31

Nor wirkte krank. Die meisten Fackeln, die noch am Morgen für ein unheimliches Spiel von düster-roter Helligkeit und huschenden Schatten gesorgt hatten, waren jetzt erloschen, und in dem bleichen Zwielicht, welches das Langhaus erobert hatte, sah sein Gesicht eingefallen und um Jahre gealtert aus. Von der fast greifbaren Aura von Kraft und unerschütterlicher Sicherheit, die er noch vorhin im Heiligtum ausgestrahlt hatte, war nichts mehr geblieben. Müde und mit kraftlos gegen die hohe Rückenlehne des Stuhles gelegtem Kopf saß er in dem gestohlenen Thronsessel, und hätte sich nicht manchmal ein verirrter Lichtstrahl funkelnd in seinen nur noch halb geöffneten Augen gebrochen, hätte man meinen können, er schliefe; oder wäre tot.

Die Atempause, die er sich gegönnt hatte, war knapp bemessen gewesen. Arris Bewacher hatten sie zwar eilig wieder in ihr steinernes Gefängnis auf der anderen Seite des Hügels zurückgebracht; aber sie hatte nicht einmal genügend Zeit gefunden, ausreichend zu trinken und sich an der Schale mit geschmacklosem Brei gütlich zu tun, die bei ihrer Rückkehr auf sie gewartet hatte, da war der Riegel auch schon wieder scharrend zurückgeschoben worden, und dieselben Männer, die sie gerade in so großer Hast hierher gebracht hatten, hatten sie schon wieder herausbefohlen, um sie zu Nor zu bringen. Arri hatte keine entsprechende Frage gestellt, schon weil sie wusste, dass sie keine Antwort erhalten würde, aber die Verwirrung und auch der leise Unmut der Männer waren nicht zu übersehen gewesen. Nor hatte seinen Entschluss offensichtlich sehr kurzfristig wieder geändert; das, oder es war etwas passiert.

Arri hatte sich auf dem ganzen Weg hierher und mit nicht geringer Sorge den Kopf darüber zerbrochen, war aber natürlich zu keinem Ergebnis gelangt, und auch das, was sie jetzt hier im Langhaus erwartete, gab ihr eher noch weitere Rätsel auf, statt eine der tausend Fragen zu beantworten, die ihr durch den Kopf schossen.

Sie hatte geglaubt, das Haus wieder voller Menschen zu sehen, vielleicht nicht ganz so vielen wie am Morgen, aber doch erfüllt von dem beständigen Treiben und Kommen und Gehen, das für ein so großes Gebäude wie dieses typisch war, doch das genaue Gegenteil war der Fall. Nor und die jüngere seiner Frauen, zwei ebenso wortlos wie grimmig dreinblickende Krieger, die wie die lebendig gewordenen Gegenstücke der geschnitzten Statuen vor dem Eingang rechts und links hinter seinem Thronsessel standen, und die beiden Männer, die Arri hergebracht hatten, waren die einzigen. Darüber hinaus war das große, plötzlich von einer sonderbaren Kälte erfüllte Langhaus leer, und selbst ihre beiden Bewacher blieben nur lange genug, damit Nor sie mit einer Handbewegung und einem müden Blick entlassen konnte, bevor auch sie wieder gingen.

Seither war eine geraume Weile verstrichen. Arri hätte nicht sagen können, wie lange; aufgeregt, durcheinander und - natürlich - verängstigt, wie sie war, hatte sie ihr persönliches Zeitgefühl längst verloren. Vermutlich stand sie tatsächlich erst seit wenigen Augenblicken vor Nors gestohlenem Thron und wartete darauf, dass der Hohepriester das Wort ergriff oder überhaupt irgendetwas tat, was darüber hinaus ging, sie aus seinen trübe gewordenen und plötzlich von dunklen Ringen umgebenen Augen anzustarren, aber ihr kam es vor wie eine Ewigkeit. Niemand war hier außer Nor, seiner Frau, den beiden Kriegern und ihr selbst. Niemand sagte etwas. Niemand regte sich. Dennoch spürte sie, dass etwas geschehen war. Oder geschehen würde.

»Du hast dich also entschieden«, brach Nor das immer unangenehmer werdende Schweigen schließlich. So etwas wie der Versuch eines Lächelns erschien auf seinen schmalen Lippen und verschwand sogleich wieder. »Gut. Ich bin froh, dass du doch noch vernünftig geworden bist.«

Arri sah verwirrt hoch und konnte gerade noch im letzten Moment die patzige Antwort herunterschlucken, die ihr auf der Zunge lag. Nor hatte ihr nicht einmal die Gelegenheit gegeben zu antworten - wie also hätte sie sich entscheiden können?

»Ist... Jamu nicht gekommen?«, fragte sie stattdessen und sah sich suchend um. Während sie herein und hierher gekommen war, hatte sie niemanden außer Nor und seinen Kriegern gesehen, aber das Haus war so groß und unübersichtlich genug, dass der Genannte durchaus irgendwo verborgen in den Schatten stehen und sie belauschen konnte.

Nors Lächeln wurde eine Spur wärmer, und in seinen Augen, so müde sie auch blicken mochten, erschien nun ein fast belustigtes Funkeln. »Du scheinst es ja gar nicht mehr abwarten zu können, deinen zukünftigen Ehemann zu treffen«, sagte er spöttisch.

Arri schwieg auch dazu, aber Nor schien auch keine Antwort erwartet zu haben, denn er stützte sich nun mit beiden Händen auf den Lehnen des Sessels ab und stemmte sich hoch. Einer der beiden Krieger hinter ihm löste sich rasch von seinem Platz, um ihm zu helfen, doch der Hohepriester verscheuchte ihn mit einer zornigen Geste und arbeitete sich, mühsam und vor Anstrengung ächzend, dennoch aber aus eigener Kraft in eine aufrecht sitzende Position hoch, die trotz seiner schwer hängenden Schultern, des Zitterns seiner Hände und des Ausdrucks völliger Erschöpfung auf dem Gesicht sogar einigermaßen würdevoll aussah.

