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Kaum hatten sie das letzte, abschüssige Stück des Weges in Angriff genommen, da kam ihnen auch schon Lea entgegen. Ihre Miene verfinsterte sich, als sie sah, wer sich in Begleitung ihre Tochter befand.

Mit großen Schritten und kampflustiger Miene erreichte sie die vier, bevor sie den halben Weg zur Hütte zurückgelegt hatten. Sie sagte nichts, aber zwischen ihren silberfarbenen Brauen entstand angesichts des Wasserkrugs, den der vorneweg gehende Rahn trug, eine steile Falte, und der Blick, mit dem sie Arri maß, enthielt eine unausgesprochene Frage, auf die sie zwar in diesem Moment sicherlich keine Antwort haben wollte, später dafür aber umso gewisser.

»Was ist geschehen?«, fragte Lea, wobei ihr Blick bereits kundig über Krons Gestalt und vor allem den verbundenen linken Arm tastete und dann seine Augen suchte. Aus einem Grund, den Arri nie wirklich verstanden hatte, sah ihre Mutter den Leuten, die mit einer Krankheit oder einer Verletzung zu ihr kamen, immer zuallererst und sehr lange in die Augen.

»Mein Bruder ist verletzt«, antwortete Grahl. »Sein Arm.«

»Das sehe ich.« Arris Mutter trat zur Seite und vollführte eine auffordernde Geste. »Bring ihn ins Haus.« Mit der anderen Hand hielt sie gleichzeitig Arri und Rahn zurück, als auch diese beiden sich in Bewegung setzen wollten. »Gib Arri den Krug«, wandte sie sich an den Fischer. »Und dann geh zur Zella und hole Nachschub. Ich brauche noch mehr Wasser.«

Rahn sah sie aus seinen braunen Augen eindeutig trotzig an, nahm aber ohne ein Wort den Krug von der Schulter und reichte ihn Arri. »Darüber reden wir später«, zischte ihre Mutter Arri zu, während sie sich bereits umdrehte und den beiden Jägern mit schnellen Schritten folgte. Arri wankte ihnen unter der Last des Kruges gebückt hinterher, fiel aber rasch zurück, sodass die drei bereits in der Hütte verschwanden, als sie gerade die Stiege erreicht hatte. Ächzend setzte sie den schweren Krug ab, gab sich selbst einige Augenblicke, um wieder zu Atem zu kommen, und setzte ihren Weg dann mit zusammengebissenen Zähnen fort. Obwohl sie sehr vorsichtig war, verschüttete sie einen gut Teil des Wassers, bis sie endlich durch den Muschelvorhang trat, was ihr einen weiteren ärgerlichen Blick ihrer Mutter einbrachte.

Grahl hatte seinen Bruder mittlerweile zu einer Grasmatratze geführt (ihre Matratze, wie Arri mit einem ärgerlichen Zusammenzucken feststellte) und ihm den Umhang abgenommen. Leas Gesicht blieb vollkommen unbewegt, aber Arri fuhr noch einmal und noch heftiger zusammen, als sie sah, dass Krons Arm auch oberhalb des Verbandes dunkel verfärbt war, an manchen Stellen fast schwarz. Sie verstand nicht annähernd so viel von der Heilkunst wie ihre Mutter, aber das musste sie auch nicht, um zu begreifen, dass es ernst war.

»Was ist passiert?«, wandte sich Lea an Grahl. Bevor er jedoch antworten konnte und ohne den Blick von Krons verbundenem Arm zu nehmen, fuhr sie, an ihre Tochter gewandt, fort: »Mach ein Feuer. Ich brauche heißes Wasser. Und bring mir meine Werkzeuge.«

Arri wankte gehorsam mit ihrer Last zum anderen Ende des Raumes, stellte den Krug mit einem unnötig lauten Knall ab und ging dann zu dem schmalen Durchgang, der ins Nebenzimmer führte. In den ersten Jahren, in denen sie hier gelebt hatten, war ihr Haus das einzige im weiten Umkreis gewesen, das nicht nur aus einem Raum bestanden hatte. Mittlerweile hatten auch etliche Dorfbewohner ihre Pfahlbauten um einen Raum erweitert oder neue Gebäude mit gleich zwei Räumen errichtet, vor allem wenn sie neben der schweren Feldarbeit noch ein Handwerk ausübten und einen Lagerplatz für ihre Vorräte und Waren brauchten oder im Winter ihr Vieh mit ins Haus nahmen. Es lag wohl nur an der alten Tradition und Sarns Starrsinn, dass man die größeren Gebäude hier weiterhin Hütten und nicht Häuser nannte, beinahe so, als sei es eine Schande, mehr als nur den allernotwendigsten Platz für Mensch und Tier zur Verfügung zu stellen.

Ihre eigene Hütte - ihr eigenes Haus, verbesserte sich Arri in Gedanken - war bei weitem nicht mehr das größte in der Umgebung, in dem Menschen ohne Vieh lebten, und ihr zweites Zimmer verdiente diesen Namen kaum. Es war ein winziger Verschlag, in dem ihre Mutter alles aufbewahrte, was nicht tagtäglich gebraucht wurde oder was von besonderem Wert für sie war. Durch die schmalen Ritzen des unverputzten Weidengeflechts drang nur sehr wenig staubiges Licht, doch Arri hätte selbst bei vollkommener Dunkelheit gefunden, wonach sie suchte. Der aus grobem Leder gefertigte Beutel lag auf dem kleinen Tischchen unmittelbar neben dem Eingang. Sein Inhalt klimperte leise, als Arri ihn hochhob und ihrer Mutter brachte.

Lea beachtete sie gar nicht, sondern bedeutete ihr nur mit einer Geste weiterzumachen, sodass sie sich rasch zu der Feuerstelle in der Mitte des Raumes begab, wo sie sich auf die Knie herabsinken ließ. Während sie bedächtig trockene Blätter und Reisig herunterrieseln ließ, blies sie behutsam in die nahezu erloschene Glut, um das Feuer neu anzufachen. Im allerersten Moment wollte es ihr nicht richtig gelingen, und sie bekam schon fast Angst, es übertrieben zu haben und das Feuer aus- statt anzublasen, was nichts anderes als die zeitraubende und mühsame Prozedur für sie bedeutet hätte, es völlig neu zu entzünden.

