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Dragosz antwortete gar nicht darauf, sondern funkelte sie nur an, fuhr dann mit einer abrupten Bewegung herum und ging zu Sturmwind. Lea sah ihm kopfschüttelnd nach, wie er sich auf den Rücken der Stute schwang, dann seufzte sie und gab Arianrhod mit einer Handbewegung zu verstehen, ihr zu folgen. Während Dragosz die Stute mit einer groben Bewegung herumriss und durch den Bach lenkte, half Lea ihr, auf den Rücken des Hengstes zu klettern und in eine einigermaßen bequeme Position zu rutschen. Erst dann stieg auch sie auf. Aber sie ritt nicht sofort los, sondern wartete, bis Dragosz den Bach durchquert hatte und auf der anderen Seite im Wald verschwunden war, bevor sie ihm folgte. Arianrhod war sich sicher, dass das kein Zufall war.

Dragosz hatte ausnahmsweise einmal nicht übertrieben. Nach nur einem kurzen Stück, auf dem der Weg tatsächlich von Unkraut und wucherndem Gebüsch zurückerobert worden war, wurde er wirklich breiter, und der Boden war so eben und fest, dass sie regelrecht spüren konnte, wie Nachtwind unter ihr aufatmete und wieder in seinen gewohnten Trab zurückfiel. Sie fegten jetzt nicht mehr mit einer so halsbrecherischen Geschwindigkeit durch den Wald wie auf dem ersten Teil ihrer Flucht, legten nun aber doch ein rasches Tempo vor, von dem Arianrhod annahm, dass es für die Pferde zwar allerhöchstens ein gemächliches Dahintraben sein konnte, das aber selbst einen rennenden Mann schon nach kurzer Zeit hoffnungslos überfordern musste. Wenn ihnen Sarns Krieger tatsächlich auf diesem Weg folgten, dann bestand kaum die Gefahr, dass sie sie einholten.

Es war sehr dunkel hier im Wald. Ihre Mutter hielt zwar weiter einen unnötig großen Abstand zu Dragosz ein, achtete aber doch zugleich auch darauf, dass er nicht zu groß wurde, sodass sie selten weiter als sechs oder acht Pferdelängen hinter ihm zurückfielen. Dennoch schien Sturmwind manchmal zu einem fast geisterhaften, hellen Schemen vor ihnen im Wald zu verblassen, und der dunkel gekleidete Krieger auf ihrem Rücken war die meiste Zeit über gar nicht zu sehen.

Arianrhod saß vor ihrer Mutter auf dem Pferderücken und konnte ihr Gesicht somit nicht sehen, aber sie spürte trotzdem, wie sich Leas Miene weiter verdüsterte, wie um sich ihrer Umgebung anzupassen. Sie fühlte sich ein wenig schuldig. Sie wusste nicht, was wirklich zwischen Dragosz und ihr vorgefallen war, aber sie war jetzt sicher, dass es zwischen den beiden einen heftigen Streit gegeben hatte, schon bevor sie nach Goseg gekommen waren, um sie zu befreien. Sie wollte das nicht. Auch wenn es nicht stimmte, so sagte sie sich doch, dass Dragosz ihr vollkommen gleichgültig sein konnte, aber sie erinnerte sich noch zu gut an den warmen Ausdruck in Leas Augen, als sie sie das erste Mal zusammen mit ihm gesehen hatte, und sie wollte nichts mehr, als dass ihre Mutter dieses winzige bisschen Glück vom Leben bekam, das ihr so lange vorenthalten worden war. Dragosz war es ihr einfach schuldig. Lea hatte Recht: Es würde sicherlich eine geraume Weile dauern, bis sie sich an die rüde Art des bartlosen Kriegers gewöhnt hatte, aber sie würde sich an ihn gewöhnen, auch wenn es ihr schwer fiel, schon, um ihn im Auge zu behalten und über ihre Mutter zu wachen.

