4 Herbeizitiert

Allein in ihrem Zimmer im Frauenquartier zupfte sich Moiraine die mit Efeuranken und Weinblättern bestickte Stola um ihre Schultern zurecht und betrachtete sich in dem großen, gerahmten Spiegel, der in einer Ecke stand. Ihre großen, dunklen Augen konnten so scharf wie die eines Falken dreinblicken, wenn sie zornig war. Im Moment schienen sie das versilberte Glas zu durchbohren. Es war nur Zufall, daß sie die Stola in ihren Satteltaschen hatte, als sie nach Fal Dara kam. Solch eine Stola trug man selten außerhalb Tar Valons, und selbst dort meist nur in der Weißen Burg. Sie hatte die leuchtende weiße Flamme von Tar Valon auf dem Rücken, und die Farbe der langen Fransen zeigte, welcher Ajah sie angehörte. Bei Moiraine waren sie blau wie der Morgenhimmel. In Tar Valon war es eigentlich nur ein Treffen im Burgsaal, bei dem man eine solch formelle Stola trug, und jenseits der Leuchtenden Mauer würden zu viele Leute beim Anblick der Flamme wegrennen, um sich zu verstecken, oder vielleicht, um die Kinder des Lichts herbeizurufen. Der Pfeil eines Weißmantels war für eine Aes Sedai genauso tödlich wie für jeden anderen, und die Kinder waren zu klug, um sich von einer Aes Sedai sehen zu lassen, bevor der Pfeil heranzischte und während sie noch etwas dagegen unternehmen konnte. Moiraine hatte sicher nicht erwartet, die Stola in Fal Dara tragen zu müssen. Aber bei einer Audienz bei der Amyrlin mußte man das Protokoll schon beachten.

Sie war schlank und nicht gerade groß, und die glattwangige Alterslosigkeit der Aes Sedai ließ sie oft jünger wirken, als sie war, doch Moiraine besaß eine dominierende Eleganz und eine ruhige Ausstrahlung, die sie bei jeder Versammlung zur Führungspersönlichkeit werden ließ. Was ihr im Königspalast von Cairhien in Fleisch und Blut übergegangen war, war durch die noch größere Anzahl an Jahren als Aes Sedai nicht verlorengegangen, sondern noch verstärkt worden. Sie wußte, daß sie heute jedes bißchen ihrer Persönlichkeit brauchen würde. Und doch war der größte Teil ihrer Ruhe nur oberflächlich. Es muß Schwierigkeiten gegeben haben, sonst wäre sie nicht selbst gekommen, dachte sie zum wenigstens zehnten Mal. Aber das führte zu tausend weiteren Fragen. Welche Schwierigkeiten plagen sie, und wen hat sie zur Begleitung ausgewählt? Warum kam sie hierher? Warum gerade jetzt? Es darf jetzt einfach nichts mehr schiefgehen.

Der Ring mit der Großen Schlange spiegelte matt das Licht wider, als sie die feine Goldkette berührte, die sie in ihrem dunklem Haar befestigt hatte. Das Haar fiel ihr in Wellen auf die Schultern herunter. An der Kette hing ein kleiner, klarer blauer Edelstein genau in der Mitte ihrer Stirn. Viele in der Weißen Burg wußten von den Tricks, die sie mit diesem Stein als Brennpunkt ihrer Kräfte vollbringen konnte. Es war nur ein geschliffenes Stück blauen Kristalls, nur etwas, das ein junges Mädchen im frühesten Teil ihres Lernprozesses benützt hatte, in dem sie noch niemand hatte, der sie betreute. Dieses Mädchen hatte sich an die Geschichten der Angreal und der noch mächtigeren Sa'Angreal erinnert — dieser sagenhaften Überbleibsel aus dem Zeitalter der Legenden, die den Aes Sedai erlaubten, noch mehr von der Einen Macht zu lenken, als es ohne Hilfe möglich und sicher war —, sich daran erinnert und geglaubt, man brauche grundsätzlich einen solchen Brennpunkt, um die Macht überhaupt kontrollieren zu können. Ihre Schwestern in der Weißen Burg kannten ein paar ihrer Tricks und mutmaßten über weitere, einschließlich einiger, die nicht existierten und die sie erschreckt hatten, als sie davon hörte. Die Dinge, die sie mit Hilfe des Steins tun konnte, waren einfach und unbedeutend, wenn auch gelegentlich nützlich: was sich eben ein Kind so vorstellen konnte. Aber falls sich die Amyrlin in der Begleitung der falschen Frauen befand, könnte der Kristall sie vielleicht seines Rufs wegen aus dem Gleichgewicht bringen.

Es klopfte ein paarmal schnell und eindringlich an ihre Zimmertür. Kein Schienarer würde auf diese Weise anklopfen, gleich an welche Tür, aber am allerwenigsten an ihre. Sie blickte so lange weiter in den Spiegel, bis ihre Augen ganz ruhig zurückblickten und alle Gedanken in ihren dunklen Tiefen verbargen. Sie überprüfte die weiche Ledertasche, die an ihrem Gürtel hing. Welche Schwierigkeiten auch immer sie aus Tar Valon hierher brachten — sie wird sie vergessen, wenn ich ihr dieses Problem darlege. Es klopfte noch einmal und noch lebhafter als zuvor. Sie durchquerte das Zimmer und öffnete die Tür mit einem gelassenen Lächeln, das für die beiden Frauen bestimmt war, die sie abholen kamen.

Sie erkannte beide: die dunkelhaarige Anaiya in ihrer Stola mit blauen Fransen und die blonde Liandrin in ihrer roten Stola. Liandrin, die nicht nur jung schien, sondern jung und hübsch war, mit einem Puppengesicht und einem kleinen Schmollmund, hatte die Hand schon erhoben, um noch einmal zu klopfen. Ihre dunklen Augenbrauen und noch dunkleren Augen bildeten einen scharfen Kontrast zu der Unmenge blaß-honigfarbener Korkenzieherlocken, die ihr auf die Schultern hingen, aber diese Kombination war in Tarabon nichts Ungewöhnliches. Beide Frauen waren größer als Moiraine, Liandrin allerdings nur um weniger als eine Handbreite.

