12 Ins Muster verwoben

Egwene eilte hinter Nynaeve zu der Gruppe von Aes Sedai, die um die von Pferden getragene Sänfte der Amyrlin herumstand. Ihre Neugier, die Ursache des Aufruhrs in Fal Dara zu erfahren, übertrumpfte sogar ihre Sorge um Rand. Er war im Moment außerhalb ihrer Reichweite. Bela, ihre zerzauste Stute, befand sich genau wie Nynaeves Reittier bei den Pferden der Aes Sedai.

Die Behüter, die Hände an den Schwertgriffen und mit ständig suchendem Blick, bildeten einen stählernen Kreis um die Aes Sedai und die Sänfte. So war eine Insel relativer Ruhe im Hof entstanden, wo ansonsten die schienarischen Soldaten immer noch zwischen den entsetzten Festungsbewohnern hin und her liefen. Egwene schob sich neben Nynaeve. Sie beide wurden nach einem scharfen Blick von den Behütern mehr oder weniger übersehen — jeder wußte, daß sie mit der Amyrlin reisen würden. Sie entnahmen dem Volksgemurmel im Hof, daß ein Pfeil anscheinend aus dem Nichts herangeflogen war und der Schütze noch nicht ermittelt werden konnte.

Egwene stand mit weitaufgerissenen Augen da und war zu entsetzt, um überhaupt zu bemerken, daß sie von Aes Sedai umgeben war. Ein Anschlag auf das Leben der Amyrlin. Das war fast unvorstellbar.

Die Amyrlin saß in ihrer Sänfte und hatte die Vorhänge zurückgezogen. Der blutige Riß in ihrem Ärmel zog alle Blicke auf sich. Sie sah auf Lord Agelmar hinunter. »Ihr werdet den Schützen entweder finden oder ihn nicht finden, mein Sohn. Wie auch immer: Meine Aufgabe in Tar Valon ist genauso dringlich wie die Ingtars bei seiner Suche. Ich reise sofort ab.«

»Aber Mutter«, protestierte Agelmar, »dieser Anschlag auf Euer Leben ändert alles. Wir wissen immer noch nicht, wer den Mann beauftragt hat oder warum. Noch eine Stunde, und ich habe den Schützen ermittelt und die Antwort für Euch bereit.«

Die Amyrlin lachte auf; es schwang jedoch kein Humor darin mit. »Ihr braucht schlauere Köder oder ein feineres Netz, um diesen Fisch zu fangen, mein Sohn. Wenn Ihr den Mann endlich habt, wird es zu spät sein, um heute noch abzureisen. Es gibt zu viele, die meinen Tod bejubeln würden, als daß ich mir um diesen Mann besondere Gedanken machen müßte. Ihr könnt mir ja alles berichten, was Ihr herausfindet — falls Ihr überhaupt etwas herausfindet.« Ihr Blick glitt über die Türme, die den Hof überblickten, und über die Wehrgänge und die Balkone der Bogenschützen. Alles war noch dicht mit Menschen besetzt, die jetzt schwiegen. Der Pfeil mußte hier irgendwo seinen Ausgangspunkt gehabt haben. »Ich glaube, der Schütze ist bereits aus Fal Dara geflohen.«

»Aber Mutter... «

Die Frau in der Sänfte schnitt ihm mit einer scharfen und endgültigen Geste das Wort ab. Nicht einmal der Herr von Fal Dara durfte die Amyrlin allzulange belästigen. Ihr Blick erfaßte schließlich Egwene und Nynaeve. Es war ein durchdringender Blick, der alles zu entdecken schien, was Egwene über sich selbst geheimhalten wollte. Sie trat einen Schritt zurück, fing sich dann aber und knickste. Dabei hoffte sie, daß sie das Richtige tat, denn niemand hatte ihr das Protokoll erklärt und was sie tun sollte, wenn sie der Amyrlin gegenüberstand. Nynaeve hielt sich steif und aufrecht und erwiderte den Blick der Amyrlin, ohne den Blick zu senken, doch ihre Hand suchte nach der von Egwene und ergriff sie genauso fest, wie Egwene zupackte.

»Also das sind deine beiden, Moiraine«, sagte die Amyrlin. Moiraine deutete ein Nicken an, und die anderen Aes Sedai drehten sich um und blickten die beiden Frauen aus Emondsfeld an. Egwene schluckte. Sie alle wirkten so, als wüßten sie über viele Dinge Bescheid, von denen andere nichts ahnten, und es half überhaupt nichts, zu wissen, daß es tatsächlich so war. »Ja, ich fühle deutlich einen Funken in ihnen. Aber was wird daraus erwachsen? Das ist die Frage, nicht wahr?«

Egwenes Mund war staubtrocken. So hatte Meister Padwin, der Zimmermann zu Hause, seine Werkzeuge angesehen — so wie die Amyrlin sie nun musterte: diese Frau für diesen Zweck, die andere Frau für jenen Zweck.

Die Amyrlin sprach plötzlich: »Es ist Zeit zu gehen. Auf die Pferde! Lord Agelmar und ich können alles Notwendige besprechen, ohne daß Ihr alle gafft wie die Novizinnen am freien Tag. Auf die Pferde!«

Auf ihren Befehl hin rannten die Behüter zu ihren Reittieren, wobei sie sich immer noch vorsichtig umsahen, und die Aes Sedai bis auf Leane schlüpften von der Sänfte weg zu ihren eigenen Pferden. Als sich Egwene und Nynaeve abwandten, um dem Befehl Folge zu leisten, erschien ein Diener mit einem silbernen Kelch neben Lord Agelmar. Agelmar nahm ihn mit einem unbefriedigten Ausdruck um die Mundwinkel entgegen.

