trat rasch und mit angelegten Ohren an Runas Seite, während Arris Mutter sich zu sagen beeilte: »Es ist nicht seine Schuld. Wenn du auf jemanden böse sein willst, dann auf mich. Er hat anscheinend nicht vergessen, wie sehr ich ihn als Welpe verwöhnt habe.«
Während Arri sich verwirrt fragte, warum ihre Mutter eigentlich einen Wolf in Schutz nahm, blickte Runa nun zu ihr hinüber, und der Ausdruck von mit Ärger gemischter Herablassung auf ihrem Gesicht nahm tatsächlich noch zu. Dann aber hob sie die Schultern und machte eine unfreundliche Kopfbewegung auf die offene Tür hinter sich. »Vater möchte dich sehen. Ich glaube, er braucht deine Hilfe.«
»Was ist geschehen?«, fragte Lea besorgt.
»Ich weiß nicht«, antwortete Runa. Arri spürte, dass das nicht die Wahrheit war, aber das Mädchen gab sich nicht einmal Mühe, überzeugend zu wirken. »Ich soll dich nur holen.«
Leas Unruhe wuchs, was Arri gut verstehen konnte - nachdem Targan so gegen die Regeln der Gastfreundschaft verstoßen hatte, indem er sie praktisch hier oben einsperrte, würde er sie gewiss nicht aus einer bloßen Laune heraus zu sich rufen. Irgendetwas musste passiert sein. Irgendetwas passierte eigentlich immer in letzter Zeit.
»Gut«, sagte Lea nach kurzem Überlegen. »Ich komme mit. Arianrhod, du wartest hier auf mich.«
»Ich komme auch mit«, erwiderte Arri vielleicht ein bisschen zu scharf. Ihre Mutter blickte sie kurz und beinahe wütend an, gab dann jedoch zu Arris Überraschung nach.
»Also gut«, seufzte sie. »Aber du redest mit niemandem. Hast du das verstanden?«
Arri war so überrascht, dass sie nur wortlos nickte, während es in Runas Augen eindeutig schadenfroh aufblitzte. Als sie sich umdrehte, um als Erste die dunkel daliegende Stiege hinunterzugehen, zog sie den Wolf grob an einem Ohr mit sich.
Arri zog ärgerlich die Stirn kraus, verbiss sich aber jede Bemerkung. Vielleicht hatte ihre Mutter ja Recht, und das Tier war für einen Wolf außergewöhnlich sanftmütig, wenigstens hoffte sie es für Runa. Wenn nicht, würde sie vielleicht auf eine ziemlich drastische Weise den Unterschied zwischen einem Hund und einem Wolf herausfinden...
Runa bewegte sich auf der vollkommen dunklen Stiege mit der traumwandlerischen Sicherheit eines Menschen, der in dieser Umgebung geboren war und sein gesamtes Leben hier verbracht hatte, und auch Lea wirkte fast ebenso sicher. Arri gab sich alle Mühe, mit den beiden Schritt zu halten, streckte aber trotzdem im Dunkeln beide Arme zur Seite aus, um sich mit den Händen an den rauen Wänden entlangzutasten. »Zieh den Kopf ein«, sagte Lea vor ihr, als sie das Ende der Stiege erreicht hatten.
»Warum?«, fragte Arri und bedauerte die Frage schon im nächsten Augenblick, denn sie bekam prompt eine Antwort, wenn auch keine, die sie sich gewünscht hätte: Sie knallte mit der Stirn gegen ein Hindernis, das vermutlich ein niedriger Türsturz aus Holz war, sich in diesem Moment aber wie massiver Stein anfühlte. Arri biss die Zähne zusammen, als ein glühender Pfeil durch ihren gesamten Schädel bis in den Nacken hinunterschoss, und irgendwie gelang es ihr sogar, jeglichen Schmerzenslaut zu unterdrücken.
Dennoch musste der Laut, mit dem sie gegen den Türsturz geknallt war, verräterisch genug gewesen sein. Irgendwo in der Dunkelheit vor ihr erklang das leise, schadenfrohe Lachen ihrer Mutter. »Weil die Türen hier ziemlich niedrig sind. Aber ich glaube, das weißt du schon.«
Arri verzichtete vorsichtshalber auf eine Antwort - schon, weil ihr der Schmerz die Tränen in die Augen trieb und sie wusste, dass man es auch ihrer Stimme angehört hätte -, schloss aber dichter zu ihrer Mutter auf und verspürte eine heftige Erleichterung, als vor ihnen endlich wieder rotgelber Lichtschein zu sehen war. Sie vermutete vor sich eine weitere Tür und zog sicherheitshalber den Kopf ein, dann bogen sie um eine Ecke, und endlich konnte sie wieder sehen und nicht nur hören und tasten.