Anaiyas grobes Gesicht wurde sofort, als Moiraine die Tür öffnete, von einem Lächeln überzogen. Dieses Lächeln verlieh ihr die einzige Schönheit, die sie je besitzen würde, aber es reichte. Fast jeder fühlte sich beruhigt, sicher und als etwas Besonderes, wenn er oder sie von Anaiya angelächelt wurde. »Das Licht leuchte dir, Moiraine. Es ist schön, dich wiederzusehen. Geht es dir gut? Wir haben uns schon so lange nicht gesehen.«

»Mein Herz ist leichter, nun, da du da bist, Anaiya.« Das stimmte auch ganz gewiß; es war gut zu wissen, daß sie unter den Aes Sedai, die nach Fal Dara gekommen waren, wenigstens eine Freundin hatte. »Das Licht leuchte dir.«

Liandrins Mund verzog sich, und sie zupfte an ihrer Stola. »Die Amyrlin verlangt nach Eurer Gegenwart, Schwester.« Auch ihre Stimme klang schmollend und ein wenig kalt. Das hatte nichts mit Moiraine zu tun oder nicht allein mit ihr; Liandrin hörte sich immer so an, als sei sie unzufrieden mit etwas. Mit gerunzelter Stirn versuchte sie, über Moiraines Schulter hinweg in das Zimmer zu blicken. »Dieser Raum — er ist geschützt. Wir können nicht eintreten. Warum schützt du dich gegen deine Schwestern?«

»Gegen alle«, antwortete Moiraine verbindlich. »Viele der Dienerinnen sind äußerst neugierig in bezug auf Aes Sedai, und ich will nicht, daß sie in meinen Zimmern herumschnüffeln, wenn ich abwesend bin. Bis jetzt bestand keine Notwendigkeit, einen Unterschied zu machen.« Sie zog die Tür hinter sich zu, so daß sie alle nun im Korridor standen. »Sollen wir gehen? Wir dürfen die Amyrlin nicht warten lassen.«

Sie ging den Flur hinunter, und Anaiya ging an ihrer Seite und plauderte mit ihr. Liandrin stand noch einen Augenblick lang da und sah die Tür an. Wahrscheinlich fragte sie sich, was Moiraine wohl dort verbarg. Dann beeilte sie sich, die anderen wieder einzuholen. Sie lief steif wie ein Wachsoldat vor Moiraine her, während Anaiya einfach nebenherschlenderte und ihr Gesellschaft leistete. Die Schritte ihrer in weichen Abendschuhen steckenden Füße waren auf den dichtgewobenen Teppichen mit ihren einfachen Mustern kaum zu hören.

Livrierte Frauen knicksten tief, wenn sie vorbeikamen, viele von ihnen tiefer als selbst beim Herrn von Fal Dara. Aes Sedai, drei auf einmal, und dann noch die Amyrlin selbst in der Festung, das war mehr Ehre, als irgendeine Frau aus der Festung während ihrer gesamten Lebenszeit erwarten durfte. Ein paar adlige Frauen befanden sich ebenfalls draußen in den Korridoren, und auch sie knicksten. Sie hätten das gewiß nicht vor Lord Agelmar getan. Moiraine und Anaiya lächelten und nickten jedesmal, um die Ehrerbietung zu würdigen, gleich, ob es eine Adlige war oder eine Dienerin. Liandrin ignorierte alle.

Hier hielten sich natürlich nur Frauen auf und keine Männer. Kein männlicher Schienarer über zehn Jahre würde die Gemächer der Frauen ohne Erlaubnis oder Einladung betreten, obwohl ein paar kleine Jungen hier in den Gängen spielten. Sie knieten sich ungeschickt auf ein Knie nieder, während ihre Schwestern tief knicksten. Gelegentlich lächelte Anaiya und streichelte im Vorbeigehen über einen kleinen Kopf.

»Diesmal, Moiraine«, sagte Anaiya, »warst du viel zu lange von Tar Valon weg. Viel zu lange. Du fehlst Tar Valon. Deine Schwestern vermissen dich. Und du wirst in der Weißen Burg benötigt.«

»Ein paar von uns müssen draußen in der Welt arbeiten«, sagte Moiraine sanft. »Ich überlasse dir den Burgsaal, Anaiya. Und doch hört man in Tar Valon mehr von dem, was in der Welt vorgeht, als ich. Viel zu oft laufe ich vor dem davon, was dort passiert, wo ich gestern war. Welche Neuigkeiten gibt es?«

»Drei weitere falsche Drachen.« Liandrin spuckte es fast aus. »In Saldaea, Murandy und Tear überziehen falsche Drachen das Land mit Krieg. Derweil lächelt ihr Blauen und redet über Nichtigkeiten und über die gute alte Zeit.« Anaiya zog die Augenbrauen hoch, und Liandrin schloß augenblicklich den Mund und schnaubte nur noch einmal hörbar.

»Drei«, sagte Moiraine leise und nachdenklich. Einen Moment lang glitzerten ihre Augen, doch das verbarg sie schnell wieder. »Drei während der letzten beiden Jahre, und nun drei weitere auf einmal.«

»Genau wie bei den anderen wird man auch mit diesen fertigwerden. Diesem männlichen Ungeziefer und dem zerlumpten Pack, das ihren Flaggen folgt.«

Moiraine amüsierte sich schon beinahe über die Sicherheit, mit der Liandrin das behauptete. Ihr waren die Wirklichkeit all dessen und die daraus erwachsenden Möglichkeiten nur zu klar. »Haben wenige Monate bereits ausgereicht, um dich vergessen zu machen, Schwester? Der letzte falsche Drache hat Ghealdan beinahe zerstört, bevor sein Heer — zerlumptes Pack oder nicht —geschlagen wurde. Ja, jetzt ist Logain in Tar Valon, gedämpft und besänftigt, denke ich, aber einige unserer Schwestern mußten sterben, um ihn zu überwinden. Selbst eine einzige tote Schwester ist mehr, als wir uns leisten können, und doch waren die Verluste in Ghealdan viel schlimmer. Die zwei anderen vor Logain konnten die Macht nicht lenken, aber trotzdem werden sich die Menschen in Kandor und Arad Doman noch gut an sie erinnern. Verbrannte Dörfer, und die Männer in der Schlacht gefallen. Wie leicht wird es der Welt fallen, mit dreien auf einmal fertigzuwerden? Wie viele werden sich um sie scharen? Es hat nie Mangel geherrscht an Anhängern jedes Mannes, der behauptete, der Wiedergeborene Drache zu sein. Welch furchtbare Kriege werden jetzt wieder wüten?«