Mit einem neuerlichen Gefühl von nagendem schlechtem Gewissen dachte sie an einen Moment am Ufer eines anderen, sehr weit entfernten Baches zurück, an das, was sie damals gefühlt hatte - und an das Säckchen mit dem Pulver, das ihr Dragosz gegeben hatte, damit sie es im Notfall ins Feuer werfen und ihn über den entstehenden Signalrauch zur Hilfe rufen konnte. Das Säckchen hatte sie mittlerweile längst verloren - wahrscheinlich lag es in dem engen Stollen, in dem Runa ums Leben gekommen war -, nicht aber das eigenartig wärmende Gefühl, dass sie nach wie vor Dragosz rufen konnte, wenn sie in Not war. Merkwürdigerweise empfand sie dabei aber ein solch starkes Gefühl von Scham, dass sie sich nur in dem Entschluss bestärkt fühlte, den sie in diesem Moment für sich fasste. Dragosz gehörte ihrer Mutter, und sie würde dafür sorgen, dass es so blieb. Auch wenn Lea es niemals erfahren würde: Von heute an würde sie ihr wenigstens einen kleinen Teil dessen zurückzahlen, was sie ihr schuldete, und auch ein wenig über ihr Leben wachen.

Eine Weile ritten sie in unveränderter Geschwindigkeit durch den düsteren Wald. Hier, zwischen den nah beieinander stehenden Bäumen, deren gewaltige Kronen mittlerweile zwar ebenfalls fast blattlos waren, dennoch aber so dicht, dass sie sich über dem Weg zu einem nahezu geschlossenen Dach vereinten, welches den Sonnenschein zu einem unsicheren, trüben Dunst verblassen ließ, war es spürbar kälter als am Ufer des Baches. Nachtwinds Atem war als regelmäßige Folge kleiner, grauer Dampfwölkchen vor seinen Nüstern sichtbar, und Arianrhod vergrub die Finger schon längst nicht mehr in seiner Mähne, um sich darin festzuklammern, sondern um sie zu wärmen. Sie fror selbst in dem dicken Umhang, den Lea ihr gegeben hatte, und wie sich ihre Mutter in dem dünnen, noch dazu an zahllosen Stellen zerrissenen Kleid fühlen musste, das wollte sie gar nicht wissen. Aus dem Abenteuer, zu dem ihr Weggang aus dem heimatlichen Dorf eigentlich hatte werden sollen, war längst nicht nur eine kopflose Flucht, sondern eine reine Tortur geworden.

Irgendwann begann sich das Grau ringsum zu lichten. Die Bäume traten weiter auseinander, das Gewirr aus Ästen und Zweigen über ihren Köpfen wurde dünner, und dann ritten sie endlich wieder durch einen gewöhnlichen Wald und nicht mehr durch einen unheimlichen Tunnel, der in eine immer währende Nacht gebohrt worden war. Der Weg wurde breiter, und Arianrhod konnte erkennen, dass er tatsächlich nicht nur benutzt, sondern auch von denen, die es taten, sorgsam instand gehalten wurde. Hier und da erkannte sie einen Busch, der erst vor kurzer Zeit gestutzt worden zu sein schien, den Stumpf eines Astes, den jemand abgehackt hatte, damit er nicht über den Weg wucherte, und es gab kaum heruntergefallene Äste und Laub auf dem Boden. Einmal glaubte sie sogar die Spuren eines Ochsenkarren zu erkennen, dessen Räder sich unter dem Gewicht seiner Last in den Boden gegraben hatten, aber sie waren zu schnell vorbei, als dass sie sicher sein konnte. Wessen sie hingegen sicher war, das war, dass es Menschen in der näheren Umgebung geben musste. Dieser Weg war nicht von selbst entstanden, und ihn anzulegen und so sorgsam davor zu bewahren, dem unermüdlichen Ansturm der Jahreszeiten und des Waldes zum Opfer zu fallen, musste große Mühe kosten.

Der Gedanke gefiel ihr nicht. Fast immer, wenn sie in letzter Zeit auf Menschen gestoßen waren, hatte es in einer Katastrophe geendet, und ganz gleich, wie weit sie die unermüdlichen Beine der Pferde bisher auch getragen haben mochten, sie befanden sich noch immer in der Nähe von Goseg. Menschen, auf die sie trafen, waren entweder Verbündete Gosegs oder nur allzu bald schon tot.