»Mit diesem Kelch aus meiner Hand, Mutter, nehmt meinen Wunsch entgegen, daß es Euch an diesem Tag und an jedem anderen gut ergehen... «

Was sonst noch gesagt wurde, entging Egwene, als sie auf Bela kletterte. Als sie es geschafft hatte, die Stute zu tätscheln und ihre Röcke zurechtzuziehen, war die Sänfte bereits unterwegs zum offenstehenden Tor. Die Tragpferde schritten ohne Zügel und irgendwelche Führung dahin. Leane ritt neben der Sänfte, ihren Stab in einen Steigbügel gestützt. Egwene und Nynaeve ritten zusammen mit den anderen Aes Sedai hinterher.

Rufe und Hurrageschrei aus der Menge entlang der Straßen der Stadt begrüßten die Prozession und übertönten beinahe das Donnern der Trommeln und das Schmettern der Trompeten. Behüter führten die Kolonne an; die Flagge mit der Weißen Flamme blähte sich im Wind. Weitere Behüter bildeten einen Kreis um die Aes Sedai und hielten die Menschenmenge zurück. Bogenschützen und Pikeure mit der Flamme auf der Brust folgten in geordneten Reihen dahinter. Die Trompeten schwiegen, als die Kolonne aus der Stadt hinaustrottete und sich nach Süden bewegte, doch die Jubelklänge aus der Stadt folgten ihnen noch immer. Egwene blickte sich öfter um, bis Bäume und Hügel die Mauern und Türme von Fal Dara verdeckten.

Nynaeve, die an ihrer Seite ritt, schüttelte den Kopf. »Rand wird es schon gutgehen. Er hat ja Lord Ingtar und zwanzig Lanzenträger bei sich. Und du könntest sowieso nichts tun. Keine von uns kann eingreifen.« Sie blickte zu Moiraine hinüber. Die gestriegelte weiße Stute der Aes Sedai und Lans großer schwarzer Hengst bildeten ein eigenartiges Paar. Sie ritten ganz für sich nebeneinander. »Noch nicht.«

Die Kolonne bog nach Westen ab und bewegte sich nicht eben schnell. Selbst die Fußsoldaten, die nur einen Brustpanzer trugen, kamen auf den Hügeln Schienars nicht sehr schnell vorwärts. Trotzdem marschierten sie so stramm wie möglich.

Des Nachts schlugen sie erst spät ihr Lager auf. Die Amyrlin gestattete ihnen keinen Halt, bevor es so dunkel war, daß sie kaum noch genug sahen, um die Zelte aufzuschlagen — niedrige weiße Kuppelzelte, die gerade hoch genug waren, um darin aufrecht zu stehen. Jedes Paar Aes Sedai aus der gleichen Ajah hatte eines, während die Amyrlin und die Behüterin der Chronik eines für sich hatten. Moiraine teilte sich das Zelt mit ihren beiden Schwestern von den Blauen Ajah. Die Soldaten schliefen in einem gesonderten Teil des Lagers auf dem Boden, und die Behüter wickelten sich in der Nähe der Zelte der Aes Sedai, denen sie zugeschworen waren, in ihre Umhänge. Das Zelt, das sich die Roten Schwestern teilten, wirkte ohne Behüter irgendwie einsam, während das der Grünen beinahe festlich aussah. Die beiden Aes Sedai saßen oftmals bis lange nach Einbruch der Dunkelheit draußen und unterhielten sich mit den vier Behütern, die sie mitgebracht hatten.

Lan kam einmal zu dem Zelt, das sich Egwene und Nynaeve teilten, und führte die Seherin ein Stück weg in die Nacht hinein. Egwene linste um die Zeltklappe herum, um sie zu beobachten. Sie konnte nicht hören, was gesprochen wurde, aber Nynaeve wurde schließlich zornig und stolzierte zurück. Sie wickelte sich in ihre Decken und weigerte sich, irgend etwas zu sagen. Egwene glaubte zu entdecken, daß ihre Wangen feucht waren, aber sie verbarg das Gesicht hinter dem Zipfel einer Decke. Lan stand noch lange Zeit im Dunklen und beobachtete das Zelt, bevor er schließlich wegging. Danach kam er nicht wieder.

Moiraine kam gar nicht erst in ihre Nähe. Wenn sie vorbeiging, nickte sie ihnen lediglich kurz zu. Sie schien ihre ganze Zeit damit zu verbringen, mit den anderen Aes Sedai zu sprechen, außer mit den Roten Schwestern. Sie zog ihre Gesprächspartnerinnen beim Reiten eine nach der anderen zur Seite. Die Amyrlin gestattete ihnen nur wenige Aufenthalte, um sich auszuruhen, und die waren ebenfalls sehr kurz bemessen.

»Vielleicht hat sie jetzt für uns keine Zeit mehr«, meinte Egwene traurig. Moiraine war eben die einzige Aes Sedai, die sie kannte. Vielleicht war sie auch — obwohl es ihr nicht leicht fiel, dies zuzugeben — die einzige, der sie trauen konnte. »Sie hat uns gefunden, und wir sind auf dem Weg nach Tar Valon. Ich denke, jetzt hat sie andere Dinge im Kopf.«

Nynaeve schnaubte leise. »Ich glaube erst dann daran, daß sie mit uns fertig ist, wenn sie tot ist — oder wenn wir tot sind. Sie ist eine ganz hinterlistige Frau.«

Andere Aes Sedai besuchten ihr Zelt. Egwene fuhr bald aus der Haut, als in ihrer ersten Nacht außerhalb Fal Daras die Zeltklappe beiseite geschoben wurde und eine mollige Aes Sedai mit kantigem Gesicht, ergrauten Haaren und einem abwesenden Blick geduckt das Zelt betrat. Sie blickte zu der Laterne, die am höchsten Punkt des Zeltes hing, und die Flamme wuchs ein wenig empor. Egwene glaubte, etwas zu fühlen, glaubte, etwas um die Aes Sedai herum zu sehen, als die Flamme heller strahlte. Moiraine hatte ihr gesagt, daß sie eines Tages — wenn sie genug Übung darin hatte — sehen könne, wenn eine andere Frau die Eine Macht benutzte, und eine solche Frau auch erkennen werde, wenn sie gar nichts tat.

