Perrin musterte die Dorfbewohner mißtrauisch. Er zupfte verlegen an seinem etwas zu kurz geratenen Umhang, der zwar auf der Brust bestickt war, aber ansonsten einige nicht gestopfte Löcher aufwies, doch keiner beachtete ihn besonders, trotz der bunt zusammengewürfelten Kleidung und der Axt an der Hüfte. Hurin trug unter seinem Umhang einen Mantel mit blauen Spiralen auf der Vorderseite, und Mat hatte Pluderhosen an, die dicke Wülste schlugen, wo er sie in die Stiefel gesteckt hatte. Das war alles, was sie in dem verlassenen Dorf hatten finden können und was ihnen einigermaßen paßte. Perrin fragte sich, ob die Einwohner bald auch dieses Dorf verlassen würden. Die Hälfte der Steinhäuser stand bereits leer, und vor der Schenke, ein Stückchen die ungepflasterte Straße hinauf, standen drei Ochsenkarren, die viel zu schwer beladen waren — hochaufgetürmt und mit Planen bedeckt und festgezurrt. Ein paar Familien hatten sich um die Karren versammelt.
Als er sie beobachtete, wie sie sich zusammendrückten und jenen Lebwohl sagten, die noch blieben, wurde Perrin klar, daß ihre Haltung ihnen gegenüber kein mangelndes Interesse ausdrückte: Sie vermieden es bewußt, ihn und die anderen direkt anzublicken. Diese Menschen hatten gelernt, Fremden gegenüber keine Neugier zu zeigen, selbst wenn es offensichtlich keine Seanchan waren. Heutzutage konnte jeder Fremde auf der Toman-Halbinsel gefährlich sein. Sie hatten diese verkrampfte Gleichgültigkeit auch schon in anderen Dörfern bemerkt. Es gab auch noch ein paar kleine Städte nur wenige Wegstunden von der Küste entfernt. Alle bemühten sich, ihre Unabhängigkeit zu wahren. Jedenfalls, bevor die Seanchan gekommen waren.
»Ich finde«, meinte Mat, »es ist an der Zeit, die Pferde zu holen, bevor sie Fragen stellen.«
Hurin starrte auf einen großen, geschwärzten, kreisförmigen Fleck am Boden, der inmitten des braunen Grases dieses Dorfgrüns zu sehen war. Er wirkte bereits verwittert, aber niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn zu beseitigen. »Vielleicht vor sechs oder acht Monaten«, murmelte er, »aber es stinkt immer noch. Der ganze Gemeinderat mit Familien. Warum tun sie so etwas?«
»Wer weiß schon, warum sie überhaupt etwas tun?« knurrte Mat. »Seanchan brauchen anscheinend keinen besonderen Grund, um Leute umzubringen. Jedenfalls keinen Grund, den ich begreife.«
Perrin blickte an dem verkohlten Fleck vorbei. »Hurin, bist du sicher in bezug auf Fain? Hurin?« Es war schwer gewesen, den Schnüffler von dem Fleck abzulenken, seit sie das Dorf betreten hatten. »Hurin!«
»Was? Oh, Fain? Ja.« Hurins Nasenflügel bebten, und er rümpfte die Nase. »Da ist jeder Irrtum ausgeschlossen, auch wenn die Spur alt ist. Dagegen duften sogar Myrddraal nach Rosen. Er ist tatsächlich hier durchgekommen, aber ich glaube, er war allein. Es waren auf keinen Fall Trollocs dabei, und falls er Schattenfreunde im Gefolge hatte, dann müßten die in letzter Zeit ziemlich harmlos gewesen sein.«
Oben an der Schenke entstand Unruhe. Menschen riefen und deuteten auf etwas. Nicht auf Perrin und die anderen beiden, sondern auf die niedrigen Hügel im Osten.
»Können wir jetzt die Pferde holen?« fragte Mat. »Das sind vielleicht Seanchan.«
Perrin nickte, und sie liefen hinüber, wo sie die Pferde hinter einem verlassenen Haus angebunden hatten. Als Mat und Hurin um die Ecke des Hauses verschwanden, blickte Perrin zur Schenke zurück und blieb verblüfft stehen. Die Kinder des Lichts ritten in das Dorf ein — eine lange Kolonne.