»Mir scheint, ich habe mich tatsächlich nicht in dir getäuscht«, fuhr er nach einer erschöpften Pause fort. »Du magst die Sturheit deiner Mutter geerbt haben, und ich bin nicht sicher, ob du nicht ebenso verschlagen bist wie sie oder es zumindest einmal sein wirst. Aber du hast auch ihren Mut geerbt, und das ist etwas, was ich achte, selbst bei einem so jungen Menschen wie dir.«

»Ich hatte wohl keine große Wahl«, antwortete Arri schulterzuckend. »Oder würde sich irgendetwas ändern, wenn ich wimmernd auf die Knie fiele und um Gnade winselte?«

In den Augen der jungen Frau, die wie ein wohlerzogener Schoßhund mit angezogenen Knien auf dem Boden neben dem Thronsessel hockte, blitzte es schon wieder hasserfüllt auf, und auch der eine der beiden Krieger warf ihr einen Blick zu, von dem Arri nicht sicher war, ob er nun strafend oder drohend war; Nor selbst aber hatte alle Mühe, nicht zu belustigt auszusehen. Vielleicht hatte er die Wahrheit gesagt, und es war wirklich so, dass er Mut achtete; was aber nicht hieß, dass er ihr deswegen jede Unverschämtheit durchgehen lassen würde. Arri gemahnte sich in Gedanken zur Vorsicht. Was Nor als Tapferkeit empfand, so gestand sie sich insgeheim ein, war zu einem nicht geringen Teil einfach nur der Mut der Verzweiflung, und das Gefühl, ohnehin nichts mehr zu verlieren zu haben.

Wieder verging eine Weile, in der Nor nichts anderes tat, als dazusitzen und sie auf eine durchdringend-abschätzende Art anzustarren, die sie sich immer unbehaglicher fühlen ließ. Arri hätte viel darum gegeben, in diesem Moment auch nur einen einzigen seiner Gedanken lesen zu können. Nor hatte sie nicht nur hierher bestellt, um sie zu verspotten, und es hatte auch einen Grund, dass Jamu nicht da war, und auch keiner der anderen. Aber warum war sie hier?

Gerade als das Schweigen wirklich unerträglich geworden war, atmete Nor hörbar aus und winkte den Krieger wieder heran, den er gerade so rüde davongescheucht hatte. »Geh und bring Jamu hierher«, befahl er. Wieder an Arri gewandt und mit einem nun eindeutig spöttischen Funkeln in den Augen fügte er hinzu: »Schließlich möchte ich nicht, dass dir am Ende noch das Herz bricht, wenn du gar zu lange auf deinen zukünftigen Mann warten musst, mein Kind.«

Der Krieger zögerte noch ein letztes Mal, Nors Befehl Folge zu leisten, drehte sich dann aber mit einem Ruck weg und eilte mit schnellen Schritten hinaus, während Arri nur mit Mühe dem Impuls widerstand, sich umzudrehen und ihm nachzublicken. Der geflochtene Thronsessel ächzte hörbar, als Nor sich erneut zurücksinken ließ, und er hatte es kaum getan, da schien abermals alle Kraft aus seinen Körper zu weichen. Mit einem Mal kam es Arri so vor, als schlackere der bunte Umhang um seine Schultern, fast als wäre Nor tatsächlich kleiner geworden, was natürlich Unsinn war, den allgemeinen Eindruck von Schwäche und Schmerz, der den Hohepriester umgab, aber noch verstärkte. Was immer er vorhin bei dem Zeremoniell wirklich getan hatte, dachte Arri, es musste all seine Kraft von ihm gefordert haben.

Nicht, dass sie nicht gewusst hätte, was es war.

Sie schwiegen, bis hinter ihnen wieder Schritte laut wurden und der Krieger in Begleitung von Jamu zurückkam. Arri musste sich nicht umdrehen, um das zu wissen. Sie erkannte Jamu tatsächlich schon am Geräusch seiner Schritte, was sie selbst ein wenig erstaunte, aber auch mehr als nur ein wenig alarmierte. Und sie spürte auch, wie sie sich gegen ihren Willen versteifte und die Muskeln anspannte, als die beiden Männer hinter ihr näher kamen. Der Krieger ging in großem Abstand an ihr vorbei, um seine Position hinter Nors Thron wieder einzunehmen, während es sich Jamu natürlich nicht nehmen ließ, sie gerade derb genug anzurempeln, um sie zwar nicht von den Füßen zu reißen, aber beinahe aus dem Gleichgewicht zu bringen. Nor kommentierte dieses vermeintliche Ungeschick mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln, sagte jedoch nichts dazu, sondern drehte sich mühsam zu den beiden Männern hinter seinem Stuhl herum. »Lasst uns allein«, befahl er.

Einer der beiden Männer tat sofort, wie ihm geheißen, und ging, der andere jedoch trat nur gerade weit genug vor, um dem Hohepriester ins Gesicht blicken zu können, und fragte in zweifelndem Ton: »Seid Ihr sicher? Sie ist gefährlich, und...«

»Ich hoffe doch, dass Jamu und ich zusammen in der Lage sind, mit diesem zarten Wesen fertig zu werden«, fiel ihm Nor ins Wort, zwar in eindeutig amüsiert-spöttischem Ton, zugleich aber auch mit einem Blick, der dem Mann jede Lust darauf vergällte, seine Frage zu wiederholen. Mit einem erschrockenen Nicken fuhr er herum und rannte regelrecht hinaus.