»Ich heiße Verin Mathwin«, sagte die Frau lächelnd. »Und ihr seid Egwene al'Vere und Nynaeve al'Meara von den Zwei Flüssen, die einst Manetheren waren. Das ist ein starkes Blut. Es singt.«

Egwene tauschte einen Blick mit Nynaeve, als sie aufstanden.

»Sollt Ihr uns zur Amyrlin bestellen?« fragte Egwene.

Verin lachte. Die Aes Sedai hatte einen Tintenfleck auf der Nase. »Ach je, nein, natürlich nicht. Die Amyrlin hat wichtigere Dinge zu tun, als sich mit zwei jungen Frauen zu beschäftigen, die noch nicht einmal Novizinnen sind. Obwohl, man kann das nie vorhersagen. Ihr beide verfügt über ein beachtliches Potential, besonders du, Nynaeve. Eines Tages...« Sie schwieg und rieb mit einem Finger genau auf der Stelle mit dem Tintenfleck herum. »Aber jetzt ist nicht eines Tages. Ich bin gekommen, um dir eine Lektion zu erteilen, Egwene. Du hast deine Nase etwas zu früh in manche Dinge gesteckt, fürchte ich.«

Egwene sah Nynaeve nervös an. »Was habe ich getan? Ich bin mir keiner Schuld bewußt.«

»Oh, es war nichts Schlimmes. Jedenfalls nicht unmittelbar. Vielleicht ein bißchen gefährlich, aber nicht schlimm.« Verin ließ sich auf dem mit Segeltuch bedeckten Boden im Schneidersitz nieder. »Setzt euch hin, ihr beiden. Ich will mir nicht den Kopf verrenken.« Sie rutschte herum, bis sie eine bequeme Stellung gefunden hatte. »Setzt euch.«

Egwene setzte sich mit übergeschlagenen Beinen der Aes Sedai gegenüber auf den Boden und gab sich Mühe, Nynaeve nicht anzusehen. Kein Grund, schuldbewußt dreinzuschauen, bevor ich überhaupt weiß, woran ich schuld sein soll. »Was soll ich getan haben, das gefährlich, aber nicht so schlimm ist?«

»Ja, Kind, du hast die Eine Macht benutzt.«

Egwene konnte nur nach Luft schnappen. Nynaeve platzte heraus: »Das ist lächerlich. Deshalb gehen wir doch schließlich nach Tar Valon.«

»Moiraine hat... Also, na ja, Moiraine Sedai hat mich unterrichtet«, brachte Egwene hervor.

Verin hob die Hände, um sie zum Schweigen zu bringen, und die beiden hielten den Mund. Sie mochte ihnen wohl etwas eigenartig vorkommen, aber sie war immerhin eine Aes Sedai. »Kind, glaubst du, eine Aes Sedai unterrichtet sofort jedes Mädchen, das sagt, sie wolle eine von uns werden, im Gebrauch der Macht? Ja, ich denke schon, daß du nicht irgendein Mädchen bist, aber trotzdem... « Sie schüttelte ernst den Kopf.

»Warum hat sie es dann getan?« wollte Nynaeve wissen. Sie war nicht unterrichtet worden, und Egwene war sich nicht sicher, ob Nynaeve deshalb eifersüchtig war oder nicht.

»Weil Egwene die Macht bereits benutzt hatte«, sagte Verin geduldig.

»Das... das habe ich auch getan.« Nynaeve klang, als sei sie nicht gerade froh darüber.

»Aber unter ganz anderen Umständen, Kind. Daß du noch am Leben bist, zeigt ja, daß du mit den verschiedenen Krisen fertig wurdest, und zwar selbständig. Ich glaube, du weißt, wieviel Glück du da hattest. Von vier Frauen, die gezwungen sind, das zu tun, was du tatest, überlebt nur eine. Wilde natürlich... « Verin verzog das Gesicht. »Verzeih mir, aber so nennen wir in der Weißen Burg die Frauen, die ohne Ausbildung die Macht zumindest im groben beherrschen — mehr zufällig, man kann es kaum Beherrschung nennen, ebenso wie bei dir, aber doch eben eine Art von Beherrschung. Wilde haben ihre Schwierigkeiten, das stimmt. Fast immer haben sie Mauern um sich herum aufgebaut, um sich selbst nicht bewußt machen zu müssen, was sie tun, und diese Mauern wiederum verhindern die bewußte Kontrolle. Je länger man sich hinter diesen Mauern verbirgt, desto schwerer ist es, sie zu beseitigen, aber wenn man es schafft — na ja, einige der begabtesten Schwestern waren einmal Wilde.«

Nynaeve rutschte unruhig hin und her und sah die Zeltklappe an, als plane sie die Flucht.

»Ich weiß nicht, was das alles mit mir zu tun haben soll«, sagte Egwene.

Verin sah sie mit großen Augen an, beinahe so, als frage sie sich, wo sie eigentlich herkäme. »Mit dir? Natürlich nichts. Dein Problem liegt ganz anders. Die meisten Mädchen, die Aes Sedai werden wollen — sogar die meisten jener, die den Samen in sich tragen, so wie du —, haben auch Angst davor. Selbst nachdem sie die Burg erreicht haben, selbst nachdem sie gelernt haben, was und wie sie es anstellen sollen, müssen sie noch monatelang Schritt für Schritt von einer Schwester oder einer der Adeptinnen geführt werden. Du allerdings nicht. Demzufolge, was mir Moiraine erzählt hat, hast du dich hineingestürzt, sobald du wußtest, daß du die Fähigkeiten besitzt, und hast dir deinen eigenen Weg durch die Dunkelheit gesucht, ohne zu überlegen, ob dein nächster Schritt nicht vielleicht in einen bodenlosen Abgrund führt. Oh, es hat schon andere als dich gegeben, du bist kein Einzelfall. Moiraine selbst war genauso. Sobald sie wußte, was du getan hattest, hatte sie keine andere Wahl mehr, als mit deinem Unterricht zu beginnen. Hat dir Moiraine das niemals erklärt?«

»Nie.« Egwene wünschte, ihre Stimme klänge nicht so atemlos. »Sie hatte... mit anderen Sachen zu tun.« Nynaeve schnaubte leise.

