Nynaeve sah sich mißtrauisch in dem riesigen Raum tief unter der Weißen Burg um, und genauso mißtrauisch betrachtete sie auch Sheriam, die an ihrer Seite stand. Die Oberin der Novizinnen machte einen erwartungsvollen, ja sogar ein wenig ungeduldigen Eindruck. Während der wenigen Tage in Tar Valon hatte Nynaeve bei den Aes Sedai nur Gelassenheit erlebt und eine lächelnde Hinnahme der auf sie zukommenden Ereignisse.
Der Kuppelsaal war aus dem Grundgestein der Insel herausgehauen worden. Der Schein der auf hohen Podesten befestigten Lampen wurde von blassen glatten Steinwänden reflektiert. Genau unter der Mitte der Kuppel befanden sich drei oben abgerundete silberne Torbogen, jeder Bogen gerade hoch genug, daß ein Mensch ihn durchschreiten konnte und dergestalt auf einem breiten silbernen Ring befestigt, daß die Torbogen sich gegenseitig berührten. Bogen und Ring waren aus einem einzigen Stück gefertigt. Nynaeve konnte nicht sehen, was innerhalb dieses Dreiecks lag, denn dort flackerte das Licht unruhig, und wenn sie zu lange hinblickte, begann ihr Magen im gleichen Rhythmus zu flattern. Wo ein Bogen den Ring berührte, saß jeweils eine Aes Sedai im Schneidersitz auf dem blanken Steinboden und sah unverwandt das silberne Gebilde an. Eine weitere stand in der Nähe neben einem schlichten Tisch, auf dem drei große Silberschalen standen. Jede Schale, das wußte Nynaeve — zumindest hatte man ihr das gesagt — war mit klarem Wasser gefüllt. Alle vier Aes Sedai trugen, genau wie Sheriam, ihre Stolen. Die von Sheriam hatte blaue Fransen, die der dunkelhäutigen Aes Sedai am Tisch rote, und Grün, Weiß und Grau waren die Farben der drei Frauen an den Bogen. Nynaeve trug immer noch eines der Kleider, die man ihr in Fal Dara gegeben hatte: blaßgrün, mit kleinen weißen Blüten bestickt.
»Zuerst laßt Ihr mich von früh bis spät Däumchen drehen«, knurrte Nynaeve leise, »und jetzt muß plötzlich alles husch-husch gehen.«
»Die richtige Stunde wartet nicht auf eine Frau«, antwortete Sheriam. »Das Rad webt, wie das Rad es will und wann es will. Geduld ist eine Tugend, die man erlernen muß, aber wir sollten auch auf augenblickliche Veränderungen vorbereitet sein.«
Nynaeve bemühte sich, nicht wieder wütend dreinzublicken. Was sie an der Aes Sedai mit dem Flammenhaar am meisten ärgerte, war die Angewohnheit, Dinge so auszudrücken, als zitiere sie irgendwelche Weisheiten, obwohl das gar nicht stimmte. »Was ist das für ein Ding?«
»Ein TerAngreal.«
»Na ja, das sagt mir nichts. Wozu ist es da?«
»Ein TerAngreal kann vielerlei Dinge, Kind. Wie ein Angreal und ein SaAngreal ist er eines der Überbleibsel aus dem Zeitalter der Legenden, dessen Wirkung auf der Einen Macht beruht; er ist aber nicht so selten wie die beiden anderen. Während einige TerAngreal, so wie dieser, von Aes Sedai bedient werden müssen, genügt es bei anderen schon, wenn eine Frau zugegen ist, die die Macht lenken kann. Angeblich gibt es sogar ein paar, die jedermann benutzen kann. Im Unterschied zu den Angreal und SaAngreal wurden sie hergestellt, um ganz bestimmte Dinge zu vollbringen. Ein anderer, den wir ebenfalls in der Burg haben, macht jeden Eid absolut bindend. Wenn Ihr zur vollen Schwesternschaft erhoben werdet, dann sprecht Ihr Euren Treueeid, während Ihr diesen TerAngreal in den Händen haltet. Kein Wort zu sagen, das nicht wahr ist. Keine Waffe herzustellen, mit der ein Mensch einen anderen töten kann. Die Eine Macht niemals als Waffe zu verwenden, außer gegen Schattenfreunde oder Abkömmlinge des Schattens oder um in der höchsten Not das eigene Leben oder das Eures Behüters zu verteidigen, oder natürlich das einer anderen Schwester.«
Nynaeve schüttelte den Kopf. Es klang einerseits danach, als sei zuviel in diesen Schwur eingebaut, aber andererseits auch wieder zu wenig. Sie sagte das auch ganz deutlich.
»Einst verlangte man von den Aes Sedai nicht, daß sie einen Eid schwören mußten. Es war bekannt, was Aes Sedai waren und wofür sie standen, und das reichte vollauf. Viele von uns wünschen sich, es wäre noch genauso. Aber das Rad dreht sich, und die Zeiten ändern sich. Die Tatsache, daß wir diese Eide ablegen und daran gebunden sind, erlaubt den Staaten, Beziehungen zu uns zu unterhalten, ohne fürchten zu müssen, daß wir unsere Macht, die Eine Macht, gegen sie einsetzen. Wir entschieden uns zwischen den Trolloc-Kriegen und dem Hundertjährigen Krieg für diesen Weg, und nur deshalb steht die Weiße Burg noch immer, und wir sind noch immer in der Lage, alles in unserer Macht Stehende gegen den Schatten zu unternehmen.« Sheriam holte tief Luft. »Licht, Kind, ich versuche, Euch Dinge beizubringen, die jede andere Frau an Eurer Stelle im Verlauf von Jahren gelernt hätte. Das ist einfach nicht möglich. Was jetzt für Euch am wichtigsten ist, das ist der TerAngreal. Wir wissen nicht, warum sie angefertigt wurden. Wir wagen es lediglich, eine Handvoll von ihnen zu benützen, und die Methoden, die wir anzuwenden wagen, entsprechen vielleicht überhaupt nicht den Zwecken ihrer Hersteller. Die meisten dieser Zwecke haben wir zu einem hohen Preis vermeiden gelernt. Das zu lernen, hat im Laufe der Jahre viele Aes Sedai das Leben gekostet, und bei anderen brannten die Fähigkeiten vollständig aus.«
Nynaeve schauderte. »Und Ihr wollt, daß ich da hineingehe?« Das Flackern des Lichts innerhalb der Bogen hatte jetzt nachgelassen, aber sie konnte das Innere nach wie vor nicht erkennen.