»Seid Ihr wirklich sicher?«, fragte Arri den Hohepriester.

»Womit?« Das Funkeln stand noch immer in Nors Augen, aber Arri gewahrte jetzt auch einen deutlichen Ausdruck von Schmerz darin, und nun, im Nachhinein, erkannte sie, dass derselbe Ausdruck die ganze Zeit über schon nicht aus seinem Gesicht gewichen war und seine Bewegungen und seine Miene diktierte.

»Dass zwei Männer ausreichen, um mit mir fertig zu werden«, sagte sie. Jamus Gesicht verfinsterte sich nun vor Zorn, und auch in den Augen der jungen Frau flammte wieder purer Hass auf.

Am liebsten hätte sie sich gleich danach auf die Lippe gebissen. Wer auch immer - die Götter, das Schicksal oder die pure Willkür des Zufalls -, irgendjemand oder -etwas hatte entschieden, dass sie am Leben bleiben würde, und sie sollte froh sein, dass sie überhaupt noch hier stehen und mit dem Hohepriester sprechen konnte, und nicht gesteinigt oder bei lebendigem Leibe verbrannt worden war. Aber statt nun wenigstens jetzt zu schweigen, warf sie Jamu einen kurzen, verächtlichen Blick zu und fuhr dann in noch boshafterem Ton fort: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir mein zukünftiger Ehemann irgendetwas antut, bevor er sich nicht zumindest einmal geholt hat, was er von mir will.«

Jamu sah nun so aus, als wollte er sich unverzüglich auf sie stürzen, doch Nor hielt ihn mit einem raschen, zwar strengen, aber auch unübersehbar belustigten Blick zurück, sah dann Arri mindestens ebenso belustigt an und vollführte schließlich eine fast beiläufige Geste mit der anderen Hand. Die junge Frau, die zusammengerollt zu seinen Füßen saß, funkelte Arri zornig an und schlug mit der Linken ihren Umhang zurück. Darunter trug sie trotz der Kälte nur einen dünnen Rock, der gerade bis zu den Knien reichte und sonst nichts, sodass man ihre kleinen, noch sehr festen Brüste sehen konnte, die auf verwirrend anmutende Weise tätowiert waren. Und den Griff des schmalen Feuersteindolches, den sie unter den Saum ihres Kleides geschoben hatte. Der Zorn blieb in ihrem Blick, aber nun gesellte sich auch etwas wie eine boshafte Herausforderung und Vorfreude hinzu, die Arri klarmachte, dass sie nur auf einen Vorwand wartete, aufzuspringen und ihre Waffe zu benutzen.

»Was Jamu angeht, könntest du sogar Recht haben«, sagte Nor. »Doch wie du siehst, bin ich nicht ganz schutzlos.« Ein Ausdruck von übertrieben gespieltem Bedauern erschien auf seinem Gesicht und löste sich mit dem Seufzen wieder auf, das über seine Lippen kam. »Auch wenn ich selbst vielleicht nicht ganz im Vollbesitz meiner Kräfte bin. Die Zauberkräfte deiner Mutter haben mich zwar vor dem Feuer beschützt, aber sie verlangen einen hohen Preis, und manchmal kommt es mir so vor, als ob er jedes Mal ein bisschen höher würde.«

Im allerersten Moment verstand Arri nicht einmal, wovon er überhaupt sprach. Dann blinzelte sie, sah Jamu an - er grinste plötzlich -, wandte sich wieder zu Nor und trat einen Schritt weit auf ihn zu. Nicht nahe genug, um Jamu oder gar Nors Frau zu irgendetwas zu provozieren, jedoch nahe genug, um ihn genauer erkennen zu können. Der ungesunde, graue Schimmer, den seine Haut zu haben schien, lag nicht nur an dem schwachen Licht, das hier drinnen herrschte. Was sie vorhin im Heiligtum schon einmal bemerkt zu haben glaubte, wurde nun zur Gewissheit: Seine Haut war tatsächlich von einer grauen Ascheschicht bedeckt, doch dort, wo sie abgewischt oder verschmiert war, konnte sie eine Unzahl winziger Brandbläschen und roter, nässender Stellen erkennen. Nor hatte dem Wüten des Feuers nicht ganz so unbeschadet standgehalten, wie es im ersten Moment ausgesehen hatte. Aber was hatte das mit den Zauberkräften ihrer Mutter zu tun?

Dann begriff sie. Erstaunt wich sie einen Schritt zurück und sah nun eindeutig verunsichert zu Jamu hin.

»Nur keine Scheu«, sagte Nor. »Jamu genießt mein volles Vertrauen. Wir können ganz offen in seiner Gegenwart reden.« Anscheinend sah er Arri an, wie schwer es ihr fiel, ihm zu glauben, denn er fügte in etwas leiserem und warmem Ton hinzu: »Und du brauchst ihn auch nicht zu fürchten. Jamu wird dich nicht anrühren. Es sei denn, du möchtest es.«

Arris Blick musste wohl noch zweifelnder werden, denn Jamus Grinsen erlosch wieder, und der Ausdruck auf seinem Gesicht wurde ärgerlich. »Nicht einmal dann«, sagte er verächtlich. »Ich habe eine Frau. Und bevor ich mich mit einer wie dir einlasse, suche ich mir lieber eine Kuh oder eine große Hündin.«

Nor seufzte. »Jamu ist vielleicht der vertrauenswürdigste unter meinen Männern«, sagte er kopfschüttelnd, »aber manchmal hat er eine doch etwas derbe Art, sich auszudrücken.« Er schüttelte den Kopf und machte eine Geste, wie um diesen Umstand zu unterstreichen. »Dennoch bleibt es dabei, dass wir ganz offen vor ihm reden können. Er weiß fast so viel von den Zauberkräften deiner Mutter wie ich.«

Arri konnte ihn nur anstarren. Sie war verwirrt und durcheinander, aber selbstverständlich hatte Nor genau das erreicht, was er mir seinen Worten auch hatte erreichen wollen: Sie fühlte sich von einer neuen, jähen Hoffnung erfüllt. Ihre Hände fingen an zu zittern. »Ihren... Zauberkräften?«

Nor reagierte nicht sofort, sondern hob die Hand, fuhr sich mit Zeige- und Mittelfinger über die Wange und betrachtete anschließend das Gemisch aus grauem Staub und winzigen Hautfetzen, das auf seinen Fingerspitzen zurückgeblieben war. »Sind es denn Zauberkräfte?«, fragte er lauernd.