»Ja, also, Moiraine hat es nie für nötig gehalten, irgend jemandem etwas zu erzählen, was sie nicht unbedingt wissen mußten. Das Wissen an sich erfüllt keinen wirklichen Zweck, aber die Unwissenheit eben auch nicht. Ich persönlich ziehe es in jedem Fall vor, zu wissen.«

»Gibt es einen? Einen Abgrund, meine ich?«

»Offensichtlich bisher noch nicht«, sagte Verin mit schiefgehaltenem Kopf. »Aber beim nächsten Schritt?« Sie zuckte die Achseln. »Siehst du, Kind, je mehr du dich bemühst, die Eine Quelle zu berühren, je mehr du versuchst, die Eine Macht zu lenken, desto leichter wird es, das wirklich fertigzubringen. Ja, sicher, am Anfang fühlt man nach der Quelle, und in den meisten Fällen ist es lediglich, als ergreife man Luft. Oder man berührt Saidar tatsächlich, doch auch wenn man die Macht durch sich fließen fühlt, kann man nichts damit anfangen. Oder man tut etwas, aber es ist absolut nicht das, was man eigentlich wollte. Das ist die Gefahr. Normalerweise wird man geführt und geschult, und die eigene Angst läßt es einen auch langsam angehen, und dann erlangt man gleichzeitig die Fähigkeit, die Quelle zu berühren, die Fähigkeit, die Macht zu lenken und die Fähigkeit, auch das eigene Tun unter Kontrolle zu halten. Aber du hast damit begonnen, die Macht zu lenken, ohne daß jemand da war, der dir beibringen konnte, deine eigenen Fähigkeiten wenigstens einigermaßen unter Kontrolle zu halten. Ich weiß, du glaubst nicht, daß du bereits sehr weit fortgeschritten bist, und das stimmt auch, aber du bist wie jemand, der sich selbst beigebracht hat, Berge zu besteigen — wenigstens manchmal —, ohne zu lernen, wie man auf der anderen Seite wieder hinunterkommt. Früher oder später wirst du abstürzen, falls du das nicht auch noch lernst. Und ich spreche jetzt keineswegs davon, was geschieht, wenn einer dieser armen Männer damit beginnt, die Macht zu lenken — du wirst nicht in Wahnsinn verfallen oder sterben, nicht, wenn Schwestern da sind, die dich führen und lehren —, sondern davon, was du durch Zufall, ohne eigenes Zutun, anrichten könntest.« Für einen Moment wirkte Verins Blick nicht mehr so abwesend. Und in diesen Moment war der Blick der Aes Sedai genauso scharf wie der der Amyrlin von Egwene zu Nynaeve gehuscht. »Deine angeborenen Fähigkeiten sind stark, Kind, und sie werden immer stärker. Du mußt lernen, sie zu beherrschen, bevor du dir selbst oder anderen Schaden zufügst. Das wollte Moiraine dir beibringen. Dabei will ich dir heute abend helfen, und jeden Abend wird eine Schwester kommen, um dir zu helfen, bis wir dich der tüchtigen Sheriam übergeben. Sie ist die Herrin der Novizinnen.«

Egwene überlegte. Könnte sie von Rand wissen? Das ist doch nicht möglich. Sie hätte ihn niemals aus Fal Dara weggelassen, wenn sie auch nur einen Verdacht gehabt hätte. Aber sie war sicher, daß sie sich Verins Blick nicht eingebildet hatte. »Ich danke Euch, Verin Sedai. Ich werde mein Bestes geben.«

Nynaeve erhob sich graziös. »Ich werde mich drüben ans Feuer setzen und euch beide alleinlassen.«

»Ihr solltet bleiben«, sagte Verin. »Ihr habt vielleicht auch etwas davon. Demzufolge, was Moiraine mir erzählt hat, braucht Ihr nur ein wenig Schulung, um zu den Aufgenommenen erhoben zu werden.«

Nynaeve zögerte nur einen Augenblick und schüttelte dann entschlossen den Kopf. »Ich danke Euch für das Angebot, aber ich kann warten, bis wir Tar Valon erreichen. Egwene, falls du mich brauchst, bin ich... «

»Mit normalem Maß gemessen«, warf Verin ein, »seid Ihr eine erwachsene Frau, Nynaeve. Gewöhnlich ist eine Novizin um so besser, je jünger sie ist. Das betrifft nicht die Schulung an sich, aber von einer Novizin wird erwartet, daß sie tut, was man ihr sagt, und daß sie es ohne Widerspruch durchführt. Das bewährt sich dann, wenn die Schulung einen bestimmten Punkt erreicht hat —ein Zögern zur falschen Zeit, ein Zweifel können tragische Folgen haben —, aber es ist besser, immer die Disziplin vornanzustellen. Andererseits erwartet man von den Aufgenommenen, daß sie die Dinge in Frage stellen, denn man glaubt, sie wüßten genug, um zur rechten Zeit die rechten Fragen zu stellen. Welche von beiden Möglichkeiten zögt Ihr vor?«

Nynaeves Hände verkrampften sich in ihren Rock, und sie blickte mit gerunzelter Stirn zur Zeltklappe hinüber. Schließlich nickte sie kurz und ließ sich wieder auf dem Boden nieder. »Ich denke, ich kann genausogut auch ein wenig zuhören«, sagte sie.