»Wir wissen, was dort drinnen geschieht. Ihr werdet von Angesicht zu Angesicht Euren größten Ängsten gegenüberstehen.« Sheriam lächelte süß. »Niemand wird Euch fragen, was Ihr gesehen habt; Ihr müßt nicht mehr sagen, als Ihr wollt. Die Ängste einer Frau gehören nur ihr selbst.«
Nynaeve dachte kurz an ihre Angst vor Spinnen, besonders im Dunklen, aber sie glaubte nicht, daß Sheriam von solchen Ängsten sprach. »Ich gehe einfach durch einen Torbogen und komme in einem anderen wieder heraus? Dreimal hindurch und dann ist es geschafft?«
Die Aes Sedai zuckte mit der Schulter, damit ihre Stola wieder in die richtige Lage kam. »Falls Ihr es so kurz und bündig ausdrücken wollt, dann ja«, sagte sie trocken. »Ich sagte Euch auf dem Weg hierher bereits alles, was Ihr über die Zeremonie wissen müßt, also das, was jede Frau vorher erfahren darf. Wenn Ihr eine Novizin wärt, die vor dieser Aufgabe stünde, wüßtet Ihr alles auswendig, aber macht Euch trotzdem keine Gedanken über mögliche Fehler. Wenn nötig, sage ich es Euch vor. Seid Ihr auch bestimmt bereit, dies auf Euch zu nehmen? Wenn Ihr jetzt lieber aufgeben wollt, kann ich Euren Namen noch immer ins Register der Novizinnen eintragen.« »Nein!«
»Also gut. Ich werde Euch jetzt zwei Dinge erklären, die keine Frau hört, bevor sie sich in diesem Raum befindet. Das erste ist folgendes: Wenn Ihr diese Prüfung beginnt, müßt Ihr sie auch bis zum Ende durchstehen. Weigert Ihr Euch, weiterzugehen, dann werdet Ihr — ganz gleich, wie groß Euer Potential auch sein mag —freundlich aus der Burg gewiesen, bekommt genug Silber, um Euch ein Jahr lang zu versorgen, und dürft nie mehr zurückkehren.« Nynaeve öffnete den Mund, um zu sagen, daß sie nicht aufgeben werde, doch Sheriam schnitt ihr mit einer abrupten Geste das Wort ab. »Hört zu und sprecht nur dann, wenn Ihr wißt, was Ihr sagen müßt. Zweitens: Zu suchen und nach etwas zu streben, heißt auch, sich in Gefahr begeben. Hier wird Euch die Gefahr begegnen. Einige Frauen sind hineingegangen und nie wieder herausgekommen. Als man dem TerAngreal gestattete, sich zu beruhigen, waren sie einfach nicht mehr da. Und man hat sie nie mehr gesehen. Wenn Ihr überleben wollt, müßt Ihr standhaft bleiben. Zweifelt, versagt, und... « Ihr Schweigen sagte mehr als Worte. »Das ist jetzt Eure letzte Gelegenheit, Kind. Ihr könnt jetzt, noch in diesem Moment, umkehren, und ich werde Euren Namen in das Register der Novizinnen eintragen, und es wird nur eine einzige negative Eintragung für Euch geben. Zwei weitere Male wird man Euch gestatten, hierherzukommen, und erst beim dritten Verweigern werdet Ihr aus der Burg gewiesen. Es ist keine Schande, die Prüfung abzubrechen. Viele tun das. Ich war selbst nicht in der Lage, hineinzugehen, als ich zum erstenmal hier war. Jetzt könnt Ihr Euch äußern.«
Nynaeve sah die silbernen Torbogen aus den Augenwinkeln an. Das Licht darin flackerte nicht mehr; das Innere war von einem weichen weißen Glühen erfüllt. Um zu lernen, was sie lernen wollte, mußte sie die Freiheiten einer Aufgenommenen besitzen: in Frage zu stellen, selbständig zu studieren und nicht mehr Anleitung zu erhalten, als sie wünschte. Moiraine muß dafür bezahlen, was sie uns angetan hat. Ich muß. »Ich bin bereit.«
Sheriam ging langsam in den Raum hinein. Nynaeve schritt neben ihr her.
Als sei dies ein Signal, sprach die Rote Schwester mit lauter Stimme in feierlichem Singsangton: »Wen bringst du mit, Schwester?« Die drei Aes Sedai am TerAngreal konzentrierten ihre Aufmerksamkeit weiterhin auf das Gebilde.
»Eine, die als Kandidatin kommt, um aufgenommen zu werden, Schwester«, antwortete Sheriam genauso feierlich.
»Ist sie bereit?«
»Sie ist bereit, hinter sich zurückzulassen, was sie war, ihre Ängste zu bezwingen und aufgenommen zu werden.« »Kennt sie ihre Ängste?«
»Sie hat ihnen noch nie gegenübergestanden, aber nun ist sie willens dazu.«
»Dann laßt sie dem gegenübertreten, was sie fürchtet.«
Sheriam blieb zwei Spannen weit vor den Bogen stehen, und Nynaeve blieb ebenfalls stehen. »Euer Kleid«, flüsterte Sheriam, ohne sie anzusehen.
Nynaeve lief rot an, weil sie bereits vergessen hatte, was ihr Sheriam auf dem Weg von ihrem Zimmer herunter gesagt hatte. Schnell zog sie ihre Kleider, Schuhe und Strümpfe aus. Einen Augenblick lang vergaß sie beinahe die Torbogen, während sie damit beschäftigt war, ihre Kleidung zu falten und sauber wegzulegen. Sie steckte Lans Ring sorgfältig unter ihr Kleid, denn sie wollte nicht, daß er angestarrt wurde. Dann war sie fertig, und der TerAngreal war immer noch da und wartete auf sie.
Der Steinboden unter ihren bloßen Füßen war kalt, und sie bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper, doch sie stand aufrecht und atmete ruhig. Sie wollte niemandem zeigen, daß sie Angst hatte.
»Das erste Mal steht für das, was war«, sagte Sheriam. »Der Weg zurück erscheint nur ein einziges Mal. Seid standhaft.«
Nynaeve zögerte. Dann trat sie vor, ging durch den Bogen hindurch und in das Glühen hinein. Es umgab sie, als glühe die Luft selbst, als ertrinke sie im Licht. Das Licht war überall. Das Licht war alles.
Nynaeve fuhr zusammen, als ihr klar wurde, daß sie nackt war, und dann sah sie sich erstaunt um. Auf beiden Seiten befand sich eine Steinmauer, zweimal so hoch wie sie und glattgeschliffen. Ihre Zehen wühlten im Staub eines unebenen Pflasters. Der Himmel über ihr schien bleiern und ohne Tiefe, trotz des Fehlens aller Wolken, und die Sonne hing aufgebläht und rot über ihr. Nach beiden Seiten zu entdeckte sie Durchgänge in den Mauern, die durch kurze quadratische Säulen markiert waren. Obwohl die Mauern ihr Gesichtsfeld einengten, sah sie, daß der Boden sich von ihrem Standpunkt aus sowohl nach vorn wie auch nach hinten senkte. Durch die Durchgänge erblickte sie weitere dicke Mauern und dazwischen Wege. Sie befand sich in einem gigantischen Labyrinth.
Wo bin ich? Wie bin ich hierhergekommen? Wie von einer anderen Stimme gesprochen, kam ein weiterer Gedanke: Der Weg hinaus erscheint nur ein einziges Mal.
Sie schüttelte den Kopf. »Wenn es nur einen einzigen Weg hinaus gibt, dann finde ich ihn nicht, indem ich hier herumstehe.« Wenigstens war die Luft warm und trocken. »Hoffentlich finde ich etwas zum Anziehen, bevor ich Leute treffe«, murmelte sie.
Sie erinnerte sich noch schwach daran, daß sie als Kind Labyrinthe aufgezeichnet hatte; es hatte irgendeinen Trick gegeben, den Weg hinaus zu finden, doch er wollte ihr einfach nicht mehr einfallen. Alles an ihrer Vergangenheit erschien ihr so vage, als habe es jemand anders erlebt. Sie ging los und streifte dabei mit einer Hand an der Mauer entlang. Unter ihren bloßen Füßen erhoben sich Staubwölkchen.
Am ersten Durchgang angekommen, blickte sie in einen weiteren Gang, der sich von dem nicht zu unterscheiden schien, in dem sie sich befand. Sie atmete tief durch und ging geradeaus weiter durch neue Gänge, die alle genau gleich aussahen. Schließlich teilte sich der Gang. Sie entschied sich für links, und später teilte sich dieser Gang wieder. Erneut ging sie nach links. Bei der dritten Abzweigung führte sie der linke Gang in eine Sackgasse.
Mit grimmiger Miene ging sie zur letzten Abzweigung zurück und nahm den rechten Gang. Diesmal erreichte sie nach dem vierten Rechtsabbiegen eine Sackgasse. Für einen Augenblick stand sie nur da und blickte wütend auf die Abschlußmauer. »Wie bin ich hergekommen?« fragte sie laut. »Wo liegt dieser Ort eigentlich?« Der Weg nach draußen erscheint nur ein einziges Mal.