Der Anblick, der sich ihr bot, als sie hinter ihrer Mutter durch die Tür trat, war überraschend. Nach dem massiven Eingangsbereich, der schmalen Stiege und der fast leeren Kammer, in die Targan sie geführt hatte, hatte sie einen weiteren, kleinen und finsteren Raum erwartet, der wehrhaft und eng wirkte. Doch zumindest was die Enge anging, befand sie sich im Irrtum. Vor ihnen erstreckte sich ein Raum, der sich über einen gut Teil des gesamten Gebäudes erstrecken musste, denn in der Wand zu ihrer Linken gewahrte sie die allermeisten der Fenster, deren Lichtschein sie hierher geführt hatte, und er wirkte eng, war es aber nicht wirklich. Dieser Eindruck kam eher zustande, weil er trotz seiner erstaunlichen Größe hoffnungslos überfüllt war. Es gab gleich drei offene Feuerstellen, die nicht nur rotes Licht, sondern auch anheimelnde Wärme verbreiteten, und Arri gewahrte in der rauchgeschwängerten Luft auf Anhieb ein halbes Dutzend Lager, die so um diese Feuerstellen gruppiert waren, dass die darauf schlafenden Menschen möglichst viel Wärme abbekamen.
Die Fenster an der gegenüberliegenden Wand sahen auf den ersten Blick ebenfalls geöffnet aus, doch dann erkannte Arri, dass sie sich getäuscht hatte. Sie waren mit straff gespannten Rinder- oder Schweineblasen verschlossen, sodass zwar Tageslicht durchschimmern, aber nicht übermäßig viel Wärme entweichen konnte. An der Wand erhob sich eine Konstruktion, die dem Vorratsregal ihrer Mutter ähnelte, aber ungleich größer und massiver war und so hoffnungslos voll gestopft mit allen möglichen Dingen, dass Arri erst gar nicht versuchte, sie allesamt zu erkennen. Vielleicht ein Dutzend Menschen hielten sich hier drinnen auf: Männer, Frauen und Kinder unterschiedlichen Alters, aber nahezu alle mit den gleichen schmutzigen Gesichtern und Händen. Sie sah (und vor allem roch sie sie!) auch Tiere, die ganz offensichtlich zusammen mit den Bewohnern dieses Hauses hier drinnen lebten - ein oder zwei Ziegen, ein Schwein, das in einer Ecke lag und ein halbes Dutzend Ferkel säugte, die die Menschen nach Einbruch der Dunkelheit wohl hereingeholt hatten, damit sie keinem Raubtier zum Opfer fielen oder einfach davonliefen.
All die unterschiedlichen Bewohner dieses höchst sonderbaren Hauses schienen sie und ihre Mutter (vor allem aber sie) mit der gleichen, misstrauischen Neugier anzustarren. Über Targans Gesicht huschte ein flüchtiges Stirnrunzeln, als er sah, dass Lea nicht allein heruntergekommen war, doch er enthielt sich jeder Bemerkung, drehte sich nur um und bedeutete Lea mit einem ungeduldigen Wink, ihm zu folgen. Arri machte zwei rasche Schritte, um noch schneller zu ihrer Mutter aufzuschließen.
»Was ist?«, fragte Lea.
»Ich hatte gehofft, deine Hilfe nicht zu brauchen. Aber der Zustand eines unserer Gäste hat sich verschlechtert.« Targan wedelte weiter mit einer Hand herum, sodass es Arri fast wie eine zweite, lautlose Sprache vorkam, mit der er ihrer Mutter vielleicht etwas mitzuteilen versuchte, was er nicht laut aussprechen wollte, wies aber zugleich auch mit der anderen Hand auf einen Punkt fast am Ende des großen Raumes. Neugierige Blicke folgten ihnen, als sie darauf zusteuerten. Arri hätte sie gern erwidert, doch stattdessen eilte sie so dicht hinter ihrer Mutter her, dass sie Acht geben musste, ihr nicht in die Fersen zu treten, und hielt den Blick dabei fast furchtsam gesenkt. Hier drinnen herrschte eine sonderbare Stimmung; etwas, das sie nicht wirklich in Worte fassen, aber überdeutlich spüren konnte.
Targan führte sie zum anderen Ende des Raumes und trat dann beiseite, um Lea Platz zu machen. Im allerersten Moment konnte Arri nicht viel erkennen, denn ihre Mutter und Targan versperrten ihr die Sicht, dann aber bemerkte sie drei Männer, die um eine mit sorgsam ausgesuchten, gleich großen Steinen eingefasste Feuerstelle saßen. Genauer gesagt, saßen zwei von ihnen. Der dritte lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken, aber er schlief nicht, und wenn doch, dann phantasierte er, denn er warf unentwegt den Kopf hin und her, und auch seine Hände bewegten sich unablässig, wobei seine schmutzigen Fingernägel scharrende Geräusche auf dem Boden aus hartem Holz verursachten.
Wie auch die beiden anderen hatte er langes, verfilztes Haar und einen womöglich noch ungepflegteren Bart, und genau wie sie trug er einfache Schnürsandalen und einen Rock aus einem struppigen Fell sowie einen Umhang, der früher einmal das flauschige Vlies eines Wisents gewesen war. Während seine beiden Kameraden den Umhang jedoch eng um die Schultern geschlungen hatten, als frören sie trotz der anheimelnden Wärme hier drinnen noch immer, war der seine wie eine Decke über seinen Körper ausgebreitet und bis zum Kinn hochgezogen. Das Gesicht des Fremden glänzte vor Schweiß, und Arri konnte seiner Haut ansehen, wie sehr sie glühte.