Arri begriff, wie viel von ihrer Antwort auf diese so harmlos klingende Frage abhängen mochte. Sie machte eine Bewegung, die ebenso gut ein Achselzucken wie auch ein Kopfschütteln sein konnte. »Vielleicht«, antwortete sie ausweichend. »Für die einen mögen es Zauberkräfte sein.«

»Für die anderen aber ist es nur ein Öl, das hell und hoch brennt, sich aber so schnell selbst verzehrt, dass es einen nicht verletzt, wenn man damit umzugehen weiß«, fügte Nor hinzu. »Wolltest du das sagen?«

Arri war klug genug, gar nicht darauf zu antworten. Wozu auch? Nor kannte die Antwort ja offensichtlich, auch wenn er, genauso offensichtlich, nicht annähernd so gut darin war, dieses geheimnisvolle Öl zusammenzumischen, wie es eigentlich angeraten schien.

»Du siehst, mein Kind, wir sind ganz ehrlich zu dir.« Nor wischte sich die Hand am Mantel ab und sah sie nun wieder direkt an. »Die Frage ist nun, wie ehrlich du zu uns bist?«

Das verstand Arri nicht, und sie sagte es.

»Ich hätte dich töten lassen können«, sagte Nor. »Ich hätte dich töten lassen müssen. Wäre mir klar gewesen, wie ernst Sarn es damit meint, meine Stelle hier in Goseg einnehmen zu wollen, dann hätte ich es vielleicht getan. Die Menschen dort draußen schreien nach deinem Blut, ist dir das klar?«

Arri nickte. Das Hochgefühl, das sie zuvor ergriffen hatte, schwand.

»Ich habe mich trotzdem entschieden, dich am Leben zu lassen«, fuhr der Hohepriester fort. »Trotz allem, was deine Mutter getan hat. Du weißt, warum?«

»Nein«, sagte Arri wahrheitsgemäß. Nor wirkte verstimmt. Er tauschte einen raschen, für Arri nicht zu deutenden Blick mit Jamu und beugte sich dann in seinem Stuhl wieder vor. Arri war nicht ganz sicher, ob sie das geflochtene Möbelstück ächzen hörte oder seine alten Knochen. Als er weitersprach, waren ein gut Teil der Wärme und jeglicher Spott aus seinem Blick und seiner Stimme gewichen.

»Begeh nicht den Fehler, dich zu überschätzen«, sagte er, »oder mich für schwächer zu halten, als ich bin. Es hat nichts mit dir zu tun.«

»Womit dann?«, fragte Arri. Sie war der Verzweiflung nahe. Für einen kleinen Moment hatte sie Hoffnung geschöpft, aber nun kehrten Angst und Panik zurück, und es war fast schlimmer als vorher.

»Vielleicht hast du mir heute Morgen nicht gut genug zugehört«, sagte der Hohepriester. »Ich bin für das Schicksal zu vieler Menschen verantwortlich, als dass ich es mir leisten könnte, Rücksicht zu nehmen.« Er schien auf eine ganz bestimmte Reaktion auf seine Worte zu warten, und als er sie nicht bekam und Arri ihn nur immer verwirrter anstarrte, nahm der Ausdruck von Unmut auf seinen Zügen noch weiter zu.

»Es ist wahr. Deine Mutter hat Unruhe in unser Land gebracht. Sie hat die Götter erzürnt, von Männern wie Sarn und so vielen, die denken wie er, gar nicht zu reden. Aber sie hat auch große Gaben mitgebracht, die viele Leben gerettet und unserem Volk ein Leben in Wohlstand und Ruhe beschert haben. Vielleicht war es ein Fehler, sie anzunehmen, und wenn, dann werde ich die Verantwortung dafür tragen, wenn ich irgendwann vor den Göttern stehe und Rechenschaft ablegen muss. Aber wir haben es getan, und die Menschen hier haben sich daran gewöhnt. Sie brauchen sie.«

»Und was habe... was habe ich damit zu tun?«, murmelte Arri. Sie sah Nor an, dass es ihm plötzlich schwer fiel, sich zu beherrschen. Vielleicht glaubte er tatsächlich, dass sie sich insgeheim über ihn lustig machte, aber das stimmte nicht. Sie verstand nicht, was er von ihr wollte.

»Du weißt, warum ich das letzte Mal zu euch gekommen bin?«, fragte er.

»Und mich mit Jamu zu vermählen?«

Jamu schnaubte abfällig, und Nor schüttelte den Kopf und sagte: »Ja. Aber nicht allein. Nicht einmal hauptsächlich, um genau zu sein. Eine Vermählung zwischen dir und Jamu hätte vieles leichter gemacht, doch sie allein war nicht der Grund, aus dem ich zu euch gekommen bin. Ich bin gekommen, um deiner Mutter ins Gewissen zu reden. Aber sie hat nicht auf mich gehört.«

»Um sie zu zwingen, Euch ihre Geheimnisse zu verraten«, sagte Arri scharf.