Dann aber fing eines der trockenen Blätter an zu schwelen, und kurz darauf leckte ein erstes, noch winziges Flämmchen an dem dürren Reisig empor. Arri atmete innerlich auf. Sie hasste es, Feuer zu machen. Die sicherste Methode war, einen runden Holzstab so lange zwischen den Handflächen schnell hin und her zu rollen, bis durch die Reibung ein winziger Glutfunke auf einem Feuerschwamm entstand, und es gelang ihr auch fast immer auf Anhieb. Aber auf Anhieb konnte dennoch eine geraume Zeit bedeuten, und manchmal schmerzten ihre Hände hinterher so sehr, dass sie sie einen halben Tag lang nicht richtig benutzen konnte.

Inzwischen hatte ihre Mutter ihre Frage noch einmal wiederholt, während sie Grahl dabei half, seinen Bruder vollends aus dem schweren Fellumhang zu schälen und mit mehr oder weniger sanfter Gewalt auf die Matratze hinabzudrücken. Kron wehrte sich schwächlich; vielleicht aus einem ebenso absurden wie falschen Stolz heraus, vielleicht fieberte er aber auch bereits so stark, dass er gar nicht mehr richtig begriff, was er tat.

»Wir sind angegriffen worden«, wiederholte Grahl.

»Das weiß ich«, antwortete Lea unwillig. »Was ist mit seinem Arm? Wann ist es passiert und wo?«

»Ein Schwerthieb«, antwortete Grahl.

Arri fuhr so erschrocken herum, dass sie eine unbedachte Bewegung machte und das Feuer um ein Haar tatsächlich erstickt hätte. Geradezu entsetzt starrte sie den Jäger an, und auch ihre Mutter hatte mit einem Ruck den Kopf gehoben und bedachte Grahl mit einem Ausdruck, von dem Arri nicht sicher war, ob er Zweifel oder tiefes Erschrecken bedeutete.

»Ein Schwerthieb?« Arris Herz begann zu klopfen. Die einzigen Schwerter, die sie außer dem Zauberschwert ihrer Mutter je gesehen hatte, gehörten Nors Kriegern - aber die Wächter Gosegs waren ihre Verbündeten!

»Es waren Fremde«, antwortete Grahl. »Zwei Tage von hier, im Osten. Wir waren hinter Wildschweinen her und hatten gerade einen besonders großen Keiler erlegt, als sie auftauchten. Zuerst war es nur einer. Ans wollte ihn verjagen, weil wir dachten, er sei von einem anderen Stamm und wolle uns unsere Beute streitig machen.«

Lea sagte nichts dazu, sondern legte nur fragend den Kopf ein wenig mehr auf die Seite, und auch ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber Arri konnte sich gut vorstellen, was hinter ihrer Stirn vorging. Vermutlich das Gleiche wie hinter ihrer eigenen. Grahl und seine Brüder waren nicht unbedingt dafür bekannt, ein freundliches Wesen zu haben. Ganz bestimmt hatte Grahls Bruder diesen Fremden nicht einfach nur freundlich aufgefordert, wieder zu gehen.

»Und?«, fragte Lea, als der Jäger nicht von sich aus weitersprach, sondern auf seinen Bruder herabblickte und dabei die rechte Hand im Schoß zur Faust ballte.

»Er ist gegangen«, antwortete Grahl, »und wir haben angefangen, den Keiler auszunehmen. Aber nach einer Weile ist er zurückgekommen, und mit ihm fünf oder sechs andere. Sie haben uns sofort angegriffen. Wir haben uns gewehrt, so gut wir konnten, aber es waren zu viele, und sie hatten Schwerter.«

»Schwerter?«, vergewisserte sich Lea.

Grahl nickte düster. »Es waren Krieger, keine Jäger. Ans haben sie erschlagen. Und auch ich wäre tot, wenn mein Bruder sich nicht dazwischengeworfen hätte. Der Hieb, der ihn getroffen hat, galt mir. Danach sind wir geflohen. Sie haben uns verfolgt, aber wir waren schneller und konnten ihnen entkommen.«

Leas Gesichtsausdruck ließ noch immer nicht erkennen, ob sie diese Geschichte nun glaubte oder nicht. Arri jedenfalls fiel es schwer. Sie zweifelte nicht daran, dass sie im Kern der Wahrheit entsprach, aber ihr war ebenso klar, dass Grahl das eine oder andere wohl nicht ganz so darstellte, wie es sich tatsächlich abgespielt hatte. Fünf oder sechs Krieger mit Schwertern gegen drei Jäger, die nur Speere und einfache Messer hatten? Kaum.

»Was waren das für Männer?«, fragte Lea schließlich. »Konntest du erkennen, zu welchem Stamm sie gehören?«

Grahl schüttelte heftig den Kopf. »Keinem, den ich kenne«, antwortete er. »Sie sahen nicht aus wie...« Er suchte sichtlich nach Worten. »Wie Leute von hier«, sagte er schließlich. »Es waren Riesen. Der Kleinste von ihnen war größer als ich, und sie trugen Fellkleider, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe, und sonderbaren Schmuck.«

Ja, und gleich wird er erzählen, dass Blitze aus ihren Augen geschossen sind und die Erde zittert, wenn sie laufen, dachte Arri spöttisch. Sie hütete sich, diesen Gedanken laut auszusprechen oder sich ihre Zweifel auch nur anmerken zu lassen, aber sie glaubte dennoch zu spüren, dass es ihrer Mutter bei Grahls Worten nicht sehr viel anders erging als ihr. Sonderbarerweise wirkte sie zugleich aber auch sehr besorgt.

Sie ging jedoch nicht weiter darauf ein, sondern öffnete den Lederbeutel, den Arri ihr gebracht hatte, und kramte ein kleines Messer mit einer Bronzeklinge hervor, die kaum länger als ein Fingernagel war, dafür jedoch so scharf geschliffen, dass man sich fast schon daran schneiden konnte, wenn man sie nur ansah. »Das war vor zwei Tagen, sagst du?«, fragte sie, während sie sich über Kron beugte und mit einem raschen Schnitt die grobe Schnur durchtrennte, mit der er seinen verletzten Arm am Leib festgebunden hatte. Der Jäger stöhnte und warf den Kopf hin und her, und Lea gab seinem Bruder mit einer entsprechenden Geste zu verstehen, dass er ihn festhalten solle.

