33

Allzu lange konnte sie nicht bewusstlos gewesen sein, denn das Nächste, was sie wahrnahm, war ein schmerzhaftes Hantieren und Zupfen an ihrem rechten Bein, mit dem ihre Mutter einen Streifen Stoff um die Schnittwunde wickelte, die Jamu ihr zugefügt hatte. Ihr anderes Bein war noch unversorgt und blutete, wenn auch nicht mehr annähernd so heftig wie zuvor.

»Bleib ruhig«, sagte Lea, ohne auch nur den Blick zu heben. Sie musste gespürt haben, dass Arri aufgewacht war. »Ich bin gleich fertig.«

Arri hätte sich nicht einmal dann rühren können, wenn sie es gewollt hätte. Auch wenn die allerschlimmsten Schmerzen verklungen waren, so schien es doch zugleich an ihrem ganzen Körper nicht eine Stelle zu geben, die nicht irgendwie wehtat, und sie hatte das sichere Gefühl, dass es sofort schlimmer werden würde, sobald sie den Fehler beging, auch nur die allerkleinste Bewegung zu versuchen. Vielleicht, dachte sie, wurde es endlich Zeit, dass sie damit anfing, auf ihre Mutter zu hören, und einfach hier liegen blieb; am besten bis zum nächsten Frühjahr.

Klaglos, wenn auch mit zusammengebissenen Zähnen, ließ sie Leas Bemühungen über sich ergehen und lenkte sich damit ab, den von größtenteils schon blattlosen Ästen eingerahmten Ausschnitt des Himmels über sich zu betrachten. Ganz, wie Lea es versprochen hatte, benötigte sie nur noch wenige Augenblicke, um ihr Bein zu versorgen und den Verband nach einer letzten Überprüfung so fest zu ziehen, dass es beinahe so wehtat wie vorher. Dann stand sie auf, ging in einem umständlichen großen Bogen um Arianrhod herum, obwohl sie ebenso gut einfach einen Schritt über sie hinweg hätte tun können, und nur einen Augenblick später ertönte das typische Geräusch von reißendem Stoff. Ohne sie noch einmal vorzuwarnen, kümmerte sie sich jetzt um die Wunde an ihrem anderen Bein, was fast noch mehr wehtat.

Immerhin spürte Arri aber auch, dass sie jetzt nicht mehr so stark blutete wie zuvor. Wie schnell sich die Dinge doch änderten, dachte sie. Es war noch nicht lange her, da hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als schnell und schmerzlos zu verbluten; jetzt war ihr klar, dass sie jeden einzelnen Tropfen der roten Lebenskraft, die aus ihr herausgelaufen war, bitter nötig hatte.

»Du kannst jetzt aufhören, die Leidende zu spielen, Arri«, sagte ihre Mutter. »Ich bin fertig.«

Arianrhod tat noch einen ganz kurzen Moment lang so, als hätte sie die Worte gar nicht gehört, aber da sie wusste, wie beharrlich ihre Mutter sein konnte und wie gering ihre Geduld im Allgemeinen war, gab sie es nach zwei oder drei Atemzügen auf und stemmte sich vorsichtig auf die Ellbogen hoch.

Offensichtlich jedoch nicht vorsichtig genug, denn ihre rechte Schulter quittierte die Bewegung sogleich mit einer neuerlichen, heftigen Schmerzattacke, sodass sie um ein Haar wieder zurückgefallen wäre und zischend die Luft zwischen den Zähnen einsog.

»Was ist mit deinem Arm?«, fragte Lea beunruhigt.

»Nichts«, antwortete Arianrhod. »Es... es geht schon wieder. Und übrigens: Ich heiße Arianrhod und nicht Arri.« Als ihre Mutter nicht gleich darauf reagierte, fügte sie noch hinzu: »Es wird Zeit, meinen Kindernamen abzulegen, oder findest du nicht? In den vergangenen Wochen ist so viel geschehen, dass ich kaum noch weiß, wie das war: ein Kind zu sein.«

Ein flüchtiges, fast traurig wirkendes Lächeln huschte über das Gesicht ihrer Mutter. »Ja, ich glaube, du hast Recht. Vergessen wir Arri. Sehen wir zu, dass wir Arianrhod am Leben erhalten.«

»Dazu hast du ja schon über die Maßen beigetragen«, sagte Arianrhod. »Ich hatte schon mit meinem Leben abgeschlossen.«

»Warum machst du dann ein Gesicht, als hättest du einen Hund am falschen Ende geküsst?«, wollte Lea wissen.

Bei der Erwähnung des Wortes Hund verzog Arianrhod abermals das Gesicht. Wahrscheinlich würde sie das für den Rest ihres Lebens tun, auch wenn ihr klar war, dass ihre Mutter diese Bemerkung einzig und allein gemacht hatte, um sie irgendwie aufzuheitern.

»Jamu hat ihn mir ausgekugelt«, antwortete sie schließlich.

Der besorgte Ausdruck auf den Zügen ihrer Mutter verstärkte sich noch. »Lass mich nach deiner Schulter sehen«, verlangte sie, während sie gleichzeitig bereits Anstalten machte, die Arme auszustrecken, aber Arianrhod schüttelte nur noch einmal und heftiger den Kopf und machte zugleich eine abwehrende Bewegung. »Das ist wirklich nicht nötig. Er hat ihn mir auch wieder eingerenkt.«

Leas Blick wirkte für einen Moment irritiert, dann aber deutete sie nur ein Schulterzucken an und stemmte sich ächzend hoch, indem sie beide Hände flach auf die Oberschenkel stützte. »Glaubst du, dass wir weiter können?«

Statt mit einem vollmundigen und ebenso überzeugten wie wenig glaubwürdigen Selbstverständlich zu antworten, (sie erinnerte sich gerade noch rechtzeitig, was passiert war, als sie dies das letzte Mal getan hatte) lauschte Arianrhod einen Herzschlag lang in sich hinein. Es war nicht so schlimm, wie sie erwartet hatte. Auch wenn es ihr selbst fast wie ein Wunder vorkam, so schien sie doch ohne wirklich schlimme Verletzungen davongekommen zu sein. Aber sie wusste auch, wie gefährlich ein solcher Trugschluss sein konnte. Eine Menge kleinerer Verletzungen war manchmal ebenso schlimm, wenn nicht gar schlimmer als eine wirklich große, und sie hatte eine ganze Menge kleinerer Schrammen und Blessuren davongetragen, von den beiden hässlichen Schnittwunden in ihren Oberschenkeln gar nicht zu reden. Trotzdem nickte sie nach einem weiteren Augenblick und arbeitete sich umständlich und behutsam in die Höhe. Ihre Mutter rührte keinen Finger, um ihr zu helfen, sondern sah ihr nur sehr aufmerksam zu, doch Arianrhod begriff auch, dass das, was einem Teil von ihr ziemlich mitleidlos vorkam, in Wirklichkeit wohl eher eine Art Überprüfung war. Ihre Mutter wollte sehen, ob sie tatsächlich imstande war, aus eigener Kraft aufzustehen.

Sie war es, aber was die eigene Kraft anging, so verbrauchte sie für diese kleine Bewegung nahezu alles davon, was sie noch hatte.

»Ich sollte wirklich enttäuscht sein«, sagte Lea. »Weißt du, ich hatte gehofft, dass du mittlerweile alt genug bist, um dich wenigstens für ein paar Tage allein lassen zu können. Aber anscheinend habe ich mich getäuscht. Kaum lasse ich dich aus den Augen, stellst du den größten Unsinn an.« Sie schüttelte missbilligend den Kopf und gab sich alle Mühe, einen möglichst grimmiges Gesicht aufzusetzen, und hätte Arianrhod sie auch nur ein ganz kleines bisschen weniger gut gekannt, hätte sie ihr zweifellos geglaubt. Anders als der eine oder andere unangenehme Zeitgenosse, mit dem Arianrhod es in den zurückliegenden Tagen zu tun gehabt hatte, war ihre Mutter eine ausgezeichnete Schauspielerin. Dennoch war da ein ganz sachtes, spöttisches Funkeln tief in ihren Augen, das aber von dem Ausdruck großer Sorge darin fast überdeckt wurde. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst nicht mit Hunden spielen, die du nicht kennst?«

Das nahm Arianrhod ihrer Mutter wirklich übel, aber sie hütete sich auch, sich etwas von ihren wahren Gefühlen anmerken zu lassen. So, wie sie Lea kannte, hätte sie sich damit nur noch etliche weitere, noch spaßigere Bemerkungen der gleichen Art eingehandelt. »Irgendwie musste ich mir ja die Zeit vertreiben«, sagte sie böse.

Ihre Mutter lachte zwar, aber das spöttische Funkeln in ihren Augen erlosch, und plötzlich breitete sich ein Ausdruck großer Müdigkeit auf ihrem Gesicht aus. Nein, korrigierte sich Arianrhod in Gedanken. Nicht plötzlich. Er war die ganze Zeit über da gewesen, nur hatte Lea ihn irgendwie überspielt. Und erst jetzt, dafür aber umso erschrockener, registrierte sie, wie erschöpft und verhärmt ihre Mutter - wirklich aussah. Sie hatte stark abgenommen, auch und vielleicht sogar vor allem im Gesicht. Ihre Wangen waren eingefallen, und unter ihren Augen lagen schwarze Schatten, die von deutlich mehr als nur einer schlaflosen Nacht stammten. Sie hielt sich aufrecht und so gerade wie immer, doch Arianrhod spürte, wie viel Mühe es sie kostete. Plötzlich tat ihr ihre Bemerkung Leid. Sie setzte dazu an, sich bei ihrer Mutter zu entschuldigen und sie gleichzeitig zu fragen, wie es ihr ging, doch Lea kam ihr mit der gleichen Frage zuvor.

»Was ist dir passiert?«, fragte sie. Dann fuhr sie ganz leicht zusammen und maß ihre Tochter mit einem langen, irritierten Blick, als fiele ihr erst jetzt auf, dass sie nackt vor ihr stand. Hastig streifte sie ihren Umhang ab und trat neben sie, um ihn ihr um die Schultern zu legen. »Haben sie dich...?«

»Nein!«, unterbrach sie Arianrhod fast erschrocken.

Ihre Mutter verhielt für einen winzigen Augenblick in der Bewegung, und auch wenn sie nichts sagte, so machte ihr zweifelnder Blick doch klar, dass sie ihr nicht unbedingt glaubte. Wenn Arianrhod an den fast panischen Ton dachte, in dem sie dieses eine Wort hervorgestoßen hatte, so konnte sie sie verstehen.

»Wirklich nicht«, beteuerte sie und schüttelte zusätzlich den Kopf. Lea führte ihre Bewegungen zu Ende und trat wieder einen Schritt zurück, aber ihr Gesichtsausdruck blieb zweifelnd, und Arianrhod fuhr mit einem leicht verunglückten Lächeln und in einem Ton, dem man zumindest anhörte, dass er scherzhaft klingen sollte, fort: »Nor hat es Jamu zwar vorgeschlagen, aber er lehnte ab und meinte, er würde sich lieber eine hübsche Hündin suchen.« Sie zog eine Grimasse. »Ich bin mittlerweile nicht mehr ganz sicher, ob er das nicht ernst gemeint hat.«

Noch einmal verstrich ein endloser Atemzug, in dem der Ausdruck auf Leas erschöpftem Gesicht beinahe noch besorgter wurde, aber dann lachte sie plötzlich und antwortete: »Glaub mir, er hat es ernst gemeint.«

»Dann hoffe ich, dass du nicht aus Versehen seine Lieblingshündin erschossen hast«, sagte Arianrhod.