Noch einmal wandte sie sich zurück. Sie war sicher, es müsse einen Kniff geben, um diesem Labyrinth zu entkommen. Bei der letzten Abzweigung hielt sie sich links und an der nachfolgenden rechts. Entschlossen machte sie so weiter. Links und dann rechts. Geradeaus, bis sie an eine Gabelung kam. Links, dann rechts.
Es schien ihr zu glücken. Zumindest war sie auf die Art bereits an einem Dutzend Abzweigungen vorbeigekommen, ohne wieder in einer Sackgasse zu landen. Sie erreichte eine weitere Gabelung.
Aus dem Augenwinkel erkannte sie eine huschende Bewegung. Als sie sich umdrehte und nachsehen wollte, lag da nur ein staubiger Gang zwischen glatten Steinmauern. Sie ging nach links und fuhr herum, weil sie wieder eine Bewegung wahrgenommen hatte. Es war nichts zu sehen, aber diesmal war sie sich trotzdem sicher. Hinter ihr war jemand gewesen. War immer noch jemand. Sie eilte beunruhigt in die andere Richtung davon.
Immer wieder sah sie nun am Rand ihres Gesichtsfeldes in diesem oder jenen Seitengang eine Bewegung, zu schnell, um Genaueres erkennen zu können, und bevor sie den Kopf drehte, um es klar zu sehen, war es wieder verschwunden. Sie rannte. Als sie noch ein Mädchen war, hatten zu Hause in den Zwei Flüssen nur wenige Jungen im Laufen mit ihr mithalten können. Die Zwei Flüsse? Was ist das?
Ein Mann trat aus einer Öffnung vor ihr. Seine dunkle Kleidung wirkte muffig und halb zerfallen und er war alt. Älter als alt. Eine Haut wie vergilbtes Pergament spannte sich so fest über seinen Schädel, als läge darunter kein bißchen Fleisch.
Dünne Büschel von brüchigem Haar bedeckten einen vernarbten Kahlkopf, und seine Augen waren so eingesunken, daß sie aus zwei Höhlen hervorzuspähen schienen.
Sie kam auf den unebenen Pflastersteinen rutschend zum Stehen. »Ich bin Aginor«, sagte er lächelnd, »und Euretwegen gekommen.«
Ihr Herz wollte den Brustkorb sprengen. Einer der Verlorenen. »Nein. Nein, das kann nicht sein!«
»Ihr seid ein hübsches Mädchen. Ich werde Euch genießen.«
Plötzlich erinnerte sich Nynaeve daran, daß sie keinen Fetzen Kleidung am Leib trug. Mit einem leichten Aufschrei und einem nicht nur vom Zorn geröteten Gesicht rannte sie weg, den nächsten der Querwege hinunter. Gackerndes Lachen und die Geräusche von schleifenden, rennenden Füßen verfolgte sie; die mit ihr Schritt hielten; dazu schweratmende Versprechen, was er alles tun werde, wenn er sie eingefangen hatte, Versprechen, die ihr den Magen schier umdrehten, obwohl sie kaum die Hälfte verstand.
Verzweifelt suchte sie nach einem Weg aus dem Labyrinth, sah sich ständig um, während sie mit geballten Fäusten weiterrannte. Der Weg hinaus erscheint nur ein einziges Mal. Seid standhaft. Nichts — immer nur dieses endlose Gewirr von Gängen und Mauern. So sehr sie auch rannte: Das schmutzige Geschwätz erklang immer direkt hinter ihr. Langsam verwandelte sich ihre Furcht in Zorn.
»Seng ihn«, schluchzte sie. »Licht, verseng ihn! Er hat kein Recht dazu!« In ihrem Inneren fühlte sie ein Blühen, ein Öffnen, ein sich Ausbreiten zum Licht hin.
Mit gefletschten Zähnen drehte sie sich zu ihrem Verfolger um, gerade in dem Moment, als Aginor halb hinkend, halb rennend, hinter ihr erschien.
»Ihr habt kein Recht dazu!« Sie streckte ihm die Faust entgegen. Ihre Finger öffneten sich, als würfe sie etwas. Sie war nicht allzu überrascht, als eine Feuerkugel aus ihrer Hand schoß.
Sie explodierte an Aginors Brust und warf ihn zu Boden. Nur einen Augenblick lang lag er dort, dann erhob er sich taumelnd. Er schien den schwelenden Mantel überhaupt nicht zu bemerken. »Ihr wagt es? Ihr wagt es!« Er bebte vor Zorn, und Speichel rann ihm über das Kinn.
Plötzlich standen Wolken am Himmel, bedrohliche graue und schwarze Schwaden. Blitze zuckten aus der Wolke über ihr und zielten auf ihr Herz.
Es schien ihr, nur einen Herzschlag lang, als verlangsame sich der Lauf der Zeit, als dauere dieser Herzschlag eine Ewigkeit. Sie fühlte den Strom in ihrem Körper — Saidar, sagte ihr ein ferner Gedanke —, fühlte im Blitz ein Entgegenkommen. Und sie änderte die Richtung des Energiestroms. Die Zeit sprang voran.
Mit einem lauten Krachen zerschmetterte der Blitz die Steine über Aginors Kopf. Der Verlorene riß die Augen auf und stolperte rückwärts. »Das könnt Ihr nicht tun! Das kann nicht sein!« Er sprang weg, als ein Blitz dort einschlug, wo er gerade noch gestanden hatte. Stein explodierte zu einem Regen von Splittern.
Entschlossen ging Nynaeve auf ihn zu. Und Aginor floh.
Saidar war wie eine Strömung, die durch sie hindurchschoß. Sie fühlte die Steine ihrer Umgebung, fühlte die winzigen Teilchen der Einen Macht, die sie durchdrangen und zusammenhielten. Und sie fühlte, wie Aginor auch... etwas... unternahm. Sie nahm es nur schwach und wie aus großer Entfernung wahr, als sei es etwas, das sie niemals wirklich verstehen könne, aber sie sah die Wirkung in ihrer Umgebung und wußte, was sie hervorrief.
Der Boden grollte und wölbte sich unter ihren Füßen auf. Mauern stürzten vor ihr um. Steinhaufen versperrten ihr den Weg. Sie kroch hinüber, kümmerte sich nicht darum, ob scharfkantige Steine ihr Hände und Füße blutig rissen. Sie mußte Aginor immer in Sichtweite behalten. Ein Sturm erhob sich, heulte durch die Gänge hinter ihr, wütete, bis ihr Tränen über die Wangen rannen, versuchte, sie zu Boden zu werfen. Sie änderte die Richtung, und dann taumelte Aginor den Gang wie ein entwurzelter Strauch entlang. Sie berührte den Strom der Macht im Boden, gab ihm eine neue Richtung, und die Steinmauern um Aginor stürzten und schlossen ihn ein. Blitze zuckten unter ihrem Blick vom Himmel, schlugen um ihn herum ein und kamen ihm immer näher. Sie fühlte, wie er darum kämpfte, sie wieder in ihre Richtung abzudrängen, aber die blendenden Einschläge näherten sich dem Verlorenen Fuß um Fuß.
Zu ihrer Rechten schimmerte etwas auf, von den zusammenbrechenden Mauern freigegeben.
Nynaeve fühlte, wie Aginor schwächer wurde, wie seine Bemühungen, sie zu treffen, immer schwächlicher und hektischer wurden. Doch sie wußte, daß er noch nicht aufgeben würde. Wenn sie ihn jetzt gehen ließ, würde er sie genauso wie vorher jagen, überzeugt davon, daß sie eben doch zu schwach sei, um ihn zu besiegen, zu schwach, um ihn davon abzuhalten, was er mit ihr vorhatte.
Ein silberner Torbogen erhob sich, wo vorher nur Stein gewesen war, ein mit weicher silberner Strahlung erfüllter Bogen. Der Weg zurück...