Die Gedanken ihrer Mutter schienen auf ganz ähnlichen Pfaden zu wandeln, denn Arianrhod spürte, wie sie sich immer öfter umblickte. Sie machte zwar keine entsprechende Bemerkung (hauptsächlich wohl, um Arianrhod nicht zu ängstigen), doch schließlich ließ sie Nachtwind ein wenig weiter ausgreifen, bis sie an Dragosz’ Seite angekommen waren. »Du solltest besser noch einmal vorausreiten. Dieser Wald gefällt mir nicht.«

»Mir auch nicht«, sagte Dragosz übellaunig. »Ich hoffe, wir sind noch auf dem richtigen Weg und nicht etwa im Kreis geritten.«

»Genau um das herauszufinden, sollst du ja vorausreiten«, erwiderte Lea trocken.

»Du meinst, es reicht vollkommen, wenn einer von uns in einen Hinterhalt gerät?«, erkundigte sich Dragosz. Er wirkte noch immer missmutig und fast so, als wäre ihm diese Bemerkung gegen seinen Willen entschlüpft.

»Ganz genau«, bestätigte Lea. Dann lachte sie. »Keine Sorge. Wir sind auf dem richtigen Weg. Ich möchte nur sicher sein, dass tatsächlich Rahn und die beiden anderen auf uns warten und nicht etwa Sarns Krieger.«

Dragosz überlegte noch kurz, sichtlich wenig begeistert von diesem Gedanken, ergab sich aber dann mit einem Schulterzucken in sein Schicksal. »Warum nicht? Bei der Gelegenheit kann ich ja gleich auch nach den Männern Ausschau halten, nach denen ich geschickt habe.«

Er schien darauf zu warten, dass Lea ihn für diesen Vorschlag lobte, und als das nicht geschah, ließ er Sturmwinds Zügel mit einer ärgerlichen Bewegung knallen und sprengte los.

»Männer?«, erkundigte sich Arianrhod alarmiert. »Was für Männer?«

»Krieger aus Dragosz’ Stamm«, antwortete ihre Mutter. »Weißt du, eigentlich hatten wir nicht vor, ganz Goseg zu zweit anzugreifen. Dragosz hat einen Jäger aus seinem Volk, dem er zufällig begegnet war, zurückgeschickt, damit er Verstärkung holt. Sie ist sicherlich schon auf dem Weg und hätte nach Dragosz Schätzung eigentlich schon gestern Abend eintreffen müssen. Wir wollten so lange warten, aber dann kam Rahn plötzlich mit einem Ochsengespann herangerattert, auf dem Kron und Achk hockten, als würden sie von ihm zur Schlachtbank geführt.«

»Ein Ochsengespann?«, fragte Arianrhod verwirrt. »Aber warum sollte Sarn ihnen ein Ochsengespann mit auf den Weg geben, statt sie in Lumpen aus Goseg zu jagen?«

»Weil er ein hinterlistiger alter Halunke ist, der sicherlich damit mehrere Dinge auf einmal erreichen will.« Als Arianrhod eine entsprechende Frage stellte, winkte Lea rasch ab. »Aber das spielt im Augenblick keine Rolle. Rahn war jedenfalls vollkommen aufgelöst und entsetzt darüber, was in Goseg geschehen war und was man dir anlastete - und sicherlich auch darüber, dass er nun selbst keine Gnade mehr von Sarn zu erwarten hat. Nachdem er uns erzählt hatte, was passiert war, konnten wir nicht mehr auf Verstärkung warten.«

Arianrhod fragte sich, wen Dragosz eigentlich zu seinen Leuten geschickt hatte, behielt diese Frage aber wohlweislich für sich.

Die Bäume wichen immer weiter auseinander und waren jetzt kleiner und von schlankerem Wuchs, sodass Arianrhod ihre Umgebung kaum noch wirklich als Wald bezeichnet hätte, und auf dem Kamm des Hügels, den sie nun hinaufritten, wuchsen nur noch ein paar einsame Schösslinge und dürres Gebüsch, das seinen Tribut an den bevorstehenden Winter bereits bezahlt hatte und fast nur noch aus blattlosen Ästen bestand. Kurz bevor sie den Kamm erreichten, ließ Lea Nachtwind anhalten, stieg ab und bedeutete auch Arianrhod mit einer Geste, von seinem Rücken zu klettern. »Hier werden wir auf Dragosz warten.«

Arianrhod nickte nur flüchtig und glitt ebenfalls vom Pferderücken, um dann ein paar Schritte zu gehen, bis sie einen freien Blick auf das Tal hatte, das sich unter ihnen eröffnete. Es musste weitaus tiefer sein, als es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte, denn es dauerte eine Weile, bis Arianrhod Dragosz auf der weißen Stute entdeckte, und dann war sie erstaunt, wie winzig er von hier oben aus wirkte. Die grünen Tupfen dort unten, von denen sie geglaubt hatte, es wären Büsche, mussten Bäume sein.