»Das war ich nicht«, erwiderte Lea. »Hätte ich geschossen, hätte der zweite Pfeil Jamu getroffen. Vielleicht nicht tödlich, aber dorthin, wo es ganz besonders wehtut.« Sie grinste bei diesen Worten, aber Arianrhod spürte dennoch, wie bitter ernst sie gemeint waren. Sie entschuldigte sich in Gedanken noch einmal bei ihrer Mutter. Leas aufgesetzte Beiläufigkeit war nichts als ein kläglicher Versuch, den Umstand zu verhehlen, dass sie in Wahrheit vor Sorge um ihre Tochter fast den Verstand verloren hatte.

»Wer war es dann?«, fragte sie.

»Dragosz«, erwiderte ihre Mutter. »Ich war für die Schweine zuständig.«

»Und warum musste ich mich dann so lange mit Sarn und Jamu herumplagen?«, fragte Arianrhod beleidigt.

Immerhin war es ihr diesmal tatsächlich gelungen, ihre Mutter aus der Fassung zu bringen. Sie blinzelte verständnislos, dann aber lachte sie, laut und befreit. Einen Moment später wurde sie jedoch schlagartig umso ernster. »Und sie haben dir wirklich nichts angetan?«, vergewisserte sie sich.

»Bis auf das, was du gesehen hast?« Arianrhod schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Aber ich gebe mich auch gern damit zufrieden, weißt du? Ich bin nicht genusssüchtig.«

Diesmal blieb ihre Mutter ernst. Sie sah sich rasch um, als wartete sie auf jemand, wandte sich aber dann wieder an Arianrhod und fragte: »Was ist überhaupt geschehen? Du hast Nor doch nicht wirklich getötet, oder?«

»Natürlich nicht«, erwiderte Arianrhod empört. Allein die Frage brachte sie schon beinahe wieder in Rage.

»Und wer war es dann?«, wollte Lea wissen. »Jamu oder Sarn selbst?«

»Eine von Nors Frauen«, antwortete Arianrhod. »Sasa. Die Jüngste.«

»Die Stumme? Die Frau, der Nor die Zunge hat herausschneiden lassen?« Arianrhod nickte. »Man sollte nie die Rachsucht einer Frau unterschätzen«, meinte Lea grimmig. »Und trotzdem überrascht es mich. Sarns Macht muss schon weitaus größer gewesen sein, als Nor geahnt hat. Das macht alles noch viel komplizierter.« Sie seufzte tief. »Sarn muss ziemlich verzweifelt gewesen sein, nachdem Nor ihn während der Feuerzeremonie so gedemütigt hat.«

»Woher weißt du davon?«, erkundigte sich Arianrhod überrascht.

»Von Rahn«, antwortete ihre Mutter.

»Er ist hier?« Arianrhod sah sich rasch nach allen Seiten um, als erwarte sie allen Ernstes, ihn aus dem Gebüsch hervortreten zu sehen. »Was ist mit den anderen? Kron und Achk?«

Lea hob besänftigend die Hand. »Sie sind wohlauf. Wir treffen uns mit ihnen, nicht weit von hier.«

»Dann hat er dir erzählt, was passiert ist?«, vergewisserte sich Arianrhod. Sie hatte kein gutes Gefühl. Stirnrunzelnd und in eindeutig verändertem Ton fuhr sie fort: »Du traust ihm?«

»Nein«, antwortete Lea offen. »Ebenso wenig wie er mir. Rahn hat die ganze Zeit über versucht, sich irgendwie durchzumogeln, ohne wirklich Stellung zu beziehen. Ich nehme an, er war von Anfang an in viele Machenschaften Sarns eingeweiht, und das droht ihm nun zum Verhängnis zu werden.«

»Das verstehe ich nicht«, bekannte Arianrhod.

»Das versteht vielleicht noch nicht einmal Rahn selbst«, sagte Lea ernst. »Aber er muss gespürt haben, dass sich die Schlinge um seinen Hals immer enger zieht. Seine Nähe zu mir drohte ihm mit Sicherheit zum Verhängnis zu werden, zumal Sarn nicht verborgen bleiben konnte, wie nahe wir uns gekommen sind. Und dass er sich dann auch noch für Achk und Kron stark gemacht hat, hat ihn für Sarn untragbar gemacht. Deswegen hatte er wohl gar keine andere Wahl, als sich auf unsere Seite zu schlagen. Zumindest für den Augenblick.«

Arianrhod dachte an die sonderbare Veränderung des Fischers. Vielleicht hatte sie ihn von Anfang an falsch beurteilt, weil ihre Überheblichkeit sie blind gemacht hatte, vielleicht hatte er aber auch ihr - und allen anderen - etwas vorgespielt. Wie auch immer, letztlich hatte sich Rahn als alles andere als der Dummkopf erwiesen, für den sie ihn ein Leben lang gehalten hatte. »Aus Rahn bin ich immer noch nicht ganz schlau geworden«, gestand sie. »Er ist also nicht der harmlose Fischer, für den er sich immer ausgegeben hat?«

Lea schüttelte den Kopf. »Wohl kaum. Dann wäre er sicher nicht auf die Idee mit den Wildschweinen gekommen.«

»Das war Rahn?«, fragte Arianrhod verblüfft.

»Aber ja. Er hat vollkommen zu Recht gemeint, dass alle Tiere Angst vor Feuer haben und dass man mit dem entsprechenden Feuerzauber eine Gruppe Wildschweine im wahrsten Sinne des Wortes im Schweinsgalopp vor sich hertreiben könnte. Ich war mir trotzdem bis zum letzten Moment nicht sicher, dass es funktioniert.«

Wahrscheinlich hätte es das auch nicht, dachte Arianrhod. Eine Gruppe Wildschweine, noch dazu auf kopfloser Flucht vor dem Feuer, war eine ernst zu nehmende Gefahr, selbst für eine Anzahl bewaffneter Männer, und doch wären Sarns Krieger rasch mit ihnen fertig geworden, wären es nur die Schweine gewesen. Was die Männer tatsächlich in Panik versetzt hatte, das war der Anblick des schwarzen Ungeheuers gewesen, das hinter ihnen herangesprengt kam, und natürlich Dragosz’ Pfeile. Arianrhod schauderte, als ihr klar wurde, was für ein unglaubliches Glück sie und ihre Mutter gehabt hatten. Dieser Plan - wenn man ihn denn so nennen wollte - war aus purer Verzweiflung geboren und vielleicht einfach nur deshalb aufgegangen, weil im Herzen ihrer Mutter das Feuer ungezügelter Mutterliebe brannte.

Arianrhod zog den Mantel enger um die Schultern und wandte sich ab, um nach Nachtwind zu suchen. Der schwarze Hengst stand ein gutes Stück entfernt am Wegesrand und zupfte an den kümmerlichem Grashalmen, die dort wuchsen, doch als sie ihn ansah, drehte er den Kopf in ihre Richtung und ließ ein leises Schnauben hören; fast als hätte er ihren Blick gespürt und antwortete auf seine Weise. »Ich wusste gar nicht, dass man auf seinem Rücken sitzen kann«, sagte sie.

»Reiten«, verbesserte sie ihre Mutter. »Man nennt es reiten.« Sie trat an Arianrhods Seite und sah ebenfalls zu Nachtwind hin, und, wahrscheinlich, ohne dass es ihr selbst auch nur bewusst war, erschien ein sonderbarer, beinahe zärtlicher Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Niemand hier weiß das. Die Menschen hier sind so dumm. Wo wir herkommen, lernen die Kinder manchmal das Reiten, bevor sie richtig laufen können.«

Und wahrscheinlich, dachte Arianrhod, hatte ihr genau dieses Unwissen das Leben gerettet. Selbst sie hatte im ersten Moment ja geglaubt, sich einem Dämon gegenüberzusehen, der direkt aus der Hölle emporgestiegen war, um mit Feuer und Tod über die Menschen hereinzubrechen. Auf Sarns Krieger, denen der Anblick eines Pferdes nicht annähernd so vertraut war wie ihr, musste das Bild ihrer Mutter, die auf dem Rücken des riesigen Hengstes herangesprengt kam und ihr tödliches Schwert schwang, geradezu verheerend gewirkt haben. Aber sie machte sich nichts vor. Es hatte einmal funktioniert, aber das würde es gewiss nicht wieder tun. Aus einer Überraschung ließ sich selten mehrmals ein Vorteil ziehen. »Wenn sich alle Tiere vor dem Feuer fürchten«, fragte sie nachdenklich, »warum hatte er dann keine Angst?«

Lea lächelte flüchtig. »Weil Nachtwind kein gewöhnliches Tier ist.«

Arianrhod blinzelte leicht. »Aber du hättest mir doch zumindest sagen können, dass du ihn reiten kannst!«

»Ja, das hätte ich«, sagte ihre Mutter ruhig. »Und ich hatte nicht nur das vor, sondern auch, dir selbst das Reiten beizubringen. Aber es ist nicht leicht, es zu erlernen, und deswegen habe ich auf einen günstigen Augenblick gewartet, um dich in das Geheimnis dieser edlen Tiere einzuweisen.«

Nachtwind schnaubte, wie um ihre Worte zu bekräftigen, doch dann begriff Arianrhod, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Der Hengst hob den Kopf und stieß plötzlich ein zweites, ganz anders klingendes Schnauben aus, und auch Lea fuhr mit einer raschen Bewegung herum. Ihre linke Hand machte eine Bewegung, wie um den Umhang zurückzuschlagen, den sie gar nicht mehr trug, die andere schloss sich um den Schwertgriff an ihrem Gürtel, und erst jetzt hörte auch Arianrhod das dumpfe, rasch näher kommende Hämmern.

Noch bevor sie jedoch wirklich erschrecken konnte, entspannte sich ihre Mutter wieder, und auch Nachtwind schnaubte noch einmal und abermals auf hörbar andere Art. Er stampfte zweimal mit dem rechten Vorderhuf auf, und sein langer Schweif begann aufgeregt zu peitschen.

»Was ist los?«, fragte sie.

Lea lächelte beruhigend und machte eine entsprechende Geste mit der linken Hand, ihre Rechte löste sich jedoch nicht vom Schwertgriff. Konzentriert blickte sie in die Richtung, aus der der näher kommende Hufschlag ertönte. Arianrhod tat es ihr gleich, und nur wenige Augenblicke später gewahrte sie ein prachtvolles weißes Pferd, das um die Biegung des Waldweges galoppiert kam. Plötzlich wusste sie besser, was Sarns Krieger beim Anblick ihrer Mutter empfunden haben mussten. Obwohl sie nun um das Geheimnis des Reitens wusste, erstarrte sie für einen Moment innerlich vor Schrecken, als sie Dragosz erblickte, der mit wehendem Haar und Mantel auf dem Rücken der gewaltigen Stute saß. Selbst der tapferste Krieger musste bei diesem Anblick innerlich vor Furcht erstarren.