»Drei, wenn die Sonne untergeht«, antwortete Grahl. »Seither waren wir auf der Flucht vor ihnen. Wir hatten Angst, dass sie uns noch weiter verfolgen könnten.«

»Und da habt ihr euch gedacht, es ist das Beste, ihr kommt hierher zurück und lockt diese gewaltigen fremden Krieger direkt ins Dorf«, seufzte Lea kopfschüttelnd. Grahl wirkte betroffen, sagte aber nichts dazu, und auch Arri konnte plötzlich nur hoffen, dass seine Schilderung der unheimlichen Angreifer tatsächlich so hoffnungslos übertrieben war, wie sie vermutete. Ein halbes Dutzend Krieger, wie Grahl sie beschrieben hatte, noch dazu mit Schwertern und womöglich anderen, gefährlicheren Waffen ausgestattet, konnte es leicht mit dem gesamten Dorf aufnehmen. Arris Blick streifte das Schwert, das hinter ihrer Mutter an der Wand hing, und sie berichtigte sich in Gedanken. Na gut: fast mit dem gesamten Dorf.

»Sie haben uns nicht verfolgt.«

»Bist du da sicher?«, fragte Lea.

Grahl druckste herum, während sich Arris Mutter tiefer über seinen Bruder beugte und mit ihrem winzigen Messer den Verband aus Blättern aufschnitt. »Ja«, gestand er schließlich. »Hätten sie es getan, dann hätten sie uns wahrscheinlich auch erwischt. Wir sind nicht gut vorangekommen. Kron hat viel Blut verloren und konnte nicht sehr schnell laufen, und schon in der ersten Nacht hat er Fieber bekommen. Ein Stück des Weges musste ich ihn tragen. Ich hatte Angst, dass er auch stirbt. Du... du wirst ihm doch helfen, oder?«

Lea antwortete nicht. Sie hatte den Verband mit einem Schnitt der Länge nach geteilt. Jetzt legte sie das Messer aus der Hand, griff aber noch nicht nach der Masse aus blutdurchtränkten Blättern und Moos, sondern wandte sich mit einem ungeduldigen Blick an ihre Tochter. »Komm her.«

Arri zögerte. »Aber das Feuer...«

»Wird schon nicht ausgehen, in dem kurzen Augenblick«, unterbrach sie ihre Mutter. »Vielleicht brauche ich deine Hilfe. Und außerdem wäre es ganz gut, wenn du lernst, wie man mit Verletzungen umgeht. Komm.«

Unsicher stand Arri auf, trat an ihre Seite und ließ sich zögernd auf die Knie sinken. Abgesehen davon, ihr die Werkzeuge, Heilkräuter und das Wasser zu bringen und sich um das Feuer zu kümmern, konnte sich Arri nicht vorstellen, wie sie ihrer Mutter helfen sollte. Sie verstand nicht besonders viel von den Künsten ihrer Mutter, die sie vor ihr fast ebenso eifersüchtig hütete wie vor allen anderen.

»Halte seinen Arm«, befahl Lea. Wahrscheinlich hatte die Aufforderung Grahl gegolten, doch bevor der Jäger zugreifen konnte, hatte Arri bereits Krons Handgelenk umschlossen und hielt es so fest wie sie konnte. Es kostete sie eine Menge Überwindung. Krons Haut fühlte sich heiß an und so trocken wie altes Leder, das über die ganze Mittagszeit in der Sonne gelegen hatte, und sie konnte spüren, wie rasend schnell sein Herz schlug.

»Haltet ihn gut fest«, sagte Lea noch einmal. »Wenn der Verband an der Wunde festklebt, wird es sehr wehtun.«

Arri spannte die Muskeln an, und auch Grahls Griff um die Schultern seines Bruders verstärkte sich, als Lea unendlich behutsam den Blätterverband auseinander bog. Trotzdem stöhnte Kron leise, und Arri musste nun fast ihre gesamte Kraft aufwenden, um seinen Arm weiter ruhig zu halten. Ein erbärmlicher Gestank begann sich in der Hütte auszubreiten, als Lea das zusammengebackene Gemisch aus Blättern, Blut und Moos vorsichtig von Krons Arm streifte; es roch nach Eiter und altem Blut und Schmutz, aber auch noch nach etwas anderem, Schlimmerem. Arri sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und musste gegen ein leises Gefühl von Übelkeit ankämpfen, als sie Krons Arm das erste Mal wirklich sah. Das Gesicht ihrer Mutter aber nahm einen deutlich besorgten Ausdruck an.

»Das sieht nicht gut aus«, sagte sie, und allein die Tatsache, dass sie das sagte, alarmierte Arri über die Maßen, denn gewöhnlich gehörte es zu den ehernen Grundsätzen ihrer Mutter, den Leuten, die zu ihr kamen, stets Mut zu machen. Andererseits, dachte Arri und wagte einen zweiten, etwas längeren Blick auf Krons Arm, nachdem ihr Magen wirklich zu revoltieren begann, wäre alles andere einfach nur lächerlich gewesen. Der Arm des Jägers hatte sich schwarz verfärbt und war nahezu auf das Doppelte seines normalen Umfangs angeschwollen. Die Wunde reichte bis auf den Knochen, der zwar nicht ganz gebrochen, aber auf der Länge einer Handspanne gesplittert war, und der üble Geruch, den sie verströmte, schien mit jedem Moment schlimmer zu werden. Es war nicht zu erkennen, was auf seiner schwarz verfärbten Haut faulendes Fleisch und was Reste des drei Tage alten Verbandes waren, aber Arri wunderte sich im Grunde, dass der Mann überhaupt noch lebte.

»Bring mir eine Schale Wasser«, verlangte ihre Mutter, »und etwas von dem gepressten Mohn.«

Arri stand gehorsam auf, verschwand im Nebenzimmer und kam mit einer flachen hölzernen Schale zurück, die ein grobkörniges, schwarzes Pulver enthielt. Das Allermeiste davon waren tatsächlich getrocknete Mohnsamen, aber sie wusste, dass ihre Mutter auch noch einige andere, geheime Ingredienzien darunter gemischt hatte, und hätte sie nicht schon der Anblick von Krons Arm alarmiert, so hätte es spätestens die Tatsache getan, dass ihre Mutter nach diesem Pulver verlangte. Seine Herstellung war sehr aufwändig und zeitraubend, und ihre Mutter hatte ihr oft genug eingeschärft, dieses Pulver niemals - niemals - zu berühren oder ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis herauszugeben, denn es versetzte denjenigen, der es nahm, nicht nur in einen tiefen Schlaf, in dem er weder Schmerz noch sonst etwas spürte, sondern konnte den Schlaf auch übergangslos in den Tod übergehen lassen, wenn man nur eine Winzigkeit zu viel davon verabreichte.

Umso überraschter war Arri nun, als sie die großzügige Menge sah, die ihre Mutter in die Schale mit Wasser einrührte, welche sie ihr gebracht hatte. Sie beruhigte sich selbst damit, dass Kron auch ein außergewöhnlich großer und starker Mann war, und sah schweigend zu, wie Lea die Schale an seine Lippen setzte und ihm gut die Hälfte des Wassers einflößte.