»Nur, um uns zu geben, was uns zusteht«, beharrte Nor. Arri wollte widersprechen, doch jetzt schnitt er ihr mit einer wütenden Geste das Wort ab. Von der Freundlichkeit, die bisher in seiner Stimme und auf seinem Gesicht gewesen waren, war nichts mehr geblieben. Plötzlich wirkte er so, wie sie ihn in Erinnerung hatte - hart, unerbittlich und fordernd.

»Vielleicht waren es Gaben, die deine Mutter uns brachte«, fuhr er erregt fort. »Aber wenn, dann nur am Anfang. Du kannst nicht irgendwohin gehen und großzügig und mit beiden Händen Geschenke verteilen und sie dann wieder wegnehmen, ganz, wie es dir beliebt. Die Zauberkräfte deiner Mutter gehören uns. Wir brauchen sie.«

»Und nun glaubt Ihr, dass ich sie auch beherrsche«, vermutete Arri.

»Sie hat sie dich gelehrt, oder etwa nicht?«, fragte Jamu, bevor Nor antworten konnte.

Arri starrte ihn an. Allein der Ton, in dem er seine Frage gestellt hatte, machte klar, wie sinnlos es sein musste zu leugnen. Darüber hinaus war es lächerlich, sich wirklich einbilden zu wollen, ihre Mutter und sie wären so lange Zeit und so oft nachts in den Wäldern verschwunden, ohne dass irgendjemand im Dorf etwas davon gemerkt hätte. Zumindest Rahn hatte es mitbekommen. Sie schwieg.

»Vielleicht beherrschst du nicht so viele und so mächtige Zauber wie deine Mutter«, fuhr Nor nun fort, »doch was immer sie dir von ihrem geheimen Wissen verraten hat, ist so unendlich viel mehr als das, was wir wissen.«

»Und jetzt bittet Ihr mich darum, Euch dieses geheime Wissen zu offenbaren?«, fragte Arri.

Nor wurde wütend. »Ich bitte nicht!«, sagte er scharf. »Was bildest du dir ein, du dummes Kind?«

Er ließ sich wieder zurücksinken, doch obwohl er nun erneut mit Kopf und Schultern an die Rückenlehne des Sessels gelehnt dasaß, hatte seine Haltung nichts mehr mit der von vorhin gemein. Da war keine Schwäche mehr, man sah ihm seinen Schmerz an und auch die Mühe, die es ihm bereitete, sich aufrecht zu halten; und doch strahlte er nun wieder denselben Stolz und jene Härte aus, die Arri von ihm gewöhnt war. »Es wird geschehen, was die Götter beschlossen haben«, fuhr er fort. »Du wirst hier bei uns bleiben. Du wirst Jamus Gemahlin werden, und du wirst sein Haus und sein Lager mit ihm teilen, jedenfalls nach außen hin. Was darüber hinaus geschieht, das macht unter euch aus. Doch du wirst hier bei uns bleiben, und du wirst mir und den anderen Priestern alle Geheimnisse verraten, die du von deiner Mutter weißt. Du bist es uns schuldig.«

Arri war klar, dass sie sich vielleicht gerade um Kopf und Kragen redete, doch sie konnte nicht anders, als mit leiser, zitternder Stimme zu fragen: »Und wenn ich es nicht tue?«

»Dann werden wir einen anderen Mann für dich finden, der vielleicht besser weiß, wie man mit einem störrischen Weib umgeht«, antwortete Nor hart. »Und wenn auch das nicht hilft, dann wirst du sterben. Und es wird kein leichter Tod sein.«

Arri war nicht einmal überrascht, sie spürte nur eine große Bitterkeit und einen unendlich tiefen Zorn auf sich selbst, tatsächlich so naiv gewesen zu sein, ihm geglaubt zu haben. Wie hatte sie auch nur für die Dauer eines Gedankens ernsthaft annehmen können, dieser Mann könnte es gut mit ihr meinen?

Aber das Absonderlichste überhaupt war - sie konnte ihn verstehen. Bei allem Schmerz, aller Enttäuschung und aller Wut begriff sie doch, warum Nor tat, was er tat, und dass er, zumindest von seinem Standpunkt aus, gar keine andere Wahl hatte. Vielleicht war es das erste Mal in ihrem Leben überhaupt, wo sie begriff, dass es sehr wohl Situationen geben mochte, in der zwei Menschen so grundsätzlich verschiedene Positionen einnahmen und in der sie doch beide Recht hatten.

»Und noch etwas«, fuhr Nor nach einer - diesmal etwas längeren - Pause und in, wenn auch nur wenig, sanfterem Ton fort. »Ich habe Männer ausgeschickt, die nach deiner Mutter suchen. Es ist nicht ihr Auftrag, sie zu töten.«

»Sondern?«, fragte Arri überrascht. Sie sah Nor sehr aufmerksam an, doch in seinem Gesicht war keine Spur von Falschheit und Heimtücke.

»Sie sollen nur mit ihr reden«, antwortete Nor. »Sie werden ihr ausrichten, dass du lebst und dass du am Leben und bei Gesundheit bleibst, so lange die fremden Krieger aus dem Osten unsere Grenzen achten und keinem von uns ein Leid antun.«

»Aber meine Mutter...«, begann Arri.

»Kennt zumindest einen von ihnen sehr gut«, unterbrach sie Jamu. »Wenn diese Fremden die Zauberkräfte deiner Mutter ebenso hoch einschätzen und wertvoll finden wie manche von uns, dann werden sie auf sie hören.«

Nun also war es heraus, dachte Arri bitter. Sie war eine Geisel, nicht mehr und nicht weniger. Aber hatte sie wirklich etwas anderes erwartet?

Sie hatte plötzlich nicht mehr die Kraft, Jamus Blick standzuhalten, und wandte sich fast flehend wieder an den alten Hohepriester. »Meine Mutter kennt dieses Volk so wenig wie ich oder Ihr. Es ist wahr, dass sie mit Dragosz gesprochen hat...«

»Gesprochen?«, warf Jamu in hämischem Ton ein.