Sie merkte es, als der Verlorene seinen Angriff aufgab und von diesem Augenblick an alle Kräfte verwandte, um sich gegen sie zu wehren. Und seine Macht reichte nicht aus dafür; er konnte ihre Schläge nicht länger ablenken. Nun mußte er sich vor den Steinfontänen in Sicherheit bringen, die ihre Blitze hochschleuderten. Wieder warfen ihn diese Explosionen zu Boden.
Der Weg zurück erscheint nur ein einziges Mal. Seid standhaft.
Die Blitze zuckten nicht mehr vom Himmel. Nynaeve wandte sich von dem kriechenden Aginor ab, um den Bogen anzublicken. Sie sah zu Aginor zurück, gerade im rechten Augenblick, um zu sehen, wie er über Steinhaufen hinweg davon kroch und verschwand. Sie zischte enttäuscht durch die Zähne. Große Teile des Labyrinths standen noch, und in den Trümmern, die ihr Kampf hinterlassen hatte, gab es hundert neue Verstecke. Es würde Zeit kosten, ihn wiederzufinden, aber sie war sicher, wenn nicht sie ihn zuerst fände, dann würde er sie erneut aufspüren. Erholt und mit neuer Kraft würde er sie überfallen, wenn sie es am wenigsten erwartete.
Der Weg zurück erscheint nur ein einziges Mal.
In aufkeimender Angst sah sie sich um und war erleichtert, daß sich der Bogen noch dort befand. Wenn sie Aginor schnell aufspürte...
Seid standhaft.
Mit einem Aufschrei unterdrückten Zorns kletterte sie los, über die umgestürzten Steine hinweg auf das Tor zu. »Wer auch dafür verantwortlich sein mag, daß ich hier bin«, murmelte sie, »an dem werde ich mich so rächen, daß er wünscht, anstelle von Aginor zu sein. Ich werde... « Sie schritt in das Tor hinein, und das Licht überwältigte sie.
»Ich werde...« Nynaeve trat aus dem Tor und sah sich um. Es war alles so, wie in ihrer Erinnerung — der silberne TerAngreal, die Aes Sedai, der Raum —, aber alles das traf sie wie ein Schlag, als die verschwundenen Erinnerungen in ihren Kopf zurückkrachten. Sie war aus dem gleichen Bogen getreten, durch den sie den Raum verlassen hatte.
Die Rote Schwester hob eine der Silberschalen und goß einen Schwall kühlen klaren Wassers über Nynaeves Kopf. »Ihr seid gereinigt von aller Sünde, die Ihr begangen haben mögt«, sang die Aes Sedai, »und von den Sünden, die an Euch begangen wurden. Ihr seid gereinigt von allen Verbrechen, die Ihr begangen haben mögt, und von denen, die man an Euch begangen hat. Ihr kommt zu uns gewaschen und rein in Herz und Seele.«
Nynaeve schauderte, als das Wasser an ihrem Körper hinunterlief und auf den Boden tropfte.
Sheriam nahm sie mit einem erleichterten Lächeln beim Arm, aber aus der Stimme der Oberin der Novizinnen konnte sie nicht auf vorhergegangene Sorgen schließen. »Bisher macht Ihr Eure Sache gut. Zurückzukommen heißt, es gut zu machen. Denkt daran, was Ihr erreichen wollt, und dann wird es auch weiterhin gelingen.« Der Rotschopf führte sie um den TerAngreal herum zum nächsten Tor.
»Es sah so wirklich aus«, sagte Nynaeve im Flüsterton. Sie konnte sich an alles erinnern, auch wie sie die Eine Macht benützt hatte, als sei es genauso einfach, wie eine Hand zu erheben. Sie erinnerte sich an Aginor und was der Verlorene ihr hatte antun wollen. Sie schauderte wieder. »War es real?«
»Das weiß niemand«, antwortete Sheriam. »In der Erinnerung erscheint es real, und manche sind auch schon herausgekommen und hatten wirkliche Wunden, die sie drinnen erhalten hatten. Andere wieder hat man drinnen bis auf die Knochen durchbohrt, und sie sind ohne einen Kratzer herausgekommen. Es ist immer etwas Neues für jede Frau, die hineingeht. Die Alten behaupteten, es gebe viele Welten. Vielleicht bringt uns der TerAngreal zu ihnen. Aber sollte das der Fall sein, dann nur unter sehr eigenartigen Bedingungen für etwas, das einen nur von einem Ort zum anderen befördern soll. Ich glaube, es ist nichts Reales. Aber denkt daran, gleichgültig, ob das Geschehen wirklich ist oder nicht, die Gefahr ist jedenfalls so real wie ein Messer, das Euch ins Herz gestoßen wird.«
»Ich habe die Macht verwandt. Es war so leicht.«
Sheriam stolperte. »Man sagt, das sei nicht möglich. Ihr solltet Euch nicht einmal daran erinnern, die Macht gelenkt zu haben.« Sie musterte Nynaeve. »Und doch ist Euch nichts passiert. Ich kann die Fähigkeit immer noch in Euch fühlen, so stark wie vorher.«
»Ihr klingt, als sei das gefährlich«, meinte Nynaeve bedächtig, und Sheriam zögerte mit ihrer Antwort.
»Wir halten es nicht für notwendig, Euch davor zu warnen, da Ihr nicht in der Lage sein solltet, Euch überhaupt daran zu erinnern, aber... Dieser TerAngreal wurde während der Trolloc-Kriege gefunden. Wir haben Berichte über die damals angestellten Untersuchungen im Archiv. Die erste Schwester, die man hineinschickte, war so stark abgeschirmt wie überhaupt nur möglich, da niemand wußte, was geschehen würde. Sie behielt ihre Erinnerungen, und sie benützte die Eine Macht, als sie bedroht wurde. Und sie kam mit völlig ausgebrannten Fähigkeiten zurück, unfähig, die Macht zu lenken, unfähig sogar, die Wahre Quelle wahrzunehmen. Auch die zweite, die hineinging, war abgeschirmt, und auch sie wurde auf die gleiche Weise innerlich zerstört. Die dritte ging ungeschützt hinein, erinnerte sich drinnen an nichts und kehrte unversehrt zurück. Das ist ein Grund, warum wir Euch völlig ungeschützt hineinschicken. Nynaeve, Ihr dürft im TerAngreal die Macht nicht mehr benützen. Ich weiß, es ist schwer, sich an etwas zu erinnern, aber bemüht Euch.«
Nynaeve schluckte. Sie konnte sich an alles erinnern, auch daran, daß sie sich drinnen an nichts mehr erinnert hatte. »Ich werde die Macht nicht benützen«, sagte sie. Wenn ich mich daran erinnern kann. Sie hätte am liebsten hysterisch gelacht.
Sie hatten den nächsten Bogen erreicht. Das Glühen erfüllte nach wie vor alle. Sheriam warf Nynaeve einen letzten warnenden Blick zu und ließ sie dann allein.
»Das zweite Mal ist für das, was ist. Der Weg zurück erscheint nur ein einziges Mal. Seid standhaft.«
Nynaeve blickte den schimmernden Bogen an. Was wartet diesmal drinnen auf mich? Die anderen warteten und beobachteten sie. Sie trat entschlossen hindurch in das Licht.
Nynaeve blickte das einfache braune Kleid überrascht an, das sie trug. Dann fuhr sie zusammen. Warum sah sie ihr eigenes Kleid so an? Der Weg zurück erscheint nur ein einziges Mal. Sie lächelte, als sie sich umblickte. Sie stand am Rand des Dorfgrüns in Emondsfeld, um sie herum die schindelgedeckten Dächer und vor ihr die Weinquellenschenke. Die Weinquelle selbst quoll in einem kraftvollen Schwall aus dem Felsausläufer, der sich ins Gras des Grüns hineinschob, und der Weinquellenbach rauschte unter den Weiden neben der Schenke hindurch nach Osten. Die Straßen waren leer, aber die meisten Leute waren um diese Zeit des Vormittags bei der Arbeit.