»Endlich.« Lea machte einen Schritt auf die Stute zu. »Dragosz! Wie sieht es aus?«

Der schwarzhaarige Krieger brachte sein Reittier nur ein kurzes Stück vor ihr zum Stehen, und das so hart, dass die Stute unwillig den Kopf in den Nacken warf und schrill wieherte. Hinter ihnen antwortete Nachtwind im gleichen Tonfall, und erst in diesem Moment erkannte Arianrhod das Tier, auf dessen Rücken Dragosz saß. Es war Sturmwind, Nachtwinds Gefährtin. Sie nahm sich vor, das, was sie bisher über diese sonderbaren Tiere zu wissen geglaubt hatte, noch einmal in aller Ruhe zu überdenken.

»Nicht gut«, antwortete Dragosz, während er bereits mit einer hastigen Bewegung von Sturmwinds Rücken glitt und Lea flüchtig in die Arme schloss. Er wirkte besorgt. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, und sein Atem ging so schnell, als wäre er die Strecke hierher gerannt und nicht auf Sturmwinds Rücken geritten. »Ich konnte nicht lange genug bleiben, um viel zu erkennen, aber ich glaube, dass sie uns bereits verfolgen. Wir müssen weg.«

»Dann sollten wir keine Zeit verlieren«, pflichtete ihm Lea bei. Sie löste sich aus seiner Umarmung, stieß einen hellen, schnalzenden Laut aus, und der schwarze Hengst hörte augenblicklich auf zu grasen und kam an ihre Seite.

»Konntest du sehen, ob Sarn noch am Leben ist?«, erkundigte sich Lea, während sie nach dem Lederriemen griff, der auf eine komplizierte Art hinter den Ohren über den Kopf und um den Pferdehals geschlungen zu sein schien und mit einem sorgfältig beschliffenen Maulteil aus Hirschhorn verknüpft war. Nachtwind senkte gehorsam den Kopf, um es ihr leichter zu machen, und Lea setzte dazu an, auf seinen Rücken zu steigen, überlegte es sich dann aber noch einmal anders und winkte Arianrhod herbei.

»Nein«, antwortete Dragosz.

»Nein, was?«, schnappte Lea unwillig. »Nein, er ist nicht mehr am Leben, oder nein, ich konnte es nicht sehen?« Sie wedelte ungeduldig mit der Hand, als Arianrhod nicht sofort auf ihre erste Bewegung reagierte, sondern nur verwirrt zwischen ihr und Dragosz hin und her sah.

»Ich konnte es nicht erkennen«, antwortete Dragosz, immer noch keuchend, nun aber in ebenso gereiztem Ton wie sie. »Ungefähr zwei Dutzend seiner Krieger waren auf dem Weg zum Waldrand, weißt du? Ich vermute, sie wollten mir die Pfeile zurückbringen, die ich auf ihre Kameraden abgeschossen habe.« Er machte ein betrübtes Gesicht. »Es waren gute Pfeile. Unser Waffenmeister wird mir Vorhaltungen machen, dass ich sie verloren habe.«

Arianrhod beeilte sich jetzt, neben ihre Mutter zu treten, und Lea packte sie ohne viel Federlesens - oder gar Rücksicht auf ihre Verletzungen zu nehmen, bei den Hüften und setzte sie so mühelos auf den Rücken des Hengstes, als wäre sie ein Säugling, und nicht beinahe so groß und schwer wie sie selbst. Unwillkürlich klammerte sich Arianrhod mit beiden Händen in der Mähne des Tieres fest, was Nachtwind mit einem unwilligen Schnauben und einem noch unwilligeren Kopfschütteln kommentierte, das sie beinahe wieder von seinem Rücken gefegt hätte.

»Lass das«, sagte Lea scharf. »Du tust ihm weh. Ich zeige dir gleich, wie man die Zügel hält.« Als Arianrhod sie nur begriffsstutzig ansah, hielt sie die Riemen nach oben. »Die Lederriemen hier - das sind die Zügel, wie du sie bislang nur in Form von Stricken kennen gelernt hast. Zusammen mit dem Zaumzeug helfen sie dabei, dass sich Mensch und Pferd besser verstehen.«

Arianrhod ließ augenblicklich die schwarze Mähne des Hengstes los, obwohl sie ganz und gar nicht davon überzeugt war, wirklich klug zu handeln. Obwohl sie sich mit beiden Beinen und aller Kraft festklammerte, hatte sie doch das Gefühl, dass sich der ganze Wald plötzlich um sie drehte, und gleichzeitig ein Dutzend unsichtbarer Hände aus einem Dutzend verschiedener Richtungen an ihr zerrten. Nachtwind schnaubte noch einmal und stand dann plötzlich stocksteif, fast als spürte er ihre Unsicherheit und wollte es ihr leichter machen, doch das Schwindelgefühl, das Arianrhod ergriffen hatte, wurde eher noch schlimmer. Und so etwas sollten die Kinder in der Heimat ihrer Mutter gelernt haben, bevor sie laufen konnten? Lächerlich!

»Dann sollten wir besser keine Zeit mehr verlieren«, sagte Lea, zu Dragosz gewandt. »Sarn ist wie eine Katze mit neun Leben. Du hättest einen deiner kostbaren Pfeile für ihn aufheben sollen.«

Mit einer Bewegung, die in Arianrhod eine Mischung aus blankem Neid und schierem Entsetzen hervorrief, schwang sie sich hinter ihr auf den Rücken des Hengstes, griff mit beiden Händen an ihr vorbei nach dem Zügel und fuhr Dragosz gleichzeitig an: »Worauf wartest du? Sie sind bestimmt schon hinter uns her!«

Der schwarzhaarige Krieger funkelte sie einen Herzschlag lang fast trotzig an, dann aber kletterte er gehorsam, allerdings weit weniger elegant oder schnell, auf Sturmwinds Rücken. Seine Hände zitterten sichtbar, als er nach dem Zügel der weißen Stute griff.

»Also los«, sagte Lea. »Halt dich gut fest.«

Obwohl sie den gewundenen Weg nicht einmal schnell erst hügelaufwärts und dann wieder -abwärts ritten, kam es Arianrhod so vor, als flöge der Wald nur so an ihnen vorbei. Gegen den ausdrücklichen Rat ihrer Mutter krallte sie sich weiter mit aller Kraft in die Mähne des Pferdes. Schließlich gab Lea es auf, und selbst Nachtwind protestierte jetzt nicht mehr gegen das Unbehagen, das ihm das Zerren an seinem Haar bereiten musste, fast als spürte das Tier, was in ihr vorging, und nähme darauf Rücksicht. Arianrhod hatte das Gefühl, sich keinen Augenblick länger auf dem Rücken des Hengstes halten zu können, als sie etwas langsamer wurden - aber nur, um in einen schmalen, tief eingeschnittenen Hohlweg einzutauchen, aus dessen Wänden fingerdicke, bizarr verdrehte und gewundene Wurzeln herauswuchsen, die nach ihnen zu greifen schienen wie die Klauen sonderbarer, gefährlicher Wesen, die unter der Erde lebten.

Arianrhod versuchte den Gedanken als albern abzutun, eine jener Geschichten, mit denen man Kinder erschreckte und von denen sie sich wirklich nicht mehr beeindrucken lassen sollte; was aber nichts daran änderte, dass ihr der bloße Anblick fast mehr körperliches Unbehagen bereitete als die Vorstellung, sich noch für eine halbe Ewigkeit irgendwie auf dem Pferderücken festklammern zu müssen. Zumindest, was den Hohlweg anging, schien ihre Mutter ihr Unbehagen zu teilen. Sie lenkte Nachtwind nur wenige Schritte weit in diesen unheimlichen, nach oben hin offenen Tunnel hinein, dann ließ sie den Hengst anhalten, sah einen Moment lang unbehaglich nach rechts und links und glitt schließlich von seinem Rücken. Wortlos streckte sie die Hände aus, und Arianrhod wartete diesmal nicht, bis sie ihre Einladung wiederholte, sondern leistete ihr ganz im Gegenteil erleichtert und sehr schnell Folge.

Nachtwind schnaubte erlöst und machte zwei oder drei vorsichtige Schritte, bevor er wieder stehen blieb und unruhig mit dem Schweif zu schlagen begann. Seine Ohren drehten sich hektisch hin und her, und seine Nüstern weiteten sich, während er misstrauisch die Luft einzog. Dem Tier gefiel diese Umgebung so wenig wie seinen Reitern, das war nicht zu übersehen, und diese Erkenntnis steigerte Arianrhods Unbehagen nur noch. Auch wenn sie nicht so weit gehen würde wie viele, die manchen Tieren übernatürliche Kräfte zusprachen, so wusste sie doch, um wie vieles feiner die Instinkte mancher Tiere als die der Menschen waren. Wenn der Hengst eine Gefahr witterte, dann war es besser, sie gingen davon aus, dass es sie auch gab.

»Was habt ihr?«, drang Dragosz’ Stimme zu ihnen. Er hatte Sturmwind dicht vor dem Eingang des Hohlweges angehalten und reckte in dem vergeblichen Versuch den Hals, irgendetwas zu erkennen.

»Nichts«, antwortete Lea. Arianrhod fragte sich allerdings, warum der Blick ihrer Mutter dabei so misstrauisch den weiteren Verlauf des Hohlweg abtastete und vor allem seine Wände - und warum sich ihre Hand wieder auf den Schwertgriff gelegt hatte. Lea fuhr dennoch fort: »Nachtwind ist voller Unruhe. Ich glaube, es machte ihm keine Freude, über diesen Boden zu laufen.«

Vielleicht war die Erklärung tatsächlich so einfach, dachte Arianrhod. Diese Tiere waren ausgezeichnete Läufer, die eine geradezu phantastische Geschwindigkeit entwickeln konnten, wenn der Boden einigermaßen eben und frei von Hindernissen war. Auf diesem Gewirr von Fallstricken und tückischen Gruben hingegen musste jeder Schritt für den Hengst nahezu lebensgefährlich werden. Jedenfalls redete sie sich ein, dass das die nahe liegendste Erklärung war.

»Du sitzt besser auch ab«, fuhr Lea fort, sah jedoch nicht zu Dragosz zurück, sondern konzentrierte sich weiter und wie es schien noch misstrauischer auf das Stück Weg, das vor ihnen lag. Sie konnten nicht allzu viel davon überblicken. Der Weg wurde nicht nur tiefer und er hatte ein zunehmendes Gefälle, sondern machte vielleicht zwanzig oder dreißig Schritte vor ihnen auch einen scharfen Knick nach links, hinter dem sich alles Mögliche verbergen konnte; vielleicht aber auch gar nichts.