»Gut«, sagte Verin. »Also, du kennst diesen Teil bereits, Egwene, aber Nynaeve zuliebe werde ich dich noch einmal Schritt für Schritt anleiten. Mit der Zeit wird dir das zur zweiten Natur — du wirst alles schneller tun, als du es dir vorstellen kannst —, doch jetzt ist es am besten, wir schreiten langsam vorwärts. Schließ bitte die Augen. Am Anfang ist es besser, wenn du dich von nichts ablenken läßt.« Egwene schloß die Augen. Es gab eine Unterbrechung. »Nynaeve«, sagte Verin, »bitte schließt die Augen. Es gelingt dann wirklich besser.« Eine weitere Pause schloß sich an. »Danke, Kind. Jetzt müßt ihr euch innerlich entleeren. Entleert eure Gedanken. In eurem Verstand befindet sich nur noch eines: eine Knospe. Nur dies. Nur die Knospe. Ihr erkennt jede Einzelheit. Ihr riecht sie. Ihr fühlt sie. Ihr fühlt die Rippe jedes einzelnen Blattes, jede Krümmung der Blütenblätter. Ihr fühlt den Saft darin pulsieren. Fühlt! Wißt! Seid die Knospe! Ihr und die Knospe seid eins. Ihr seid eins. Ihr seid die Knospe.«

Ihre Stimme leierte hypnotisch weiter, doch Egwene hörte nicht mehr hin. Sie hatte diese Übung schon früher mit Moiraine durchgeführt. Sie dauerte eine Weile, aber Moiraine hatte gesagt, es werde mit der fortschreitenden Übung immer schneller gelingen. In ihrem Inneren war sie eine Rosenknospe mit fest geschlossenen Blütenblättern. Und doch gab es da plötzlich noch etwas anderes. Licht. Licht drückte auf die Blütenblätter. Langsam öffnete sich die Knospe und wandte sich dem Licht zu, nahm es in sich auf. Die Rose und das Licht wurden eins. Egwene war eins mit dem Licht. Sie spürte auch das leichteste Rieseln des Lichts in ihr. Sie streckte sich noch mehr aus und griff danach...

Innerhalb eines Augenblicks war alles weg — Rose und Licht. Moiraine hatte auch gesagt, man könne es nicht erzwingen. Seufzend öffnete sie die Augen. Nynaeve trug einen zornigen Gesichtsausdruck zur Schau. Verin war genauso ruhig wie immer.

»Ihr könnt es nicht erzwingen«, sagte die Aes Sedai. »Ihr müßt es geschehen lassen. Ihr müßt euch der Macht ergeben, bevor ihr sie beherrschen könnt.«

»Das ist doch völlig närrisch«, murmelte Nynaeve. »Ich fühle mich nicht wie eine Blume. Wenn überhaupt, dann wie ein Schlehenstrauch. Ich glaube, ich warte doch lieber am Feuer.«

»Wie Ihr wünscht«, sagte Verin. »Habe ich schon erwähnt, daß die Novizinnen Haushaltsarbeiten erledigen müssen? Sie waschen das Geschirr ab, schrubben die Böden, kümmern sich um die Wäsche, bedienen am Tisch und was sonst noch alles. Ich für meinen Teil bin der Meinung, daß Diener so etwas viel besser machen, aber allgemein heißt es, solche Arbeit stärke den Charakter. Oh, Ihr bleibt doch? Gut. Also, Kind, denkt daran, daß auch ein Schlehenstrauch manchmal blüht — schöne weiße Blüten inmitten der Dornen. Wir werden es probieren, eine nach der anderen. Nun nochmals ganz von Anfang an, Egwene. Schließ die Augen.«

Mehrmals — bevor Verin schließlich ging — fühlte Egwene, wie die Macht sie durchströmte, aber es war jedesmal nicht sehr stark und das beste, was sie fertigbrachte, war eine leichte Brise, die die Zeltklappe ein wenig bewegte. Sie war sicher, daß ein Niesen genausoviel bewirkt hätte. Sie hatte bei Moiraine schon mehr erreicht, jedenfalls manchmal. Sie wünschte sich Moiraine als Lehrerin.

Nynaeve fühlte nicht das geringste, so behauptete sie jedenfalls. Jedenfalls wirkten ihre Augen so grimmig, und ihre Lippen waren so zusammengepreßt, daß Egwene befürchtete, sie werde Verin gleich herunterputzen, als sei die Aes Sedai eine Dorfbewohnerin, die sich in ihre privaten Angelegenheiten einmischte. Aber Verin riet ihr einfach, sie solle noch einmal die Augen schließen, doch diesmal, ohne daß Egwene mitmachte.

Egwene saß da und beobachtete die beiden unter Gähnen. Es war spät geworden, viel später, als sie sonst zu schlafen pflegte. Nynaeves Gesicht sah aus, als sei sie schon seit einer Woche tot. Ihre Augen waren zugedrückt, als wolle sie sie überhaupt nicht mehr öffnen, und die Hände lagen zu Fäusten geballt in ihrem Schoß. Egwene hoffte, die Seherin werde sich auch weiterhin beherrschen, nachdem sie schon so lange durchgehalten hatte.

»Fühlt den Strom der Macht in Euch«, sagte Verin gerade. Ihre Stimme klang nicht verändert, doch plötzlich funkelten ihre Augen. »Fühlt den Strom. Den Strom der Macht. Er fließt zuerst wie eine leichte Brise, wie ein Lufthauch nur.« Egwene richtete sich auf. Genauso hatte Verin sie jedesmal geführt, wenn die Macht sie wirklich durchfloß. »Eine leichte Brise, nur ein Lufthauch. Leicht.«

Plötzlich schlugen Flammen lichterloh aus den übereinandergelegten Decken.