Er rannte den anderen hinterher. »Weißmäntel!«
Die Freunde standen nur einen Moment lang stocksteif da und sahen ihn ungläubig an, dann sprangen sie in die Sättel. Sie ritten so aus dem Dorf hinaus, daß sich immer Häuser zwischen ihnen und der Hauptstraße befanden. Dann galoppierten sie in Richtung Westen, wobei sie sich ständig umsahen, ob sie verfolgt würden. Ingtar hatte ihnen befohlen, sich aus allem herauszuhalten, das sie aufhalten könnte, und von Weißmänteln verhört zu werden, würde sie ganz sicher aufhalten, selbst wenn sie befriedigende Antworten bereit hätten. Perrin sah sich noch öfter um als die anderen beiden. Er hatte seine eigenen Gründe, warum er nicht mit Weißmänteln zusammentreffen wollte. Die Axt in meiner Hand. Licht, was gäbe ich nicht darum, das ungeschehen zu machen. Das Dorf war bald zwischen den leicht bewaldeten Hügeln verschwunden, und Perrin kam langsam, aber sicher zu der Ansicht, daß sie nicht verfolgt wurden. So hielt er sein Pferd an und bedeutete den anderen beiden, ebenfalls anzuhalten. Sie folgten seiner Geste und sahen ihn fragend an. Seine Ohren waren besser, als sie je gewesen waren, doch auch er hörte keinen Hufschlag.
Zögernd sandte er seine Gedanken aus, um nach Wölfen zu suchen. Er fand beinahe sofort welche. Es war ein kleines Rudel, das den Tag über im Wald oberhalb des Dorfes Unterschlupf gesucht hatte. Er spürte zunächst so starkes Erstaunen, daß er es beinahe für sein eigenes Gefühl hielt. Diese Wölfe hatten Gerüchte über ihn gehört, aber nicht ernsthaft daran geglaubt, daß es Zweibeiner gab, die mit ihnen sprechen konnten. Er geriet ins Schwitzen, als er sich vorstellte. Widerwillig sandte er das Bild des Jungen Bullen aus und fügte seinen Geruch hinzu, so wie es bei den Wölfen üblich war. Die Wölfe zeigten beim ersten Zusammentreffen einen Hang zu Formalitäten. Doch schließlich brachte er seine Frage an. Sie hatten an sich keinerlei Interesse an Zweibeinern, die nicht mit ihnen sprechen konnten, aber schließlich schlüpften sie doch hinunter zum Waldrand, um nachzusehen — natürlich von den schlechten Augen der Zweibeiner unbemerkt.
Nach einer Weile erreichten ihn die Bilder dessen, was die Wölfe sahen: in weiße Mäntel gehüllte Männer auf Pferden um das ganze Dorf herum. Sie ritten außen herum und auch zwischen die Häuser, aber keiner ritt fort. Besonders nicht in Richtung Westen. Die Wölfe sagten, daß alles, was sie im Westen witterten, er selbst mit seinen beiden Begleitern sei, und dazu drei der Großen mit den harten Füßen.
Dankbar ließ Perrin den Kontakt mit den Wölfen abreißen. Er merkte, daß Mat und Perrin ihn anblickten.
»Sie folgen uns nicht«, sagte er.
»Wie kannst du so sicher sein?« wollte Mat wissen.
»Ich bin sicher«, fauchte er und fügte etwas sanfter hinzu: »Ganz sicher.«
Mat öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Endlich sagte er: »Na ja, wenn sie uns nicht verfolgen, würde ich sagen, wir begeben uns zu Ingtar zurück und nehmen so schnell wie möglich Fains Spur auf. Der Dolch kommt uns nicht näher, wenn wir hier bloß herumstehen.«
»Wir können die Spur nicht so nahe bei diesem Dorf wieder aufnehmen«, sagte Hurin. »Sonst riskieren wir, mit den Weißmänteln zusammenzutreffen. Ich glaube nicht, daß Lord Ingtar das gefiele, und Verin Sedai vermutlich auch nicht.«
Perrin nickte. »Wir werden der Spur sowieso noch ein paar Meilen weit folgen. Aber seht euch vor. Wir befinden uns vermutlich nicht mehr weit von Falme. Es hilft uns nichts, den Weißmänteln zu entgehen und einer Patrouille der Seanchan in die Arme zu laufen.«
Als sie wieder losritten, fragte er sich, was die Weißmäntel eigentlich hier wollten.