Sie konnten hören, wie Dragosz von Sturmwinds Rücken glitt und das Pferd für einen Moment erleichtert zu tänzeln begann. Mit einiger Mühe gelang es ihm, sich zwischen dem Leib des Tieres und der rauen Wand hindurchzuquetschen, ohne dabei mehr als einige Haare und ein paar Fetzen seines Umhangs einzubüßen. Sein Atem ging schwer, als er neben ihnen anlangte, und obwohl es trotz der fortgeschrittenen Tageszeit noch immer empfindlich kalt war, glänzte seine Stirn vor Schweiß. Arianrhod fragte sich, ob er Angst hatte. Und wenn ja, wovor. Aber vielleicht hatte ihn das Reiten so angestrengt. Auch ihr Herz klopfte, als wäre sie die ganze Strecke gerannt, und sie zitterte jetzt schon so lange am ganzen Leib, dass sie es kaum noch merkte. Reiten mochte eine sehr schnelle Art sein, um von einem Ort zu einem anderen zu gelangen, aber auch eine sehr anstrengende; zumindest, wenn man sie nicht gewohnt war. Unauffällig musterte sie ihre Mutter. Lea sah so krank und erschöpft aus wie vorhin, aber ihr Atem ging ruhig, und auf ihrer Stirn war nicht ein einziger Schweißtropfen zu erkennen. Ganz offensichtlich waren die Verletzungen, die sie bei dem erbitterten Kampf gegen die Krieger Gosegs davongetragen hatte, nicht ganz so arg gewesen, wie Arianrhod befürchtet hatte. Und trotzdem... das Gefühl, dass sich Lea zusammenreißen musste, um durchzuhalten und keine Schwäche zu zeigen, verflog nicht, sondern verdichtete sich für sie eher zu einer Gewissheit.

Ein leises Geräusch riss sie aus ihren Gedanken, und als sie sich umwandte, sah sie, dass sich Dragosz’ Hand ebenfalls fest um den Griff seiner Waffe schloss, während er sich nach vorn beugte und misstrauisch den Hohlweg hinabspähte. »Wohin führt dieser Weg?«

»Keine Ahnung«, gestand Lea.

Dragosz wandte überrascht den Kopf. »Wie bitte?«

»Ich weiß es nicht«, wiederholte Lea in leicht gereiztem Ton. Sie streichelte Nachtwinds Nüstern, was der Hengst mit einem zufriedenen Schnauben kommentierte, aber Arianrhod war plötzlich nicht mehr ganz sicher, wen sie damit eigentlich beruhigen wollte: das Pferd oder sich selbst.

»Hast du nicht gesagt, dass du den Weg kennst?«, fragte Dragosz.

»Ich habe gesagt, dass ich den Weg weiß«, verbesserte ihn Lea schnippisch. »Kron hat ihn mir beschrieben, und ich kenne auch den Platz, an dem wir uns treffen. Ich selbst war noch nie hier.«

Arianrhod sah ihre Mutter ziemlich verwirrt an, während Dragosz sichtbare Mühe hatte, seine Wut zu beherrschen. »Und er hat nichts von dem hier gesagt?«

Abermals schüttelte Lea den Kopf, diesmal so heftig, dass ihr Haar flog und Arianrhod hastig ein Stück zurückwich, um nicht getroffen zu werden. »Er hat gesagt, dass es für ein kleines Stück vielleicht ein bisschen schwierig wird. Mehr nicht.«

»Ein bisschen schwierig.« Dragosz wandte sich wieder nach vorne und sah demonstrativ den steil abfallenden Weg hinab. »Ja, ich glaube, so könnte man es nennen.« Er schwieg wieder einen Moment, dann fügte er in versöhnlicherem, auch eindeutig besorgtem Ton hinzu: »Glaubst du, dass die Pferde es schaffen?«

Leas Antwort erfolgte nicht so schnell, wie Arianrhod es sich gewünscht hätte, und dazu kam, dass Nachtwind ein Schnauben ausstieß, das sich eindeutig wie eine Verneinung anhörte, und noch dazu eine Bewegung machte, die nicht nur wie ein Kopfschütteln aussah, sondern sicher eines war. Allmählich begann ihr der Hengst unheimlich zu werden. »Ich denke schon«, antwortete Lea zögernd. »Falls es weiter vorne nicht noch schlimmer wird, heißt das.«

Das war anscheinend nicht das gewesen, was Dragosz hatte hören wollen. Er schwieg eine ganze Weile dazu, dann sah er kurz und besorgt Lea und etwas länger und eindeutig mehr als etwas besorgt den schwarzen Hengst an und murmelte: »Diese Schlucht ist eine verdammte Falle, selbst wenn dort vorn niemand auf uns wartet. Sie ist viel zu schmal, als dass die Pferde hier kehrtmachen könnten. Wartet hier.«

Er ließ Lea keine Zeit zu protestieren oder ihn gar von seinem Vorhaben abzubringen, sondern zog seine Waffe und ging los. Seine Frage, ob die Pferde auf diesem unsicheren Untergrund überhaupt laufen konnten, bekam eindeutig mehr Gewicht, kaum dass er die ersten Schritte gemacht hatte. Selbst ihm fiel es sichtlich schwer, sich auf dem Gewirr aus ausgetrockneten Ranken und zähen Wurzeln aufrecht zu halten, und einmal brach sein Fuß in ein Kaninchenloch oder irgendeine andere tückische Fallegrube ein, die unter den Pflanzenteppich verborgen gewesen war, und er konnte nur mit mehr Glück als Geschick einen Sturz verhindern. Als er die Biegung erreichte, zögerte er für einen winzigen Moment, gab sich dann aber einen Ruck und ging schnell weiter.

»Ist das der einzige Weg, den du kennst?«, fragte Arianrhod.

Ihre Mutter, die anscheinend eine Kritik in dieser Frage gehört hatte, die Arianrhod ganz und gar nicht im Sinn gehabt hatte, blickte sie finster an und schüttelte erst nach einer ganzen Weile den Kopf. »Nein«, sagte sie knapp.

»Und warum nehmen wir ihn dann?«

»Wir können mit den Pferden nicht quer durch den Wald laufen«, sagte Lea knapp. »Das wäre genauso gefährlich wie das hier.«

»Aber so schnell, wie wir geritten sind«, wunderte sich Arianrhod, »können sie uns doch niemals einholen.«

Lea setzte zu einer offenkundig scharfen Antwort an, riss sich dann aber im letzten Moment zusammen und machte ein bedauerndes Gesicht, statt sie zurechtzuweisen. »Ich fürchte, so einfach ist es nicht. Sarns Krieger werden quer durch die Wälder laufen, während wir darauf angewiesen sind, auf dem Weg zu bleiben. Du hast Recht - wir waren viel schneller als sie, aber wir haben auch einen großen Umweg gemacht. Ich fürchte, unser Vorsprung ist nicht so groß, wie ich es mir gern einbilden würde.«

Arianrhod wollte antworten, doch in diesem Augenblick kam Dragosz zurück. Immerhin hatte er sein Schwert eingesteckt, wie Arianrhod beruhigt feststellte, aber auf der anderen Seite mochte das auch schlichtweg an der Tatsache liegen, dass es ihm nun, bergauf, noch viel schwerer fiel, auf dem tückischen Boden zu gehen und er beide Arme ausgestreckt hatte, um sich rechts und links an den Wänden des Hohlwegs festzuhalten.

»Nun?«, fragte Lea ungeduldig, kaum dass er auf Hörweite heran war. Dragosz antwortete nicht, sondern kam erst ganz zu ihnen zurück, bevor er aufsah und den Kopf schüttelte. »Es scheint alles in Ordnung zu sein. Der Weg wird hinter der Biegung noch ein wenig steiler, aber es ist nur noch ein kleines Stück. Ich glaube, die Pferde könnten es schaffen.« Das Wort könnten gefiel ihrer Mutter ganz und gar nicht, das sah Arianrhod überdeutlich, und Lea zögerte auch noch eine Weile, bevor sie schließlich - schweren Herzens - nickte und Nachtwinds Zügel ergriff. »Also gut«, seufzte sie. »Versuchen wir es. Vielleicht sind die Götter ja ausnahmsweise einmal auf unserer Seite.«

Arianrhod wollte sich ihnen anschließen, aber Lea schüttelte heftig den Kopf und scheuchte sie mit einer heftigen Geste zurück. »Du bleibst ganz hinten, noch hinter Sturmwind.«

»Warum?«, begehrte Arianrhod auf.

»Irgendjemand muss doch schließlich unseren Rücken decken, falls Sarns Krieger auftauchen und uns angreifen«, antwortete Lea spitz, schüttelte aber auch gleichzeitig den Kopf und sagte dann, hörbar leiser und besorgt: »Falls eines der Pferde auf diesem Untergrund stürzt, könnte es gefährlich werden. Und jetzt geh. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Schon aus Prinzip zögerte Arianrhod noch einmal zu gehorchen, wandte sich aber dann doch um und ging das kurze Stück des Weges wieder zurück. Als sie an Dragosz vorbeikam, schenkte er ihr ein flüchtiges, allerdings sehr warmes Lächeln - und doch war an dem Blick, mit dem er sie maß, etwas, das ihr nicht gefiel. Es war ein bisschen von dem darin, was sie auch in Jamus Augen gelesen hatte, natürlich nicht annähernd so anzüglich und boshaft, aber es war darin.

Hastig und mit einem heftigen Gefühl schlechten Gewissens verscheuchte sie den Gedanken. Sie musste aufpassen, nicht in jedem Mann einen Feind zu sehen, nur weil sich einige davon als solche erwiesen hatten. Immerhin hatte Dragosz sein Leben aufs Spiel gesetzt, um das ihre zu retten. Aber ein ganz schwacher, schaler Nachgeschmack blieb auf ihrer Zunge zurück.

Gehorsam ging sie auch an Sturmwind vorbei, um ihren Platz am Ende der kleinen Kolonne einzunehmen. Die Stute beäugte sie misstrauisch. Arianrhod kannte sie fast so gut wie Nachtwind, aber Sturmwind hatte niemals wirklich Freundschaft mit ihr geschlossen. Ganz anders als der Hengst oder gar Morgenwind, seine Tochter, hatte sie stets einen gewissen Abstand zu ihr gewahrt und sie bestenfalls in ihrer Nähe geduldet. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass sich die Stute auch ihr gegenüber nicht anders verhielt, und lachend hinzugefügt, dass sie wahrscheinlich eifersüchtig sei. Arianrhod hatte das für einen Scherz gehalten, aber jetzt war sie sich nicht mehr ganz sicher. Vorsichtshalber legte sie einen deutlich größeren Abstand zwischen sich und das Pferd, als nötig gewesen wäre. Nur für den Fall, das Sturmwind erschreckte und nach hinten austrat. Man konnte schließlich nie wissen.

Auch Dragosz trat erschrocken zurück und griff nach den Zügeln der Stute. Sie ließ es geschehen, wieherte aber unwillig und sträubte sich im allerersten Moment, als er sie zwingen wollte, in die schmale Schlucht hineinzugehen, gehorchte dann aber schließlich doch.