Nynaeve öffnete mit einem Aufschrei die Augen. Egwene war sich nicht bewußt, ob sie auch schrie oder nicht. Sie merkte nur, daß sie hochschoß und sich bemühte, die brennenden Decken nach draußen zu treten, bevor sie das ganze Zelt entzündeten. Bevor sie jedoch ein zweites Mal zutreten konnte, verschwanden die Flammen und hinterließen nichts als feine Rauchwölkchen, die sich aus der verkohlten Masse erhoben, und den Geruch nach versengtem Holz. »Na ja«, sagte Verin, »ich habe nicht damit gerechnet, ein Feuer löschen zu müssen. Werdet mir nur ja nicht ohnmächtig, Kind. Es ist ja schon alles gut. Ich habe alles unter Kontrolle.«

»Ich... ich war wütend.« Nynaeve sagte es mit zitternden Lippen im blutleeren Gesicht. »Ich hörte Euch von einer Brise sprechen und mir sagen, was ich tun solle, und da sprang das Feuer einfach in meinen Kopf. Ich... ich wollte nichts verbrennen. Es war nur ein kleines Feuer in... in meinem Kopf.« Sie schauderte.

»Ich denke schon, daß es ein kleines Feuer war.« Verin lachte auf, doch das Lachen brach nach einem weiteren Blick auf Nynaeves Gesicht ab. »Geht es Euch wieder gut, Kind? Wenn Euch schlecht ist, kann ich...« Nynaeve schüttelte den Kopf, und Verin nickte. »Was Ihr braucht, ist Ruhe. Ihr beide. Ich habe Euch zu sehr umgetrieben. Ihr müßt ausruhen. Die Amyrlin wird uns alle noch vor der Dämmerung aufstehen und aufbrechen heißen.« Sie erhob sich und trat die verkohlten Decken mit dem Fuß.

»Ich werde Euch ein paar neue Decken bringen lassen. Ich hoffe, Ihr seht nun, wie wichtig es ist, alles unter Kontrolle zu halten. Ihr müßt lernen, das zu tun, was Ihr tun wollt, aber nicht mehr. Abgesehen davon, daß Ihr beträchtlichen Schaden anrichten könnt, wenn Ihr mehr Macht an Euch zieht, als Ihr ohne Gefahr benützen könnt, zerstört Ihr Euch vielleicht selbst, wenn Ihr zuviel Macht an Euch zieht. Ihr könntet dabei sterben. Oder vielleicht brennt Ihr innerlich aus und zerstört alle Eure Fähigkeiten.« Und als habe sie nicht gerade geäußert, daß sie auf Messers Schneide wandelten, fügte sie ein fröhliches »Schlaft gut!« hinzu. Und damit war sie weg.

Egwene legte die Arme um Nynaeve und drückte sie an sich. »Es ist schon gut, Nynaeve. Es gibt keinen Grund zur Furcht. Wenn du erst lernst... «

Nynaeve lachte krächzend. »Ich habe keine Angst.« Sie blickte zur Seite auf die qualmenden Decken und riß sich dann wieder davon los. »Es ist schon mehr als ein kleines Feuer nötig, um mir Angst einzujagen.« Aber sie sah die Decken nicht mehr an, selbst als ein Behüter kam, sie mitnahm und neue daließ. So wie sie gesagt hatte, kam Verin nicht wieder zu ihnen. Während sie Tag um Tag nach Südwesten weiterzogen, so schnell die Fußsoldaten marschieren konnten, kümmerte sich Verin genausowenig wie Moiraine um die beiden Frauen aus Emondsfeld. Keine der Aes Sedai nahm sich ihrer an. Sie waren nicht direkt unfreundlich, diese Aes Sedai, sondern eher distanziert und zurückhaltend, als seien sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Ihre Kühle steigerte Egwenes Unsicherheit und rief ihr wieder alle die Geschichten in Erinnerung, die sie als Kind gehört hatte.

Ihre Mutter hatte ihr immer gesagt, die Geschichten von den Aes Sedai seien eine Ansammlung von männlichem Unsinn, aber weder ihre Mutter noch irgendeine andere Frau in Emondsfeld hatte je eine Aes Sedai kennengelernt, bevor Moiraine dorthin gekommen war. Sie selbst hatte viel Zeit mit Moiraine verbracht, und Moiraine stellte für sie den Beweis dar, daß die Aes Sedai keineswegs so waren, wie sie in den alten Geschichten beschrieben wurden: kalte Intrigantinnen und gnadenlose Zerstörerinnen. Zerstörer der Welt. Sie wußte nun, daß wenigstens diese — die Zerstörer der Welt — männliche Aes Sedai gewesen waren, als es sie noch gab, im Zeitalter der Legenden. Aber das half ihr auch nicht viel. Nicht alle Aes Sedai waren so wie in den Sagen, doch wie viele und welche von ihnen?

Die Aes Sedai, die jede Nacht in ihr Zelt kamen, waren derart unterschiedlich, daß es ihr nicht weiterhalf, Klarheit zu gewinnen. Alviarin war so kühl und geschäftsmäßig wie ein Kaufmann, der gekommen war, Wolle und Tabak zu erwerben. Sie war überrascht, daß auch Nynaeve an dem Unterricht teilnahm, nahm es aber hin. Sie kritisierte hart, war aber immer bereit, es noch einmal zu versuchen. Alanna Mosvani lachte und verbrachte ebenso viel Zeit damit, über die Welt und die Männer zu sprechen, wie sie zu unterrichten. Alanna zeigte allerdings für Egwenes Geschmack zuviel Interesse an Rand, Perrin und Mat. Besonders an Rand. Die Schlimmste von allen war Liandrin, die einzige, die ihre Stola trug; die anderen hatten ihre Stolen vor der Abreise aus Fal Dara eingepackt. Liandrin saß da, befühlte die roten Fransen und brachte ihnen wenig bei, und das auch nur zögernd. Sie verhörte Egwene und Nynaeve, als habe man sie eines Verbrechens beschuldigt, und alle ihre Fragen drehten sich um die drei Jungen. Sie machte so weiter, bis Nynaeve sie aus dem Zelt warf — Egwene war nicht sicher, warum Nynaeve das tat —, und dann ging sie mit einer Drohung auf den Lippen.