»Was ist mit ihm?«, fragte Lea, während sie mit raschen Schritten um das Feuer herumging und sich neben dem Fiebernden auf ein Knie herabsinken ließ. Einer der beiden Männer starrte sie nur finster an, und hätte es irgendeinen Grund für diese Annahme gegeben, Arri hätte geschworen, einen gehörigen Anteil Feindseligkeit in seinem Gesicht zu lesen, doch der andere sagte: »Er war unvorsichtig. Wollte einen Wisent erlegen, aber wir haben ihn gewarnt, der Herde nicht zu nahe zu kommen. Es war ein Bulle dabei. Er wollte nicht hören.«
Lea bedachte den Mann mit einem kurzen, zweifelnden Stirnrunzeln, dann streckte sie die Hand aus und schlug den zur Decke umgewandelten Umhang über dem Brustkorb des Verletzten mit einem Ruck zurück. Darunter kam ein wenig kunstvoll angelegter Verband aus Blättern zum Vorschein, der fast zur Gänze durchgeblutet war und dem Verletzten das Aussehen eines Buckeligen verlieh. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, griff Lea zu und entfernte den Verband.
Arri sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, als sie die schreckliche Wunde sah, die darunter zum Vorschein kam. Obwohl sie schon einen halben Tag alt sein musste, blutete sie noch immer, und Arri kam es beinahe wie ein kleines Wunder vor, dass der Mann überhaupt noch lebte. Seine Schulter war schrecklich verstümmelt. Das Schlüsselbein trat in einem offenen Bruch zutage, und unter dem roten, nässenden Fleisch war auch der weiße Knochen seines Schulterblatts zu sehen. Die Wunde verströmte einen schwachen, aber ebenso bezeichnenden Geruch, der Arri verriet, dass der zerschmetterte Knochen und die durchtrennten Muskeln und Adern nicht einmal das Schlimmste waren, was dieser Mann davongetragen hatte.
»Das war ein Bulle, sagt Ihr?«, fragte Lea.
Der Mann, der schon einmal geredet hatte, nickte abgehackt. Irgendwie wirkte die Bewegung trotzig. »Wir haben ihn gewarnt«, wiederholte er.
»Und Euer Freund hätte besser auf Euch gehört«, fügte Lea hinzu. Sie begutachtete die Wunde noch einmal ausgiebig, ohne sie mit den Fingern zu berühren, richtete den Oberkörper dann wieder auf und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich kann nichts mehr für ihn tun. Er hat schon zu viel Blut verloren, und die Wunde ist brandig.«
Der Mann schwieg, doch Targan sagte: »Aber er wäre nicht der Erste, den du rettest. Deine Heilkünste sind überall im Land berühmt.«
»Hättest du mich eher gerufen, hätte ich vielleicht noch etwas tun können.« Leas Stimme klang sonderbar teilnahmslos. »Jetzt ist es zu spät. Und die Wunde sitzt an einer unglücklichen Stelle. Wäre es ein Arm oder die Hand, hätte er vielleicht noch eine Aussicht zu überleben. Aber so?« Sie schüttelte abermals den Kopf. »Was soll ich tun? Ihm die Schulter abschneiden?«
»Ich habe euch gleich gesagt, dass sie ihm nicht helfen wird«, mischte sich der andere Mann ein, der bisher kein Wort gesprochen, Lea aber unentwegt und mit wachsender Feindseligkeit gemustert hatte. »Lasst uns lieber zu den Göttern beten und ein Opfer bringen, statt ihren Zorn auf uns alle herabzubeschwören, nur weil wir der fremden Hexe vertrauen.«
Lea maß den Mann mit einem Blick, den sie ansonsten vielleicht für einen besonders abstoßenden, aber an sich harmlosen Wurm aufgebracht hätte, und reagierte darüber hinaus gar nicht, beugte sich nach einem Moment aber noch einmal über den Fiebernden und unterzog nicht nur seine Schulter, sondern auch den Rest seines Körpers einer aufmerksamen Musterung. Arri tat dasselbe, und es verging nur ein Augenblick, bis ihr auffiel, dass die schreckliche Wunde in der Schulter nicht die einzige war. Dicht unterhalb des Herzens klaffte ein fingerlanger, gebogener Schnitt, der anders als die Schulterwunde nicht mehr blutete, aber ebenfalls tief genug war, dass man an zwei Stellen den weißen Knochen hindurchschimmern sehen konnte, und mindestens drei seiner Finger an der rechten Hand waren gebrochen.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass auch die beiden anderen Männer verletzt waren. Verglichen mit dem, was ihrem Kameraden zugestoßen war, waren es nicht viel mehr als lächerliche Schrammen; ein frisch verschorfter Kratzer auf der Wange des einen, eine noch im Wachstum begriffene Schwellung unter dem Auge des anderen, und die Hände beider waren voll eingetrockneten Blutes, bei dem es sich aber vielleicht auch um das ihres Freundes handeln mochte, den sie hierher getragen hatten. Arri versuchte, den Blick ihrer Mutter aufzufangen, um ihr eine lautlose Frage zu stellen, aber es gelang ihr nicht.