»Es ist nicht so schlimm, wie du es siehst«, sagte Anaiya. »Soweit wir wissen, kann nur der in Saldaea die Macht benützen. Er hatte noch nicht genug Zeit, um viele Anhänger um sich zu scharen, und mittlerweile sollten bereits Schwestern dort sein, um ihn unter Kontrolle zu bringen. Die Leute am Taren jagen ihren falschen Drachen und seine Anhänger durch die Haddon-Sümpfe, während der Bursche aus Murandy bereits in Ketten liegt.« Sie lachte kurz erstaunt auf. »Daß ausgerechnet die Murandianer mit ihrem Feind so schnell fertigwerden konnten! Frage sie, und sie nennen sich noch nicht einmal Murandianer, sondern Lugarder oder Inischlinni oder sagen, sie gehören zum Gefolge dieses Lords oder jener Lady. Aber nun hatten die Murandianer Angst, einer ihrer Nachbarn könne den Krieg als Ausrede benutzen, um eine Invasion zu beginnen, und prompt stürzen sich alle auf ihren falschen Drachen, kaum daß er den Mund aufmachte, um sich zu erklären.«

»Trotzdem«, sagte Moiraine, »darf man nicht mißachten, daß nun drei auf einmal da sind. War irgendeine Schwester in der Lage, eine Voraussage zu machen?« Die Möglichkeit war nur gering. In den letzten Jahrhunderten war dieses Talent kaum andeutungsweise bei den Aes Sedai aufgetaucht. Also war sie auch nicht überrascht, als Anaiya den Kopf schüttelte. Nicht überrascht, jedoch ein wenig erleichtert.

Sie erreichten einen Kreuzungspunkt von Korridoren zur gleichen Zeit wie Lady Amalisa. Sie knickste, wobei sie sich tief bückte und die blaßgrünen Röcke ausbreitete. »Ehre sei Tar Valon«, murmelte sie. »Ehre den Aes Sedai.«

Bei der Schwester des Herrn von Fal Dara war mehr als nur ein Kopfnicken angebracht. Moiraine nahm Amalisas Hände und zog sie auf die Füße. »Ihr ehrt uns, Amalisa. Erhebt Euch, Schwester.«

Amalisa richtete sich anmutig auf. Sie errötete dabei. Sie war noch niemals in Tar Valon gewesen, und von einer Aes Sedai Schwester genannt zu werden, war selbst für jemanden von ihrem gesellschaftlichen Rang erhebend. Sie war klein, in mittleren Jahren, und sie besaß eine dunkle, reife Schönheit, die durch die Röte ihrer Wangen noch betont wurde. »Ihr ehrt mich zu sehr, Moiraine Sedai.«

Moiraine lächelte. »Wie lange kennen wir uns bereits, Amalisa? Muß ich Euch jetzt Lady Amalisa nennen, als hätten wir niemals zusammen Tee getrunken?«

»Natürlich nicht«, lächelte Amalisa zurück. Die innere Kraft, die man am Gesicht ihres Bruders ablesen konnte, war auch in ihrem deutlich, trotz des weichen Schwungs der Wangen und des Kinns. Es gab Leute, die behaupteten, obwohl Agelmar ein harter und wohlbekannter Kämpfer sei, könne er sich nur mit Mühe gegen seine Schwester behaupten. »Aber da die Amyrlin nun einmal hier ist... Wenn König Easar Fal Dara besucht, dann nenne ich ihn privat meinen Magami, meinen Kleinen Onkel, wie ich das schon als Kind tat, wenn er mich auf seinen Schultern reiten ließ, aber in der Öffentlichkeit geht das nicht.«

Anaiya zischte leicht durch die Zähne. »Manchmal sind Formalitäten notwendig, aber oft werden sie von Männern wichtiger genommen, als sie sind. Bitte nennt mich doch Anaiya, und ich nenne Euch Amalisa, wenn Ihr erlaubt.«

Aus dem Augenwinkel sah Moiraine Egwene weit hinten in einem Seitengang, wie sie hastig um eine Ecke herum verschwand. In ihrem Schlepptau schlurfte eine gebückte Gestalt in einem Lederwams mit gesenktem Kopf und Armen voll mit Bündeln. Moiraine genehmigte sich ein leichtes Lächeln, das sie schnell wieder verschwinden ließ. Wenn das Mädchen in Tar Valon genausoviel Initiative zeigt, dachte sie trocken, dann sitzt sie eines Tages auf dem Amyrlin-Sitz. Falls sie lernt, diese Initiative kontrolliert einzusetzen. Falls es dann noch einen Amyrlin-Sitz gibt, auf dem sie sitzen kann.

Als sie ihre Aufmerksamkeit wieder den anderen zuwandte, sprach gerade Liandrin: »... und ich würde mich über die Gelegenheit freuen, mehr über Euer Land zu erfahren.« Sie trug ein offenes und beinahe mädchenhaftes Lächeln zur Schau, und ihre Stimme klang freundlich.

Moiraine zwang ihr Gesicht zur Ausdruckslosigkeit, als Amalisa sie einlud, mit ihr und ihren Hofdamen in ihren privaten Garten zu kommen, und als Liandrin diese Einladung warmherzig akzeptierte. Liandrin hatte wenige Freundinnen und keine Angehörigen außer der Roten Ajah. Und ganz bestimmt keine, die nicht Aes Sedai waren. Sie würde noch eher mit einem Mann oder einem Trolloc Freundschaft schließen. Moiraine war nicht sicher, ob Liandrin einen Unterschied zwischen einem Mann und einem Trolloc sah. Sie war sich da bei keiner der Roten Ajah sicher.

Anaiya erklärte, daß sie nun zur Audienz bei der Amyrlin gehen müßten. »Natürlich«, sagte Amalisa. »Das Licht leuchte ihr, und der Schöpfer gewähre ihr Sicherheit. Also, dann auf später!« Sie neigte den Kopf, als sie sie verließen.

Moiraine betrachtete Liandrin beim Weitergehen, sah sie aber nicht direkt an. Die Aes Sedai mit dem honigfarbenen Haar blickte geradeaus. Ihre Rosenknospenlippen waren nachdenklich geschürzt. Sie schien Moiraine und Anaiya vergessen zu haben. Was hat sie vor?