Arri achtete nicht weiter auf ihn. »Aber es ist nur dieser eine Mann! Sie war niemals bei seinem Volk. Sie weiß nichts über es und seine Absichten!«

»Das mag sein«, sagte Nor. »Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht ist es nur das, was sie dir erzählt hat.«

»Meine Mutter würde mich niemals belügen!«, widersprach Arri heftig.

Nor machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten, aber sie konnte Jamus breites Grinsen spüren, obwohl sie nicht einmal in seine Richtung sah.

»Genug«, sagte Nor müde. »Es wird so geschehen, wie es die Götter bestimmt haben. Du wirst noch heute mit Jamu vermählt, und wenn die Feierlichkeiten vorüber sind, werden wir eine Beschäftigung in der Priesterstadt für dich finden, wobei du uns das geheime Wissen deiner Mutter lehren kannst, ohne dass jedermann es mitbekommt.«

Damit gab Nor im Grunde zu, dass er vorhatte, sein Volk zu betrügen, dachte Arri. Wie verzweifelt musste dieser Mann sein?

Erneut fiel ihr auf, wie erschöpft und müde Nor aussah. Er hielt sich jetzt mit aller Kraft aufrecht, doch sie hatte sich getäuscht: Die vermeintliche Stärke, die er nun wieder ausstrahlte, war keine wirkliche Kraft, sondern nur sein purer Wille, mit dem er seinen Körper zwang, Dinge zu tun, zu denen er eigentlich gar nicht mehr imstande war. Arri wusste aus eigener Erfahrung, wie schmerzhaft gerade Brandverletzungen waren, und vor allem wie tückisch, spürte man doch ihre wahre Schwere manchmal erst nach einem Tag, wenn es zu spät war, wirklich etwas dagegen zu tun. Nor mochte einen gewaltigen Sieg über seinen Konkurrenten errungen haben, indem er vor den Augen seines gesamten Volkes bewiesen hatte, dass seine Götter ihm die Kraft gaben, sogar mit dem gefährlichsten und unberechenbarsten aller Elemente fertig zu werden, dem Feuer, doch Arri war nicht sicher, ob er sich tatsächlich klar darüber war, welchen Preis er wirklich dafür bezahlt hatte. Der Hohepriester war schwer verletzt. Vielleicht schwerer, als er selbst zugeben wollte. Vielleicht würde er sterben.

»Wasser«, bat Nor plötzlich. Das Wort galt seiner Frau, die sich unverzüglich mit einer fließenden Bewegung erhob und davoneilte, um schon im nächsten Augenblick wieder zurückzukehren, eine flache, reich verzierte Tonschale mit frischem, klarem Wasser in den Händen. Der Blick, mit dem sie Nor maß, während sie die Schale an seine Lippen setzte, dachte Arri, war wenig mitfühlend, aber sehr aufmerksam. Abschätzend?

»Sarn wird das niemals zulassen«, fuhr sie fort. »Er wird...«

Sie unterbrach sich, als sich Nor an seinem Wasser verschluckte und qualvoll und hart zu husten begann. Nors Frau wollte die Schale von seinen Lippen zurückziehen, doch er griff rasch nach ihrem Handgelenk und hielt es fest. Sein ausgemergelter Körper schüttelte sich in Krämpfen, und für einen Moment sah es aus, als bekäme er keine Luft mehr und drohte zu ersticken. Dann jedoch beruhigte er sich wieder.

»Du hast Angst, dass ich sterben könnte und Sarn sich dann an dir rächt«, würgte er mühsam hervor. Er wollte das Gesicht zu einem Grinsen verziehen, doch es geriet nur zu einer abscheulichen Grimasse. Mühsam schüttelte er den Kopf, trank mit großen, gierigen Schlucken und begann abermals und noch qualvoller zu husten, fuhr aber nach einem Augenblick trotzdem fort: »Sarn mag ein machtgieriger alter Mann sein, aber er ist nicht dumm. Er weiß so gut wie ich, dass wir dich brauchen. Du hättest es bei ihm nicht so gut wie bei mir, das ist wahr, aber er würde es nicht wagen, dich anzurühren. Nicht, solange deine Mutter noch am Leben ist und er sich nicht über die Absichten der Fremden klar sein kann.« Damit hatte er vermutlich sogar Recht, dachte Arri, zugleich aber auch wieder nicht. Nors Worte waren nur vernünftig, aber Sarn gehörte ganz zweifellos zu jenen Menschen, denen Vernunft nicht mehr viel bedeutete, wenn irgendetwas ihre Pläne und Absichten störte.

Nor nickte müde und arbeitete sich umständlich in eine wieder etwas aufrechtere Position hoch, und die junge Frau setzte die Schale behutsam zu Boden, nahm aber jetzt nicht wieder zu seinen Füßen Platz, sondern richtete sich ebenfalls wieder auf und legte die linke Hand auf seinen Unterarm. Nor dankte es ihr mit einem raschen, warmen Blick, den sie ebenso ruhig und fast teilnahmslos erwiderte. Sie sagte nichts, und Arri wurde plötzlich klar, dass sie die ganze Zeit über geschwiegen hatte, sowohl jetzt als auch am Morgen. Vielleicht hatte Nor ihr verboten, in ihrer Gegenwart zu reden. Vielleicht aber...

Irgendetwas stimmte nicht. Nors Frau sah dem Hohepriester noch einen Moment lang wortlos und kalt ins Gesicht, dann drehte sie rasch den Kopf und tauschte einen bezeichnenden Blick mit Jamu, und aus dem vagen Gefühl wurde Gewissheit. Irgendetwas war hier nicht so, wie es sein sollte, und nur einen winzigen Augenblick später wusste Arri auch, was.