»Nehmt Euch in acht, meine Töchter. Ihr seid nicht mehr in eurem Dorf. Jetzt hängt ihr die Zehen in ein Wasser, in dem Dinge leben, die beißen könnten.«

Schließlich erreichte die Kolonne das Dorf Medo am Ufer des Mora, der an der Grenze zwischen Schienar und Arafel entlangfloß und in den Erinin mündete.

Egwene war sicher, daß die Fragen der Aes Sedai ihre Träume von Rand ausgelöst hatten, das und die Sorge um ihn, ob er und die anderen dem Horn von Valere bis in die Fäule hinein hatten folgen müssen. Die Träume waren immer quälend, aber anfangs waren es wenigstens nur einfache Alpträume. Bis zu jenem Abend jedoch, an dem sie Medo erreichten, hatten sich die Träume verändert.

»Verzeiht, Aes Sedai«, fragte Egwene schüchtern, »habt Ihr Moiraine Sedai gesehen?« Die schlanke Aes Sedai winkte ihr zu, weiterzugehen, und hastete weiter die überfüllte, von Fackeln beleuchtete Dorfstraße entlang. Sie rief jemandem zu, ihr Pferd vorsichtig zu behandeln. Die Frau gehörte zu den Gelben Ajah, obwohl sie gerade ihre Stola nicht trug. Mehr wußte Egwene nicht; nicht einmal ihren Namen.

Medo war ein kleines Dorf, das nun mehr Neuankömmlinge beherbergte, als es Einwohner hatte. Pferde und Menschen füllten die engen Straßen und drängten sich an den Einwohnern vorbei, die jedesmal niederknieten, wenn eine Aes Sedai vorbeikam. Greller Fackelschein beleuchtete alles. Die beiden Landestege ragten wie Steinfinger in den Mora hinein, und an jedem hatte ein Paar zweimastiger kleiner Schiffe festgemacht. Dort wurden bereits Pferde mit Hilfe von Ladebäumen, Tauen und Segeltuchbahnen an Bord gehievt. Weitere Schiffe mit starken hohen Bordwänden und Laternen an den Masten lagen auf dem mondbeschienenen Fluß. Sie waren bereits beladen oder warteten, bis sie an die Reihe kamen. Ruderboote brachten Bogenschützen und Pikeure heran. Die erhobenen Piken ließen die Boote wie riesige Stachelschweine aussehen, die an der Wasseroberfläche schwammen. Auf dem linken Landesteg entdeckte Egwene Anaiya, die den Ladevorgang beaufsichtigte und diejenigen ausschimpfte, die sich nicht schnell genug bewegten. Obwohl sie noch nie mehr als zwei Worte mit Egwene gewechselt hatte, erschien ihr Anaiya anders als die anderen — mehr wie eine Frau von zu Hause. Egwene konnte sich vorstellen, wie sie in der Küche stand und buk; das fiel ihr bei den anderen schwer. »Anaiya Sedai, habt Ihr Moiraine Sedai gesehen? Ich muß mit ihr sprechen.«

Die Aes Sedai blickte sich mit abwesendem Stirnrunzeln um. »Was? Ach, Ihr seid es, Kind. Moiraine ist weg. Und Eure Freundin Nynaeve ist bereits draußen auf der Flußkönigin. Ich mußte sie persönlich auf ein Boot verfrachten. Sie schrie, sie wolle nicht ohne Euch abfahren. Licht, welch ein Durcheinander! Ihr solltet auch schon an Bord sein. Sucht ein Boot, das zur Flußkönigin hinausfährt. Ihr beide reist mit der Amyrlin, also benehmt Euch, wenn Ihr an Bord seid. Keine weiteren Szenen oder Wutanfälle!«

»Auf welchem Schiff befindet sich Moiraine Sedai?«

»Moiraine ist auf keinem Schiff, Kind. Sie ist schon seit zwei Tagen weg, und die Amyrlin macht sich Sorgen um sie.« Anaiya verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf, obwohl der größte Teil ihrer Aufmerksamkeit immer noch den Arbeitern galt. »Zuerst verschwindet Moiraine mit Lan, anschließend Liandrin und dann Verin, ohne daß eine von ihnen ein Sterbenswörtchen verlauten ließ. Verin hat nicht einmal ihren Behüter mitgenommen. Tomas kaut sich vor Sorge die Nägel ab.« Die Aes Sedai blickte zum Himmel hinauf. Der zunehmende Mond war diesmal nicht von Wolken verdeckt. »Wir werden wieder den Wind heraufbeschwören müssen, und das wird der Amyrlin nicht gerade passen. Sie sagt, sie wolle, daß wir noch innerhalb einer Stunde nach Tar Valon aufbrechen, und sie wird keinen Aufenthalt dulden. Ich möchte nicht in Moiraines, Liandrins oder Verins Haut stecken, wenn sie ihnen das nächste Mal begegnet. Sie werden sich wünschen, wieder Novizinnen zu sein. Ja Kind, was ist denn los?«

Egwene atmete tief durch. Moiraine weg? Das kann nicht sein! Ich muß mit jemandem sprechen, der mich nicht auslacht. Sie stellte sich Anaiya zu Hause in Emondsfeld vor, wie sie sich die Probleme ihrer Tochter anhörte. Die Frau paßte in dieses Bild. »Anaiya Sedai, Rand ist in Schwierigkeiten.«