»Und wo stecken Dragosz’ Männer und die anderen?«

Lea deutete ein Achselzucken an, aber sie klang nicht sonderlich beunruhigt, als sie antwortete. »Sie werden sich irgendwo versteckt haben. Rahn wird sich bestimmt keine weithin einsehbare Stelle suchen und darauf warten, dass irgendjemand über ihn stolpert.« Da sie zu spüren schien, dass diese Antwort Arianrhod nicht unbedingt überzeugte, fügte sie in einem bewusst beiläufigen Ton hinzu: »Wenn irgendetwas nicht in Ordnung wäre, würde Dragosz sofort wieder zurückkommen.«

Arianrhod stellte diese Antwort nicht unbedingt zufrieden. Aber sie beschäftigte etwas ganz anderes. »Ist es wahr, was Nor über Dragosz und sein Volk erzählt hat?«

»Was?« Ihre Mutter trat neben sie und blickte konzentriert nach vorn, aber Arianrhod spürte ihre plötzliche Anspannung.

»Dass sie gekommen sind, um das Land zu erobern. Dass sie jeden töten und jedes Dorf niederbrennen, das sich weigert, sich ihnen zu unterwerfen.« Vielleicht war es der denkbar schlechteste Augenblick, diese Frage zu stellen, aber möglicherweise auch der letzte überhaupt. Und ihre Mutter zögerte ein bisschen zu lange für Arianrhods Geschmack, bevor sie antwortete, und sie tat es mit einer Bewegung, die typisch für sie war, wenn man ihr eine Frage gestellt hatte, auf die sie eigentlich nicht antworten wollte; eine Mischung aus einem Kopfschütteln, einem Achselzucken und einem unwilligen Schürzen der Lippen. »Wenn sie wirklich ein Volk von Mördern und Barbaren wären, meinst du, Dragosz hätte Grahl und Kron dann am Leben gelassen, nachdem sie ihn angegriffen haben?«, gab sie unwirsch zurück.

»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, sagte Arianrhod.

Lea wurde nun wirklich ärgerlich. »Ich weiß es nicht«, sagte sie scharf. »Und um ehrlich zu sein, wäre es mir im Augenblick auch vollkommen gleichgültig. Meinetwegen können sie Goseg bis auf die Grundmauern niederbrennen. Ich würde ihm keine Träne nachweinen. Du?«

Arianrhod stellte überrascht fest, dass sie diese Frage nicht beantworten konnte. Sie hätte erwartet, dass sie aus dem Gefühl heraus klar mit Nein antworten würde, aber wenn sie an die schrecklichen Augenblicke des zurückliegenden Morgens dachte, dann tat sie das auf eine sonderbare Art, die sie sich selbst nicht erklären konnte. Natürlich waren es Bilder voller Furcht und Angst und unbeschreiblichem Schrecken, und natürlich hatte sie Sarn und Jamu und alle, die zu ihnen gehörten, in diesen Augenblicken aus tiefstem Herzen gehasst. Aber da war so viel Tod gewesen, so viel Leid und Schmerz, so viele Menschen, die nicht ihre Feinde gewesen waren. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie ehrlich.

Ihre Mutter wirkte überrascht, gleichzeitig aber auch irgendwie... erleichtert? »Siehst du?«, gab sie zurück. »Und ich weiß nicht, welche Absichten Dragosz und sein Volk wirklich verfolgen. Ich glaube es nicht, aber wenn es uns dort wirklich nicht gefällt...« Sie wiegte den Kopf hin und her. »Die Welt ist groß, Arianrhod. Viel größer, als du dir vorstellen kannst. Im Frühjahr können wir immer noch weiter ziehen.«

Über diesen letzten Satz wollte Arianrhod jetzt nicht nachdenken. »Hast du ihn denn nicht gefragt?«

»Nein. Hast du es getan?«

»Ich? Aber wann sollte ich...«

»Als ihr allein miteinander gesprochen habt, draußen auf der Ebene«, unterbrach sie Lea. »Das kannst du doch nicht vergessen haben. Ich habe geschlafen, und ihr habt euch ziemlich lange unterhalten.«