Als sie die Schenke ansah, verflog ihr Lächeln. Sie wirkte mehr als nur ein bißchen vernachlässigt. Der Verputz war verblaßt, ein Fensterladen hing lose an einer Angel, das faulende Ende eines Dachbalkens zeigte sich in einer Lücke zwischen den Ziegeln. Was ist denn in Bran gefahren? Verbringt er so viel Zeit damit, Bürgermeister zu spielen, daß er vergißt, sich um seine Schenke zu kümmern? Die Tür der Schenke flog auf, und Cenn Buie trat heraus. Als er sie sah, blieb er wie angewurzelt stehen. Der alte Dachdecker wirkte so knorrig wie eine Eichenwurzel, und der Blick, den er ihr zuwarf, war genauso freundlich. »Also bist du zurückgekommen, was? Na ja, du kannst gleich wieder verschwinden.«
Sie runzelte die Stirn, als er vor ihr ausspuckte und an ihr vorbeieilte. Cenn war noch nie ein angenehmer Umgang gewesen, aber er war selten so offen unhöflich. Jedenfalls nicht zu ihr. Ihr Blick folgte ihm, und sie erblickte überall im Dorf Anzeichen von Vernachlässigung — Dächer, die schadhaft geworden waren, und Unkraut in den Höfen. Die Tür des Hauses von Frau al'Caar hing schief an einem gebrochenen Scharnier.
Nynaeve schüttelte den Kopf und trat in die Schenke. Ich werde mir Bran einmal richtig vornehmen müssen. Der Schankraum war leer bis auf eine einzelne Frau, die ihren dicken ergrauten Zopf über die Schulter geschlungen hatte. Sie wischte gerade einen Tisch ab, aber aus der Art, wie sie die Tischfläche anstarrte, schloß Nynaeve, daß sie gar nicht merkte, was sie tat. Der Raum erschien ihr staubig.
»Marin?«
Marin al'Vere zuckte zusammen, eine Hand an der Kehle, und sah sie mit großen Augen an. Sie wirkte um Jahre gealtert, seit Nynaeve sie zum letzten Mal gesehen hatte. Verbraucht. »Nynaeve? Nynaeve! Oh, du bist es wirklich! Egwene? Hast du Egwene zurückgebracht? Sag, daß sie da ist.«
»Ich... « Nynaeve drückte sich eine Hand gegen die Stirn. Wo ist Egwene? Es schien ihr, als sollte sie das wissen. »Nein, nein, ich habe sie nicht mitgebracht.« Der Weg zurück erscheint nur ein einziges Mal. Frau al'Vere sackte auf einen der Stühle mit ihren geraden hohen Lehnen. »Ich hatte so darauf gehofft. Seit Bran starb... «
»Bran ist tot?« Nynaeve konnte sich das nicht vorstellen; dieser breite, lächelnde Mann war ihr immer als ein Mensch erschienen, der nie aus ihrem Leben verschwinden könne. »Ich hätte hierbleiben sollen.«
Die Frau sprang auf und eilte zum Fenster und spähte ängstlich auf das Grün und das Dorf hinaus. »Wenn Malena erfährt, daß du hier bist, dann gibt es Ärger. Bestimmt hatte Cenn nichts Besseres zu tun, als zu ihr zu rennen. Er ist jetzt Bürgermeister.«
»Cenn? Wie konnten diese Wollköpfe ausgerechnet Cenn wählen?«
»Das war Malena. Sie brachte den ganzen Frauenzirkel dazu, daß sie ihre Männer beeinflußten, sie sollten Cenn wählen.« Marin drückte die Nase an der Fensterscheibe platt und versuchte gleichzeitig nach allen Seiten zu blicken. »Diese dummen Männer sprachen nicht darüber, wessen Namen sie zuvor in die Urne legten; ich glaube, jeder Mann, der für Cenn stimmte, dachte, er sei der einzige, dessen Frau ihn dazu getrieben hatte. Dachte sich, daß eine Stimme nicht viel ausmachen werde. Na ja, jetzt wissen sie es besser. Wir alle wissen es besser.«
»Wer ist diese Malena, die den Frauenzirkel mißbraucht, um ihre Ziele durchzusetzen? Ich habe noch nie von ihr gehört.«
»Sie kommt aus Wachhügel. Sie ist die Seh... « Marin wandte sich vom Fenster ab und rang die Hände. »Malena Aylar ist jetzt die Seherin hier, Nynaeve. Als du nicht zurückkamst... Licht, ich hoffe, sie bekommt nicht heraus, daß du hier bist.«
Nynaeve schüttelte staunend den Kopf. »Marin, du hast ja Angst vor ihr. Du zitterst ja. Was für eine Frau ist das denn? Warum hat der Frauenzirkel eine wie sie gewählt?«
Frau al'Vere lachte bitter. »Wir müssen verrückt gewesen sein. Malena kam herüber, um Mavra Mallen zu besuchen, einen Tag bevor Mavra nach Devenritt zurückkehren mußte, und da in dieser Nacht mehrere Kinder krank wurden, blieb Malena und kümmerte sich um sie. Dann begannen die Schafe zu sterben, und Malena kümmerte sich auch darum. Es erschien uns ganz natürlich, sie zu wählen, aber... Sie ist eine Tyrannin, Nynaeve. Sie unterdrückt jeden, bis man tut, was sie will. Sie hackt auf einem herum, immer wieder, bis man zu müde ist, um noch nein zu sagen. Und noch schlimmer. Sie schlug Alsbet Luhhan nieder.«
Ein Bild schoß Nynaeve durch den Kopf: Alsbet Luhhan und ihr Mann Haral, der Schmied. Sie war beinahe so groß wie er und kräftig. Dabei sah sie recht gut aus. »Alsbet ist fast genauso stark wie Haral. Ich kann nicht glauben... «
»Malena ist keine große Frau, aber sie ist — sie ist wild, Nynaeve. Sie prügelte Alsbet mit einem Stock über das ganze Grün, und keine von uns, die es beobachteten, hatte den Mut, sie davon abzuhalten. Als sie davon erfuhren, haben Bran und Haral gesagt, sie müßten zu ihr gehen, auch wenn sie sich damit in die Angelegenheiten des Frauenzirkels einmischten. Ich glaube, ein paar im Frauenzirkel hätten vielleicht auf sie gehört, aber Bran und Haral wurden beide am gleichen Abend krank und starben mit einem Tag Abstand.« Marin biß sich auf die Lippe und sah sich im Raum um, als könne sich da jemand versteckt haben. Sie senkte die Stimme. »Malena hat die Medizin für sie gemischt. Sie sagte, es sei ihre Pflicht, obwohl sie gegen sie gewesen seien. Ich sah... Ich sah, daß sie grauen Fenchel mitnahm.«
Nynaeve keuchte überrascht. »Aber... Bist du sicher, Marin? Bist du wirklich sicher?« Die ältere Frau nickte. Sie verzog das Gesicht und war den Tränen nahe. »Marin, wenn du vermutet hast, daß diese Frau Bran vergiftet hat, warum bist du dann nicht zum Frauenzirkel gegangen?«
»Sie sagte, Bran und Haral wandelten nicht im Licht«, murmelte Marin, »weil sie sich gegen die Seherin gestellt hatten. Sie sagte, deshalb seien sie gestorben. Das Licht habe sie verlassen. Sie spricht die ganze Zeit von der Sünde. Sie behauptete, Paet al'Caar habe gesündigt, da er sich nach dem Tod Harals und Brans gegen sie geäußert hatte. Dabei sagte er nur, daß sie keine so gute Heilerin sei wie du, aber sie malte den Drachenzahn an seine Tür, ganz offen, so daß jeder sie mit der Zeichenkohle in der Hand sehen konnte. Seine beiden Jungen waren noch vor dem Wochenende tot — einfach tot, als ihre Mutter kam, um sie aufzuwecken. Arme Nela. Wir fanden sie, als sie herumirrte, zur gleichen Zeit lachte und weinte, und schrie, daß Paet der Dunkle König sei und ihre Jungen getötet habe. Paet hat sich am nächsten Tag aufgehängt.« Sie schauderte, und ihre Stimme wurde so leise, daß Nynaeve sie kaum noch verstehen konnte. »Ich habe vier Töchter, die immer noch unter meinem Dach leben. Sie leben, Nynaeve. Verstehst du, was ich sagen will? Sie leben noch, und ich will, daß sie am Leben bleiben.«