Geofram Bornhald saß im Sattel und blickte die Dorfstraße hinauf und hinunter, während die Legion die kleine Stadt umstellte und besetzte. Dieser breitschultrige Mann, der so schnell verschwunden war, hatte ihn an jemanden erinnert. Natürlich! Der Jüngling, der angab, Hufschmied zu sein. Wie hieß er doch gleich? Byar hielt sein Pferd vor ihm an und legte die Hand aufs Herz: »Das Dorf ist abgesichert, Lordhauptmann.«
Dorfbewohner in Schafsledermänteln drängten sich nervös, als weißgekleidete Soldaten sie in der Nähe der überladenen Karren vor der Schenke zusammentrieben. Weinende Kinder klammerten sich an die Röcke der Mütter, aber niemand wirkte aufsässig. Die Blicke der Erwachsenen wirkten stumpf. Sie warteten untätig darauf, was man mit ihnen anfangen würde. Dafür war Bornhald dankbar. Er wollte wirklich an diesen Menschen kein Exempel statuieren oder noch mehr Zeit verschwenden.
Er stieg ab und warf einem der Kinder die Zügel zu. »Sorg dafür, daß die Männer zu essen bekommen, Byar.
Steck die Gefangenen mit so viel Lebensmitteln und Wasser, wie sie tragen können, in die Schenke, und laß alle Fenster und Türen zunageln. Laß sie in dem Glauben, daß ich einige Männer als Wächter zurücklassen werde, ja?«
Byar berührte wieder seine Herzgegend, riß sein Pferd herum und schrie Befehle. Man trieb die Gefangenen in das niedrige Gebäude der Schenke, während andere von den Kindern in den umliegenden Häusern nach Hämmern und Nägeln suchten.
Als er die hoffnungslosen Gesichter an sich vorbeiziehen sah, dachte Bornhald, daß es bestimmt zwei oder drei Tage dauern werde, bis ein paar von ihnen den Mut aufbrächten, aus der Schenke auszubrechen und feststellten, daß gar keine Wächter da waren. Zwei oder drei Tage reichten ihm voll und ganz, aber jetzt im Augenblick wollte er die Seanchan nicht auf seine Anwesenheit aufmerksam machen.
Er hatte genug Männer zurückgelassen, um die Zweifler zu täuschen. Sie glaubten, seine ganze Legion sei noch über die Ebene von Almoth verteilt, während er, ohne Alarm auszulösen, wie er glaubte, mehr als tausend Soldaten der Kinder beinahe durch die ganze TomanHalbinsel geführt hatte. Drei Scharmützel mit Patrouillen der Seanchan waren schnell beendet gewesen. Die Seanchan hatten sich daran gewöhnt, nur vereinzelt auf schnell kapitulierende Überreste der besiegten Armee zu treffen und die Kinder des Lichts hatten für sie eine tödliche Überraschung dargestellt. Und doch kämpften die Seanchan wie die Teufel, und er würde sich immer an das eine Scharmützel erinnern, das ihn mehr als fünfzig Männer gekostet hatte. Er war noch nicht sicher, welche der mit Pfeilen gespickten Frauen, die er hinterher vor seinen Männern liegen sah, die Aes Sedai gewesen waren.