Arianrhods Herz machte einen erschrockenen Satz. Wieso wusste ihre Mutter davon? Einen Moment lang und fast panisch versuchte sie sich zu erinnern, aber da war nichts. Sie hatte ihr ganz bestimmt nichts davon erzählt. »Hat es Dragosz...« Sie brach ab, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die von einem Atemzug zum anderen plötzlich wieder so ausgetrocknet und rissig zu sein schienen, dass es ihr Mühe bereitete, überhaupt zu sprechen, und setzte dann neu an. »Woher weißt du davon?«

»Jedenfalls nicht von dir«, antwortete Lea. Arianrhod versuchte in ihrem Gesicht zu lesen, aber ihre Miene blieb völlig undeutbar. »Und auch nicht von ihm.«

»Aber woher dann?«

»Du hörst mir anscheinend wirklich nie richtig zu, wie?«, seufzte ihre Mutter. »Ich habe dir doch gesagt, dass Mütter niemals schlafen und dass sie die Gedanken ihrer Kinder lesen können. Ich habe euch belauscht.«

»Du hast uns...«, keuchte Arianrhod.

»Euch belauscht, ja«, bestätigte ihre Mutter ungerührt. Ihre Stimme nahm einen Ton anklagend übertrieben gespielter Strenge an. »Es war nicht besonders schwer. Ich habe dir zwar beigebracht, wie man sich anschleicht, aber nicht, wie man sich wegschleicht. Das ist ein großer Unterschied, musst du wissen. Vor allem für Mütter. Das Wegschleichen lehren sie ihre Kinder nie.«

Arianrhod ging nicht auf den halb scherzhaften Ton ein, den ihre Mutter ihr anbot. »Du bist mir nachgegangen?«, vergewisserte sie sich. Ihr Herz klopfte immer schneller. »Du... du hast gehört... was...«

»Jedes Wort«, sagte Lea. »Und ich habe euch auch gesehen.«

Auch das ignorierte Arianrhod ganz bewusst. »Warum hast du nichts gesagt?«

»Vielleicht, weil ich gehofft habe, dass du mir etwas sagst.« Lea zog die Augenbrauen zusammen. »Außerdem wollte ich zuerst mit Dragosz reden und ihm die Augen auskratzen. Aber zu seinem Glück sind uns ja ein paar von Nors Kriegern dazwischen gekommen.« Sie machte eine abwehrende Handbewegung, als Arianrhod etwas sagen wollte, und fuhr, plötzlich in einem Ton, von dem Arianrhod nicht wusste, ob er nun spöttisch oder verständnisvoll gemeint war, fort: »Du musst nichts sagen. Ich habe mir selbst schon alles dazu gesagt, was nötig ist, weißt du?«

»Aber... aber ich habe doch nur...«

»Ich war im ersten Moment ziemlich zornig auf dich, und auch auf ihn, das gebe ich zu«, fuhr Lea ungerührt fort. »Aber wirklich nur im ersten Moment. Du musst kein schlechtes Gewissen haben oder dich schämen. Es ist ganz normal, dass du in deinem Alter anfängst, ein Auge auf Männer zu werfen. Vor allem, wenn sie so gut aussehen wie Dragosz und alles andere als vom Alter gebeugt sind.«

»Aber er gehört dir«, murmelte Arianrhod. Sie fühlte sich unglaublich schuldig.

»Gut, dass du es selbst sagt«, pflichtete ihr Lea bei. »Und es wäre noch besser, wenn du es nicht vergisst.« Plötzlich lachte sie und schüttelte heftig den Kopf. »Nein, mach dir keine Vorwürfe. Ich hätte wissen müssen, was passiert. Es ist ganz sicher nicht das erste Mal, dass sich eine Tochter in denselben Mann verliebt wie ihre Mutter, wenn er nicht zufällig auch ihr Vater ist. Und die Auswahl an gut aussehenden Männern ist bei uns im Dorf ja nun wirklich nicht groß.« Sie blinzelte Arianrhod fast verschwörerisch zu. »Und was Dragosz angeht - ich war ihm zwar böse, aber ich kann ihn verstehen. Du bist ein sehr hübsches Mädchen, und er müsste schon mit Blindheit geschlagen sein, um das nicht zu sehen.« Sie zuckte abermals mit den Achseln. »Ich nehme es als Kompliment. Immerhin bist du meine Tochter.«

»Aber...«, begann Arianrhod.