Der Abstieg verlief quälend langsam. Ihrer Mutter setzte unendlich behutsam einen Fuß vor den anderen und achtete auch aufmerksam darauf, wohin Nachtwind trat; zumindest mit den Vorderläufen. Zwei- oder dreimal hielt sie ihn fast gewaltsam an den Zügeln zurück, und einmal führte sie das Pferd so dicht an der Wand entlang, um irgendeinem Hindernis auszuweichen, dass die rauen Wurzeln sein Fell zerkratzten. Als Dragosz und Sturmwind die gleiche Stelle passierten, geschah nichts, aber Arianrhod nahm an, dass ihre Mutter ihre Gründe gehabt hatte, so zu verfahren.

Darüber hinaus war sie selbst voll und ganz damit beschäftigt, sich einen einigermaßen gangbaren Weg zu suchen. Anders als Dragosz und ihre Mutter trug sie keine Schuhe, und sie hatte auch keine Hufe wie die Pferde, und der Pflanzenteppich, der den Boden des Hohlwegs bedeckte, war nicht annähernd so weich, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Das Gehen darauf war nicht nur mühsam, sondern tat weh, und noch bevor sie die Biegung erreicht hatten, waren ihre Füße längst aufgeschürft und blutig. Und das war bei weitem nicht alles. Ihr Unbehagen wuchs von Augenblick zu Augenblick. Etwas wie eine unsichtbare Drohung lag über dem Hohlweg, das düstere Versprechen, dass sie hier nie mehr herauskäme, dass sie geradewegs in eine Falle lief, und mit einem Mal erinnerte sie sich wieder an Sarns Greisenhand, die ihr Handgelenk im Steinkreis vollkommen unerwartet gepackt hatte, so als hätte er sich nicht an sie angeschlichen, sondern wäre plötzlich aus dem Nichts heraus erschienen, um sie mit sich ins Verderben zu reißen...

Wer sagte ihr, dass nicht auch hier Sarn plötzlich wieder auftauchte?

Arianrhod versuchte den beunruhigenden Gedanken zu verscheuchen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Schließlich blieb Lea an der gleichen Stelle stehen, an der Dragosz vorhin außer Sicht verschwunden war, und drehte sich zu ihnen um. »Wartet kurz.« Ohne ihre Worte zu erklären, ließ sie Nachtwinds Zügel los, verschwand für einen Augenblick hinter der Biegung und sah sehr besorgt aus, als sie zurückkam. »Wartet hier, bis ich unten bin. Ich rufe euch.«

Sie ergriff Nachtwind - diesmal mit beiden Händen - am Zügel und ging sehr viel langsamer als bisher los. Unendlich behutsam, wie es Arianrhod vorkam, führte sie den Hengst um die Biegung und war schließlich aus ihrem Blickfeld verschwunden. Arianrhod fühlte sie schlagartig allein und im Stich gelassen. Das Gefühl war völlig unangebracht, wurde aber binnen eines einzigen Augenblickes so stark, dass sie es nicht mehr aushielt. Ohne auch nur noch an das zu denken, was ihre Mutter ihr befohlen hatte, ging sie weiter, quetschte sich an Sturmwind vorbei und bedeutete auch Dragosz mit einer Geste, ihr Platz zu machen. Er gehorchte zwar, legte aber missbilligend die Stirn in Falten. Arianrhod rechnete fast damit, dass er sie aufhalten würde, doch er versuchte nichts dergleichen. Nach ein paar weiteren Schritten hatte auch sie die Biegung erreicht und riss überrascht die Augen auf.

Der Weg war tatsächlich nicht mehr sehr lang; vielleicht noch zwei Dutzend Schritte, bevor die Wände wieder auseinander wichen und der flache Uferstreifen eines schmalen, wenn auch reißend dahinfließenden Baches unter ihnen lag. Dafür fragte sich Arianrhod jedoch, was Dragosz eigentlich unter ein wenig steiler verstehen mochte. Das letzte Stück Weg war kein Weg mehr, sondern ein steiler Abhang, den sie allerhöchstem auf Händen und Knien kriechend zurückgelegt hätte, und selbst das ganz bestimmt nicht freiwillig. Ihre Mutter und Nachtwind hatten gerade mal ein winziges Stückchen dieses Weges zurückgelegt - hätte Arianrhod sich vorgebeugt und den Arm ausgestreckt, hätte sie den Hengst vermutlich noch berühren können.

Lea hatte die linke Hand vom Zügel des Hengstes gelöst und suchte damit Halt an den Luftwurzeln und Moossträngen, die aus der Wand herauswuchsen, und ihre Haltung war so angespannt und verkrampft, als wolle sie das gesamte Gewicht des Tieres mit ihrer Kraft halten. Nachtwind bewegte sich unsicher. Von seiner Anmut und Kraft war nichts geblieben, das Tier zitterte vor Angst, und obwohl es nur mit winzigen, fast schlurfenden Schritten von der Stelle kam, drohte es immer wieder auszurutschen.

Arianrhod hatte das Gefühl, hier wegzumüssen, jetzt und sofort. Es war beinahe so, als könnte sie Sarns unsichtbaren Griff an ihrem Handgelenk spüren und als hörte sie das hämische Lachen, mit dem er ihre lächerliche Versuche bedachte, der von ihm gestellten Falle zu entgehen, bevor sie endgültig zuschnappte. Sie überlegte nur kurz, dann tat sie etwas, wofür ihre Mutter ihr vermutlich den Kopf abgerissen hätte, hätte sie es in diesem Augenblick gesehen. Ohne auf den protestierenden Laut zu achten, den Dragosz hinter ihr von sich gab, ging sie hinter Nachtwind und ihrer Mutter her und quetschte sich auf der anderen Seite am Leib des Pferdes vorbei. Der Finger, den ihr Jamu gebrochen hatte, reagierte auf jede zu hastige Berührung mit einem messerscharfen Schmerz, und ihre Schulter begann dumpf zu pochen, aber das nahm sie nur ganz am Rande war. Mit der linken Hand griff sie nach dem, was ihre Mutter wohl als Zaumzeug bezeichnete, während sie es mit der rechten Lea gleichtat und Halt an allem suchte, was aus der Wand neben ihr herauswuchs. Nachtwind schnaubte überrascht, und auch ihre Mutter warf ihr einen erstaunten Blick zu, sagte aber zu Arianrhods Verwunderung nichts. Wahrscheinlich, dachte sie, hob sie sich die Standpauke auf, bis sie unten angekommen waren. Falls sie es schafften.

Mehr als einmal in der schier endlosen Zeit, in der sie sich Schritt für Schritt und unendlich vorsichtig weitertasteten, zweifelte Arianrhod ernsthaft daran. Selbst ihr fiel es immer schwerer, das Gleichgewicht zu bewahren, und der Hengst begann jetzt immer heftiger zu zittern. Arianrhod konnte seine Angst riechen. Ohne es im ersten Moment selbst zu merken oder gar zu wissen, warum sie es tat, begann sie mit leiser, beruhigender Stimme auf das Pferd einzureden, sinnlose Worte, die mindestens ebenso sehr ihrer eigenen Beruhigung galten wie der des Hengstes. Obwohl sie zu helfen schienen, blieb das Tier unruhig. Seine Ohren zuckten jetzt ununterbrochen, und sie konnte hören, wie sein Schweif rechts und links gegen die Wände schlug. Manchmal lösten sich kleine Erdbrocken oder Steinchen unter seinen Hufen und eilten ihnen wie winzige Lawinen voraus, und einmal glitt der Hengst tatsächlich aus, als ein trockener Ast unter seinem Gewicht mit einem peitschenden Knall zerbrach und er vor Schreck einen Fehltritt machte.

Arianrhod und ihre Mutter warfen sich mit aller Kraft gegen den Hengst, hielten sein Zaumzeug fest und versuchten sein Gewicht mit ihren eigenen Körpern zu stützen. Arianrhod spürte selbst, wie lächerlich das war. Der Hengst musste so viel wiegen wie vier oder fünf große Männer - aber das Wunder geschah. Vielleicht war es einfach das Gefühl, dass jemand an seiner Seite war und ihm half, welches Nachtwind die Kraft gab, sein Gleichgewicht wieder zu finden. Das Tier stürzte nicht, sondern fand in einen einigermaßen sicheren Schritt zurück, und sie bewältigten den Rest der Strecke ohne weitere Zwischenfälle.

Vollkommen außer Atem und an Körper und Geist erschöpft, ließ Arianrhod die Zügel los, taumelte ein paar Schritte zur Seite und musste sich vorbeugen und die Hände auf die Oberschenkel stützen, um nicht einfach zusammenzubrechen. Alles drehte sich um sie. Ihr Puls raste, und die Luft, die sie atmete, schmeckte so scharf, als wäre sie voller winziger Eissplitter. Sie bemerkte aus den Augenwinkeln, dass es ihrer Mutter nur wenig besser erging, und auch Nachtwind drohte plötzlich zu straucheln, obwohl er jetzt wieder festen und vor allem ebenen Boden unter den Hufen hatte.

Während der Hengst mit zwei, drei ungeschickten Schritten zum Bach hinunterging und geräuschvoll zu saufen begann, kam ihre Mutter zu ihr. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt.

Arianrhod richtete sich mühsam wieder auf. »Ja«, log sie. »Ich war nur...«

»Das war sehr klug von dir«, fiel ihr Lea ins Wort. »Und ziemlich tapfer - auch wenn es nicht unbedingt das war, was ich meinte, als ich gesagt habe, du sollst hinter uns bleiben.« Sie machte eine rasche Handbewegung, als Arianrhod sich verteidigen wollte, und lächelte plötzlich. »Woher hast du gewusst, was du zu tun hast?«

Arianrhod war so verblüfft, keine Vorhaltungen von Lea zu hören, dass sie im ersten Moment gar nicht antwortete, sondern aufmerksam im Gesicht ihrer Mutter zu lesen versuchte, ob diese Worte nicht vielleicht nur die Vorbereitung für einen ganz besonders scharfen Verweis waren. Alles, was sie jedoch in den Augen ihrer Mutter erblickte, war ein Ausdruck, den sie eindeutig als Stolz bezeichnet hätte, wäre ihr auch nur der geringste Grund dafür eingefallen.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. »Ich dachte einfach, dass es das Richtige wäre.« Was auch nicht unbedingt der Wahrheit entsprach. Um genau zu sein, hatte sie überhaupt nichts gedacht, sondern war einfach ihrem Gefühl gefolgt.

Der Ausdruck von müdem Stolz in Leas Augen nahm noch zu. »Aus dir wird eines Tages eine großartige Reiterin werden«, sagte sie unvermittelt. Dann schüttelte sie den Kopf, streckte den Arm aus, um ihn Arianrhod um die Schulter zu legen, und führte sie zum Wasser.