»Byar!« Einer von Bornhalds Männern reichte ihm eine Tonschale mit Wasser aus einem der Karren. Das Wasser floß ihm eiskalt durch die Kehle. Der Mann mit dem hageren Gesicht schwang sich aus dem Sattel. »Ja, Lordhauptmann?«
»Wenn ich mich dem Feind stelle, Byar«, sagte Bornhald bedächtig, »wirst du nicht am Kampf teilnehmen. Du wirst ihn aus der Entfernung beobachten und meinem Sohn die Kunde überbringen, was geschehen ist.«
»Aber, Lordhauptmann...!«
»Das ist ein Befehl, Kind Byar!« fauchte er. »Du hast zu gehorchen!«
Byar versteifte sich und blickte stur geradeaus. »Wie Ihr befehlt, Lordhauptmann.«
Bornhald musterte ihn einen Moment lang. Der Mann würde tun, was man ihm befahl, aber es wäre besser, ihm noch einen stichhaltigeren Grund zu liefern als den, Dain zu berichten, wie sein Vater gestorben war. Es war ja so, daß er durchaus wichtige Informationen besaß, die man in Amador dringend benötigte. Seit diesem Kampf gegen Aes Sedai... (War es nur eine von ihnen oder beide? Dreißig Soldaten der Seanchan, gute Kämpfer, und dazu zwei Frauen verlangten uns doppelt so viele Opfer ab.) Seit diesem Kampf erwartete er nicht mehr, die TomanHalbinsel lebendig zu verlassen. Falls die Seanchan wirklich nicht dafür sorgen sollten, daß er hier starb, würden wahrscheinlich anschließend die Zweifler dafür sorgen.
»Wenn du meinen Sohn gefunden hast — er wird sich bei Lordhauptmann Eamon Valda in der Nähe von Tar Valon aufhalten — und es ihm mitgeteilt hast, reitest du nach Amador und berichtest dem Kommandanten Pedron Niall persönlich, Kind Byar. Du wirst ihm berichten, was wir über die Seanchan herausgefunden haben. Ich werde es dir aufschreiben. Er soll von dir erfahren, daß die Hexen von Tar Valon sich nicht mehr damit begnügen, aus dem Dunklen heraus die Fäden zu ziehen. Wenn sie nun ganz offen für die Seanchan kämpfen, werden wir uns an allen Fronten auf den Kampf gegen sie vorbereiten müssen.« Er zögerte. Das letzte war am wichtigsten. Sie mußten unter der Kuppel der Wahrheit erfahren, daß die Aes Sedai trotz ihrer Eide in den Kampf gezogen waren. Es war ein bitteres Gefühl, in einer Welt zu leben, wo Aes Sedai die Macht zum Töten einsetzten. Er würde es nicht sehr bedauern, eine solche Welt zu verlassen. Doch es gab noch eine weitere Nachricht, die er nach Amador übermitteln wollte. »Und, Byar... sag Pedron Niall, wie wir von den Zweiflern für ihre Zwecke benutzt wurden.«
»Wie Ihr befehlt, Lordhauptmann«, sagte Byar, aber Bornhald seufzte, als er seinen Gesichtsausdruck wahrnahm. Der Mann verstand nichts. Für Byar waren Befehle eben Befehle, gleichgültig, ob sie vom Lordhauptmann stammten oder von den Zweiflern, und gleichgültig, was sie bedeuteten.
»Ich werde dir auch das für Pedron Niall aufschreiben«, sagte er. Er war nicht sicher, ob das etwas nutzen würde. Ein Gedanke kam ihm, und er betrachtete gedankenverloren die Schenke. Ein paar seiner Männer hämmerten laut und nagelten Bretter vor Türen und Fenster. »Perrin«, murmelte er, »so hieß er. Perrin, und er kam von den Zwei Flüssen.«
»Der Schattenfreund, Lordhauptmann?«
»Vielleicht, Byar.« Er war sich da nicht so sicher, aber andererseits — was sollte ein Mann sonst sein, der Wölfe für sich kämpfen ließ? Und dieser Perrin hatte zwei der Kinder getötet. »Ich glaubte, ihn gesehen zu haben, als wir hier einritten, aber unter den Gefangenen war niemand, der wie ein Hufschmied aussah.«
»Ihr Schmied ist vor einem Monat weggezogen, Lordhauptmann. Einige von ihnen haben sich beschwert und gemeint, sie wären besser auch gleich weggezogen, wenn sie nun niemanden mehr hätten, der ihnen die Wagenräder repariert. Glaubt Ihr, es war dieser Perrin, Lordhauptmann?«
»Wer es auch gewesen sein mag, er ist jedenfalls verschwunden, oder? Und es kann sein, daß er den Seanchan von uns berichtet.«
»Das täte ein Schattenfreund gewiß, Lordhauptmann.«
Bornhald trank den letzten Schluck Wasser und warf die Schale weg. »Hier gibt es für die Männer nichts zu essen, Byar. Ich werde mich auch nicht von den Seanchan im Schlaf überraschen lassen, ob es nun dieser Perrin von den Zwei Flüssen ist, der uns verrät, oder sonst jemand. Laß die Legion aufsitzen, Kind Byar!«
Hoch über ihren Köpfen kreiste unbemerkt ein riesiges geflügeltes Geschöpf.