»Wir müssen warten, bis der Trank wirkt«, sagte sie und reichte Arri die Schale zurück. »Hier. Stell das gut weg. Wir brauchen es vielleicht später noch einmal.«

Während Arri gehorchte, wandte Lea sich wieder an Grahl. »Wo genau habt ihr diese Fremden getroffen?«

»Im Osten«, antwortete der Jäger.

»Drei Tage weit im Osten?«, erwiderte Lea. Der Zweifel in ihrer Stimme war unüberhörbar. Niemand ging so weit, um ein Wildschwein zu jagen. Das sprach sie zwar nicht laut aus, aber sowohl Arri als auch Grahl hörten es irgendwie trotzdem heraus.

»Keine drei Tage«, antwortete er. »Aber auf der anderen Seite des großen Flusses. Allein und ohne Kron wären es weniger als zwei Tagesmärsche gewesen.«

»Das ist trotzdem weit«, sagte Lea. Sie klang besorgt. »Wieso habt ihr den Fluss überquert?«

Was geht dich das an?, antwortete Grahls Blick. Er presste trotzig die Lippen zusammen und schwieg, aber er musste ebenso gut wie Arri wissen, dass er diese Frage würde beantworten müssen. Wenn nicht ihnen, dann spätestens Sarn. Der große Fluss im Osten stellte nicht nur eine beinahe unüberwindliche Barriere dar, an der die bekannte Welt endete, sondern markierte zugleich auch die Grenze, bis zu der der Einflussbereich Gosegs und der mit dem Heiligtum verbündeten Sippen und Dörfer reichte. Was dahinter lag, war Niemandsland, über dessen Bewohner man wenig wusste, um das sich dafür aber umso mehr Gerüchte rankten. Aber noch nie hatte jemand etwas von Riesen erzählt, die sonderbare Kleidung trugen und mit Schwertern auf harmlose Jäger losgingen. Soviel Arri wusste, gab es dort eben andere Dörfer, andere Sippen und vielleicht andere Heiligtümer, in denen andere Götter angebetet wurden, dennoch aber Menschen.

»Wir haben die Schweine zwei Tage lang verfolgt«, sagte Grahl schließlich in trotzigem Ton. »Ich lasse keine Beute entkommen, nur, weil sie durch einen Fluss flieht.«

»Aber du hast die Gerüchte gehört«, sagte Lea ruhig. »Über die fremden Krieger aus dem Osten. Du und deine Brüder, ihr wolltet nicht einfach einmal nachsehen, was an diesen Gerüchten dran ist?«

»Gerüchte«, sagte Grahl abfällig. »Dummes Gerede, mit dem man Kindern Angst macht, damit sie sich abends nicht vom Feuer entfernen.«

Lea seufzte. »Ja, und jetzt ist einer deiner Brüder tot, und der andere...« Sie schüttelte den Kopf, sah auf Kron hinab und hob dann mit einem neuerlichen Seufzen die Schultern. »Aber das geht mich nichts an. Was immer ihr getan habt oder auch nicht, ist geschehen, und ihr habt einen ziemlich hohen Preis dafür bezahlt.«

Sie stand auf. »Gib Acht, dass er den Arm nicht bewegt«, sagte sie, an Arri gewandt, während sie sich umdrehte und mit schnellen Schritten im Nebenzimmer verschwand. Grahl starrte ihr nach. Er hatte die Kiefer so fest zusammengepresst, dass Arri meinte, seine Zähne knirschen zu hören. Vermutlich war ihre Mutter mit ihrer Frage der Wahrheit näher gekommen, als sie selbst ahnte. Arri hatte schon vor langer Zeit begriffen, dass es kaum einen sichereren Weg gab, sich den Hass eines anderen zuzuziehen, als ihm einen Fehler nachzuweisen.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen - vielmehr hatte er aber wahrscheinlich ihren Blick gespürt -, starrte Grahl sie nun so hasserfüllt an, dass sie rasch die Augen senkte und es allemal vorzog, auf Krons verheerten Arm zu starren. Ihr Magen krampfte sich prompt wieder zusammen, jetzt aber schon nicht mehr ganz so schlimm wie zuvor, und auch der Gestank schien bereits weniger schlimm zu sein, obwohl Arri nicht ganz sicher war, ob sie sich nicht einfach nur daran gewöhnt hatte. Vielleicht half ihr auch die wachsende Gewissheit, dass ihre Mutter sie wohl nicht zu dieser grässlichen Hilfe zwang, um sie zu quälen, vielleicht brauchte sie sie ja tatsächlich bei dem, was sie nun tun musste. Wahrscheinlich aber kam es ihr vor, dass auch dies Teil der geheimnisvollen Ausbildung war, von der sie in der vergangenen Nacht gesprochen hatte. Allerdings gefiel ihr dieser Teil weit weniger als die Unterweisung im Wald.

Ihre Mutter rumorte einige Augenblicke im Nebenraum, und als sie zurückkam, trug sie eine ganze Anzahl kleiner Tongefäße und lederner Beutel auf den Armen. Geschickt balancierte sie mit ihrer Last heran, sank wieder auf die Knie und verteilte alles so um sich herum auf dem Boden, dass sie es ohne Mühe erreichen konnte.

»Das Feuer«, erinnerte sie Arri.

Froh, Krons Arm endlich loslassen zu können, stand Arri auf und ging zu dem flachen Stein in der Mitte des Zimmers, auf dem das kurzlebige Reisigfeuer seinen Zenit mittlerweile schon wieder überschritten hatte und erneut zu erlöschen drohte. Diesmal kostete es sie jedoch nur wenige Handgriffe, die Flammen neu anzufachen und einige etwas dickere Äste nachzulegen, die das Feuer länger in Gang halten würden. Es war sehr warm im Raum. Warum ihre Mutter ein so großes Feuer brauchte, verstand sie nicht wirklich - was hieß: Sie hatte einen Verdacht. Aber der war so unangenehm, dass sie den Gedanken rasch wieder von sich schob. Sie legte weiteres Holz nach und bröselte schließlich eine Hand voll trockenen Torf in die Flammen, der nicht annähernd so hell brannte wie die Zweige, aber heißer und sehr viel länger.

Als sie fertig war und wieder an Leas Seite zurückkehrte, begann der Schlaftrunk seine Wirkung zu tun. Kron hatte die Augen geschlossen; er atmete noch immer schnell und hektisch, und an beiden Seiten seines Halses pochte eine Ader, die verriet, wie rasend sein Herz schlug. Doch als Lea vorsichtig die Hand ausstreckte und mit den Fingerspitzen die Wundränder berührte, reagierte er nicht.