Nur ein kleines Stück oberhalb der Stelle, an der Nachtwind immer noch dastand und sein Möglichstes tat, um den gesamten Bach auszusaufen, ließen sie sich auf die Knie sinken. Arianrhod schöpfte zwei, drei Hände voll des eiskalten Wassers, um sich das verschwitzte Gesicht zu waschen, ließ anschließend eine weitere Hand voll in ihren Nacken tropfen und genoss den eisigen Schauer, der ihr über den Rücken lief. Erst dann beugte sie sich weiter vor, hielt mit beiden Händen ihr Haar zurück und stillte ihren Durst. Das Wasser war kristallklar und köstlicher als alles, was sie jemals zuvor getrunken hatte, und schon nach den ersten Schlucken konnte sie Nachtwind verstehen und versuchte es ihm gleichzutun, obwohl ihr klar war, dass sie es wohl auch in dieser Disziplin nicht mit ihm aufnehmen konnte. Aber sie trank so lange und ausgiebig, bis sie das Gefühl hatte, platzen zu müssen, und auch tatsächlich keine Luft mehr bekam. Erst dann richtete sie sich auf, schöpfte noch einmal eine Hand voll Wasser aus dem Bach und rieb sich damit das Gesicht ab.

»Das hat gut getan«, seufzte Lea, während sie sich neben ihr in eine bequemere Haltung sinken ließ. Ihr Gesicht und ihr Haar glänzten vor Nässe und sahen jetzt eindeutig frischer aus, und obwohl sie noch immer schwer atmete und man ihr die Anstrengung ansah, die ihr die letzten Minuten abverlangt hatten, war es Arianrhod doch gleichzeitig, als hätte sie irgendwie an Kraft gewonnen. »Es ist schon erstaunlich, wie kostbar manchmal die einfachsten Dinge des Alltags werden können, nicht wahr?«, meinte sie. »Wie zum Beispiel ein Schluck klares Wasser.«

»Alles ist kostbar, wenn man es braucht und nicht hat«, sagte Arianrhod.

Lea lachte leise. »Habe ich schon gesagt, dass du einmal eine sehr kluge Frau wirst?«

»Nein«, antwortete Arianrhod wahrheitsgemäß. »Du hast gesagt, dass ich einmal eine sehr gute Reiterin werde.«

»Vorlaut bist du jedenfalls jetzt schon«, gab Lea zurück. »Habe ich das schon einmal gesagt?«

Arianrhod nickte. »Mehrmals.«

Ihre Mutter lachte erneut und sah für einen Moment fast wieder so jung und voller Kraft aus, wie Arianrhod sie in Erinnerung hatte. Aber nur fast. »Ich glaube, jetzt haben wir es geschafft«, sagte sie. »Wenn Kron die Wahrheit gesagt hat, dann erspart uns diese Abkürzung die Gefahr, in einen Hinterhalt zu geraten.«

Arianrhod legte den Kopf schräg. »Abkürzung?«, wiederholte sie. »Dann ist es nicht der Weg, den er dir beschrieben hat?«

»Doch«, behauptete Lea verschmitzt. »Auch.«

Arianrhod zog es vor, nicht weiter zu bohren, und das nicht nur, weil sie diesen viel zu seltenen Augenblick nicht zerstören und ihre Mutter verärgern wollte, sondern auch, weil sie das sichere Gefühl hatte, dass ihr die Antwort auf jedwede weitere Frage nicht gefallen würde. »Dann sollten wir vielleicht weitergehen«, sagte sie stattdessen, und plötzlich war die Furcht wieder da - die Furcht davor, dass Sarns Falle letztlich doch noch zuschnappen könnte.

»Ja«, pflichtete ihr Lea bei. »Sobald Dragosz da ist.« Sie drehte den Kopf, um nach ihm Ausschau zu halten, doch zumindest auf dem Teil des Weges, den sie von hier unten aus überblicken konnten, war nichts von ihm zu sehen.

»Dragosz!«, rief sie laut. Sie bekam tatsächlich eine Antwort, aber sie konnten nur Dragosz’ Stimme verstehen, nicht die Worte. Lea schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. »Männer!«, murmelte sie, stemmte sich ächzend in die Höhe und ging wieder zum Ausgang des Hohlweges zurück. Arianrhod folgte ihr, und aus ihrer Furcht drohte etwas anderes, Schlimmeres zu werden.

Als sie angekommen waren, bot sich ihnen ein Anblick, von dem Arianrhod im ersten Moment nicht sagen konnte, ob er nun erschreckend war oder lächerlich. Ein bisschen von beidem, vermutete sie.

Dragosz drehte ihnen den Rücken zu. Er hatte die Beine gespreizt und beide Füße fest gegen den Boden gestemmt, um sicheren Halt zu haben, und zerrte mit beiden Händen und offensichtlich aller Kraft an Sturmwinds Zügel. Es gelang ihm trotzdem nicht, das Pferd auch nur einen Fingerbreit von der Stelle zu bewegen. Ganz im Gegenteil hatte die Stute den Kopf in den Nacken geworfen und tat ihrerseits ihr Bestes, um ihn zu sich heraufzuziehen.

»Was tust du da eigentlich?«, rief Lea.

»Das verdammte Mistvieh weigert sich weiterzugehen«, schrie Dragosz zurück.

»Ich an deiner Stelle würde mir genau überlegen, ob ich Sturmwind ein verdammtes Mistvieh nenne«, antwortete Lea. »Sie ist ziemlich klug, weißt du, und manchmal glaube ich, sie versteht jedes Wort.« Sie schüttelte den Kopf und lachte, allerdings wohlweislich so leise, dass Dragosz es oben nicht hören konnte. »Mit Gewalt erreichst du gar nichts.«

Dragosz warf ihr zwar einen ärgerlichen Blick über die Schulter hinweg zu, zerrte und riss aber nur umso heftiger am Zügel, worauf das protestierende Wiehern der Stute lauter wurde.

»Hör damit auf!«, sagte Lea noch einmal, und jetzt in viel ernsterem, fast schon erschrockenem Ton. »Wenn du versuchst, sie zu etwas zu zwingen, dann wird sie nur störrisch.«

»Auf gutes Zureden hört sie aber leider auch nicht«, antwortete Dragosz.

Lea überlegte noch einen Moment, dann rief sie: »Hör auf! Ich komme nach oben und helfe dir.«

Arianrhod sah sie aus großen Augen an. Ihr Puls raste noch immer, ebenso wie ihre Knie zitterten, und sie war zu Tode erschöpft - und ihre Mutter wollte sich das ein zweites Mal antun?

Sie wollte. Sie sah zwar nicht sonderlich begeistert aus und zögerte auch noch einen spürbaren Moment, dann aber zog sie das Schwert aus der Schlaufe an ihrem Gürtel und hielt es Arianrhod hin. »Nimm es«, sagte sie, als diese die Waffe nur verständnislos anstarrte. »Es hat mich gerade nur behindert, und außerdem ist mir nicht wohl dabei, dich allein hier zurückzulassen.«

Arianrhod fragte vorsichtshalber nicht danach, was genau das bedeuten sollte, sondern hörte zu ihrem eigenen Entsetzen, wie ihr ein wohlmöglich verhängnisvoller Satz entschlüpfte: »Soll ich mitkommen?«

»Du wärst mir zehnmal lieber als dieser Dummkopf«, antwortete Lea, schüttelte aber trotzdem den Kopf. »Nein. Das ist zu gefährlich und zu anstrengend. Ruh dich aus. Wir müssen sofort weiter, sobald wir zurück sind, und du wirst deine Kraft noch brauchen.«

Bevor Arianrhod abermals einen Einwand erheben konnte, machte Lea sich an den Aufstieg. Binnen kurzem hatte sie Dragosz erreicht und riss ihm ziemlich unsanft die Zügel aus der Hand. Arianrhod konnte nicht verstehen, was die beiden sprachen, aber Dragosz wirkte verärgert, und ihre Mutter erst recht. Nach einem kurzen, von heftigem Gestikulieren begleiteten Streit machte Lea eine wütende Handbewegung, mit der sie Dragosz einfach davonscheuchte. Er widersetzte sich ihr, fuhr dann aber auf dem Absatz herum und kam mit so schnellen Schritten den Hohlweg herunter, dass es schon fast an ein Wunder grenzte, dass er keinen Fehltritt tat und sich den Hals brach. Sein Gesicht war vor Zorn verdunkelt, und es verfinsterte sich noch ein bisschen mehr, als er das Schwert in Arianrhods Händen erblickte. Er sagte nichts, aber sie fragte sich plötzlich, ob sie sich eben nicht vielleicht getäuscht hatte, was den Grund anging, aus dem ihre Mutter darauf bestanden hatte, dass sie das Schwert nahm.

»Warum lässt du sie allein?«, fragte sie vorwurfsvoll.

»Weil sie es so wollte«, brummte Dragosz übellaunig und ging im Sturmschritt an ihr vorbei in Richtung des Baches. »Wenn sie meint, es besser zu können als ich, dann soll sie es doch versuchen.«

Arianrhod sah ihm verunsichert hinterher, sie wusste nicht, wie sie sein Verhalten einschätzen sollte. Obwohl Dragosz wütend war und er wahrscheinlich am liebsten losgebrüllt hätte, war in seinen Worten und vor allem in seinem Benehmen Lea gegenüber, das sie die ganze Zeit beobachtet hatte, eine Vertrautheit, die sie überraschte. Man hätte meinen können, dass die beiden sich bereits seit Jahren kannten.

Für den nächsten Gedanken, der diesem fast zwangsläufig folgte, schämte sie sich beinahe selbst, aber er drängte sich ihr einfach auf, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte: Hatte Sarn am Ende Recht gehabt, und ihre Mutter und Dragosz kannten sich nicht erst seit kurzer Zeit, sondern schon viel, viel länger?

Arianrhod verscheuchte den Gedanken, wandte sich mit einem Ruck wieder ab und sah zu ihrer Mutter hoch. Lea hatte Sturmwinds Zügel mit der linken Hand ergriffen und streichelte mit der rechten beruhigend ihre Nüstern. Das Pferd tänzelte noch immer unruhig auf der Stelle. Seine Ohren zuckten hin und her, und auch sein Schweif peitschte aufgeregt. Lea schien beruhigend auf die Stute einzureden. Auch wenn sie damit nicht ganz den beabsichtigten Erfolg zu haben schien, denn Sturmwind rührte sich auch jetzt nicht, sondern blieb stur und wie angewachsen dort stehen, wo sie war, so versuchte sie doch wenigstens nicht mehr rückwärts gehend vor ihr zurückzuweichen.

»Soll ich dir nicht doch besser helfen?«, rief sie.

»Nein«, antwortete ihre Mutter. »Geh lieber. Dein Anblick macht sie kribbelig.« Arianrhod war zwar enttäuscht, gehorchte aber und ging wieder zum Ufer des Baches zurück. Gerade nach dem, was ihre Mutter erst vor ein paar Augenblicken zu ihr gesagt hatte, hätte sie jetzt mehr Vertrauen erwartet - aber vielleicht verlangte sie auch einfach zu viel; nicht nur von ihrer Mutter, sondern auch von sich selbst. Sie war noch nicht einmal wirklich sicher, ob sie den Weg nach oben überhaupt schaffte.