Anaiya schien nichts Außergewöhnliches bemerkt zu haben, aber andererseits hatte sie schon immer die Menschen sowohl als das akzeptiert, was sie waren, wie auch als das, was sie sein wollten. Es verwunderte Moiraine immer, wie sich Anaiya in der Weißen Burg so gut halten konnte, aber die Intriganten schienen halt ihre Offenheit und Ehrlichkeit, ihre Bereitschaft, alle zu akzeptieren, für eine schlaue Finte zu halten. Es brachte solche Frauen immer aus dem Gleichgewicht, wenn sich herausstellte, daß sie meinte, was sie sagte, und daß sie sagte, was sie meinte. Und sie besaß außerdem die Fähigkeit, den Dingen auf den Grund zu gehen und hinzunehmen, was sie dort sah. Jetzt kehrte sie ganz selbstverständlich zu den Tagesneuigkeiten zurück.

»Aus Andor hört man sowohl Gutes wie auch Schlechtes. Die Straßenkämpfe in Caemlyn haben sich seit dem Frühlingsbeginn gelegt, aber es wird noch darüber geklatscht, viel zuviel, daß an dem langen Winter die Königin und genauso Tar Valon die Schuld trügen. Morgase sitzt nicht so sicher wie im letzten Jahr auf dem Thron, aber sie sitzt darauf, und sie wird sich behaupten, solange Gareth Bryne Generalhauptmann der königlichen Garde ist. Und die Lady Elayne, die Tochter-Erbin, sowie ihr Bruder, Lord Gawyn, sind sicher in Tar Valon angekommen, um dort ihre Ausbildung zu beginnen. Es gab in der Weißen Burg einige Befürchtungen, die Königin könne mit dieser Sitte brechen.«

»Nicht, solange Morgase noch atmen kann«, sagte Moiraine.

Liandrin fuhr leicht zusammen, als sei sie gerade aufgewacht. »Betet darum, daß sie auch weiterhin zum Atmen kommt. Die Gesellschaft der Tochter-Erbin wurde bis zum Erinin von den Kindern des Lichts verfolgt. Bis zu den Brücken nach Tar Valon. Außerhalb von Caemlyn lagern noch weitere und warten darauf, Unruhe stiften zu können, und innerhalb Caemlyns haben sie auch Anhänger.«

»Vielleicht ist es an der Zeit, daß Morgase ein wenig Vorsicht lernt«, seufzte Anaiya. »Die Welt wird mit jedem Tag gefährlicher, selbst für eine Königin. Möglicherweise gerade für eine Königin. Sie war schon immer ehrgeizig. Ich erinnere mich daran, wie sie als Mädchen nach Tar Valon kam. Sie war nicht begabt genug, um zur Schwester gemacht zu werden, und das ärgerte sie. Manchmal glaube ich, deshalb treibt sie ihre Tochter heute so an, gleich was das Mädchen möchte.«

Moiraine schnaubte verächtlich. »Elayne wurde mit dem Funken geboren; es hatte nichts mit ›möchten‹ zu tun. Morgase konnte nicht riskieren, das Mädchen wegen mangelnder Ausbildung sterben zu lassen, auch wenn alle Weißmäntel von Amadicia außerhalb Caemlyns lagerten. Sie hätte eher Gareth Bryne und der königlichen Garde befohlen, ihr einen Weg hindurch nach Tar Valon mit dem Schwert zu bahnen, und Gareth Bryne würde es tun, auch wenn er es allein wagen müßte.« Aber sie muß das ganze Ausmaß an Talent geheimhalten, über das das Mädchen verfügt. Würde das Volk von Andor Elayne immer noch auf dem Löwenthron als Morgases Nachfolgerin akzeptieren, wenn es davon wüßte? Nicht nur eine Königin, die der Sitte entsprechend in Tar Valon ausgebildet wurde, sondern eine richtige Aes Sedai? In der gesamten durch schriftliche Zeugnisse belegten Geschichte hatte es nur eine Handvoll Königinnen gegeben, die sich mit Recht Aes Sedai nennen durften, und die wenigen, die das bekanntgegeben hatten, hatten es allesamt bereut. Sie fühlte Traurigkeit in sich aufsteigen. Aber es ging um zu viel, als daß man nur einem einzigen Land und einem einzigen Thron zuviel Hilfe, zuviel Sorge widmen konnte. »Was gibt es sonst noch, Anaiya?«

»Du dürftest wissen, daß in Illian zum ersten Mal nach vierhundert Jahren wieder die Wilde Jagd nach dem Horn freigegeben wurde. Die Illianer behaupten, die Letzte Schlacht sei nahe« — Anaiya schauderte ein wenig, was verständlich war, fuhr aber ohne Unterbrechung fort —, »und das Horn von Valere müsse vor der endgültigen Schlacht gegen den Schatten gefunden werden. Männer aus allen Ländern versammeln sich. Alle wollen Teil einer Legende werden, wollen das Horn finden. Murandy und Altara sind natürlich in Aufruhr und glauben, es sei alles nur eine Finte, um gegen eines von ihnen vorzurücken. Vielleicht haben die Murandianer deshalb ihren falschen Drachen so schnell eingefangen. Jedenfalls wird es eine Menge neuer Geschichten für die Barden und Gaukler geben, die sie dem Zyklus hinzufügen können. Das Licht möge es dabei bleiben lassen, daß es nur neue Geschichten sind.«

»Vielleicht nicht die Geschichten, die sie erwarten«, sagte Moiraine. Liandrin sah sie scharf an, und sie machte ein unbeteiligtes Gesicht.

»Ich glaube nicht«, sagte Anaiya gelassen. »Es werden gerade die Geschichten sein, die sie am wenigsten erwarten, aber dem Zyklus schließlich hinzufügen. Ansonsten kann ich dir nur Gerüchte bieten. Die Meerleute sind ganz erregt. Ihre Schiffe segeln fast ohne Pause von Hafen zu Hafen. Schwestern von den Inseln sagen, daß der Coramoor, ihr Erwählter Herrscher, kommt, aber mehr wissen sie nicht zu sagen. Du weißt, wie schweigsam die Atha'an Miere Fremden gegenüber sind, wenn es um den Coramoor geht, und in dieser Hinsicht verstehen sich unsere Schwestern eher als Mitglieder des Meervolks denn als Aes Sedai. Auch die Aiel scheinen sich zu rühren, aber niemand weiß, warum. Bei den Aiel weiß man das nie. Aber wenigstens deutet nichts darauf hin, daß sie das Rückgrat der Welt wieder überqueren wollen, dem Licht sei Dank.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Was würde ich nicht darum geben, wenn wir wenigstens eine Schwester aus dem Volk der Aiel hätten. Nur eine. Wir wissen zu wenig über sie.«

Moiraine lachte. »Manchmal glaube ich, du gehörst zu den Braunen Ajah, Anaiya.«

»Die Ebene von Almoth«, sagte Liandrin und sah dann überrascht darüber aus, daß sie es gesagt hatte.