Lea musterte den Sterbenden lange und konzentriert und auf eine Art, in der sich teilnahmslose Gleichgültigkeit mit einer vagen Trauer zu mischen schien, dann schüttelte sie noch einmal den Kopf und sagte: »Er wird die Nacht nicht überleben. Ich kann euch einen Trank mischen, der sein Fieber dämpft und ihm das Sterben leichter macht. Das ist aber auch schon alles. Es tut mir Leid.«
»Wage es nicht, ihn zu berühren!«, zischte der Mann, der sie gerade schon einmal angegriffen hatte. Sein Kamerad warf ihm einen warnenden Blick zu, der dessen Zorn aber nur noch zu schüren schien. »Wage es nicht, ihn anzurühren«, sagte er noch einmal.
»Ganz wie du willst«, antwortete Lea kühl und richtete sich endgültig auf. Ihr Umhang fiel bei dieser Bewegung auseinander, sodass man das Schwert sehen konnte, das sie darunter trug. Der Ruhigere der beiden hatte sich gut genug in der Gewalt, um fast überzeugend so zu tun, als hätte er es nicht gesehen, in den Augen des anderen aber blitzte es auf.
»Was ist das?«, fragte er. »Ein Weib, das ein Schwert trägt? Wer bist du? Eine Hexe oder einfach nur ein Weib, das seinen Platz in der Welt nicht kennt?«
»Warum stehst du nicht auf und versuchst, es herauszufinden?«, fragte Lea in beinahe freundlichem Ton.
Nicht nur Arri fuhr erschrocken zusammen. Nach allem, was in den letzten Tagen und vor allem heute geschehen war, konnte sie verstehen, dass ihre Mutter sich nicht mehr so gut in der Gewalt hatte wie sonst - aber eine derartige Antwort hätte sie dennoch nicht erwartet.
Auch der andere schien im ersten Moment völlig fassungslos zu sein. Eine Frau mit einem Schwert an der Seite zu sehen mochte ihn verblüfft haben, aber von dieser Frau eine so offene Herausforderung zu hören war offensichtlich mehr, als er im ersten Moment verkraften konnte. Nach einem Atemzug straffte er jedoch die Schultern und machte Anstalten aufzustehen, doch diesmal mischte sich Targan ein. »Genug!«, sagte er scharf. »Ihr seid hierher gekommen, um eine Mahlzeit und einen Platz am Feuer zu verlangen, und ich habe euch beides gewährt, wie es die Gastfreundschaft gebietet. Aber ihr werdet euch wie Gäste benehmen. Ich dulde keinen Streit in meinem Haus!«
Einen Herzschlag lang war Arri sicher, dass sich die Feindseligkeit des Bärtigen nun gegen Targan richten musste, und dem zornigen Auflodern in seinem Blick nach zu schließen war diese Vermutung zumindest nicht ganz falsch. Derselbe Blick zeigte ihm aber offensichtlich auch, welchem muskelbepackten Riesen er gegenüberstand und wie ernst Targans Warnung gemeint war. Er presste wütend die Lippen aufeinander und ließ sich dann wieder zurücksinken, und auch Lea beließ es bei einem verächtlichen Schulterzucken.
»Kommt mit«, sagte Targan. Die Worte galten Lea und Arri. »Wenn ihr schon einmal hier seid, können wir gleich auch unseren Handel besprechen. Und ihr« - er wandte sich an die beiden Männer - »bleibt bei eurem Freund und wacht über ihn, bis seine Seele zu den Göttern gegangen ist. Wenn ihr Wasser braucht oder noch hungrig seid, dann ruft nach mir.«
Begleitet von ihm und seiner Tochter - und dem Wolf, der keinen Schritt von Runas Seite wich - durchquerten sie den Raum erneut und steuerten eine der anderen Feuerstellen an; ganz gewiss nicht zufällig die, die am weitesten von den drei Fremden entfernt war. Der Platz am Feuer war besetzt, doch die beiden älteren Frauen und der halbwüchsige Junge, die um die wärmende Glut herumsaßen, standen rasch auf und entfernten sich, als Targan und seine Begleiter näher kamen. Arri versuchte, einen Blick in ihre Gesichter zu erhaschen, aber es gelang ihr nicht, denn alle drei wandten fast erschrocken die Köpfe ab, als sie in ihre Richtung sah. Targan bedeutete ihr und ihrer Mutter mit einer fast groben Geste, Platz zu nehmen. Arri und Lea gehorchten, doch als sich auch Runa unaufgefordert zu ihnen setzen wollte, verscheuchte ihr Vater sie mit einer unwilligen Bewegung. Dann fragte er: »Seid ihr noch hungrig? Ich hole euch gern noch etwas zu essen.«
Lea lehnte mit einer raschen Kopfbewegung ab, Arri hingegen nickte. Sie hatte ihr Brot ja nur angeknabbert, und den Großteil ihrer Suppe hatte der Wolf gefressen. »Gut«, sagte Targan. »Dann wartet hier.«
Arri sah ihm verstört nach, während er auf dem Absatz herumfuhr und davoneilte, nutzte die Gelegenheit aber auch, um sich noch einmal unauffällig, aber auch sehr viel aufmerksamer als das erste Mal umzusehen. Ihre Aufmerksamkeit galt diesmal jedoch nicht der sonderbaren Einrichtung des Raumes, sondern einzig den Menschen. Die Ähnlichkeit der Männer, Frauen und Kinder mit Targan beschränkte sich nicht nur auf die schmutzigen Gesichter. Zwei der älteren Männer mochten seine Brüder sein, bei den anderen aber handelte es sich ganz offensichtlich um seine Söhne, möglicherweise auch schon Enkelsöhne. Fast alle senkten hastig die Blicke oder taten so, als wären sie plötzlich mit etwas anderem, furchtbar Wichtigem beschäftigt, wenn sie in ihre Richtung sah, aber der eine oder andere hielt ihrem neugierigen Blick auch stand. Arri las Verunsicherung in ihren Gesichtern, vielleicht in dem einen oder anderen sogar etwas wie Furcht oder Ablehnung, aber eigentlich keine Feindseligkeit. Die seltsame, unangenehme Stimmung, die sie schon beim Eintreten gespürt hatte, musste einen Grund haben, den sie noch nicht begriff.