In der Lichtung im Dickicht einer Hügelspitze, wo sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, übte Rand mit dem Schwert. Er wollte sich selbst vom Grübeln ablenken. Er hatte wie alle anderen mit Hurin seine Runden gedreht, um Fains Spur zu suchen — immer zu zweit oder zu dritt, damit sie nicht auffielen —, aber gefunden hatten sie bisher nichts. Jetzt warteten sie darauf, daß Perrin und Mat mit dem Schnüffler zurückkehrten. Sie hätten schon seit Stunden da sein sollen.
Loial las wie üblich. Man konnte dem Zucken seiner Ohren nicht ansehen, ob es dem Gelesenen galt oder der Verspätung des Suchtrupps. Uno und die meisten anderen schienarischen Soldaten saßen angespannt herum, ölten ihre Schwerter oder hielten Wache, als erwarteten sie jeden Moment das Auftauchen der Seanchan. Nur Verin schien das alles nichts auszumachen. Die Aes Sedai saß auf einem Baumstamm neben ihrem kleinen Lagerfeuer und kritzelte mit einem Stock auf dem Boden herum. Manchmal schüttelte sie den Kopf und wischte alles mit dem Fuß weg, und dann fing sie von neuem an. Die Pferde waren gesattelt und aufbruchbereit. Jedes Tier war an eine im Boden steckende Lanze gebunden.
»Der Reiher watet durchs Schilf«, sagte Ingtar. Er saß an einen Baum gelehnt da, schärfte sein Schwert mit einem Wetzstein und beobachtete Rand. »Mit dem solltet Ihr Euch nicht abgeben. Da steht Ihr deckungslos da.«
Einen Moment lang stand Rand nur noch auf den Zehenspitzen eines Fußes, hielt das Schwert mit beiden Händen umgedreht über dem Kopf, dann verlagerte er das Gewicht geschmeidig auf den anderen Fuß. »Lan meint, das sei gut, um das Gleichgewichtsgefühl zu schulen.« Es war nicht leicht, die Balance zu halten. Im Nichts schien es ihm oft, als könne er sich sogar auf einem rollenden Felsblock halten, aber hier wagte er nicht, das Nichts heraufzubeschwören. Er wollte einfach auf seine eigenen Fähigkeiten vertrauen.
»Was man zu oft einübt, benutzt man, ohne weiter nachzudenken. Wenn Ihr schnell seid, könnt Ihr den anderen Mann auf diese Art mit dem Schwert durchbohren, aber Ihr habt dann todsicher seines in den Rippen. Ihr ladet ihn förmlich dazu ein. Ich glaube nicht, daß ich der Versuchung widerstehen könnte, ihn damit zu erwischen, obwohl ich wüßte, daß auch er mich dabei töten könnte.«
»Ich schule doch nur mein Gleichgewichtsgefühl, Ingtar.« Rand schwankte auf einem Bein und mußte schnell den anderen Fuß hinstellen, um nicht zu stürzen. Er rammte die Klinge in die Scheide und hob den grauen Umhang auf, der ihm als Verkleidung gedient hatte. Er war mottenzerfressen und ausgefranst, aber mit dickem Pelz besetzt, und der Wind frischte auf. Er kam kalt aus dem Westen herangefegt. »Ich wünschte, sie wären zurück.«
Als habe dieser Wunsch ein Signal gesetzt, sagte Uno ruhig und eindringlich: »Blutige Reiter kommen, Lord Ingtar.« Scheiden klapperten, als die Männer ihre Schwerter zogen, die sie vorher noch nicht entblößt hatten. Ein paar sprangen in die Sättel und zogen ihre Lanzen aus dem Boden.