»Also, das ist nun wirklich ein Gerücht, Schwester«, sagte Anaiya. »Nur ein paar Worte hier und da, die wir hörten, als wir Tar Valon verließen. Es könnte auf der Ebene von Almoth und vielleicht auf der Toman-Halbinsel Gefechte gegeben haben. Ich sage: es könnte. Es war nur wenig, was darauf hinwies. Gerüchte von Gerüchten. Wir reisten ab, bevor wir mehr erfahren konnten.«

»Es müßte sich dann wohl um Tarabon und Arad Doman handeln«, sagte Moiraine und schüttelte den Kopf. »Sie haben sich mehr als dreihundert Jahre lang um die Ebene von Almoth gestritten, aber es ist nie zum offenen Krieg gekommen.« Sie sah Liandrin an; von Aes Sedai erwartete man, daß sie ihre alten Bindungen an Länder und Herrscher ablegten, aber das gelang nur wenigen vollständig. Es war schwierig, nichts mehr für das Land zu geben, in dem man geboren war. »Warum also jetzt?«

»Genug geschwätzt«, warf die Frau mit dem honigfarbenen Haar zornig ein. »Auf dich, Moiraine, wartet die Amyrlin.« Sie machte drei kurze Schritte nach vorn und warf eine hohe Tür auf. »Auf dich wartet bei der Amyrlin kein Geschwätz.«

Moiraine berührte unbewußt die Tasche an ihrem Gürtel und ging an Liandrin vorbei durch die Tür. Sie nickte ihr noch kurz zu, als halte ihr die andere die Tür aus Höflichkeit auf. Sie lächelte aber nicht, als auf Liandrins Gesicht der Zorn aufblitzte. Was hat dieses verdrehte Mädchen nur vor?

Eine Schicht von Teppichen in leuchtenden Farben bedeckte den Fußboden des Vorraums, und der Saal selbst war nett eingerichtet mit Stühlen und Polsterbänken und kleinen Tischchen, alles aus einfach bearbeitetem oder auch poliertem Holz. An den Seiten der Schießscharten hingen Brokatvorhänge und ließen sie damit eher wie Fenster wirken. In dem Kaminen brannte kein Feuer; der Tag war warm, und die Kühle von Schienar würde sich erst bei Sonnenuntergang wieder zeigen.

Hier hielten sich weniger als ein halbes Dutzend der Aes Sedai auf, die mit der Amyrlin gekommen waren. Verin Mathwin und Serafelle von den Braunen Ajah blickten nicht auf, als Moiraine eintrat. Serafelle las konzentriert in einem alten Buch mit abgegriffenem, verblaßten Ledereinband, dessen zerfledderte Seiten sie vorsichtig umblätterte. Die mollige Verin saß mit übergeschlagenen Beinen unter einer Schießscharte, hielt eine kleine Blüte ins Licht und machte Notizen und Skizzen in gestochen feiner Schrift in ein Buch, das sie auf dem Knie liegen hatte. Auf dem Blumentopf neben ihr stand ein offenes Tintengefäß, und auf ihrem Schoß lag ein kleines Bündel weiterer Blumen. Die Braunen Schwestern kümmerten sich um wenig, außer der Suche nach Wissen. Moiraine fragte sich manchmal, ob ihnen eigentlich klar sei, was in der Welt und sogar in ihrer engsten Umgebung vorging.

Die drei anderen Frauen, die sich im Raum befanden, drehten sich um, machten aber keine Anstalten, auf Moiraine zuzukommen; sie musterten sie lediglich. Eine war eine schlanke Frau, ein Mitglied der Gelben Ajah. Moiraine kannte sie nicht; sie verbrachte zu wenig Zeit in Tar Valon, um alle Aes Sedai zu kennen, obwohl es ja nun nicht mehr gerade viele waren. Die beiden übrigen kannte sie allerdings. Carlinya war von so blasser Hautfarbe und von so kaltem Charme wie die weißen Fransen an ihrer Stola und so in allem das Gegenteil der dunkelhaarigen, feurigen Alanna Mosvani von den Grünen, aber sie beide standen stumm da und betrachteten sie ausdruckslos. Alanna raffte mit einer hastigen Bewegung ihre Stola um sich zusammen, doch Carlinya bewegte sich überhaupt nicht. Die schlanke Gelbe Schwester wandte sich mit bedauernder Miene ab.

»Das Licht leuchte Euch allen, Schwestern«, sagte Moiraine. Niemand antwortete. Sie war nicht sicher, ob Serafelle und Verin ihren Gruß überhaupt wahrgenommen hatten. Wo sind die anderen? Es war nicht nötig, daß sich alle hier befanden — die meisten ruhten sich wohl in ihren Gemächern aus und erfrischten sich nach der Reise —, aber sie war nun ziemlich nervös, denn ihr gingen alle Fragen durch den Kopf, die sie nun nicht stellen konnte. Von ihrem Gesicht ließ sich nichts davon ablesen.

Die innere Tür öffnete sich, und Leane erschien, doch ohne ihren mit vergoldeter Flamme verzierten Stab. Die Behüterin der Chronik war ebenso groß wie die meisten Männer, gewandt und graziös, immer noch schön. Sie hatte beinahe kupferfarbene Haut und kurzes, dunkles Haar. Sie trug einen handbreiten blauen Schal an Stelle einer Stola, denn sie saß als Behüterin im Burgsaal und nicht, um ihre Ajah zu repräsentieren.

»Da bist du ja«, sagte sie knapp zu Moiraine und deutete auf die Tür hinter ihr. »Komm, Schwester! Die Amyrlin wartet.« Sie sprach ungekünstelt auf eine abgehackte, schnelle Art, die sich nie änderte, gleich, ob sie zornig oder fröhlich oder aufgeregt war. Als Moiraine Leane hineinfolgte, fragte sie sich, was die Behüterin wohl jetzt fühle. Leane zog die Tür hinter ihnen zu. Sie schlug mit einem Geräusch zu, das sich ein wenig nach einer sich schließenden Zellentür anhörte. Die Personifizierung der Amyrlin saß an einem breiten Tisch in der Mitte des Teppichs, und auf dem Tisch stand ein abgeplatteter Goldwürfel von den Ausmaßen einer Reisetruhe, der fein mit Silberarbeiten verziert war. Der Tisch war wuchtig gebaut, mit dicken Beinen, doch er schien sich unter einer Last zu beugen, die zwei kräftige Männer nur mit Mühe hätten heben können. Beim Anblick des Goldwürfels hatte Moiraine Mühe, ein ausdrucksloses Gesicht zu bewahren. Als sie ihn zuletzt gesehen hatte, stand er sicher in Agelmars Schatzkammer. Als sie von der Ankunft der Amyrlin erfahren hatte, wollte sie ihr selbst davon erzählen. Daß er sich nun schon im Besitz der Amyrlin befand, war wohl nur eine Kleinigkeit, aber eine, die ihr Kopfzerbrechen verursachte. Die Ereignisse könnten ihr vorauseilen.