Was nun kam, hatte Arri schon oft genug beobachtet, aber sie hatte noch nie dabei mithelfen müssen, und sie war überrascht, dass es so ein großer Unterschied war. Ihre Mutter mischte Kräuter und Pulver, die sie aus den verschiedensten Pflanzen und Pilzen gewonnen hatte, in einer Wasserschale, in die sie anschließend ein sauberes Tuch tauchte, mit dessen Hilfe sie die grässliche Wunde in Krons Arm säuberte, so gut es ging; wobei so gut es ging ganz und gar nicht gut bedeutete. Das brandig gewordene Fleisch schien sich an manchen Stellen regelrecht aufzulösen, wenn sie mit dem Tuch darüber strich, an anderen wiederum war es hart wie Stein geworden oder begann heftig zu bluten, wenn sie es auch nur berührte.

Der Gestank nach Eiter wurde so übermächtig, dass Arri zweimal schrecklich übel wurde, und auch aus Leas Gesicht war sämtliche Farbe gewichen, als sie endlich fertig war. Die Schale, in die sie immer wieder ihr Tuch getaucht hatte, war nun mit einer braunroten Flüssigkeit gefüllt, die kaum weniger übel roch als Krons Arm. Erschöpft ließ sich Lea zurücksinken. »Das hat keinen Sinn«, wandte sie sich an Grahl. »Ich kann den Arm nicht retten.«

Grahls Blick machte klar, dass er das gewusst hatte. Trotzdem flammte eine Mischung aus Wut und Entsetzen in seinen Augen auf. »Was soll das heißen?«, fuhr er sie an. »Du kannst alle Verletzungen heilen! Hilf ihm!«

»Das soll heißen«, antwortete Lea leise, fast traurig, zugleich aber auch sehr entschieden, »dass die Wunde brandig geworden ist. Wenn du es schon nicht siehst, dann solltest du es zumindest riechen.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Er ist dein Bruder. Ich weiß, was er dir bedeutet. Wärt ihr gestern hierher gekommen, hätte ich vielleicht noch etwas tun können. Aber so ist es zu spät. Es ist ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt.«

Noch einmal - diesmal aber nur für einen ganz kurzen Moment - blitzte blanker Hass in Grahls Augen auf, aber das Gefühl hielt nicht einmal lange genug an, um Arri erschrecken zu können. Dann machte es einer dumpfen Verzweiflung und einem Schmerz Platz, die sie bei diesem großen, streitlustigen Mann niemals erwartet hätte. »Also... also wird er sterben?«

Lea ließ eine geraume Weile verstreichen, bevor sie antwortete, und sie sah Grahl dabei auch nicht direkt in die Augen. »Das wissen nur die Götter, Grahl. Ich kann seinen Arm nicht retten.« Sie schwieg kurz und fügte dann noch leiser hinzu: »Aber vielleicht ihn.«

Grahls Augen wurden groß. Das Entsetzen, das Arri darin las, war offensichtlich noch größer als das bisherige, aber von einer vollkommen anderen Art. »Du... du willst seinen... seinen Arm abschneiden?«, flüsterte er.

»Er wird mit Sicherheit sterben, wenn ich es nicht tue. Noch heute, spätestens aber morgen. Vielleicht wird er auch sterben, wenn ich es tue, doch wenn nicht, stirbt er bestimmt.«

Arri spürte ein kurzes, aber eisiges Frösteln. Sie wusste, dass ihre Mutter Recht hatte. Kron gehörte mit zu den stärksten Männern im ganzen Dorf. Die meisten anderen an seiner Stelle hätten nicht einmal den Rückweg hierher lebend überstanden. Dennoch schnürte ihr die bloße Vorstellung dessen, was ihre Mutter gerade vorgeschlagen hatte, die Kehle zu.

»Aber... mit einem Arm wird er... ein Krüppel sein«, stammelte Grahl. Arri sah, dass er unter all dem eingetrockneten Schmutz und der Sonnenbräune blass geworden war. »Er wird nie mehr auf die Jagd gehen können. Wovon soll er leben? Wie soll er sich und seine Familie ernähren?«

»Wenn die Götter entscheiden, dass er lebt, dann werden sie auch dafür sorgen, dass er es kann«, antwortete Lea. »Er wird eine andere Arbeit finden. Seine Frau und seine Kinder können ihn versorgen, und Ans’ Familie ebenfalls, jetzt, wo er nicht mehr am Leben ist.« Sie hob müde die Schultern. »Er ist dein Bruder. Es ist deine Entscheidung.«

Grahl schwieg eine lange, schier endlos lange Weile. Er blickte auf seinen bewusstlosen Bruder herab, doch Arri war sicher, dass er etwas ganz anderes sah. Schließlich flüsterte er: »Er wird mich dafür hassen.«

»Nicht so sehr wie mich«, sagte Lea. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, aber ein wenig schon. Besprich es mit seiner Familie oder auch mit Sarn, wenn du willst. Aber komm schnell zurück. Jeder Moment, den wir noch warten, verschlechtert seine Aussicht, am Leben zu bleiben.«

Zuerst schien es, als hätte Grahl ihre Worte gar nicht gehört. Sein Blick flackerte unstet über das Gesicht seines bewusstlosen Bruders, wanderte dann zu seinem Arm und saugte sich an der schwärenden Wunde fest. Im ersten Augenblick dachte Arri, dass seine Lippen zitterten, dann aber wurde ihr klar, dass sie lautlose, gestammelte Worte formten, vielleicht in einer Sprache, die nur er allein verstand.

»Nein«, sagte er schließlich. »Tu es. Jetzt.«

»Bist du sicher?«, fragte Lea. »Du hast Recht, weißt du? Er wird dich dafür hassen.«

»Nicht so sehr wie dich.« Grahl versuchte zu lachen. Es misslang. »Waren das nicht deine eigenen Worte?«

»Alle hier hassen mich.« Lea schüttelte ernst den Kopf. »Aber du bist sein Bruder.«

Grahls Blick löste sich von Krons Gesicht, bevor er antwortete, strich mit sonderbarer Kälte über Leas Gestalt und blieb dann an der Klinge des schimmernden Zauberschwertes an der Wand hinter ihr hängen, bevor er antwortete. »Ich habe schon einen Bruder verloren. Ich will nicht schuld am Tod eines zweiten sein. Du hast Recht. Wenn die Götter es wollen, wird er weiterleben, und wenn es so kommt, dann werde ich es als Zeichen nehmen, unsere Kraft nicht mehr mit der Jagd auf Schweine zu verschwenden. Ein Mann kann ein Schwert auch mit einer Hand führen. Wir werden Ans’ Mörder suchen und töten.«

Ein flüchtiger Ausdruck von Trauer huschte über Leas Gesicht und erlosch wieder, bevor Grahl ihn sehen konnte. Arri jedoch entging er keineswegs. Das war ganz eindeutig nicht die Antwort, auf die ihre Mutter gewartet hatte, aber sie schien auch nicht wirklich überrascht. Allerhöchstens enttäuscht.