Dragosz war am Ufer des Baches niedergekniet und schöpfte sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht, so wie auch Arianrhod und Lea es gerade getan hatten, allerdings nicht annähernd so leise. Er prustete und schnaubte, dass man es eigentlich noch auf der anderen Seite des Waldes hätte hören müssen, und als er anschließend trank, tat er es kaum weniger geräuschvoll. Nachtwind betrachtete ihn mit schräg gehaltenem Kopf, und wieder hatte Arianrhod den Eindruck, in den Augen des Hengstes weit mehr als tierische Neugier zu sehen, sondern fast so etwas wie ein belustigtes Funkeln zu gewahren.

In ihren Augen zumindest musste etwas in dieser Art sein, denn als Dragosz schließlich fertig war und sich zum Knien aufrichtete, mit beiden Händen das nasse Haar aus dem Gesicht strich und zu ihr hochsah, runzelte er schon wieder ärgerlich die Stirn. »Was gibt es da zu starren?«, fragte er grob.

»Oh, nichts«, antwortete Arianrhod, und zu ihrer eigenen Überraschung stieg plötzlich ein Gefühl von Übermut in ihr auf, wie sie es schon allzu lange vermisst hatte. »Ich mache mir nur ein bisschen Sorgen, dass unsere Verfolger uns hören könnten, weißt du? Du bist nicht besonders... leise.«

»Ja, deine Mutter hat auch schon das eine oder andere Mal bemerkt, dass mein Benehmen zu wünschen übrig lässt«, grollte Dragosz. »Aber ich bin nun einmal ein einfacher Mann. Und ich hatte Durst.«

Verbarg sich in diesen Worten ein verkappter Vorwurf, überlegte Arianrhod, oder gefiel sich Dragosz einfach nur darin, den Beleidigten zu spielen?

Da sie nicht antwortete, sondern seinem Blick nur gelassen und weiterhin spöttisch lächelnd standhielt, schluckte er nur noch einmal abfällig, schaufelte sich zwei weitere Hände voll Wasser ins Gesicht und stand dann prustend auf. Er wollte sich umdrehen und wieder zum Ausgang des Hohlweges zurückgehen, aber Arianrhod machte eine hastige Bewegung und hielt ihn am Arm zurück.

Sie hätte es besser nicht getan. Ihn zu berühren war genau wie das letzte Mal, nur ungleich intensiver. Sie verspürte ein rasches, eisiges Frösteln, das ihr nicht nur über den Rücken lief, sondern ihren ganzen Körper erschauern ließ, und auch Dragosz fuhr fast erschrocken zusammen und zog unwillkürlich den Arm wieder zurück; als wären ihre Finger plötzlich glühend heiß gewesen. Einen Atemzug lang starrte er nur auf sein Handgelenk hinab, dort, wo ihn ihre Finger berührt hatten, dann hob er den Kopf und blickte ihr direkt ins Gesicht, und dieser Blick war noch viel, viel schlimmer als seine Berührung.

Arianrhods Gefühle waren von einem Augenblick zum nächsten in hellem Aufruhr. Plötzlich verspürte sie das absurde Bedürfnis, ihn zu umarmen und seine Wärme und seine Kraft zu spüren, ganz nahe, aber gleichzeitig machte sich ihr schlechtes Gewissen auch schon fast körperlich bemerkbar.

»Ich... entschuldige«, stammelte sie. »Das... das wollte ich... nicht.«

»Was?«, fragte Dragosz. Auch er wirkte verwirrt und schien für einen Moment in sich hineinzulauschen, machte aber danach nur einen noch unsichereren Eindruck; als hätte er sich selbst eine Frage gestellt und wüsste nun nicht so recht, was er mit der Antwort anfangen sollte. Sein Blick blieb für etliche Sekunden auf Arianrhods Gesicht hängen und wanderte dann an ihrer Gestalt hinab, und ganz plötzlich erinnerte sie sich wieder daran, dass sie nur den Umhang trug, den ihre Mutter ihr um die Schultern gelegt hatte, und darunter nichts, und dass sie ihn auch nicht vollständig geschlossen hatte. Hastig raffte sie den groben Stoff mit der linken Hand zusammen und spürte selbst, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.

Und - es erschien ihr fast absurd, aber es war so - auch Dragosz war die Situation mit einem Male peinlich. Er schien plötzlich nicht mehr zu wissen, wohin mit seinem Blick. »Vielleicht sollten wir deiner Mutter... helfen«, sagte er ungelenk.

»Sie hat mich weggeschickt«, antwortete Arianrhod, wobei ihre Stimme ebenso unbeholfen klang wie die seine. »Sie meint wohl, dass unser Anblick das Pferd nur unruhig macht.«

»Unruhig«, sagte Dragosz, »macht es mich vor allem, wenn ich nicht weiß, was geschieht.« Sein Blick tastete wieder über ihr Gesicht, wobei er aber sorgfältig ihre Augen ausließ, und wanderte dann noch einmal an ihrer Gestalt herab. Arianrhod hielt den Umhang fest mit der Hand zusammen, hatte aber trotzdem das Gefühl, nackt zu sein. Er hatte Dinge gesehen, die er nicht sehen sollte. Schließlich rettete sich Dragosz in ein verlegenes Lächeln, drehte mit einem Ruck den Kopf weg und tat so, als hätte er am Waldrand auf der anderen Seite des Baches etwas entdeckt. »Es tut mir Leid, wenn ich gerade ein bisschen grob war. Ich bin etwas... angespannt.«

»Warum?«, fragte Arianrhod. »Nur, weil du gerade ein halbes Dutzend von Gosegs besten Kriegern getötet hast?« Sie schüttelte heftig den Kopf und bemühte sich, ein möglichst unschuldiges Gesicht zu machen, als Dragosz sich wieder zu ihr umdrehte und sie verblüfft ansah. »Oder weil Jamu, all seine verbliebenen Krieger und jeder Mann, der auch nur einen Knüppel halten kann, hinter uns her sind, um uns bei lebendigem Leibe den Hunden zum Fraß vorzuwerfen? Du wirst doch nicht etwa Angst haben? Ein so großer Krieger wie du?«

Dragosz versuchte vergeblich in ihrem Gesicht zu lesen. Schließlich rettete er sich in ein verunglücktes Lachen, aber es klang nicht einmal so, als könne es ihn selbst überzeugen. »Ich fürchte, so leicht ist es nicht, Arri.«

»Arianrhod«, verbesserte sie ihn. »Mein Name ist Arianrhod.«

Dragosz hob die Schultern. »Arianrhod, ja. So, wie der Name deiner Mutter nicht Lea ist, sondern Leandriis, ich weiß.« Er schüttelte den Kopf. »Kein Wunder, dass euer Volk untergegangen ist. Bei all der Zeit, die ihr gebraucht haben müsst, um eure komplizierten Namen auszusprechen, ist euch wahrscheinlich keine Zeit mehr geblieben, um irgendetwas anderes zu tun.«

Arianrhod wusste nicht, ob sie darüber lächeln sollte oder nicht. Dragosz versuchte nur einen Scherz zu machen, um die peinliche Situationen zu überspielen, aber wie immer, wenn jemand über die untergegangene Heimat ihrer Mutter sprach, verspürte sie einen dumpfen Schmerz, gepaart mit einem völlig widersinnigen Gefühl von Verlust. Das sollte nicht so sein. Sie kannte diese untergegangene Welt nur aus den Erzählungen ihrer Mutter, und sie hatte längst begriffen, dass das, wovon Lea berichtete, wohl nicht die wirkliche Welt gewesen war, an die sie sich erinnerte, sondern nur das, woran sie sich erinnern wollte: ein in Gold gegossenes und poliertes Abbild einer Welt, die in Wahrheit bestimmt ebenso viele Schattenseiten gehabt und Schrecken gekannt hatte wie diese hier. Dennoch war es so, und es schien sogar schlimmer zu werden, statt besser; als fühlte sich ein Teil von ihr verpflichtet, stellvertretend für ihre Mutter zu trauern. Aber sie machte keine entsprechende Bemerkung, sondern tröstete sich mit dem Gedanken, dass Dragosz genau wie sie einfach nur plapperte, um überhaupt etwas zu sagen und die Stille auf diese Weise nicht übermächtig werden zu lassen.

Schließlich ertrugen sie es beide nicht mehr, wandten sich wie auf ein gemeinsames, unhörbares Kommando hin um und gingen zum Hohlweg zurück.

Lea und das Pferd hatten mittlerweile gut die Hälfte der Strecke zurückgelegt, was Arianrhod zwar mit Erleichterung bemerkte, ihr aber auch gleichzeitig sagte, dass es noch viel mühsamer für ihre Mutter sein musste, die widerstrebende Stute zu führen, als es vorhin mit Nachtwind der Fall gewesen war. Obwohl Dragosz und sie sich alle Mühe gaben, nicht den geringsten Laut zu verursachen, und Lea weiter rückwärts ging und nicht zu ihnen herabsah, spürte Arianrhod, dass sie von ihrer Anwesenheit wusste, aber sie verzichtete darauf, sie abermals zu verjagen. Unendlich langsam und Schritt für Schritt und dabei ununterbrochen mit leiser, beruhigender Stimme auf das Tier einredend, führte sie Sturmwind nach unten.

Auf dem allerletzten Stück wäre es beinahe doch noch zu einem Unglück gekommen. Es war Lea, die ausglitt und den Halt verlor, nicht die Stute. Sie stolperte, drohte zu stürzen und beging den Fehler, sich nun ihrerseits an Sturmwinds Zaumzeug festzuhalten. Das Tier stieß ein erschrockenes Wiehern aus und machte einen gewaltigen Satz, mit dem es das letzte Stück des abschüssigen Weges überwand und so nahe an ihnen vorbeijagte, dass Arianrhod einen fast entsetzten Schritt zur Seite machte, um nicht niedergetrampelt zu werden. Ihre Mutter fiel auf den Rücken, schlitterte dieselbe Strecke, die das Pferd gerade mit einem Sprung zurückgelegt hatte, fluchend und hilflos mit den Armen rudernd herab und blieb schließlich benommen liegen.

Mit einem einzigen Satz war Arianrhod bei ihr und fiel auf die Knie. »Ist dir etwas passiert?«, keuchte sie erschrocken.

Ihre Mutter blinzelte benommen zu ihr hoch, arbeitete sich dann ächzend in eine halbwegs sitzende Position und machte eine unwillige Geste, als Arianrhod die Hände nach ihr ausstreckte. »Geh und sieh nach Sturmwind.«

»Aber...«, begann Arianrhod.

»Tu, was ich dir sage, und kümmere dich nicht um mich!«, fiel ihr ihre Mutter ins Wort.

»Deine Tochter macht sich doch nur Sorgen um dich«, sagte Dragosz.