»Wer sind diese Leute?«, fragte sie schließlich, an ihre Mutter gewandt.
Sie hatte damit Targan und seine Familie gemeint, aber Lea verstand die Frage offensichtlich falsch. »Auf jeden Fall keine harmlosen Reisenden oder Händler«, antwortete sie besorgt. »Dieser Mann wurde nicht von einem Tier verletzt.«
»Es war ein Schwerthieb«, vermutete Arri.
Ihre Mutter sah sie überrascht an, nickte dann aber. »Ja. Woher weißt du das?«
Weil ich weiß, wer ihn geführt hat, dachte Arri. Laut sagte sie: »Er hatte noch mehr Verletzungen. Einen Schnitt in der Brust, und auch die beiden anderen sahen aus, als wären sie ordentlich verprügelt worden.«
Die Antwort mochte nachvollziehbar klingen, war aber dennoch ein Fehler, das begriff sie, noch bevor sie die Worte ganz ausgesprochen hatte. Das Misstrauen in den Augen ihrer Mutter loderte noch heller auf, und Arri fügte hastig hinzu: »Glaubst du, dass sie selbst ihren Kameraden angegriffen haben?« Lea antwortete nicht, sondern sah sie nur mit schräg gehaltenem Kopf und fast noch misstrauischer an. »Vielleicht sind sie in Streit geraten«, fuhr Arri fort. »Zumindest der eine sah mir ganz so aus, als ob nicht viel dazugehören würde, um ihn dazu zu bringen, sein Schwert zu ziehen.«
»Sie hatten keine Schwerter«, sagte Lea.
»Die haben sie mit Sicherheit draußen versteckt«, antwortete Arri. »Vielleicht haben sie diese Geschichte nur erfunden, weil sie Angst vor der Rache der Familie des Sterbenden haben.«
Leas Misstrauen war immer noch nicht ganz zerstreut, das sah Arri ihr an, aber immerhin schien sie über ihre Worte nachzudenken. Dann schüttelte sie den Kopf. Sie sah sich rasch und sichernd nach rechts und links um, wie um sich davon zu überzeugen, dass niemand sie belauschte, bevor sie antwortete. »Nein. Sie sind unseretwegen hier. Meinetwegen.«
»Wieso?«, murmelte Arri überrascht. Woher konnte ihre Mutter das wissen?
»Du hast die Spuren doch auch gesehen, oder?«, fragte Lea, und nun wurde ihr Blick bohrend. Arri hielt ihm vielleicht nur noch stand, weil sie wusste, dass ihre Mutter sie einfach durchschauen musste, wenn sie jetzt nicht unbeirrbar dabei blieb, die Unwissende zu spielen. Und sie war ziemlich sicher, dass sie ihr ein zweites Mal nicht so leicht vergeben würde.