»Wenn du es so willst. Trotzdem möchte ich, dass du gehst und Sarn holst. Ich brauche noch ein wenig Zeit, um alle Vorbereitungen zu treffen, und auch die Hilfe eines zweiten Mannes. Und wer wäre besser geeignet als euer Schamane?«

Grahl setzte zu einer Antwort an, doch in diesem Augenblick hörte Arri das Muschelklappern des Vorhanges, und als sie überrascht den Kopf wandte, sah sie niemand anderen als den Mann die Hütte betreten, von dem ihre Mutter soeben gesprochen hatte: Sarn. Grauhaarig, mit verfilztem Bart und trotz seines fortgeschrittenen Alters noch immer mit breiten Schultern, die wie unter dem unsichtbaren Gewicht der Jahre, die auf ihnen lasteten, weit nach vorn gebeugt waren, wirkte er übellaunig und angriffslustig wie immer, als er sich wieder aufrichtete, zugleich aber auch ein wenig verunsichert, und das war etwas, das Arri noch nie an ihm beobachtet hatte. Trotzdem wich sie ganz unwillkürlich ein Stück zurück, und ihr war, als spüre sie noch jetzt den festen Griff seiner Greisenhand, mit der er sie im Steinkreis umklammert hatte.

»Du brauchst nicht nach mir zu schicken«, sagte er. »Ich habe alles gehört.«

»Ich weiß«, antwortete Lea. »Ich hoffe, es war nicht zu unbequem für dich, die ganze Zeit draußen zu stehen und zu lauschen.«

Arri runzelte überrascht die Stirn. Wann immer sie allein waren, pflegte ihre Mutter nie einen Hehl daraus zu machen, was sie von Sarn wirklich hielt, nämlich so wenig wie Sarn umgekehrt davon, dass er die fremde Frau und ihr Kind nur in seinem Dorf duldete, weil ihr Nutzen für die Gemeinschaft größer war als der Schaden, den sein Stolz durch ihre Anwesenheit davontrug; nun gut, und vielleicht auch, weil sie trotz allem unter Nors persönlichem Schutz stand. Aber sie hatte noch nie erlebt, dass ihre Mutter Sarn so unverblümt herausforderte. Der Dorfälteste anscheinend auch noch nicht, denn er starrte Lea einfach nur fassungslos an, und Arri wäre nicht weiter erstaunt gewesen, hätte er wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft geschnappt. Dann jedoch fing er sich wieder und setzte ein möglichst grimmiges Gesicht auf.

»Deine Entscheidung ist richtig«, sagte er, direkt an Grahl gewandt, nicht etwa mitfühlend, sondern ganz im Ton eines Herrschers, der die Entscheidung eines unbedeutenden Untergebenen im Nachhinein gutheißt. »Unser Stamm ist zu klein, um auch nur auf ein einziges Leben verzichten zu können. Wenn die Götter es wollen, wird Kron wieder gesund, und ihr könnt den Mord an eurem Bruder rächen.« Er wandte sich mit verächtlichem Gesichtsausdruck an Lea. »Du brauchst meine Hilfe?«

Ohne zu antworten, griff Lea in ihren Beutel und kramte ein zweites Messer heraus, dessen Klinge ebenso übertrieben breit war wie die des ersten lächerlich klein. Es hatte einen langen, mit Lederstreifen umwickelten Griff, den sie nun sorgsam in eine zweite Lage aus dickem Stoff wickelte, bevor sie aufstand und damit zum Feuer ging. Der bittere Klumpen in Arris Hals wurde größer, als sie sah, dass ihre Mutter die bronzene Messerklinge ins Feuer legte und sorgsam so platzierte, dass sie möglichst viel Glut abbekam.

Noch immer ohne etwas zu sagen, verschwand sie abermals im Nebenzimmer und kam nach einem Augenblick mit zwei unterschiedlich langen Lederriemen in der Hand zurück. Der eine war geflochten, bestand aus mehreren dünnen Schnüren und war doppelt so lang wie Arris Arm. Mit wenigen geschickten Bewegungen knotete sie ihn um Krons Handgelenk und zog ihn stramm. Mit dem anderen, dünneren Riemen beugte sie sich über Krons Schulter und band den Arm dicht über dem Gelenk so fest ab, dass das Blut gestaut wurde. Sie bedeutete Grahl mit einer Kopfbewegung, seinen Bruder festzuhalten, und winkte dann Sarn herbei. »Du musst seinen Arm ausgestreckt halten«, sagte sie, während sie ihm das Ende der geflochtenen Schnur in die Hand drückte. »Zieh so fest wie du kannst. Keine Sorge. Er wird nichts spüren.«

Der Dorfälteste betrachtete den Lederriemen ungefähr so begeistert, wie er eine giftige Schlange angesehen hätte, die Lea ihm gereicht hätte, dann bedachte er sie selbst mit einem vielleicht noch angewiderteren Blick. Doch Lea ließ sich weder von dem einen noch dem anderen beeindrucken, sondern nahm das Schwert von der Wand, ergriff es mit beiden Händen und berührte mit der Klinge vorsichtig Krons Arm an einer Stelle nur zwei Finger breit unterhalb des Riemens, mit dem sie ihn abgebunden hatte. Der Kloß in Arris Hals war mittlerweile so dick geworden, dass sie kaum noch atmen konnte. Sie wusste nicht, was sie mehr erschreckte - die Vorstellung von dem, was ihre Mutter gleich tun würde, oder die Kälte, mit der sie ihre Vorbereitungen traf.

»Es könnte sein, dass er aufwacht«, sagte Lea leise und in ernstem Ton, an Grahl gewandt. »Wenn das geschieht, musst du ihn auf jeden Fall festhalten, hast du verstanden? Er wird verbluten, wenn er sich die Riemen abreißt.«

Grahl nickte. Er war sehr blass, wirkte aber zugleich auch entschlossen, ganz anders als Sarn, der allenfalls so tat, als hielte er den Riemen, mittels dessen er Krons Arm strecken sollte, tatsächlich fest. Seine Hände zitterten sichtbar.