Nynaeve fror bis auf die Knochen. »Marin, das kannst du nicht zulassen?« Der Weg zurück erscheint nur ein einziges Mal. Seid standhaft. Sie schob den Gedanken zur Seite. »Wenn der Frauenzirkel zusammenhält, könnt ihr sie loswerden.«
»Gegen Malena zusammenhalten?« Marins Lachen klang eher wie ein Schluchzen. »Wir haben alle Angst vor ihr. Aber sie kann gut mit den Kindern umgehen. Es sind immerzu Kinder krank, wie es scheint, aber Malena tut alles für sie. Als du noch Seherin warst, starb fast niemand an Krankheiten.«
»Marin, hör auf mich. Ist dir nicht klar, warum immer Kinder krank sind? Wenn sie euch keine Angst einjagen kann, will sie euch im Glauben lassen, ihr bräuchtet sie der Kinder wegen. Sie tut das, Marin. Genauso, wie sie Bran krank gemacht hat.«
»Bestimmt nicht«, hauchte Marin. »Das täte sie nicht. Nicht bei den Kleinen.«
»Glaub es nur, Marin.« Der Weg zurück... — Nynaeve unterdrückte diesen Gedanken heftig. »Gibt es eine im Zirkel, die keine Angst hat? Eine, die auf uns hören würde?«
Die ältere Frau sagte: »Keine, die nicht Angst vor ihr hätte. Aber Corin Ayellin hört vielleicht auf uns. Wenn das der Fall ist, bringt sie noch zwei oder drei weitere auf unsere Seite. Nynaeve, wenn genügend Mitglieder auf uns hören, wirst du dann wieder unsere Seherin? Ich glaube, du wärst die einzige unter uns, die nicht vor Malena kuscht, auch wenn wir alle Bescheid wissen. Du weißt nicht, wie sie ist.«
»Ich werde es herausfinden.« Der Weg zurück... Nein! Das sind die mir anvertrauten Menschen! »Hol deinen Umhang, und dann gehen wir zu Corin.«
Marin zögerte, die Schenke zu verlassen, und als Nynaeve sie schließlich draußen hatte, schlich sie ängstlich von Schwelle zu Schwelle, duckte sich und blickte sich ständig um. Bevor sie noch den halben Weg zu Corin Ayellins Haus zurückgelegt hatten, sah Nynaeve eine große hagere Frau auf der anderen Seite des Grüns zur Schenke gehen, wobei sie mit einer dicken Weidenrute im Vorbeigehen die Blumen köpfte. Sie war zwar knochig, wirkte aber drahtig und kräftig und trug einen entschlossenen Zug um den Mund. Cenn Buie lief in ihrem Kielwasser hinterher.
»Malena.« Marin zog Nynaeve in eine Lücke zwischen zwei Häusern. Sie flüsterte, als fürchte sie, die Frau könne sie über das Grün hinweg hören. »Ich wußte, daß Cenn zu ihr rennen würde.«
Etwas zwang Nynaeve, sich nach hinten umzublicken. Hinter ihr stand ein silberner Bogen, spannte sich von Haus zu Haus und glühte weiß. Der Weg zurück erscheint nur ein einziges Mal. Seid standhaft. Marin schrie leise auf. »Sie hat uns gesehen. Licht hilf uns, sie kommt!«
Die große Frau hatte sich auf den Weg über das Grün hinweg gemacht und ließ Cenn hinter sich zurück. Auf Malenas Gesicht zeigte sich keine Unsicherheit. Sie ging langsam, als gäbe es kein Entkommen vor ihr. Ihr grausames Lächeln wurde mit jedem Schritt deutlicher. Marin zupfte Nynaeve am Ärmel. »Wir müssen wegrennen. Wir müssen uns verstecken. Komm, Nynaeve! Cenn hat ihr bestimmt erzählt, wer du bist. Sie haßt es, wenn jemand nur von dir spricht.«
Der silberne Torbogen zog Nynaeves Blicke an. Der Weg zurück... Sie schüttelte den Kopf und versuchte verkrampft, sich zu erinnern. Es ist nicht wirklich. Sie sah Marin an. Blanke Angst verzerrte das Gesicht der Frau. Ihr müßt standhaft sein, um zu überleben. »Bitte, Nynaeve. Sie hat mich mit dir gesehen. Sie-hat-mich-gesehen! Bitte, Nynaeve!«
Malena kam unaufhaltsam näher. Meine mir anvertrauten Menschen. Der Bogen leuchtete. Der Weg zurück. Es ist nicht wirklich. Mit einem Aufschluchzen riß Nynaeve den Arm aus Marins Griff und stürzte auf das silberne Glühen zu.
Marins Schrei erklang hinter ihr: »Um der Liebe des Lichts willen, Nynaeve, hilf mir! HILF MIR!«
Das Glühen hüllte sie ein.
Mit weitaufgerissenen Augen taumelte Nynaeve aus dem Tor heraus. Sie war sich des Raums und der Aes Sedai kaum bewußt. Dafür hatte sie Marins Schreie noch im Ohr. Sie zuckte nicht zusammen, als ihr plötzlich kaltes Wasser über den Kopf geschüttet wurde.
»Ihr seid gereinigt von falschem Stolz. Ihr seid gereinigt von falschem Ehrgeiz. Ihr kommt gewaschen zu uns, rein in Herz und Seele.« Als die Rote Aes Sedai zurücktrat, kam Sheriam und nahm Nynaeves Arm. Nynaeve fuhr zusammen und erkannte erst dann, wer es war. Sie packte mit beiden Händen den Kragen von Sheriams Kleid. »Sagt mir, daß es nicht wirklich war. Sagt es mir!«
»Schlimm?« Sheriam zog Nynaeves Hände von ihrem Kragen, als sei sie an eine solche Reaktion gewöhnt. »Es wird jedesmal schlimmer, und das dritte Mal ist am schlimmsten.«
»Ich habe meine Freundin verlassen... Ich habe die mir anvertrauten Menschen im Stich gelassen... in der Hölle zurückgelassen.« Licht, bitte, laß es nicht Wirklichkeit sein. Ich habe nicht wirklich... Dafür muß Moiraine bezahlen. Sie muß!
»Es gibt immer einen Grund, nicht zurückzukehren, etwas, um Euch davon abzuhalten oder abzulenken. Dieser TerAngreal webt Euch Fallen aus Eurer eigenen Seele, webt sie fest und stark, härter als Stahl und tödlicher als Gift. Deshalb benutzen wir ihn für diese Prüfung. Ihr müßt mehr als alles in der Welt eine Aes Sedai werden wollen. Dieser Wunsch muß stark genug sein, um allem gegenüberzutreten, um Euch aus jeder Lage herauszukämpfen, um dieses Ziel zu erreichen. Die Weiße Burg läßt nicht weniger gelten. Wir verlangen das von Euch.«
»Ihr verlangt eine ganze Menge.« Nynaeve blickte unverwandt auf den dritten Torbogen, als die rothaarige Aes Sedai sie dorthin führte. Das dritte Mal ist am schlimmsten. »Ich habe Angst«, flüsterte sie. Was kann noch schlimmer werden als das, was ich gerade tat? »Gut«, sagte Sheriam. »Ihr wollt eine Aes Sedai werden und die Eine Macht lenken. Niemand sollte das ohne Ehrfurcht und Respekt versuchen. Die Furcht wird Euch vorsichtig machen, und die Vorsicht wird Euch am Leben halten.« Sie drehte Nynaeve um, damit sie den Bogen ansah, doch noch trat sie selbst nicht zurück. »Niemand wird Euch zwingen, ein drittes Mal einzutreten, Kind.«
Nynaeve leckte sich die Lippen. »Wenn ich mich weigere, werdet Ihr mich aus der Burg weisen und mich niemals zurückkommen lassen.« Sheriam nickte. »Und jetzt wird es am schlimmsten.« Sheriam nickte wieder. Nynaeve holte tief Luft. »Ich bin bereit.«
»Das dritte Mal«, sang Sheriam aus, »ist für das, was sein wird. Der Weg zurück erscheint nur ein einziges Mal. Seid standhaft.«
Nynaeve rannte in den Torbogen hinein.