»Außerdem kenne ich einen von ihnen«, fügte Lea nach einer Weile und in leiserem, fast resignierendem Ton hinzu. Sie deutete mit den Augen eine Kopfbewegung an. »Der Ruhigere von beiden. Ich habe ihn schon einmal gesehen. Er gehört zu Nors Kriegern.«
»Sie kommen aus Goseg?«, entfuhr es Arri; offensichtlich eine Spur zu laut, denn ihre Mutter zuckte leicht zusammen und warf ihr einen erschrockenen Blick zu, vorsichtig zu sein. Fast unmerklich nickte sie. »Ja. Den einen habe ich schon einmal in Nors Begleitung gesehen, und die beiden anderen gehören ganz gewiss zu ihm. Sie müssen uns gefolgt sein. Er weiß vermutlich nicht, dass ich ihn erkannt habe, aber wir müssen vorsichtig sein.«
»Aber du hast doch gesagt, dass niemand etwas von diesem Ort weiß.«
»Das dachte ich bislang auch. Vielleicht habe ich sie hierher geführt. Ein Grund mehr, auf der Hut zu sein.«
»Dann... dann müssen wir hier weg«, meinte Arri. »Bevor...«
Ihre Mutter unterbrach sie mit einer besänftigenden Handbewegung. »Keine Angst. So lange wir hier in Targans Haus sind, kann uns nichts geschehen. Niemand hat es je gewagt, in diesem Haus gegen die Regeln der Gastfreundschaft zu verstoßen... oder sagen wir es so: Niemand hat diesen Versuch je überlebt.«
Und das sollte sie beruhigen? »Aber wir können doch nicht...«
»Wir müssen vor allem Ruhe bewahren«, unterbrach sie Lea abermals. »Ich weiß nicht, was diesen drei Männern zugestoßen ist, doch das bietet uns einen Vorteil, den wir nutzen sollten. Wenn sie von irgendjemandem angegriffen wurden, dann haben wir vielleicht einen Freund; unsere Feinde haben demnach Feinde, was ja auch nicht unbedingt das Schlechteste ist, was uns passieren kann.«
Targan kam zurück. Er hielt eine Schale mit Suppe in der rechten Hand, und hätte Arri noch daran gezweifelt, dass Runa wirklich seine Tochter war, wären diese Zweifel jetzt zerstreut worden, denn auch er hatte den rechten Daumen in die Suppe getaucht. Wortlos nahm er zwischen ihr und ihrer Mutter Platz, reichte ihr die Schale und steckte den schmutzigen Daumen in den Mund. Arri hatte plötzlich gar keinen großen Hunger mehr, zumal Targan weder Brot noch einen Löffel mitgebracht hatte, bedankte sich aber dennoch mit einem artigen Nicken, als er ihr einen auffordernden Blick zuwarf, und setzte die hölzerne Schale gehorsam an die Lippen. Ihre Mutter versuchte ihr mit Blicken etwas zu bedeuten, das sie nicht verstand, und Targan wandte sich mit einem unbewusst ächzenden Laut endgültig an Lea.
»Ich muss mich für das Benehmen dieser Männer entschuldigen, Leandriis.« Beim ersten Mal war es Arri nicht wirklich aufgefallen, jetzt aber bemerkte sie, dass Targan ihre Mutter offensichtlich immer mit ihrem wirklichen Namen anredete, was ihr weit mehr über das Vertrauen verriet, das sie diesem Mann entgegenbrachte, als alles andere. »Sie sind nicht lange vor euch gekommen und haben unsere Gastfreundschaft beansprucht. Ich hatte gleich kein gutes Gefühl dabei. Sie gefallen mir nicht.«
»Aber du wirst niemals jemanden wegschicken, der zu dir kommt und ein Lager für die Nacht und eine warme Mahlzeit erbittet«, sagte Lea sanft. »Das ist einer der Gründe, aus denen ich stolz bin, dich meinen Freund nennen zu können.«
Targan schüttelte fast ärgerlich den Kopf. »Es ist einer der Gründe, der mir schon oft eine Menge Ärger eingebracht hat. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde nicht dulden, dass dir unter meinem Dach ein Leid zugefügt wird. Obwohl...«, er schwieg einen Atemzug lang, und für die gleiche Zeitspanne huschte ein schwer zu deutendes Lächeln über seinen Lippen, »... obwohl ich nicht sicher bin, wer wem ein Leid zufügen würde, wenn es so weit käme.«
»So weit wird es nicht kommen«, versprach Lea. »Wir werden gleich morgen bei Sonnenaufgang abreisen.«
»Ach, Unsinn!«, sagte Targan mit einer wegwerfenden Geste. »Wenn jemand dieses Haus morgen verlässt, dann bestimmt nicht du, Leandriis. Das Gesetz der Gastfreundschaft gilt bei Sonnenaufgang nicht mehr. Wir werden sehen, wer dann geht.«
»Ich will nicht, dass ihr unseretwegen...«, begann Lea, doch Targan unterbrach sie erneut und mit einer diesmal fast zornigen Handbewegung. »Mit dir oder deiner Tochter hat meine Entscheidung wenig zu tun, Leandriis. Du bist immer ein gern gesehener Gast in meinem Haus, doch es spielt keine Rolle, ob du es bist oder nur irgendein Fremder, der um ein Dach für eine Nacht bittet. Wer das Gesetz der Gastfreundschaft in meinem Haus beleidigt, der beleidigt mich. Diese beiden Männer werden gehen, sobald es hell wird, spätestens aber, wenn ihr Kamerad gestorben ist. Du und deine Tochter, ihr könnt bleiben, so lange ihr wollt.« Er machte eine scharfe Handbewegung, um jeden möglichen Widerspruch Leas von vornherein wegzufegen. »Meine Söhne und ich werden dich bis zur Grenze unseres Gebietes begleiten, und darüber hinaus bis zu deinem Dorf, wenn es nötig sein sollte.«