Anaiya sah sie nachdenklich an. »Der große Junge aus Eurem Dorf? Ihr vermißt ihn bereits, nicht wahr? Na ja, es sollte mich nicht überraschen, wenn er wirklich in Schwierigkeiten steckt. Das passiert jungen Männern in seinem Alter ständig. Obwohl eher der andere — Mat? — so aussah, als habe er Probleme. Schon gut, Kind. Ich will mich nicht über Euch lustig machen oder es auf die leichte Schulter nehmen. Welche Art von Schwierigkeiten? Und woher wißt Ihr überhaupt davon? Er und Lord Ingtar sollten mittlerweile das Horn in Besitz haben und wieder zurück in Fal Dara sein. Oder sie mußten ihm in die Fäule folgen, und daran kann man nichts ändern.«

»Ich... ich glaube nicht, daß sie in der Fäule oder in Fal Dara sind. Ich hatte einen Traum.« Sie sagte es beinahe trotzig. So ausgesprochen, klang es einfältig, aber es war ihr so real erschienen. Ein echter, aber eben ein realer Alptraum. Erst war da ein Mann gewesen mit einer Maske vor dem Gesicht und Feuer in den Augen. Trotz der Maske hatte sie einen Anflug von Überraschung auf seinem Gesicht festgestellt, als er ihrer ansichtig wurde. Sein Blick hatte ihr Angst eingejagt, bis sie glaubte, ihre Knochen würden vor Zittern abbröckeln, doch plötzlich verschwand er, und sie sah Rand, der in einen Umhang gehüllt auf dem Boden schlief. Eine Frau stand über ihm und betrachtete ihn. Ihr Gesicht lag im Schatten, aber ihre Augen leuchteten so hell wie der Mond, und Egwene wußte, daß sie böse war. Dann gab es einen Lichtblitz, und sie waren verschwunden. Beide. Und hinter allem lag, beinahe ganz losgelöst davon, ein Gefühl von Gefahr, als schnappe gerade eine Falle über einem nichtsahnenden Lamm zu — eine Falle mit vielen Zacken. Als habe sich der Ablauf der Zeit verlangsamt, konnte sie beobachten, wie sich die eisernen Kiefer aufeinander zu bewegten. Der Traum war mit dem Erwachen nicht verblaßt, wie das bei Träumen sonst der Fall war. Und das Gefühl der Gefahr war so stark, daß sie sich am liebsten ständig umgeblickt hätte — nur irgendwie wußte sie, daß die Gefahr Rand galt und nicht ihr.

Sie fragte sich, ob die Frau vielleicht Moiraine gewesen war, und schalt sich dann selbst ob dieses Gedankens. Liandrin füllte diese Rolle besser aus. Oder möglicherweise Alanna; auch sie hatte Interesse an Rand gezeigt.

Sie konnte sich nicht überwinden, Anaiya alles zu erzählen. So sagte sie höflich: »Anaiya Sedai, ich weiß, daß es töricht klingt, aber er ist in Gefahr. In großer Gefahr. Ich weiß es. Ich fühlte es. Ich fühle es immer noch.«

Anaiya sah nachdenklich aus. »Ja«, sagte sie leise, »ich wette, mit dieser Möglichkeit hat niemand gerechnet. Ihr könntet eine Wahrträumerin sein. Es ist nur eine geringe Möglichkeit, Kind, doch... Wir haben seit, ach, vier- oder fünfhundert Jahren keine mehr gehabt. Und Wahrträumen hängt eng mit Weissagung zusammen. Falls Ihr wirklich wahrträumen könnt, mag es sein, daß Ihr auch Voraussagen treffen könnt. Das wäre den Roten ein Dorn im Auge. Es könnte sich natürlich auch um einen ganz normalen Alptraum handeln, der von der Müdigkeit in der späten Nacht und von kaltem Essen und der beschwerlichen Reise hervorgerufen worden ist. Und davon, daß Ihr Euren jungen Mann vermißt. Das ist viel wahrscheinlicher. Ja, ja, Kind, ich weiß schon. Ihr seid seinetwegen besorgt. Hat Euer Traum eine Andeutung geliefert, welche Art von Gefahr ihm droht?«

Egwene schüttelte den Kopf. »Er verschwand einfach, und ich fühlte die Gefahr. Und das Böse. Ich hatte es sogar schon gefühlt, bevor er verschwand.« Sie schauderte und rieb die Hände aneinander. »Ich kann es immer noch wahrnehmen.«

»Nun, wir werden uns auf der Flußkönigin weiter darüber unterhalten. Falls Ihr wirklich eine Wahrträumerin seid, werde ich dafür sorgen, daß Ihr die Ausbildung erhaltet, die Moiraine eigentlich... Du da!« schrie die Aes Sedai plötzlich, und Egwene zuckte zusammen. Ein hochgewachsener Mann, der sich gerade auf ein Weinfaß gesetzt hatte, zuckte ebenfalls zusammen. Ein paar andere beschleunigten ihren Schritt. »Das soll an Bord gebracht und nicht zum Sitzen benützt werden! Wir sprechen auf dem Boot weiter, Kind. Nein, du Narr! Das kannst du nicht allein tragen! Willst du dir einen Bruch heben?« Anaiya lief den Landesteg hinunter und schimpfte die unglücklichen Dorfbewohner so heftig aus, wie Egwene es ihr nicht zugetraut hatte.

Egwene spähte in der Dunkelheit nach Süden. Er war irgendwo dort draußen. Nicht in Fal Dara, nicht in der Fäule. Da war sie sicher. Reiß dich zusammen, du wollköpfiger Narr! Wenn du dich umbringen läßt, bevor ich dich herausholen kann, ziehe ich dir die Haut bei lebendigem Leib ab. Sie kam gar nicht darauf, sich zu fragen, wie sie ihn wohl aus irgendeiner Gefahr herausholen sollte, während sie nach Tar Valon unterwegs war.

Sie zog ihren Umhang dicht um sich und machte sich daran, ein Boot zu suchen, das sie zur Flußkönigin bringen würde.

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