Die Spannung löste sich jedoch schnell, denn Hurin führte die anderen im Trab auf die Lichtung. Doch dann durchfuhr es die Männer erneut, denn Hurin verkündete: »Wir haben die Spur gefunden, Lord Ingtar.«
»Wir sind ihr fast bis Falme gefolgt«, erzählte Mat beim Absteigen. Seine blassen Wangen schienen gerötet und täuschten Gesundheit vor, doch die Haut spannte sich straff über dem Schädel. Die Schienarer umringten ihn, denn er erzählte aufgeregt weiter: »Es ist nur Fain, aber er kann gar nicht anderswohin gezogen sein. Er muß den Dolch bei sich haben.«
»Wir haben auch Weißmäntel getroffen«, sagte Perrin, als er sich aus dem Sattel schwang. »Hunderte!«
»Weißmäntel?« rief Ingtar mit finsterem Blick. »Hier? Na ja, wenn sie uns keine Schwierigkeiten bereiten, machen wir ihnen auch keine. Vielleicht lenken sie die Seanchan ab und helfen uns damit, das Horn aufzuspüren.«
Sein Blick fiel auf Verin, die noch immer am Feuer kauerte. »Jetzt werdet Ihr mir sicherlich sagen, ich hätte gleich auf Euch hören sollen, Aes Sedai. Der Mann ist wirklich nach Falme geritten.«
»Das Rad webt, wie es will«, antwortete Verin gelassen. »Bei Ta'veren ist es vorbestimmt, was geschehen wird. Vielleicht hat das Muster diese beiden Tage Verzögerung verlangt. Das Muster ordnet alles ganz genau, und wenn wir versuchen, den Lauf der Dinge abzuändern und auch noch Ta'veren darin verwickelt sind, dann ändert sich die Webart und führt uns zurück in das ursprüngliche Muster.« Es herrschte gereiztes Schweigen, das sie nicht zu bemerken schien. Sie kritzelte wieder abwesend mit ihrem Stock auf dem Boden herum. »Jetzt, glaube ich allerdings, ist es an der Zeit, Pläne zu schmieden. Das Muster hat uns nun endlich nach Falme gebracht. Das Horn von Valere wurde ebenfalls dorthin gebracht.«
Ingtar hockte sich ihr gegenüber ans Feuer. »Wenn genügend Leute das gleiche behaupten, neige ich dazu, ihnen zu glauben. Die Leute hier sagen, daß sich die Seanchan nicht darum kümmern, wer nach Falme kommt oder von dort weggeht. Ich werde Hurin und ein paar andere in die Stadt bringen. Wenn er Fains Spur bis zum Horn folgt... Nun, wir werden ja sehen.«
Mit dem Fuß entfernte Verin ein Rad, das sie in die lockere Erde gekratzt hatte. Statt dessen zeichnete sie nun zwei kurze Linien, die sich an einem Ende trafen. »Ingtar und Hurin. Und Mat, weil er den Dolch spürt, wenn er ihm nahe genug ist. Du willst doch mit, Mat, oder?«
Mat wirkte innerlich zerrissen, doch er nickte. Es war mehr ein Kopfzucken. »Ich muß wohl. Ich muß diesen Dolch finden.«
Eine dritte Linie machte aus dem Bild die Fußspur eines Vogels. Verin sah Rand von der Seite her an.
»Ich komme mit«, sagte er. »Deshalb bin ich schließlich hergekommen.« Die Aes Sedai blickte ihn auf ganz seltsame Art an. Ihr wissendes Lächeln machte ihn unruhig. »Ich will ja Mat helfen, den Dolch wiederzufinden«, sagte er in scharfem Ton, »und natürlich Ingtar, das Horn aufzuspüren.« Und Fain, fügte er im Inneren hinzu. Ich muß Fain finden, falls es nicht schon zu spät ist. Verin ritzte eine vierte Linie ein, was die Vogelspur in einen etwas schiefen Stern verwandelte. »Und wer noch?« fragte sie leise. Sie hielt den Stock immer noch bereit.
»Ich«, sagte Perrin einen Augenblick, bevor Loial sagen konnte: »Ich denke, ich käme auch gern mit.« Dann schlossen sich auch noch Uno und die anderen Soldaten an.