»Bevor wir über das Gehen sprechen, sollten wir vielleicht erst einmal über den Grund unseres Kommens reden«, antwortete Lea mit einem knappen, aber sehr warmen Lächeln. »Es ist spät. Ich weiß, dass ich viel von dir verlange, aber unsere Zeit ist begrenzt.«
Targan wirkte enttäuscht, vielleicht sogar ein bisschen verärgert. Vielleicht verstieß Lea mit ihrer direkten Art gegen irgendein schwer zu durchschauendes Ritual, das er beim Handeln voraussetzte. »Und was genau brauchst du?«
»So ziemlich alles. Was ihr an Werkzeug erübrigen könnt, Kupfer, Zinn...«
Targan zog leicht verwundert die Augenbrauen zusammen. »Du willst es tatsächlich noch einmal mit dem Schmieden riskieren?«
»Vorerst nur mit dem Bronzeschmieden. Alles andere macht zur Zeit keinen Sinn.«
»Du solltest dich trotzdem vorsehen«, beharrte Targan. »Nach allem, was ich gehört habe, traue ich eurem Schamanen jede Schandtat zu. Er wartet doch nur darauf, dass du einen Fehler machst.«
»Ich habe tatsächlich schon einen Fehler gemacht«, sagte Lea hastig. Targans Worte waren ihr ganz offensichtlich unangenehm. »Aber derselbe Fehler wird mir nicht noch einmal unterlaufen, keine Sorge.«
»Nach dem, was du erzählt hast, war es nicht deine Schuld, dass euer Schmied erblindete«, antwortete Targan. »Wie willst du verhindern, dass andere Fehler machen?«
»Indem ich sie diesmal besser unterrichte«, sagte Lea. »Derselbe Fehler wird mir kein zweites Mal unterlaufen«, beharrte sie. »Und ich kann diese Menschen nicht einfach so zurücklassen, nach all der Zeit.«
»Da sie so freundlich und zuvorkommend zu dir waren, vermute ich?«, fügte Targan spöttisch hinzu.
»Das spielt keine Rolle«, entgegnete Lea. »Wir haben bei ihnen gelebt. Meine Tochter ist bei ihnen aufgewachsen. Hätten sie uns damals nicht aufgenommen, wären wir vielleicht heute beide nicht mehr am Leben.« Sie begleitete diese Worte mit einem sonderbaren Blick in Targans Gesicht, der ihm unangenehm zu sein schien, denn er hielt ihm nur ganz kurz stand, bevor er sich in ein unglückliches Lächeln rettete.
Arri hatte plötzlich das intensive Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Unbehaglich drehte sie sich um und erkannte, dass sie sich nicht getäuscht hatte: Nahezu lautlos hatte sich der Wolf wieder genährt. Er stand gerade einmal zwei Schritte hinter ihr und sah sie aus seinen unergründlichen Augen an, und als hätte er nur darauf gewartet, dass Arri aufsah, überwand er nun auch noch die restliche Entfernung und begann schon wieder, an ihren Händen zu schnüffeln. Arri wusste mittlerweile, dass das Tier vollkommen harmlos war, aber das änderte nichts daran, dass sie innerlich vor Furcht erstarrte. Alles, was sie konnte, war, ihrer Mutter einen stummen, Hilfe suchenden Blick zuzuwerfen, den Lea gewiss nicht übersah. Dennoch blickte sie geflissentlich in eine andere Richtung, und auch Targan tat so, als bemerke er gar nicht, was sich unmittelbar neben ihm abspielte. »Dann kommen wir zu einer anderen Frage«, fuhr er in verändertem Ton und mit einer fahrigen Geste in die Runde fort. »Du bist mit einem großen Wagen gekommen, weil du viel mitnehmen willst.«
Der Wolf hatte mittlerweile aufgehört, Arris Hände zu beschnüffeln. Seine feuchte Nase näherte sich ihrer Suppenschale. Lea nickte. »Und jetzt möchtest du wissen, welche Gegenleistung ich dir bieten kann.«
»Freundschaft ist ein kostbares Gut«, sagte Targan. »Aber es macht nicht satt, und es wärmt allenfalls die Seele, nicht den Körper, wenn draußen Schnee fällt und der Wind ums Haus heult.«
»Den einen oder anderen vielleicht doch«, sagte Lea mit einem kurzen, belustigten Blick in Arris Richtung. Arri hatte sich mittlerweile so weit zurückgebeugt, wie sie es im Sitzen konnte, ohne Gefahr zu laufen, das Gleichgewicht zu verlieren und nach hinten zu kippen, aber die schnüffelnde Nase des Wolfes folgte der Bewegung beharrlich. Targan folgte ihrem Blick, runzelte die Stirn und machte eine wenig überzeugende Bewegung, um das Tier zu verscheuchen. Tatsächlich wich der Wolf einen halben Schritt zurück, aber nicht weiter, und setzte sich auf die Hinterläufe. Er begann zu hecheln. Sein Blick tastete gierig über die Suppenschale in Arris Händen; zumindest hoffte sie, dass es die Schale war, die er anstarrte.