Als es dann geschah, ging alles so schnell, dass Arri nicht einmal wirklich Zeit fand zu erschrecken. Ihre Mutter suchte mit leicht gespreizten Beinen nach festem Stand, hob das Schwert in einer fließenden Bewegung so hoch über den Kopf, dass die Klinge raschelnd das mit Gras gedeckte Dach über ihr streifte, und ließ es dann mit einer sonderbar mühelos wirkenden Bewegung niedersausen. Das schimmernde Metall durchtrennte Fleisch und Knochen so leicht, als wäre es auf keinen wirklichen Widerstand gestoßen, und fuhr mit einem dumpfen Laut fast fingertief in die Fußbodenbretter.

Grahl gab einen leisen, wimmernden Laut von sich, der so gequält klang, als hätte das tödliche Metall in seinen eigenen Arm gebissen, Kron ächzte im Schlaf und lag dann wieder still, und Sarn, der ganz offensichtlich im letzten Moment doch noch tat, was Lea von ihm verlangt hatte und den Riemen straff zog, taumelte mit zwei eindeutig lächerlich wirkenden Schritten rückwärts und wäre sicherlich äußerst unsanft zu Boden gefallen, wäre er nicht mit dem Rücken gegen die Wand neben dem Guckloch geprallt. So rutschte er nur ungeschickt daran entlang nach unten - was für Arri fast genauso komisch aussah. Das Lachen blieb Arri allerdings im Halse stecken, als der Riemen in seinen Händen der Bewegung mit einer kurzen Verzögerung folgte und inmitten eines nach allen Seiten spritzenden Blutschwalls wie eine Peitschenschnur auf ihn zuschnellte. Krons abgetrennter Arm, der daran hing, platschte mit einem dumpfen Laut direkt neben Sarns Füßen auf den Boden, und das Blut, das aus ihm schoss, ergoss sich über seine Sandalen und besprenkelte sein Gewand.

Lea legte das Schwert aus der Hand und war mit zwei schnellen Schritten beim Feuer. Mit einer sonderbaren Mischung aus blankem Entsetzen und einem seltsam teilnahmslosen Interesse sah Arri zu, wie sie das Messer aus der Glut nahm, sich zu Kron hinabbeugte und die mittlerweile glühende Klinge auf seinen Armstumpf presste, aus dem nur sehr wenig und unnatürlich hell aussehendes Blut quoll. Es zischte, und der durchdringende Gestank von verbranntem Fleisch erfüllte den Raum, als Lea den Stumpf mit wenigen, sehr schnellen Bewegungen ausbrannte. Arri wurde nun endgültig schlecht. Irgendwie schaffte sie es, sich nicht vor die Füße ihrer Mutter zu übergeben, aber erstaunlicherweise gelang es ihr nicht, sich von dem furchtbaren Bild loszureißen. Kron warf im Schlaf den Kopf hin und her. Sein ganzer Körper bebte so stark, dass sein Bruder all seine Kraft aufwenden musste, um ihn niederzuhalten. Seine Beine strampelten wild.

Schnell, dennoch aber mit sehr ruhigen, sicheren Bewegungen führte Lea ihre Arbeit zu Ende, legte das Messer anschließend wieder ins Feuer und sah dann mit nachdenklich gerunzelter Stirn auf ihren Patienten hinab. Kron stöhnte leise im Schlaf, hatte aber aufgehört, sich hin und her zu werfen und mit den Beinen zu strampeln. Sein Armstumpf blutete nicht mehr, und der Gestank von Eiter und Fäulnis war einem Geruch gewichen, als hätte man ein Stück Wildbret zu lange im Feuer gelassen. Sarn saß noch immer in unveränderter Haltung unter dem Fenster und starrte abwechselnd den bewusstlosen Jäger und den Lederriemen in seinen Händen an, an dessen Ende immer noch Krons abgetrennter Arm hing; seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, wäre er nicht besonders überrascht gewesen, wäre dieser plötzlich zum Leben erwacht und hätte nach seiner Kehle gegriffen.

Lea bückte sich nach einem der kleinen Lederbeutel, die sie geholt hatte, und reichte ihn Grahl. »Bestreicht die Wunde mit einem dicken Sud aus diesen Kräutern. Ich komme später und lege ihm einen Verband an, aber im Moment sind Licht und Luft das Beste für die Wunde. Ihr müsst ihm Wasser geben, so viel es nur geht. Wenn er nicht trinken will, dann zwingt ihn.«

Grahl blickte den kleinen Beutel in seiner Hand vollkommen verständnislos an. Er wusste offensichtlich nicht, was er damit anfangen sollte. »Aber was, wenn...«

»Mehr kann ich im Augenblick nicht für deinen Bruder tun«, unterbrach ihn Lea. Plötzlich klang sie ungeduldig, fast zornig. Sie wedelte mit der Hand. »Jetzt bringt ihn nach Hause. Wenn er aufwacht und seine Schmerzen zu schlimm werden, dann kommt zu mir, aber wahrscheinlich wird er schlafen.«

»Aber... aber er wird... leben?«, murmelte Grahl. Es klang flehend.

»Ich hoffe es.« Lea fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und verbesserte sich dann mit einem abgehackten, aber nur angedeuteten Nicken: »Wahrscheinlich. Wenn er die Nacht übersteht, sind seine Aussichten gut. Jetzt bringt ihn weg.«

Nicht nur Arri war verwirrt. Bisher hatte ihre Mutter die gleiche Mischung von Sicherheit und Zuversicht ausgestrahlt wie sonst auch. Nun aber wirkte sie erregt, ungeduldig und zornig und schien Kron und die beiden anderen gar nicht schnell genug loswerden zu können. Was bedeutete das nur?

Hinter ihr richtete sich Sarn ächzend wieder auf. Arri wandte flüchtig den Kopf und sah, dass er den Lederriemen immer noch in beiden Händen hielt; ein Angler, der einen ganz besonders grausigen Fisch gefangen hatte. Auch in seinen Augen las sie pures Entsetzen, aber nicht nur. Da war noch etwas, und auch wenn sie es nicht richtig zu deuten vermochte, machte es ihr Angst.

Grahl schob den Beutel, den Lea ihm gegeben hatte, unter seinen Umhang, dann hob er seinen bewusstlosen Bruder anscheinend ohne die mindeste Mühe hoch und wandte sich zum Ausgang »Und du kommst täglich und... und sorgst dich um ihn?«, vergewisserte er sich, bevor er die Hütte verließ.