Arianrhod war nicht einmal sicher, ob sie sich über diese Schützenhilfe von unerwarteter Seite freuen sollte, aber zumindest zog Dragosz damit nun den Unmut ihrer Mutter auf sich, der sich sonst wahrscheinlich über ihr entladen hätte. »Ich kann schon selbst auf mich aufpassen«, fauchte sie. »Ein paar Kratzer bringen mich nicht um, aber wenn wir die Pferde verlieren, dann ist es aus! Also seht gefälligst nach Sturmwind!«

Dragosz war klug genug, nicht mehr darauf zu antworten, und auch Arianrhod stand hastig auf und zog sich ein paar Schritte rückwärts gehend zurück. Als sie sah, wie Lea sich umständlich in die Höhe zu stemmen begann, wandte sie sich hastig um und lief zu Dragosz hin, der mittlerweile bei Sturmwind angelangt war und mit besorgtem Gesichtsausdruck ihre Fesseln abtastete. Fast zu Arianrhods Verwunderung ließ die Stute es geschehen, auch wenn ihre Blicke misstrauisch jeder Bewegung des Menschen folgten, der da so ungeschickt an ihr herumtastete, und Arianrhod wäre nicht weiter erstaunt gewesen wäre, hätte sie überraschend nach ihm gebissen.

»Und?«, fragte sie, als sie neben Dragosz angekommen war. »Wie sieht es aus?«

»Hm«, brummelte Dragosz.

Arianrhod zog fragend die Augenbrauen zusammen. »Weißt du überhaupt, was du da tust?«, erkundigte sie sich.

Dragosz’ Finger tasteten weiter über das Bein der Stute, und Sturmwind gab einen Laut von sich, der sich in Arianrhods Ohren fast wie ein abfälliges Lachen anhörte. »Nein«, gestand er schließlich. »Ich habe nur einmal gesehen, wie deine Mutter es gemacht hat. Zu irgendetwas muss es doch schließlich Nutze sein, oder?« Arianrhod gab sich keine Mühe, das Lächeln zu unterdrücken, das sich auf ihrem Gesicht breit machte. Schließlich sah Dragosz es ja nicht.

»Aber es scheint alles in Ordnung zu sein«, sagte er schließlich, während er Sturmwinds Fesseln losließ und sich aufrichtete. Sein Blick huschte kurz zu einem Punkt irgendwo hinter ihr (vermutlich ihrer Mutter) und richtete sich dann wieder auf ihr Gesicht. Er wirkte immer noch wütend.

»Sie hat Recht, weißt du?«, sagte Arianrhod. »Wenn den Pferden etwas zustößt, sind wir verloren.«

»Ich weiß«, antwortete Dragosz missmutig. »Aber es macht einen bei seinen Mitmenschen nicht unbedingt beliebt, wenn man immer Recht hat.«

»Ist es denn besser, sich immer zu täuschen?«, gab Arianrhod zurück. Eigentlich war das scherzhaft gemeint, ein Friedensangebot, das sie ihm stellvertretend für ihre Mutter machte, aber sie las an der Reaktion auf seinem Gesicht, dass er es gründlich missverstand. Er wirkte eher noch zorniger.

»Du bist schon genau so wie sie, weißt du das?«, sagte er, ließ ihr aber keine Gelegenheit, irgendetwas darauf zu erwidern, sondern drehte sich mit einem Ruck um und ging zum Bach hinunter. »Ich sehe nach, wie es dort drüben ist«, rief er, während er mit schnellen Schritten durch das zwar reißende, aber kaum knöcheltiefe Wasser platschte. »Dieser Wald gefällt mir nicht.«

Arianrhod blickte ihm kopfschüttelnd nach, während Sturmwind noch einmal ihr sonderbares, abfällig wirkendes Schnauben hören ließ und dann davontrabte, um sich zu Nachtwind zu gesellen. Dragosz war mit vier oder fünf raschen Schritten auf der anderen Seite des Baches und zog sein Schwert, um sich mit wütenden Hieben einen Weg durch das Unterholz zu bahnen, was Arianrhod eine Menge darüber sagte, wie es wirklich in ihm aussah. Er hätte nur ein paar Schritte nach links gehen müssen, wo das Unterholz sehr viel weniger dicht war, um ganz bequem in den Wald eindringen zu können. Vielleicht brauchte er einfach irgendetwas, an dem er seinen Zorn auslassen konnte.

»Lass ihn ruhig«, erklang die Stimme ihrer Mutter hinter ihr. Arianrhod hatte nicht einmal gehört, dass sie herangekommen war. Sie drehte sich auch nicht zu ihr um. »Er beruhigt sich wieder, keine Sorge. Dragosz ist nun einmal so. Du wirst lernen, mit ihm zurechtzukommen.«

»Vielleicht hätte ich doch Jamu heiraten sollen. Obwohl ich fürchte, dass ich ohnehin nicht seinem Geschmack entspreche.« Arianrhod drehte sich nun doch zu Lea um und fügte mit bedauerndem Gesichtsausdruck hinzu: »Ich habe zwei Beine zu wenig.«

»Und um Nor zu gefallen, hättest du wahrscheinlich eine Zunge zu viel gehabt«, bestätigte ihre Mutter ebenso ernst.

»Und sie wäre auch entschieden zu spitz.« Sie schüttelte den Kopf und fuhr noch ernster und in überaus bedauerndem Ton fort: »Du siehst also, uns bleibt gar keine andere Wahl, als von hier fortzugehen, wenn wir einen passenden Mann für dich finden wollen.«

»Wollen wir denn das?«, erkundigte sich Arianrhod.

Das spöttische Funkeln in den Augen ihrer Mutter erlosch. Sie antwortete nicht, und Arianrhod bedauerte ihre Frage. Es war noch nicht lange her, da hatte sie insgeheim über die Marotte ihrer Mutter den Kopf geschüttelt, gerade in manchmal ernsten oder auch traurigen Situationen herumzualbern; ein solches Benehmen erschien ihr wenig erwachsen und einer Frau wie ihrer Mutter nicht würdig. Aber jetzt begriff sie, dass es wohl manchmal der einzige Weg war, eine solche Situation überhaupt zu ertragen.

»Ich... ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. »Ich weiß so wenig über sein Volk. Was, wenn sie uns nicht für den Winter aufnehmen, wie es jede andere Gemeinschaft auch verweigern würde? Oder wenn es dort noch schlimmer ist als hier? Schlimmer als in Goseg, das von Männern wie Sarn und Jamu beherrscht wird?« Lea schüttelte heftig den Kopf, um ihre eigene Frage zu beantworten. »Kaum. Und selbst wenn... ich fürchte, uns bleibt gar keine andere Wahl.«

»Es ist meine Schuld, nicht wahr?«, fragte Arianrhod leise.

»Deine Schuld?«, wiederholte Lea. Sie sah verwirrt aus, einen Moment später erschrocken. »Oh, mein armer Schatz, wie kommst du denn auf diesen Gedanken? Von allen hier trägst du die wenigste Schuld, glaub mir.«

»Aber wenn ich nicht...«, begann Arianrhod, doch Lea unterbrach sie sofort. »Alles wäre ganz genau so gekommen, glaub mir, ganz gleich, was du getan hättest oder auch nicht. Sarn hat das alles von Anfang an so geplant - vielleicht schon von dem Tag an, an dem wir damals in sein Dorf kamen.« Ein flüchtiges, sehr trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht und verschwand wieder, wie ein Schatten, der sie gestreift hatte. »Ich gebe zu, ich habe ihn unterschätzt. Die ganze Zeit über habe ich gedacht, Nor wäre unser eigentlicher Feind. Dabei war es in Wahrheit Sarn.«

Und wenn dort, wo sie jetzt hingingen, auch wieder nur neue, womöglich noch gefährlichere Feinde auf sie warteten?, dachte Arianrhod. Sie kannte von diesem fremden Volk, zu dem sie nun unterwegs waren, nur Dragosz, und selbst aus ihm wurde sie nicht schlau.

»Du hast Angst vor dem, was uns erwartet, nicht wahr?«, fragte Lea plötzlich.

Arianrhod hob nur die Schultern. Was sollte sie sagen? Dass sie fürchtete, in der kalten, dunklen Jahreszeit verhungern zu müssen? Oder aber, dass sich Dragosz’ Volk als ein Volk von Barbaren herausstellte, das sie zwar aufnahm, aber nur, um sich dann mit Gewalt von ihnen zu nehmen, was immer sie wollten?

»Das kann ich verstehen«, fuhr Lea fort. Sie hatte nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet. Plötzlich wünschte sich Arianrhod nichts mehr, als dass ihre Mutter diesen allerletzten Schritt, der noch zwischen ihnen lag, tun und sie in die Arme schließen würde, sie einfach nur festhalten, ohne irgendetwas zu sagen, aber sie wusste auch, dass das nicht geschehen würde.

Ein Gefühl bitterer Trauer breitete sich in ihr aus. Ihre Mutter war nicht herzlos, und wie sehr sie sie liebte und mit welch unerbittlicher Härte sie sie zu verteidigen bereit war, hatte sie mehr als einmal bewiesen. Doch seit sie ihr eröffnet hatte, dass sie nun kein Kind mehr sei, sondern eine Frau, hatte sich ihr Benehmen ihr gegenüber verändert. Obwohl sie es niemals laut ausgesprochen hatte, wusste Arianrhod doch, dass sie sich jetzt viel mehr bemühte, eine gute Freundin für sie zu sein, und nicht länger die allmächtige Mutter, und Arianrhod verstand auch, warum sie das tat. Aber verstand Lea denn nicht, dass sie keine Freundin wollte, sondern eine Mutter?

Dragosz kam zurück. Er hielt noch immer das Schwert in der rechten Hand und hackte auch beim Verlassen des Waldes zornig auf die wenigen Äste ein, die seinem Wüten auf dem umgekehrten Weg irgendwie entgangen waren, und der Ausdruck auf seinem Gesicht war womöglich noch zorniger. Im allerersten Moment erschrak Arianrhod fast, denn sie nahm an, dass er hinter diesen Bäumen irgendetwas gesehen hatte, was mit ihren Verfolgern im Zusammenhang stand, dann aber streifte Dragosz’ Blick Lea, und das Feuer in seinen Augen schien noch heller zu lodern.

»Ja«, seufzte Lea, ganz leise, sodass Dragosz ihre Worte nicht verstehen konnte. »Ich fürchte fast, es wird eine Weile dauern, bis du dich an ihn gewöhnt hast.«

Dragosz stapfte durch den Fluss, dass das Wasser fast bis zu seinen Schultern aufspritzte, und rammte das Schwert in den Gürtel zurück, während er auf dem diesseitigen Ufer heraufstieg. Seine Füße hinterließen große, nasse Abdrücke im Gras, und Arianrhod verspürte einen heftigen Anflug von Schadenfreude, als sie daran dachte, wie eisig das Wasser war und wie lange es dauern musste, bis seine Sandalen getrocknet waren. Allerdings hielt diese Schadenfreude nur so lange an, bis ihr aufging, dass sie in wenigen Augenblicken vermutlich selbst herausfinden würde, wie kalt das Wasser wirklich war.

»Und?«, fragte Lea, als Dragosz heran war.

»Der Weg geht auf der anderen Seite weiter«, brummte er. »Er scheint nicht sehr oft begangen zu werden, deshalb ist der Zugang auf dieser Seite auch beinahe zugewachsen. Aber nach ein paar Schritten wird es einfacher.«

»Nicht nur ein bisschen schwieriger?«, vergewisserte sich Lea in Anspielung auf das, was Kron über den Hohlweg behauptet hatte.

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