Lachend rannte sie durch aufwirbelnde Wolken von Schmetterlingen, die auf der von Wildblumen überwucherten Hügelkuppe gesessen hatten. Die Blumen wirkten wie ein kniehoher Gauklerumhang. Ihre graue Stute tänzelte nervös mit herunterhängenden Zügeln am Rand der Wiese, und so hörte Nynaeve mit dem Herumrennen auf, damit sich das Tier nicht noch mehr ängstigte. Einige Schmetterlinge setzten sich auf ihr Kleid, auf gestickte Blumen und aufgenähte Perlen, oder sie flatterten um die Saphire und Mondsteine in ihrem Haar, das ihr lose auf die Schultern herunterhing.
Unterhalb des Hügels erstreckte sich das Halsband der Tausend Seen durch die Stadt Malkier. Darin spiegelten sich die wolkenhohen Sieben Türme, auf denen die Flaggen mit dem Goldenen Kranich wehten. In der Stadt zeigten sich tausend Gärten, doch sie zog diesen wilden Naturgarten auf der Hügelspitze jenen vor. Der Weg zurück erscheint nur ein einziges Mal. Seid standhaft.
Beim Klang von Hufschlag drehte sie sich um.
Al'Lan Mandragoran, der König von Malkier, sprang vom Rücken seines Streitrosses und lief durch die Schmetterlinge lachend auf sie zu. Sein Gesicht war das eines harten Mannes, doch das Lächeln, das er ihr schenkte, machte die steinernen Kanten sanfter.
Sie starrte ihn überrascht mit offenem Mund an, und da nahm er sie in die Arme und küßte sie. Einen Moment lang klammerte sie sich an ihn und küßte ihn wieder. Ihre Füße hingen ein Stück in der Luft, aber das machte ihr nichts aus.
Plötzlich stemmte sie sich gegen ihn und zog ihr Gesicht zurück. »Nein.« Sie stemmte sich noch mehr. »Laß mich los! Ich will runter.« Erstaunt ließ er sie sinken, bis ihre Füße wieder auf dem Boden standen. Sie trat vor ihm zurück. »Das nicht«, sagte sie. »Ich kann es nicht ertragen. Nur das nicht.« Bitte, stellt mich wieder Aginor gegenüber.
Ihre Erinnerungen wirbelten durcheinander. Aginor?
Sie wußte nicht, woher dieser Gedanke gekommen war. Die Erinnerungen zuckten auf und kippten weg wie sich durcheinanderschiebende Eisschollen auf einem überfluteten Fluß. Sie griff nach den Stücken, nach etwas, woran sie sich klammern konnte.
»Geht es dir nicht gut, Liebling?« fragte Lan besorgt.
»Nenn mich nicht so! Ich bin nicht dein Liebling! Ich kann dich nicht heiraten!«
Er überraschte sie damit, daß er den Kopf in den Nacken warf und schallend lachte. »Deine Annahme, daß wir nicht verheiratet seien, könnte unsere Kinder verwirren, liebe Gattin. Und wie könntest du nicht mein Liebling sein? Ich habe keinen anderen, und ich werde keine andere Frau jemals lieben.«
»Ich muß zurück.« Verzweifelt sah sie sich nach dem Bogen um, fand aber nur die Wiese und den Himmel. Härter als Stahl und tödlicher als Gift. Lan. Lans Kinder. Licht, hilf mir doch! »Ich muß jetzt zurück.«
»Zurück? Wohin? Nach Emondsfeld? Wenn du das wünscht. Ich schicke Morgase einen Brief und bestimme eine Eskorte.«
»Allein«, murmelte sie und suchte immer noch in ihrem Inneren. Wo ist es? Ich muß weg. »Ich lasse mich nicht darin verwickeln. Ich könnte es nicht ertragen. Nicht das hier. Ich muß jetzt weg!«
»Worin verwickeln, Nynaeve? Was könntest du nicht ertragen? Nein, Nynaeve. Hier kannst du allein umherreiten, wann immer du willst, aber wenn die Königin von Malkier ohne die ihr zustehende Eskorte nach Andor käme, wäre Morgase entsetzt, vielleicht sogar beleidigt. Du willst sie doch nicht beleidigen, oder? Ich dachte, ihr zwei seid Freundinnen.«
Nynaeve fühlte sich, als habe man sie ein ums andere Mal auf den Kopf geschlagen. »Königin?« fragte sie zögernd. »Und wir haben Kinder?«
»Bist du ganz sicher, daß es dir gutgeht? Ich glaube, ich sollte dich lieber zu Sharina Sedai bringen.«
»Nein.« Sie zog sich wieder vor ihm zurück. »Keine Aes Sedai.« Das ist nicht wirklich. Ich werde mich diesmal nicht hineinziehen lassen. Auf keinen Fall!
»Also gut«, sagte er bedächtig. »Als meine Frau — wie könntest du da nicht auch gleichzeitig Königin sein? Wir sind hier alle Malkieri und keine Ausländer. Du wurdest in den Sieben Türmen zur gleichen Zeit gekrönt, als wir die Ringe tauschten.« Unbewußt bewegte er die linke Hand. An seinem Zeigefinger steckte ein einfacher goldener Ring. Sie blickte auf ihre eigene Hand hinunter, auf den Ring, den sie kannte. Sie legte ihre andere Hand darüber, aber ob sie seine Existenz verleugnen könne. »Erinnerst du dich jetzt wieder?« fuhr er fort. Er streckte seine Hand aus, als wolle er ihre Wange streicheln, doch sie trat nochmals sechs Schritt zurück. Er seufzte. »Wie du wünschst, Liebling. Wir haben drei Kinder, wenn auch nur eines davon noch ein Säugling ist. Maric geht dir schon bis an die Schulter und kann sich nicht entscheiden, ob ihm Pferde oder Bücher besser gefallen. Elnore hat damit angefangen, auszuprobieren, wie man den Jungen am besten den Kopf verdreht, wenn sie nicht gerade Sharina löchert, wann sie endlich alt genug sei, zur Weißen Burg zu gehen.«
»Elnore war der Name meiner Mutter«, sagte sie leise.
»Das sagtest du, als du den Namen wähltest. Nynaeve... «
»Nein. Ich lasse mich diesmal nicht hineinziehen. Diesmal nicht. Auf keinen Fall!« Jenseits von ihm, zwischen den Bäumen neben der Wiese, sah sie den silbernen Torbogen. Vorher hatten ihn die Bäume verborgen. Der Weg zurück erscheint nur ein einziges Mal. Sie wandte sich dorthin. »Ich muß gehen.« Er ergriff ihre Hand, und es war ihr, als hätten ihre Füße im Stein Wurzeln geschlagen. Sie hatte nicht die Kraft, sich ihm zu entziehen.