Sie knickste tief und sagte steif: »Wie Ihr mich gerufen habt, Mutter, so bin ich gekommen.« Die Amyrlin streckte eine Hand aus, und Moiraine küßte ihren Ring mit der Großen Schlange, der sich nicht von denen der anderen Aes Sedai unterschied. Sie erhob sich und sagte mehr im Plauderton, wenn auch nicht so betont, da sie sich der Behüterin bewußt war, die hinter ihr stand: »Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Reise, Mutter.«

Die Amyrlin war in Tear geboren und kam aus einer einfachen Fischerfamilie, nicht aus einem adligen Haus. Sie hieß Siuan Sanche, aber nur wenige benützten diesen Namen oder dachten auch nur daran. Vor zehn Jahren war sie vom Burgsaal ernannt worden. Sie verkörperte den Amyrlin-Sitz, und das war alles. Der breite Schal um ihre Schultern war in den Farben der sieben Ajahs gestreift. Die Amyrlin gehörte allen Ajahs an. Sie war nur mittelgroß und sah recht gut aus, war aber keine Schönheit, doch in ihrem Gesicht lag eine innere Kraft, die schon vor ihrer Ernennung vorhanden gewesen war, die Kraft eines Mädchens, das die Straßen von Maule und Tears Hafenbezirk überlebt hatte; und unter ihrem klaren blauen Blick hatten Könige und Königinnen und sogar der Kommandant der Kinder des Lichts die Augen niedergeschlagen. Ihr Blick war nun gequält, und um ihre Mundpartie zog sich eine früher nicht vorhandene Härte.

»Wir riefen die Winde, um unsere Schiffe schneller den Erinin hinauffahren zu lassen, Tochter, und sogar die Strömung mußte uns helfen.« Die Stimme der Amyrlin klang tief und traurig. »Ich habe die Überschwemmungen gesehen, die wir in den Dörfern am Flußufer hervorgerufen haben, und das Licht allein weiß, was wir dem Wetter angetan haben. Wir haben uns mit den angerichteten Schäden und all der verdorbenen Saat nicht gerade beliebter gemacht. Und das alles, um so schnell wie möglich nach hier zu kommen.« Ihr Blick wanderte zu dem verzierten Goldwürfel hinüber, und sie erhob ein wenig die Hand, wie um ihn zu berühren, aber als sie wieder sprach, sagte sie nur: »Elaida ist in Tar Valon, Tochter. Sie kam mit Elayne und Gawyn.«

Moiraine war sich bewußt, daß Leane auf der einen Seite stand, schweigend wie immer in der Gegenwart der Amyrlin. Aber sie beobachtete und lauschte. »Ich bin überrascht, Mutter«, sagte sie vorsichtig. »Das ist nicht die richtige Zeit, Morgase ohne den Rat einer Aes Sedai zurückzulassen.« Morgase war eine der wenigen Herrscherinnen, die offen zugaben, daß sie eine Aes-Sedai-Ratgeberin hatte. Fast alle hatten eine, aber wenige gaben es zu.

»Elaida bestand darauf, Tochter, und — Königin oder nicht — ich bezweifle, daß Morgase in einem Kräftemessen der Willensstärke Elaida gewachsen ist. Jedenfalls wollte sie das diesmal vielleicht gar nicht. Elayne hat Talent. Mehr, als ich je zuvor erlebt habe. Sie zeigt jetzt bereits Fortschritte. Den Roten Schwestern schwillt schon mächtig der Kamm deswegen. Ich glaube nicht, daß das Mädchen zu ihrer Denkungsart neigt, aber sie ist jung, und man kann noch nichts sagen. Auch wenn sie nicht fertigbringen, sie herumzukriegen, macht das wenig Unterschied. Elayne könnte durchaus die mächtigste Aes Sedai der letzten tausend Jahre werden, und es ist die Rote Ajah, die sie entdeckt hat. Durch dieses Mädchen haben sie sehr an Einfluß im Saal gewonnen.«

»Ich habe hier in Fal Dara zwei junge Frauen dabei, Mutter«, sagte Moiraine. »Beide stammen aus den Zwei Flüssen, wo das Blut von Manetheren noch unverdünnt fließt, obwohl sie sich noch nicht einmal daran erinnern daß es einst ein Land namens Manetheren gab. Das alte Blut singt, Mutter, und es singt in den Zwei Flüssen sehr laut. Egwene, ein Dorfmädchen, ist mindestens ebenso stark wie Elayne. Ich habe die Tochter-Erbin kennengelernt und kann es beurteilen. Was die andere betrifft, nun, Nynaeve war die Seherin in ihrem Dorf, obwohl sie selbst kaum mehr als ein Mädchen ist. Es sagt einiges aus, daß die Frauen ihres Dorfes sie in dem Alter zur Seherin erwählten. Wenn sie erst bewußte Kontrolle über das gewinnt, was sie jetzt noch unbewußt tut, wird sie ebenso stark wie jede in Tar Valon. Mit Übung wird sie neben den Kerzen von Elayne und Egwene wie ein Freudenfeuer leuchten. Und es ist völlig unmöglich, daß sich diese beiden den Roten anschließen. Sie amüsieren sich über Männer, haben auch manchmal von ihnen die Nase voll, aber sie mögen sie. Mit ihnen werden wir jedem möglichen Einfluß, den die Roten Ajah durch das Auffinden Elaynes in der Weißen Burg gewinnen könnten, leicht entgegenwirken.«

Die Amyrlin nickte, als sei das alles gar nicht so wichtig. Moiraine zog überrascht die Augenbrauen hoch, bevor sie sich fing und ihre Züge sich glätteten. Das waren die beiden Hauptsorgen im Burgsaal, daß jedes Jahr weniger Mädchen gefunden wurden, die im Gebrauch der Einen Macht ausgebildet werden konnten. So schien es jedenfalls, als würden immer weniger wirklich große Talente aufgespürt. Schlimmer als die Angst derer, die die Aes Sedai für die Zerstörung der Welt verantwortlich machten, schlimmer als der Haß der Kinder des Lichts, schlimmer sogar als die Taten der Schattenfreunde war dieses Schrumpfen ihrer Anzahl und das Nachlassen ihrer Fähigkeiten. Die Korridore in der Weißen Burg waren nur noch spärlich bevölkert, wo sich früher die Aes Sedai gedrängt hatten, und was man einst leicht mit Hilfe der Einen Macht ausrichten konnte, konnte man nun nur noch mit Mühe erreichen, wenn überhaupt.