Lea nickte. Sie sagte nichts. Ihr Gesicht war zu einer Maske erstarrt.

»Und wenn nicht, dann werden die Götter sein Leben erhalten«, sagte Sarn. »Ich werde ihre Gunst erflehen, und der ganze Stamm wird ihnen opfern, damit sie Krons Leben verschonen.«

»Ja«, flüsterte Lea, so leise, dass Arri bezweifelte, dass Sarn die Worte überhaupt verstand. »Tu das.« Etwas lauter und mit einem Lächeln, das so falsch war, wie es nur sein konnte, fügte sie hinzu: »Geh mit ihm, Sarn. Er wird alle Hilfe brauchen, die er bekommen kann. Was ich tun konnte, habe ich getan. Jetzt sind eure Götter an der Reihe.«

Sarn starrte sie mit eisigem Blick an und wollte Grahl dann folgen, doch Lea hielt ihn noch einmal zurück und deutete auf Krons abgetrennten Arm. »Hast du nicht etwas vergessen? Das hier gehört Kron, glaube ich.«

Arri stockte der Atem, und auch der Stammesälteste japste nun tatsächlich nach Luft. Dann aber drehte er sich mit einem Ruck herum, hob Krons abgetrennten, schon fast vollständig ausgebluteten Arm auf und stürmte regelrecht damit aus der Hütte. Arri war mit zwei schnellen Schritten am Guckloch und sah, dass er heftig auf Grahl einzureden begann, der seinen bewusstlosen Bruder die Anhöhe zum Dorf hinauftrug. Die beiden waren nicht allein. Nicht nur Rahn, sondern nahezu alle männlichen Dorfbewohner hatten sich - ohne dass Arri es bisher auch nur bemerkt hätte - vor ihrer Hütte versammelt und offensichtlich darauf gewartet, dass er und die beiden Jäger wieder herauskamen. Arri wartete, bis Grahl und seine Begleiter aus ihrem Blickfeld verschwunden waren, dann drehte sie sich wieder zu ihrer Mutter um und sah sie fassungslos und aus großen Augen an. »Warum hast du das getan?«, murmelte sie.

Lea schnaubte. »Was?«, stieß sie hervor. »Sein erbärmliches Leben gerettet? Ich weiß es nicht.«

»Sarn«, antwortete Arri kopfschüttelnd. »Warum hast du ihn so gereizt?«

»Gereizt?«, erwiderte Lea mit einem neuerlichen, durch und durch humorlosen Lachen. »Ich habe ihn nicht gereizt, Arri. Ich habe ihm einen Gefallen getan. Jetzt hat er endlich den Grund, nach dem er schon so lange sucht.«

»Wie meinst du das?«

»Ich hätte diesen Dummkopf sterben lassen sollen. Es war ein Fehler, ihm zu helfen, ganz gleich, wie es ausgeht.«

»Aber hast du mir nicht immer selbst gesagt, dass es niemals ein Fehler ist, einem Menschen zu helfen?«, fragte Arri.

»Und vielleicht war gerade das mein größter Fehler«, antwortete Lea düster. Sie biss sich auf die Lippen. Bevor sie weitersprach, hob sie das Schwert auf und wischte die Klinge sorgfältig mit Buchenblättern sauber. Ihre Stimme wurde leiser. »Es ist gleich, was jetzt passiert, weißt du? Wenn er stirbt, dann ist es meine Schuld, jedenfalls für Sarn, und er wird dafür sorgen, dass alle anderen das auch glauben. Und wenn er lebt, dann ist es meine Schuld, dass sich der Stamm mit einem weiteren Krüppel herumplagen muss, der nicht mehr arbeiten kann und an den man wertvolles Essen verschwenden muss.«

»Das meine ich nicht.« Arri war verwirrt, aber auch traurig, denn sie spürte den Aufruhr, der hinter der Stirn ihrer Mutter tobte, und sie fühlte sich so hilflos, da sie nichts für sie tun konnte. »Das mit dem Arm. Warum hast du das getan? Es war grausam.«

Lea fuhr mit einer zornigen Bewegung herum, und in ihren Augen funkelte es so wütend, dass Arri fast sicher war, nunmehr selbst zur Zielscheibe ihres Zorns zu werden. »Wieso grausam?«, fragte sie böse. »Vielleicht brauchen sie ihn ja, um ihn ihrem Nachtgott Mardan zu opfern.« Sie lachte hart auf. »Vielleicht essen sie ihn ja auch.«

Arri war schockiert. So etwas hatte sie noch niemals aus dem Mund ihrer Mutter gehört. Doch die harsche Antwort, die ihr auf der Zunge lag, wollte nicht kommen. Stattdessen fragte sie ganz leise: »Du hasst diese Menschen?«

»Hassen?« Lea schien einen Moment ernsthaft über diese Frage nachzudenken. Dann schüttelte sie den Kopf. Plötzlich schimmerten ihre Augen feucht. »Nein.« Dann hob sie die Schultern und verbesserte sich: »Ja. Du hast Recht. Ich hasse sie. Aber nicht, weil sie so sind, wie sie nun einmal sind. Ich hasse sie, weil unser Volk sterben musste und sie leben.«

»Aber das ist doch nicht ihre Schuld«, widersprach Arri. Sie war nicht einmal sicher, ob das stimmte. Sie wusste so wenig über das, was geschehen war, bevor sie hierher gekommen waren.

»Nein. Es ist nicht ihre Schuld. Aber das macht es nicht besser, weißt du?« Plötzlich fing sie an zu weinen. Ihr Gesicht blieb fast unbewegt, doch über ihre Lippen kam ein leiser, klagender Laut, und die Tränen malten glitzernde Spuren in den Schweiß auf ihrem Gesicht. Der bloße Anblick brach Arri schier das Herz. Nie zuvor hatte sie ihre Mutter weinen sehen. Es war ein Schock, denn wenn es einen Menschen auf der Welt gab, dessen Stärke und Unbesiegbarkeit ihr vollkommen erschienen waren, dann war es ihre Mutter. Etwas, das sie zum Weinen brachte, das musste... unvorstellbar sein. Mit einem Male fühlte sie sich so hilflos, dass auch sie nur mit Mühe die Tränen zurückhalten konnte. Sie wollte sich von ihrem Platz am Fenster lösen und zu ihrer Mutter gehen, um sie in die Arme zu schließen, doch kaum hatte sie den ersten Schritt getan, da fuhr Lea auf dem Absatz herum und stürmte so schnell aus dem Haus, wie sie nur konnte.

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