»Ich weiß nicht, was dich so bewegt, meine liebe Frau, aber was es auch sein mag: Sag es mir, und ich werde es richten. Ich weiß, daß ich vielleicht nicht der beste aller Ehemänner bin. Als ich dich fand, war ich ein ziemlich eckiger Typ, aber du hast zumindest einige meiner Kanten abgeschliffen.«
»Du bist der beste aller Ehemänner«, murmelte sie. Zu ihrem Schrecken wurde ihr bewußt, daß sie sich an ihn als ihren Mann erinnerte, an Lachen und Weinen, an Krach und süße Versöhnung. Es waren schwache Erinnerungen, aber sie fühlte, wie sie stärker und wärmer wurden. »Ich kann nicht.« Dort drüben stand der Bogen, nur wenige Schritte entfernt. Der Weg zurück erscheint nur ein einziges Mal. Seid standhaft.
»Ich weiß nicht, was geschieht, Nynaeve, aber ich habe das Gefühl, ich verliere dich. Das könnte ich nicht ertragen.« Er legte eine Hand auf ihr Haar. Sie schloß die Augen und drückte ihre Wange an seine Handfläche. »Bleib immer bei mir!«
»Ich möchte bleiben«, sagte sie leise. »Ich möchte bei dir bleiben.« Als sie die Augen öffnete, war der Torbogen weg... Nur ein einziges Mal. »Nein. Nein!«
Lan drehte ihr Gesicht dem seinen zu. »Was ist mit dir? Du mußt es mir sagen, wenn ich helfen soll.«
»Das ist alles nicht wirklich.«
»Nicht wirklich? Bevor ich dich traf, glaubte ich, bis auf mein Schwert sei nichts real. Sieh dich um, Nynaeve.
Es ist Wirklichkeit. Was auch immer du als real betrachten möchtest, das wird für uns beide real sein.«
Staunend blickte sie sich um. Die Wiese lag immer noch um sie herum. Die Sieben Türme erhoben sich immer noch über den Tausend Seen. Der Bogen war weg, aber sonst hatte sich nichts geändert. Ich könnte hierbleiben. Bei Lan. Nichts hat sich geändert. Ihre Gedanken wirbelten. Nichts hat sich geändert. Egwene ist allein in der Weißen Burg. Rand wird die Macht benutzen und dem Wahn verfallen. Und was ist mit Mat und Perrin? Können sie ein Stück ihres Lebens festhalten und weitermachen? Und Moiraine, die unser Leben so zerrissen hat, ist immer noch frei. »Ich muß zurück«, flüsterte sie. Unfähig, den Schmerz in seinem Gesichtsausdruck zu ertragen, riß sie sich von ihm los. Entschlossen formte sie eine Knospe im Geist, eine weiße Knospe an einem Schlehenzweig. Sie machte die Dornen scharf und gefährlich und wünschte, sie sollten ihre Haut durchbohrten. Dabei fühlte sie sich als habe sie bereits mitten im Schlehengebüsch gehangen. Sheriam Sedais Stimme tanzte gerade außerhalb ihrer Hörweite und sagte ihr, es sei gefährlich, die Eine Macht zu gebrauchen. Die Knospe öffnete sich, und Saidar erfüllte sie mit Licht.
»Nynaeve, sag mir doch, was los ist!«
Lans Stimme schnitt in ihre Konzentration. Sie weigerte sich, darauf zu hören. Der Weg zurück mußte immer noch existieren. Sie starrte auf den Fleck, wo sich der silberne Bogen befunden hatte. Nichts.
»Nynaeve... «
Sie versuchte, sich den Bogen vorzustellen, ihn bis in die kleinste Einzelheit in ihrem Geist neu zu formen, diesen Bogen schimmernden Metalls, der mit einem Glühen wie von brennendem Schnee erfüllt war. Es schien ihr, als verschwimme etwas vor ihr, sei zuerst zwischen den Bäumen und ihr selbst vorhanden, dann wieder nicht, dann doch wieder. »... ich liebe dich... «
Sie zog Energie aus Saidar, trank den Strom der Einen Macht, bis sie glaubte, sie müsse platzen. Das Leuchten erfüllte sie, strahlte von ihr aus, schmerzte in ihren Augen. Die Hitze wollte sie verschlingen. Der flackernde Bogen bildete sich und wurde realer, stand schließlich ganz vor ihr. Feuer und Schmerz schienen sie zu erfüllen. Ihre Knochen brannten; ihr Schädel war ein tobender Hochofen.
»... von ganzem Herzen.«
Sie rannte auf die silberne Krümmung zu und gestattete sich keinen Blick zurück. Sie war so sicher gewesen, das Bitterste, was sie je hören könne, sei der Hilfeschrei Marin al'Veres gewesen, als Nynaeve sie im Stich ließ, doch das war Honig gegenüber dem Klang von Lans gequälter Stimme, die sie verfolgte. »Nynaeve, bitte verlaß mich nicht!«
Das weiße Glühen verschlang sie.
Nackt taumelte Nynaeve durch den Bogen und fiel auf die Knie. Ihr Mund hing offen, sie schluchzte, und Tränen strömten ihr über die Wangen. Sheriam kniete neben ihr nieder. Sie funkelte die rothaarige Aes Sedai an. »Ich hasse Euch!« brachte sie zornig heraus, wobei sie nach Luft schnappen mußte. »Ich hasse alle Aes Sedai!«
Sheriam seufzte leicht und zog Nynaeve auf die Beine. »Kind, beinahe jede Frau, die das durchmacht, sagt dasselbe. Es ist mehr als schwer, den eigenen Ängsten zu begegnen. Was ist denn das?« fragte sie in scharfem Ton und drehte Nynaeves Hände um, so daß die Handflächen nach oben zeigten.
Nynaeves Hände zitterte in einem plötzlichen Aufwallen von Schmerz, den sie zuvor nicht gefühlt hatte. Genau durch die Mitte der Handflächen beider Hände war jeweils ein langer schwarzer Dorn getrieben. Sheriam zog sie vorsichtig heraus. Nynaeve fühlte die kühle Heilkraft der Berührung der Aes Sedai. Als die Dornen draußen waren, hinterließen sie jeweils nur eine kleine Narbe in der Handfläche und auf dem Handrücken.
Sheriam runzelte die Stirn. »Es sollte eigentlich keinerlei Narbe zu sehen sein. Und wie seid Ihr zu den beiden Dornen gekommen — nur zwei und jede so genau plaziert? Wenn Ihr Euch in einem Schlehenstrauch verfangen habt, solltet Ihr über und über mit Kratzern bedeckt sein.«
»Sollte ich«, stimmte ihr Nynaeve bitter zu. »Vielleicht war ich der Meinung, ich hätte schon genug bezahlt.«
»Man muß immer dafür bezahlen«, meinte die Aes Sedai. »Kommt jetzt. Ihr habt Euren ersten Preis gezahlt. Nehmt, wofür Ihr bezahlt habt.« Sie gab Nynaeve einen kleinen Stoß nach vorn.
Nynaeve wurde bewußt, daß sich nun mehr Aes Sedai im Raum befanden. Die Amyrlin in ihrer gestreiften Stola war da und aus jeder Ajah eine Schwester, die sich neben der Amyrlin aufgereiht hatten. Alle beobachteten Nynaeve. Sie erinnerte sich an Sheriams Instruktionen, stolperte nach vorn und kniete vor der Amyrlin nieder. Sie hielt die letzte Schale, und nun goß sie sie langsam über Nynaeves Kopf aus.
»Ihr seid gereinigt von Nynaeve al'Meara aus Emondsfeld. Ihr seid gereinigt von allen Bindungen an die Welt. Ihr kommt zu uns gewaschen und rein in Herz und Seele. Ihr seid Nynaeve al'Meara, eine Aufgenommene in der Weißen Burg.« Sie gab die Schale an eine der Schwestern weiter und zog Nynaeve auf die Beine. »Ihr seid jetzt vor uns versiegelt.«
In den Augen der Amyrlin schien es dunkel zu glühen. Nynaeves Schaudern hatte nichts damit zu tun, daß sie nackt und naß war.