Aber diese Erkenntnis kam zu spät.

Vielleicht begriff es auch Nor selbst noch im allerletzten Moment, denn seine Augen weiteten sich, und er versuchte, sich loszureißen und seine Frau gleichzeitig davonzustoßen, aber erschöpft, verletzt und überrascht, wie er war, gelang es ihm nicht. Ohne sich dabei auch nur sichtlich anstrengen zu müssen, stieß die junge Frau den Hohepriester zurück in den Stuhl, zog mit der anderen Hand den Feuersteindolch unter dem Mantel hervor und fuhr mit der Klinge über Nors Kehle. Der scharfe Stein glitt ohne sichtbaren Widerstand durch sein Fleisch. Nor gab ein letztes, gluckerndes Keuchen von sich, und eine wahre Fontäne von Blut schoss aus seinem Hals, besudelte ihre Hand und ihre Unterarme und färbte seine Brust und seinen Mantel rot. Arri wollte schreien, aber ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Alles ging viel zu schnell, als dass sie auch nur einen einzigen, klaren Gedanken hätte fassen können. Mit einem Mal war Jamu neben ihr und versetzte der jungen Frau einen harten Schlag mit dem Handrücken ins Gesicht, sodass sie zurücktaumelte und halb bewusstlos zu Boden sank. Noch ehe sie gänzlich gestürzt war, beugte er sich über sie, entriss ihr den Dolch - und drückte ihn Arri in die Hand!

Sie versuchte ihn davonzustoßen und gleichzeitig zu schreien, doch der scheinbar so plumpe Mann entwickelte eine erstaunliche Schnelligkeit. Mit einer einzigen, fließenden Bewegung war er hinter ihr, schlang den linken Arm um ihren Hals und hielt ihr mit der Hand Mund und Nase zu. Seine andere schloss sich mit unerbittlicher Kraft um Arris rechte Hand, die nun die blutbesudelte Waffe hielt, dann versetzte er ihr einen Stoß, der sie haltlos gegen den Thronsessel und den sterbenden Hohepriester taumeln ließ.

»Mörderin!«, schrie er. »Wachen! Kommt her! Zu Hilfe!« Arri versuchte vergeblich, seinen Griff zu sprengen. Seine linke Hand hielt ihr immer noch Mund und Nase zu, wie es der Krieger im Bergwerk getan hatte, sodass sie weder schreien noch atmen konnte, und vielleicht wollte er sie auf genau die gleiche Art töten, auf die sein Kamerad Runa umgebracht hatte. Seine Hand quetschten ihre Finger mit so unbarmherziger Kraft, dass sie spürte, wie ihr kleiner Finger brach, und zugleich drückte er sie immer noch und unerbittlich gegen den im Todeskampf zuckenden Körper des alten Hohepriesters.

»Zu Hilfe!«, schrie Jamu immer wieder. »Sie hat Nor umgebracht!«

Die schiere Todesangst verlieh Arri neue Kräfte. Irgendwie gelang es ihr, sich von Nor abzustoßen und den Kopf so zur Seite zu drehen, dass sie wenigstens atmen konnte, wenn schon nicht schreien.

Vielleicht hätte sie es ohnehin nicht gekonnt, als ihr Blick über den sterbenden Hohepriester glitt. Nors Augen waren weit geöffnet, und noch war Leben darin, auch wenn es schwächer wurde, und ein abgrundtiefes, vollkommen fassungsloses Entsetzen, das alles übertraf, was Arri jemals zuvor gesehen hatte. Seine Hände waren kraftlos heruntergefallen, und aus seiner zerschnittenen Kehle schoss noch immer eine pulsierende, rote Fontäne, die nicht nur seine Brust und seinen Mantel und den Stuhl besudelte, sondern auch Arris Gesicht und Brust. Seine Lippen bewegten sich, als versuche er noch etwas zu sagen, aber er brachte keinen Laut mehr hervor, und dann, so plötzlich, als hätte der Dolch ein zweites Mal und jetzt sein Herz getroffen, verschwand das Leben aus seinen Augen, und sein Körper erschlaffte endgültig und sackte in dem gestohlenen Symbol seiner Macht zusammen.

Hinter ihnen wurden aufgeregte Stimmen und Schritte laut. Männer stürmten herein. Jemand schrie etwas, und Jamu zerrte Arri mit einem brutalen Ruck zurück, ließ endlich ihr Gesicht los und schleuderte sie aus der gleichen Bewegung heraus zu Boden, umklammerte ihre Hand, die die Mordwaffe hielt, dabei aber noch immer mit aller Kraft, sodass ihr Arm brutal aus dem Schultergelenk gedreht wurde und sie vor Schmerz fast das Bewusstsein verlor. Wie durch einen dichten Nebel hörte sie Jamu weiter und mit schriller, hysterischer Stimme schreien.

»Sie hat ihn getötet! Das verdammte Hexenkind hat Nor umgebracht!«

Aber das war doch nicht wahr! Arri trieb am Rande einer tiefen Bewusstlosigkeit entlang. Sie war nicht fähig, sich zu rühren oder auch nur einen einzigen Laut hervorzubringen, und doch war noch immer etwas in ihr, das mit nichts anderem als Empörung auf diese ungeheuerliche Lüge antwortete.

Aufgeregte Schritte näherten sich ihr. Stimmen begannen durcheinander zu rufen und zu schreien, und sie spürte, dass sie getreten wurde, zwei oder drei oder auch vier Mal und sehr hart, aber der grelle Schmerz, der in ihrem Leib explodierte, schien völlig bedeutungslos zu sein. Ganz im Gegenteil bereitete er ihr keine Pein, sondern half ihr eher noch dabei, den Kampf gegen die Schwärze zu gewinnen, die ihre Gedanken verschlingen wollte. Aus den grauen Nebeln, die ihren Blick verschleierten, schälten sich Gestalten, hasserfüllte Gesichter, die auf sie herabblickten, ein Speer, der in ihre Richtung stieß und im letzten Augenblick von einer Hand beiseite geschlagen wurde.