»Targan«, sagte Lea mild.
Targan tat noch einen halben Atemzug lang so, als verstünde er gar nicht, was sie überhaupt wollte, doch schließlich drehte er sich um und winkte seine Tochter herbei. Arri sah erst jetzt, dass Runa offensichtlich schon die ganze Zeit in geringem Abstand dagestanden und die Szene mit unverhohlener Schadenfreude beobachtet hatte. »Runa. Bring dein Tier weg. Es belästigt unseren Besuch.«
»Oh, das... das ist schon in Ordnung«, sagte Arri zögernd. »Er stört mich nicht... wirklich nicht.« Sie setzte die Suppenschüssel auf dem Boden ab, damit sie die Hände frei hatte, um dem Wolf über den Kopf zu streichen und ihre Behauptung zu beweisen (und vor allem, damit niemand sah, wie stark ihre Finger zitterten), und wenn schon nicht die Worte, so erwies sich doch zumindest die Bewegung schon wieder als Fehler, denn der Wolf kam unverzüglich wieder näher und tauchte die Schnauze in ihre Suppe.
»Ich sehe, dass du die Kochkunst meiner Frau zu schätzen weißt«, sagte Targan spöttisch. »Ich werde ihr ausrichten, wie sehr es dir gemundet hat.«
»Ich war... eigentlich gar nicht mehr hungrig«, sagte Arri hastig. »Aber die Suppe war sehr gut. Wirklich.«
Targans Blick ließ keinen Zweifel daran aufkommen, was er von dieser Behauptung hielt, doch sie las auch weiter nur gutmütigen Spott in seinen Augen, keinen wirklichen Ärger. Dennoch hatte sie plötzlich das Gefühl, vor Scham im Boden versinken zu müssen.
»Warum zeigst du Arianrhod nicht das Haus, Runa?«, fragte Lea plötzlich. »Ich bin sicher, sie hält es vor Neugier schon gar nicht mehr aus, alles zu sehen und kennen zu lernen.«
Das war so ungefähr das Allerletzte, wonach Arri in Wahrheit der Sinn stand, aber ihre Mutter ließ den fast entsetzen Blick unbeachtet, den sie ihr zuwarf, und winkte Targans Tochter im Gegenteil mit einer Handbewegung heran. »Und lasst euch ruhig Zeit«, sagte sie. »Dein Vater und ich haben eine Menge zu besprechen, und ich glaube nicht, dass Arri die ganze Zeit zuhören und sich langweilen will.«
Arri presste wütend die Lippen aufeinander, als sie hörte, wie ihre Mutter - und sie war sicher, ganz bewusst - in so herablassendem Ton sprach. Sie sagte nichts dazu, doch in Leas Augen blitzte es kurz und spöttisch auf. Nein, es war kein Zufall gewesen. Was hatte sie ihr eigentlich getan?
»Eine gute Idee«, lobte Targan. Wieder winkte er in Runas Richtung, ungeduldiger diesmal, denn das Mädchen hatte bisher keinerlei Anstalten gemacht, seiner Aufforderung nachzukommen, und es setzte sich auch jetzt mit sichtbarem Widerwillen in Bewegung. Targan runzelte flüchtig die Stirn, tat aber ansonsten so, als hätte er diesen kleinen Tribut an Runas Trotz nicht bemerkt, und auch Lea lächelte ihre eigene Tochter an und machte darüber hinaus ein Gesicht, als hätte sie ihr gerade eine ganz besonders große Freude bereitet. Arri versuchte, sie mit Blicken aufzuspießen, was ihre Mutter aber eher noch weiter zu amüsieren schien, woraufhin sich Arri noch einmal und mit einem Gefühl wachsender Frustration in Gedanken dieselbe Frage stellte: Was hatte sie ihrer Mutter eigentlich getan?
»Eigentlich bin ich müde«, sagte sie. »Ich würde lieber noch ein wenig hier sitzen bleiben und...«
»... dich zu Tode langweilen?« Lea schüttelte entschieden den Kopf. »Glaub mir, es gibt nichts Öderes auf der Welt, als dabei zuzusehen, wie jemand mit diesem zähen alten Burschen hier schachert.« Sie blinzelte Targan zu. »Targan behauptet zwar, jedermanns Freund zu sein, doch beim Handeln hört die Freundschaft für ihn auf.«
»Man muss sehen, wo man bleibt«, erwiderte Targan mit einem breiten Grinsen. »Ich habe eine große Familie und eine Menge Mäuler zu stopfen.«
»Ja«, pflichtete ihm Lea bei. »Und jedes Mal, wenn ich dich besuchen komme, scheinen es ein paar mehr geworden zu sein.« Sie grinste plötzlich genau so breit und anzüglich wie der große Mann, wurde aber gleich darauf wieder ernst und wandte sich mit gespieltem Verständnis an Arri. »Aber wahrscheinlich hast du Recht. Der Weg hierher war ziemlich anstrengend, und du musst müde sein. Geh nur. Runa wird dich auf dein Zimmer bringen und dafür sorgen, dass dich niemand stört.«