»Und jetzt wollen wir nie wieder über dieses Thema reden, einverstanden?«

Arianrhod nickte nur. Antworten konnte sie nicht. In ihrer Kehle saß plötzlich ein bitterer Kloß, der sie nicht nur am Sprechen hinderte, sondern sie fast zu ersticken schien, und ihr Herz klopfte noch immer so hart, dass sie es bis in die Spitzen ihrer zu Fäusten geballten Finger spüren konnte. Sie fühlte sich noch immer schuldig, jetzt vielleicht sogar mehr als zuvor, nicht wegen dem, was sie getan hatte - genau genommen hatte sie ja gar nichts getan -, wohl aber wegen dem, was sie gedacht und vor allem gefühlt hatte. Davon wusste ihre Mutter nichts, und sie nahm sich fest vor, dass sie es auch niemals erfahren würde. »Ja«, sagte sie mit einiger Verspätung. »Ich wollte ja auch nur...«

»Nie wieder«, fiel ihr Lea erneut ins Wort, diesmal etwas schärfer. Noch nicht wirklich zornig, aber doch so nachdrücklich, dass Arianrhod nur nickte und dann mit einem Ruck den Kopf zur Seite drehte, um wieder ins Tal hinabzusehen. Sie fühlte sich noch immer niederträchtig und gemein, zugleich aber auch unendlich erleichtert. Und sie verspürte ein warmes Gefühl für ihre Mutter, das sie allzu lange vermisst hatte. Vielleicht war es gar nicht so, wie sie vorhin noch gedacht hatte. Vielleicht hatte sie ihre Mutter nicht verloren, sondern nur eine Freundin gewonnen.

Dragosz hatte mittlerweile sein Pferd gewendet und war wieder auf dem Rückweg, ohne dass es Arianrhod während ihres Gesprächs aufgefallen wäre. Er schien in großer Eile zu sein, doch sie sah nun, dass er Schwierigkeiten hatte, die Stute die steil ansteigende Böschung hinaufzutreiben. Sie scheute immer wieder und versuchte sich ihm zu widersetzen, sodass er mit immer größerer Kraft an diesen verfluchten Lederriemen herumzerrte, die ihre Mutter Zaumzeug nannte und die nach ihren Worten eher dazu gedacht waren, das Verhältnis zwischen Mensch und Tier zu verbessern, statt mit grober Gewalt einem Pferd seinen Willen aufzuzwingen.

»Dieser Dummkopf lernt es nie«, seufzte Lea. »Wenn er so weitermacht, dann wird sie ihn abwerfen.« Sie schnaubte abfällig. »Eigentlich sollte ich in aller Ruhe abwarten, bis das passiert.«

»Reitet sein Volk nicht?«

»Nein. Ich habe ihm das Reiten beigebracht. Und bevor du jetzt sagst, ich wäre eine schlechte Lehrerin, das stimmt nicht. Er ist ein schlechter Schüler.« Sie stand auf und hob beide Arme über den Kopf, um Dragosz zuzuwinken. Arianrhod bezweifelte, dass er es überhaupt sah, denn er schien voll und ganz damit beschäftigt zu sein, sich auf Sturmwinds Rücken zu halten und mit immer größerer Kraft an den Zügeln zu reißen, aber die Stute erkannte Lea sofort. Sie hörte plötzlich auf, gegen ihren Reiter anzukämpfen, und verfiel ganz im Gegenteil in einen raschen Trab, der sie binnen weniger Augenblicke zu ihnen heraufbrachte.