»Elaida hatte einen weiteren Grund, nach Tar Valon zu kommen, Tochter. Sie sandte dieselbe Botschaft mit sechs verschiedenen Brieftauben, um sicherzugehen, daß ich sie erhalte — wem in Tar Valon sie sie noch schickte, kann ich nur erraten —, und dann kam sie persönlich. Sie sagte dem Burgsaal, daß du dich mit einem jungen Mann abgibst, der ta'veren ist und gefährlich dazu. Er war in Caemlyn, sagt sie, aber als sie die Schenke fand, in der er sich aufgehalten hatte, entdeckte sie, daß du ihn weggebracht hattest.«

»Die Bediensteten dieser Schenke dienten uns gut und treu, Mutter. Falls sie irgendeinem unter ihnen etwas angetan hat... « Moiraine konnte die Schärfe nicht aus ihrem Tonfall heraushalten, und sie hörte, wie Leane unruhig wurde. Man sprach nicht in diesem Ton mit der Amyrlin. Nicht einmal ein König auf seinem Thron durfte das.

»Du solltest wissen, Tochter«, sagte die Amyrlin trocken, »daß Elaida niemandem etwas zuleide tut, außer denen, die sie für gefährlich hält. Schattenfreunden oder diesen armen, närrischen Männern, die versuchen, die Eine Macht zu lenken. Oder einem, der Tar Valon bedroht. Jeder andere, der nicht zu den Aes Sedai gehört, ist für sie nur eine Figur auf einem Spielbrett. Zu seinem Glück hält der Wirt, ein Meister Gill, wenn ich mich richtig erinnere, viel von den Aes Sedai und beantwortete ihre Fragen zu ihrer Zufriedenheit. Elaida hat ihn tatsächlich sogar gelobt. Aber sie erzählte noch mehr von dem jungen Mann, den du mitnahmst. Gefährlicher als irgendein Mann seit Artur Falkenflügel, sagte sie. Sie kann so etwas manchmal vorhersagen, weißt du, und ihre Worte haben großes Gewicht im Saal.«

Wegen Leane ließ Moiraine ihre Stimme so demütig wie möglich klingen. Das war zwar nicht sehr demütig, aber besser konnte sie es nicht. »Ich habe drei junge Männer bei mir, Mutter, aber keiner von ihnen ist ein König, und ich bezweifle sehr, daß auch nur einer von ihnen davon träumt, die Welt unter seiner Herrschaft zu vereinigen. Keiner hat seit dem Hundertjährigen Krieg Artur Falkenflügels Traum geträumt.«

»Ja, Tochter. Dorfjungen, wie mir Lord Agelmar erzählt hat. Aber einer von ihnen ist ta'veren.« Der Blick der Amyrlin wanderte wieder zu dem abgeplatteten Würfel hinüber. »Es wurde im Saal vorgeschlagen, dich zu Meditationszwecken zu suspendieren. Das schlug eine der Vertreterinnen der Grünen Ajah vor, und die anderen beiden nickten zustimmend, als sie es sagte.«

Leane gab einen Laut der Abneigung oder des Widerwillens von sich. Sie hielt sich immer im Hintergrund, wenn die Amyrlin sprach, aber Moiraine konnte die kleine Unterbrechung diesmal verstehen. Die Grünen Ajah waren seit tausend Jahren mit den Blauen verbündet; seit der Zeit Artur Falkenflügels hatten sie nur mit einer Stimme gesprochen. »Ich habe keine Sehnsucht danach, in einem weit entfernten Dorf Gemüse zu züchten, Mutter.« Und das werde ich auch nicht, was der Burgsaal auch sagen mag.

»Es wurde weiterhin vorgeschlagen, auch von den Grünen, daß deine Betreuung während der Zeit der Zurückgezogenheit den Roten Ajah übergeben werden sollte. Die Vertreter der Roten bemühten sich, überrascht dreinzublicken, aber sie wirkten wie Geier, die wußten, daß ihre Beute schon am Boden liegt.« Die Amyrlin schnaubte. »Die Roten erklärten, sie zögerten, die Aufsicht über jemanden zu übernehmen, die nicht Mitglied ihrer Ajah sei, doch sie würden den Wünschen des Saales entsprechend verfahren.«

Trotz ihrer Selbstbeherrschung schauderte Moiraine sichtlich. »Das wäre... sehr unangenehm, Mutter.« Es wäre mehr als nur unangenehm, viel mehr. Die Roten gingen nicht gerade sanft mit Menschen um. Sie schob die Gedanken daran entschlossen beiseite; später würde sie sich damit wieder beschäftigen. »Mutter, ich verstehe dieses offensichtliche Bündnis zwischen den Grünen und den Roten nicht. Ihre Anschauungen, ihr Verhalten Männern gegenüber, ihre Ansichten in bezug auf den Zweck unseres Daseins als Aes Sedai sind völlig gegensätzlich. Eine Rote und eine Grüne können sich nicht einmal unterhalten, ohne sich dabei anzuschreien.«