»Perrin war zuerst dran«, sagte Verin, als sei das entscheidend gewesen. Sie fügte eine fünfte Linie hinzu und zog einen Kreis um alle fünf. Rand sträubten sich die Nackenhaare. Es war das gleiche Rad, das sie vorher entfernt hatte. »Fünf kämpfen für das Licht«, murmelte sie.
»Ich sähe wirklich gern einmal Falme«, sagte Loial. »Ich habe auch noch nie das Aryth-Meer gesehen. Außerdem kann ich die Truhe tragen, falls das Horn noch drin liegt.«
»Ihr solltet aber wenigstens mich mitnehmen, Lord Ingtar«, sagte Uno. »Ihr und Lord Rand braucht noch ein Schwert zur Rückendeckung, wenn diese blutigen Seanchan versuchen, Euch aufzuhalten.« Die anderen Soldaten murmelten zustimmend.
»Seid doch keine Narren!« schimpfte Verin. Ihr Blick brachte sie alle zum Schweigen. »Ihr könnt nicht alle gehen. Auch wenn die Seanchan nicht auf Fremde achten, werden sie doch zwanzig Soldaten bemerken, und Ihr seht auch ohne Rüstungen wie Soldaten aus. Und nur ein oder zwei von Euch bringen nicht viel. Fünf — das sind zu wenige, um Aufsehen zu erregen, und es paßt, daß drei davon Ta'veren sind. Nein, Loial, Ihr müßt auch zurückbleiben. Auf der Toman-Halbinsel gibt es keine Ogier. Ihr würdet mehr Blicke auf Euch ziehen als der ganze Rest zusammen.«
»Wie steht es mit Euch?« fragte Rand.
Verin schüttelte den Kopf. »Ihr vergeßt die Damane.« Ihr Mund verzog sich dabei vor Ekel. »Ich könnte Euch nur helfen, indem ich die Macht gebrauche, und das wäre alles andere als eine Hilfe, denn ich würde sie nur auf Euch aufmerksam machen. Auch wenn uns keine beobachtet, so könnte doch eine von ihnen eine Frau oder auch einen Mann fühlen, wenn sie die Macht benützen. Man dürfte ohnehin nur ein winziges bißchen der Macht gebrauchen.« Sie sah Rand dabei nicht an. Sie schien ihn sowieso dauernd zu übersehen. Mat und Perrin waren plötzlich brennend an ihren Füßen interessiert.
»Ein Mann«, schnaubte Ingtar. »Verin Sedai, warum noch mehr Probleme schaffen? Wir haben doch schon genug davon, ohne auch noch Männer zu brauchen, die mit der Macht umgehen. Aber es wäre gut, Euch dabeizuhaben. Falls wir Euch brauchen... «
»Nein, Ihr fünf müßt allein gehen.« Ihr Fuß schabte über das Rad, das sie in den Boden gekratzt hatte, und löschte es zum Teil aus. Sie musterte einen nach dem anderen mit gerunzelter Stirn. »Fünf reiten aus und kämpfen für das Licht.«
Einen Augenblick lang schien Ingtar sie trotzdem noch einmal fragen zu wollen, doch nach einem Blick in ihre Augen zuckte er die Achseln und wandte sich Hurin zu:
»Wie lange brauchen wir nach Falme?«
Der Schnüffler kratzte sich am Kopf. »Wenn wir die ganze Nacht durchreiten, sind wir morgen bei Sonnenaufgang dort.«
»Dann tun wir genau das. Ich werde keine Zeit mehr verschwenden. Auf Eure Pferde! Uno, du führst die anderen hinter uns her, aber außer Sichtbereich! Laßt euch von niemandem... «
Rand betrachtete das in die Erde gekratzte Rad, während Ingtar seine Befehle ausgab. Jetzt war das Rad natürlich nur noch teilweise vorhanden — vier Speichen waren übrig. Aus irgendeinem Grund schauderte ihn. Er bemerkte, daß Verin ihn beobachtete. Der Blick aus ihren dunklen Augen wirkte so scharf und eindringlich wie der eines Raubvogels. Mit Mühe riß er den Blick los und begann, sein Gepäck aufzuladen.
Du siehst schon Gespenster, sagte er sich nervös. Sie kann nichts tun, wenn sie nicht dabei ist.