Dragosz fiel mehr von ihrem Rücken, als er herunterkletterte. Er war vollkommen außer Atem, und sehr aufgebracht. »Störrisches Vieh!«, schimpfte er. »Um ein Haar hätte ich mir den Hals gebrochen!«

»Ich habe dir doch gesagt, du sollst sie nicht beschimpfen«, sagte Lea spöttisch. Sie nahm Dragosz den Zügel aus der Hand und tätschelte Sturmwinds Hals. Das Pferd dankte es ihr, indem es sie freundschaftlich mit dem Kopf gegen die Schulter stupste, bevor es sich zu Nachtwind gesellte, der noch immer an derselben Stelle ein Stück den Weg hinab wartete, wo sie ihn zurückgelassen hatten. Dragosz blickte der Stute finster nach und wandte sich dann mit einem noch finstereren Blick an Lea. »Vielleicht ist es ja wahr, was man sich in Goseg über dich erzählt«, grollte er. »Du bist eine Hexe. Du hast sie verzaubert.«

»Ja«, antwortete Lea lächelnd. »Wenn du willst, dann verrate ich dir meinen Zauberspruch. Er besteht aus einem einzigen Wort. Sanftmut.«

»Aus deinem Mund bekommt dieses Wort eine ganz andere Bedeutung«, sagte Dragosz spöttisch. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, um den Schweiß wegzuwischen.

»Aber es ist das ganze Geheimnis«, belehrte ihn Lea. »Sie sind sehr sanfte Wesen. Du musst ihre Freundschaft erringen. Wenn du versuchst, sie zu etwas zu zwingen, dann werden sie dir niemals wirklich treu ergeben sein. Und glaub mir, sie spüren ganz genau, ob es jemand ehrlich mit ihnen meint oder nicht.«

Dragosz sah sie einen Moment lang misstrauisch an, als suche er nach einer verborgenen Bedeutung in diesen Worten, dann aber schüttelte er unwillig den Kopf. »Wollen wir uns über Pferde unterhalten, oder willst du wissen, was ich gefunden habe?«

»Einen verräterischen Fischer, einen blinden Schmied und einen einarmigen Jäger?«, erkundigte sich Lea, immer noch lächelnd.

Ihre unerschütterliche Fröhlichkeit ließ Dragosz’ Ummut offensichtlich wachsen. »Sie warten auf uns, dort unten im Tal«, bestätigte er. »Dein Freund, der Fischer, behauptet, es wäre alles in Ordnung. Aber ich traue ihm nicht.«

»Warum nicht?«, wollte Arianrhod wissen.

»Nur so ein Gefühl«, grollte Dragosz. »Zwei meiner Männer sind bei ihnen. Die anderen sind auf dem Weg hierher. Wir müssten noch vor Sonnenuntergang zu ihnen stoßen, wenn wir uns beeilen.«

»Dann sollten wir das auch tun«, sagte Lea, und Dragosz nickte, schüttelte aber auch fast gleichzeitig den Kopf. »Ja. Lass mich nur einen Moment ausruhen und einen Schluck Wasser trinken - und meine Kräfte sammeln, bevor ich mich wieder auf den Rücken dieses... Tieres setzte.« Er stockte unmerklich, und Arianrhod hatte das sichere Gefühl, dass er eigentlich etwas ganz anderes hatte sagen wollen, es aber dann doch nicht gewagt hatte. In Leas Augen blitzte es noch einmal amüsiert auf, und Dragosz schenkte ihr einen weiteren finsteren Blick, bevor er einfach an ihr vorbeiging und einen umgestürzten Baum ein paar Schritte entfernt ansteuerte, um sich mit einem übertrieben erschöpften Seufzen darauf niedersinken zu lassen.

Arianrhod und ihre Mutter folgten ihm. Lea nahm neben ihm auf dem Baumstamm Platz, wenn auch in ziemlich großem Abstand, während Arianrhod einen Moment lang unschlüssig stehen blieb und dann weiterging, um die beiden Pferde anzusteuern.

Sturmwind beäugte sie misstrauisch, während der Hengst erfreut schien, sie zu sehen. Er kam auf sie zu, schnaubte leise und stieß sie dann sanft mit seiner weichen Schnauze an. Durch seine große Kraft stolperte Arianrhod dennoch einen halben Schritt zurück, bevor sie sich mit heftig rudernden Armen wieder fing, dann aber musste sie lachen und streichelte Nachtwinds Hals, bevor er seine Aufforderung wiederholte und sie möglicherweise wirklich zu Boden schleuderte. Und beinahe als geschähe es ohne ihr Zutun, fand sich Arianrhod mit einem Male auf seinem Rücken wieder. Diesmal saß sie richtig, nicht schon halb auf seinem Hals, wie sie es hatte tun müssen, als sie vor ihrer Mutter Platz genommen hatte, sondern genau in derselben Stellung wie Lea, und ihre Hände suchten fast wie von selbst nach dem geflochtenen Lederriemen, der als Zügel diente.