»Die Dinge ändern sich, Tochter. Ich bin die fünfte, die aus den Reihen der Blauen zur Amyrlin erhoben wurde. Vielleicht sind sie der Meinung, daß es zuviel wird oder daß die Anschauungen der Blauen einer Welt der falschen Drachen nicht mehr entsprechen. In tausend Jahren ändert sich vieles.« Die Amyrlin verzog das Gesicht und sprach mehr zu sich selbst. »Die alten Mauern wanken, und die alten Schranken fallen.« Sie schüttelte sich, und ihre Stimme klang wieder gefestigter: »Es gab noch einen Vorschlag, und der stinkt wie ein Fisch, der schon eine Woche lang auf dem Ladentisch liegt. Da Leane zur Blauen Ajah gehört und ich auch von den Blauen herkam, wurde vorgebracht, daß wir bei noch mal zwei Blauen Schwestern als Reisebegleitung schon vier Vertreterinnen der Blauen seien. Und das sagten sie mir im Saal ins Gesicht, als gehe es darum, ein Wasserrohr zu reparieren. Ich hatte zwei Vertreterinnen der Weißen und zwei Grüne gegen mich. Die Gelben berieten sich und konnten sich weder für noch gegen mich entscheiden. Eine weitere Nein-Stimme, und deine Schwestern Anaiya und Maigan wären nicht hier. Es gab sogar ganz offene Stimmen, die verlangten, ich solle die Weiße Burg überhaupt nicht verlassen.«

Moiraine hatte noch weichere Knie als bei der Neuigkeit, daß die Roten Ajah sie in ihre Hände bekommen wollten. Aus welcher Ajah sie auch hervorgegangen war: Die Behüterin der Chronik sprach nur für die Amyrlin, und die Amyrlin sprach für alle Aes Sedai und alle Ajahs. So war es immer gewesen, und keiner hatte das je ändern wollen, nicht während der schlimmsten Zeiten der Trolloc-Kriege und auch nicht, als Artur Falkenflügels Heer jede überlebende Aes Sedai in Tar Valon einschloß. Was am wichtigsten war: die Amyrlin war einfach die Amyrlin. Jede Aes Sedai hatte geschworen, ihr zu gehorchen. Keiner konnte in Frage stellen, was sie machte oder wohin sie reisen wollte. Dieser Vorschlag stand gegen dreitausend Jahre Sitte und Gesetz.

»Wer wagt so etwas, Mutter?«

Das Lachen der Amyrlin klang bitter. »Fast jeder heutzutage, Tochter. Straßenschlachten in Caemlyn. Die Wilde Jagd ausgerufen, ohne daß einer von uns eine Ahnung davon hatte, bis die Proklamation erfolgte. Falsche Drachen schießen wie Pilze aus dem Boden. Nationen verschwinden, und mehr Adlige spielen das Spiel der Häuser als jemals zuvor, seit Artur Falkenflügel ihre Intrigen abgestellt hatte. Und was das schlimmste ist: Jeder von uns weiß, daß sich der Dunkle König wieder rührt. Zeig mir eine Schwester, die nicht der Meinung ist, daß die Weiße Burg die Kontrolle über die Geschehnisse verliert. Entweder es ist eine Braune, oder sie ist tot. Es könnte für uns alle fünf Minuten vor zwölf sein, Tochter. Manchmal glaube ich, beinahe fühlen zu können, wie die Zeit verrinnt.«

»Wie Ihr sagtet, Mutter: Die Dinge ändern sich. Aber es gibt immer noch außerhalb der Leuchtenden Mauer größere Gefahren als innerhalb.«

Die Amyrlin und Moiraine sahen sich eine Weile in die Augen, und dann nickte die Ältere. »Verlaß uns jetzt, Leane. Ich möchte allein mit meiner Tochter Moiraine sprechen.«

Leane zögerte nur einen Moment, dann sagte sie: »Wie Ihr wünscht, Mutter.« Moiraine konnte ihre Überraschung fühlen. Die Amyrlin gewährte nur wenige Audienzen, bei denen die Behüterin nicht anwesend war, und schon gar nicht einer Schwester, die sie begründetermaßen züchtigen sollte.

Die Tür öffnete sich und schloß sich hinter Leane. Sie würde im Vorzimmer kein Wort davon erwähnen, was drinnen vorgefallen war, aber die Nachricht, daß Moiraine mit der Amyrlin allein war, würde wie ein Lauffeuer bei den Aes Sedai in Fal Dara herumgehen und dann würden die Spekulationen einsetzen.

Sobald sie die Tür geschlossen hatte, stand die Amyrlin auf, und Moiraine spürte ein kurzes Prickeln auf der Haut, als die andere Frau die Eine Macht einsetzte. Für einen Augenblick lang schien die Amyrlin von einem hellen Lichtkranz umgeben zu sein.

»Ich weiß nicht, ob irgendwelche anderen deinen alten Trick beherrschen«, sagte die Amyrlin und berührte mit einem Finger leicht den blauen Kristall auf Moiraines Stirn, »aber die meisten von uns haben ein paar alte Tricks auf Lager, an die wir uns aus unserer Kindheit erinnern. Jedenfalls kann nun keiner mehr belauschen, was wir sagen.«

Plötzlich umarmte sie Moiraine; es war die warmherzige Umarmung alter Freundinnen, und Moiraine drückte sie ihrerseits ganz fest.

»Du bist die einzige, Moiraine, bei der ich daran erinnert werde, wer ich einmal war. Selbst Leane benimmt sich immer so, als sei ich Stola und Stab, auch wenn wir allein sind. Dabei haben wir doch als Novizinnen miteinander gekichert. Manchmal wünsche ich mir, du und ich, wir wären immer noch Novizinnen. Immer noch unschuldig genug, um alles als die Wirklichkeit gewordene Erzählung eines Gauklers zu betrachten, und auch unschuldig genug, um zu glauben, daß wir Männer finden würden — erinnerst du dich daran, wie wir von schönen, starken, sanften Prinzen träumten? —, die es auf sich nehmen würden, mit Frauen von der Macht einer Aes Sedai zu leben. Unschuldig genug, um an den glücklichen Ausgang der Gauklergeschichte zu glauben und unser Leben genau wie andere Frauen zu verbringen, wenn auch ein bißchen mehr dahinterstecken würde.«

»Wir sind Aes Sedai, Siuan. Wir haben eine Pflicht. Auch wenn wir beide ohne das Talent geboren wären —würdest du alles eines Heims und eines Ehemanns wegen aufgeben, selbst wenn er ein Prinz ist? Ich glaube nicht. Das ist der Traum einer Dorffrau. Nicht einmal die Grünen gehen so weit.«

Die Amyrlin trat zurück. »Nein, ich würde es nicht aufgeben. Die meiste Zeit über jedenfalls nicht. Aber es hat Zeiten gegeben, da beneidete ich die Frauen vom Land. Jetzt gerade auch wieder. Moiraine, wenn irgend jemand, sogar Leane, herausbekommt, was wir planen, dann werden wir beide eine Dämpfung erfahren. Und ich kann noch nicht einmal sagen, daß sie im Unrecht wären.«

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