Dann klärte sich ihr Blick endgültig, und mit dieser Klarheit kamen auch die Schmerzen, die sie bisher nur registriert, nicht aber wirklich gespürt hatte. Ihre rechte Hand pulsierte wie das herausgerissene, aber noch schlagende Herz eines Beutetiers, und die Tritte mussten ihr mindestens eine Rippe gebrochen haben, wenn nicht mehr. Jeder Atemzug bereitete ihr Qual, und ihre Schulter war tatsächlich ausgekugelt und schien in Flammen zu stehen. Eine schmale, auf einen Knotenstock gestützte Gestalt in einem bunten Mantel näherte sich ihr und scheuchte die durcheinander laufenden und rufenden Krieger mit einer herrischen Bewegung beiseite.

»Was ist geschehen?«, herrschte Sarn. »Jamu! Sprich! Was ist hier passiert?« Der Krieger ließ endlich ihre Hand los, und Arris Arm fiel kraftlos auf den Boden herab. Ihre Finger öffneten sich, und der blutbesudelte Dolch rutschte klappernd ein Stück davon und blieb direkt vor Sarns Füßen liegen.

»Es war nicht meine Schuld!«, verteidigte sich Jamu. Seine Stimme zitterte, und die Angst darin war echt. »Es ging alles so schnell, dass man es nicht einmal wirklich sehen konnte. Sie muss ihre Zauberkräfte eingesetzt haben!«

»Zauberkräfte?«, schnappte Sarn. »Du warst dafür verantwortlich, dass Nor nichts geschieht! Warum hast du nichts getan?«

»Es ist nicht meine Schuld!«, rief Jamu wieder. Seine Stimme klang jetzt fast weinerlich. Arri versuchte, sein Gesicht zu erkennen, aber ihre Augen verweigerten ihr immer noch den Dienst. Alles, was sie sehen konnte, war ein verwaschener grauer Fleck, der immer wieder auseinander zu treiben schien, und das galt auch für alle anderen Gesichter hier - seltsamerweise nur nicht für das Sarns. Seine faltigen Züge konnte sie genau erkennen, und auch den bösen Triumph, der in seinen Augen loderte.

»Sie muss mich verzaubert haben«, beteuerte Jamu. »Mich und auch Sasa.« Er deutete auf Nors Frau, die sich mühsam auf die Ellbogen hoch gestützt hatte und immer wieder benommen den Kopf schüttelte. Ihr Gesicht begann bereits anzuschwellen. Blut lief aus ihrer Nase und ihrer aufgeplatzten Unterlippe, und ihr Blick tastete unstet umher.

»Sie ist plötzlich vorgesprungen und hat Sasa niedergeschlagen und ihr den Dolch entrissen. Ich war wie gelähmt! Ich konnte mich erst wieder bewegen, als sie Nor die Kehle durchgeschnitten hatte!«

Arris Empörung explodierte regelrecht. »Das ist nicht wahr!«, schrie sie. »Ich habe...«

Sarn rammte ihr das Ende seines Stocks in den Leib, sodass ihr die Luft wegblieb und sie sich vor Schmerz krümmte. »Schweig!«, donnerte er. »Noch ein Laut, Hexenkind, und ich lasse dir die Zunge herausreißen!«

Arri krümmte sich noch weiter und rang qualvoll nach Luft. Sie hätte trotzdem noch weiter protestiert, denn was Sarn ihr gerade angedroht hatte, war vermutlich nichts gegen das, was er so oder so tun würde, aber sie konnte nicht sprechen. Sie konnte nicht einmal richtig atmen.

Plötzlich stieß Nors Frau ein erschrockenes Keuchen aus, sprang auf die Füße und war mit einem gewaltigen Satz bei ihrem ermordeten Ehemann. Mit leisem, nahezu tonlosem Wimmern warf sie sich über ihn, umarmte seinen leblosen Körper und begann mit einer Hand um sich zu schlagen, als einer der Krieger hinter sie trat und sie wegziehen wollte.

»Lass sie«, sagte Sarn. Dann wandte er sich wieder um und sah abwechselnd Arri und Jamu und dann wieder Arri an. Heiliger Zorn verdüsterte sein Gesicht, vielleicht ausgenommen des einen, wohl nur für Arri sichtbaren Moments, in dem er Jamu ansah und etwas anderes in seinen Augen erschien, ein böser, durch und durch zufriedener Triumph. Eine geraume Weile blieb er einfach so stehen und starrte auf sie herab, dann schüttelte er den Kopf und schien plötzlich nicht mehr die Kraft zu haben, sich aufrecht zu halten, denn er stützte sich schwer auf seinen Stock, sodass einer der Männer hinzutrat und rasch seine freie Hand ergriff, um ihn zu stützen.

»Nor hat sich geirrt«, murmelte er. Seine Stimme war leise, fast nur ein Flüstern, und dennoch so klar zu verstehen, dass jedermann hier drinnen die Worte hören musste. Ein tiefes Bedauern und ein großer Schmerz sprachen daraus. »Bei allen Göttern schwöre ich, dass ich mir gewünscht habe, er möge sich irren - aber nicht so.« Er schüttelte traurig den Kopf. Als er weitersprach, war seine Stimme wieder lauter geworden und klang jetzt gefasst.

»Bringt sie weg. Ich werde heute Nacht zum Heiligtum hinaufgehen und die Götter fragen, was mit ihr geschehen soll.«

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