Der Hengst drehte überrascht den Kopf und sah sie an, dann machte er einen vorsichtigen Schritt, dann noch einen, und schließlich verfiel er in einen - sehr langsamen - Trab, der sie weiter auf die Hügelkuppe zutrug. Arianrhod war viel zu überrascht von dem, was sie gerade getan hatte, und auch ein bisschen berauscht von diesem wunderschönen Moment, um sehr viel von ihrer Umgebung wahrnehmen zu können, aber sie registrierte dennoch, wie Dragosz erschrocken hochspringen wollte und ihre Mutter ihm rasch die Hand auf den Unterarm legte und ihn zurückhielt. Dann war sie an ihnen vorbei, und der Hügelkamm kam immer näher, und plötzlich erinnerte sie sich wieder daran, wie steil das Gelände auf der anderen Seite abgefallen war. Sie hatte keine Ahnung, wie man den Hengst zum Stehen bleiben bewegte.

Aber ihre Sorge erwies sich als unbegründet. Unmittelbar vor der Hügelkuppe machte Nachtwind kehrt, trabte zu Dragosz und ihrer Mutter zurück und blieb stehen.

»Siehst du?«, sagte Lea, zwar zu Arianrhod hinaufsehend und mit einem stolzen Lächeln auf dem Gesicht, aber an Dragosz gewandt, »das habe ich gemeint, Dragosz. Meine Tochter hat das Geheimnis bereits erkannt.«

»Sie ist ja auch die Tochter einer Zauberin«, antwortete Dragosz böse. Aber eigentlich, fand Arianrhod, klang er eher verwirrt und ein ganz kleines bisschen vielleicht auch... ängstlich?

Sie wollte absteigen, aber Lea machte eine rasche, abwehrende Bewegung und stand ihrerseits auf. »Nein, bleib, wo du bist. Es wird sowieso Zeit, dass wir weiterreiten. Zum Herumalbern haben wir noch Zeit genug, wenn wir erst in Sicherheit sind.«

Sie schwang sich mit einer raschen Bewegung zu Arianrhod herauf auf den Rücken des Pferdes, nahm ihr die Zügel aus der Hand und winkte Dragosz heran. »Hätte ich gewusst, dass du das Reiten so schnell lernst, dann hätte ich Morgenwind gleich mitgebracht«, sagte sie, während sie sich wieder auf den Weg machten.

»Morgenwind?« Arianrhod richtete sich kerzengerade auf und versuchte, über die Schulter hinweg ins Gesicht ihrer Mutter zu sehen. »Sie ist... ist hier? Ihr habt sie mitgebracht?«

»Unten bei Rahn und den anderen«, bestätigte Lea. »Wir haben sie nicht mitgebracht. Sie ist uns gefolgt, als wir Nachtwind und Sturmwind geholt haben. Ich hatte gehofft, dass sie uns auch weiter begleitet und ich dir später, wenn wir in Sicherheit und bei Dragosz’ Leuten sind, in aller Ruhe das Reiten beibringen kann. Aber das wird wohl kaum noch nötig sein. Sobald wir unten im Tal sind, werde ich ein Zaumzeug für dich anfertigen, und du kannst allein reiten.«

»Auf Morgenwind?«, fragte Arianrhod hoffnungsvoll. Ihr Herz klopfte, als sie an die prachtvolle Stute dachte, mit der sie so oft gespielt hatte. Doch ihre Mutter schüttelte den Kopf.

»Du wirst Nachtwind nehmen«, sagte sie. »Morgenwind ist noch nie geritten worden, weißt du? Ein Pferd muss genauso lernen, geritten zu werden, wie ein Mensch lernen muss, es zu reiten. Ich werde sie nehmen. Falls sie noch da ist«, fügte sie mit einem leisen Seufzen hinzu, »und Rahn und die anderen Dummköpfe sie nicht inzwischen aufgegessen haben.«

Arianrhod starrte sie regelrecht entsetzt an, und ihre Mutter lachte leise. »Das war ein Scherz.«

»Und wenn nicht, dann schneide ich ihm eigenhändig die Kehle durch«, sagte Arianrhod, und das war kein Scherz.

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