21 Die Neun Ringe

Rand erwartete einen leeren Schankraum, da die Leute um diese Zeit gewöhnlich beim Abendessen saßen, doch an einem Tisch saß ein halbes Dutzend Männer vor Bierseideln und würfelte. Ein anderer Mann saß abseits von ihnen und aß. Obwohl die Würfelspieler keine sichtbaren Waffen und Rüstungen trugen und nur in einfache dunkelblaue Mäntel und Kniebundhosen gekleidet waren, verriet ihre Haltung, daß es Soldaten waren. Rands Blick wanderte hinüber zu dem einzelnen Mann. Er war Offizier. Seine hohen Schaftstiefel waren oben umgeschlagen, und das Schwert hatte er an den Tisch neben seinem Stuhl gelehnt. Ein roter und ein gelber Streifen zogen sich quer über die Brust seines blauen Mantels von Schulter zu Schulter. Über der Stirn waren die Haare wegrasiert, hinten hingen sie ihm hingegen lang und schwarz herunter. Die Haare der Soldaten waren ganz kurz, als habe man sie alle unter der gleichen Schüssel abgeschnitten. Alle sieben wandten sich um, als Rand und seine Gefährten eintraten.

Die Wirtin war eine hagere Frau mit langer Nase und ergrautem Haar, aber ihre Falten schienen eher vom Lächeln herzurühren als vom Kummer. Sie kam herbei und wischte sich die Hände an der blütenweißen Schürze ab. »Einen guten Abend wünsche ich Euch« — ein schneller Blick erfaßte Rands goldbestickten roten Mantel und Selenes vornehmes weißes Kleid —, »mein Lord, meine Lady. Ich heiße Maglin Madwen, Euer Lordschaft.

Seid willkommen in den ›Neun Ringen‹. Und ein Ogier. Nicht viele Eurer Rasse kommen hierher, Freund Ogier. Kommt Ihr vielleicht vom Stedding Tsofu?«

Loial brachte es trotz des Gewichts der Truhe fertig, sich halb zu verbeugen. »Nein, gute Wirtin. Ich komme aus der anderen Richtung, von den Grenzlanden her.«

»Von den Grenzlanden sagt Ihr? Aha. Und Ihr, Eure Lordschaft? Vergebt mir meine Neugier, aber Ihr seht nicht so aus wie jemand aus den Grenzlanden. Nichts für ungut.«

»Ich komme von den Zwei Flüssen, Frau Madwen. Das liegt in Andor.« Er sah Selene an. Sie schien über ihn hinwegzublicken und gerade noch anzuerkennen, daß dieser Schankraum mit seinen Gästen existierte. »Lady Selene kommt aus Cairhien, aus der Hauptstadt selbst, und ich komme aus Andor.«

»Wie Ihr sagt, Eure Lordschaft.« Frau Madwens Blick huschte zu Rands Schwert hinunter. Die Bronzereiher auf Scheide und Knauf waren deutlich sichtbar. Sie runzelte leicht die Stirn, aber einen Augenblick später hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Ihr wünscht sicher ein Mahl für Euch, Eure schöne Lady und Euer Gefolge. Und Zimmer, schätze ich. Ich werde dafür sorgen, daß Eure Pferde versorgt werden. Ich habe einen guten Tisch für Euch, gleich hier drüben, und Schweinefleisch mit gelbem Pfeffer auf dem Feuer. Sucht Ihr auch nach dem Horn von Valere, Eure Lordschaft, Ihr und Eure Lady?«

Rand war gerade dabei, ihr zum Tisch zu folgen, und stolperte fast bei dieser Bemerkung. »Nein! Wieso glaubt Ihr das?«

»Nichts für ungut, Eure Lordschaft. Hier kamen schon zwei durch letzten Monat, und beide wie die Helden aufgeputzt. Nicht, daß ich etwas dergleichen über Euch andeuten möchte, Eure Lordschaft. Hier kommen nicht viele Fremde her, außer den Händlern aus der Hauptstadt, die hier Hafer und Gerste kaufen. An sich hatte ich nicht geglaubt, daß die Jäger bereits Illian verlassen haben, aber vielleicht glauben einige, sie brauchten den Segen nicht und könnten den anderen zuvorkommen, wenn sie darauf verzichten.«

»Wir jagen nicht nach dem Horn, gute Frau.« Rand sah das Bündel in Loials Armen nicht an. Die buntgestreifte Decke hing dem Ogier über die kräftigen Arme und verbarg die Truhe recht gut. »Ganz sicher nicht. Wir sind auf dem Weg zur Hauptstadt.«

»Wie Ihr meint, Eure Lordschaft. Verzeiht meine Frage, aber geht es Eurer Lady gut?«

Selene sah sie an und sagte zum erstenmal etwas: »Es geht mir recht gut.« Ihre Stimme ließ die Atmosphäre im Raum einfrieren. Für einen Augenblick lang erstarrte jede Unterhaltung.

»Ihr stammt nicht aus Cairhien, Frau Madwen«, sagte Hurin plötzlich. So, wie er beladen war mit Satteltaschen und Bündeln, wirkte er wie ein wandelnder Gepäckwagen. »Verzeihung, aber Ihr sprecht nicht wie jemand aus Cairhien.«

Frau Madwens Augenbrauen hoben sich. Sie sah schnell zu Rand hinüber und lächelte dann. »Ich hätte wissen sollen, daß Ihr Euren Mann frei sprechen laßt, aber ich habe mich so daran gewöhnt, daß... « Ihr Blick huschte hinüber zu dem Offizier, der sich wieder seiner Mahlzeit zugewandt hatte. »Licht, nein, ich komme nicht aus Cairhien, aber ich habe hierher geheiratet. Dreiundzwanzig Jahre lang habe ich mit ihm zusammengelebt, und als er starb — das Licht leuchte ihm —, wollte ich gern nach Lugard zurückzukehren, aber wer zuletzt lacht... Er hinterließ mir die Schenke, und das Geld bekam sein Bruder. Dabei war ich so sicher gewesen, es werde andersherum kommen. Ein ausgefeimter Bursche war mein Barin, wie alle Männer, die ich kennengelernt habe, und besonders die aus Cairhien. Nehmt Ihr bitte Platz, Eure Lordschaft, Lady?«

Die Wirtin blickte überrascht drein, als sich Hurin an denselben Tisch mit ihnen setzte. Es schien, ein Ogier sei eine Ausnahme, aber Hurin hielt sie auf jeden Fall für einen Diener. Nach einem weiteren schnellen Blick zu Rand hinüber eilte sie in die Küche, und bald kamen Serviererinnen herein und trugen das Mahl auf. Die Mädchen kicherten nervös und starrten den Lord, die Lady und den Ogier an, bis Frau Madwen sie wieder an die Arbeit scheuchte.

Anfangs betrachtete Rand zweifelnd, was er da auf dem Teller hatte. Das Schweinefleisch war in kleine Stücke geschnitten und schwamm zwischen langen Schnitten gelben Pfeffers, Erbsen und anderen Gemüsen, die er nicht kannte, in einer klaren dicken Sauce. Sie roch gleichzeitig süß und scharf. Selene stocherte nur in ihrem Teller herum, aber Loial aß mit herzhaftem Appetit.

Hurin grinste Rand über seine Gabel hinweg an. »Sie verwenden eigenartige Gewürze, Lord Rand, aber es schmeckt trotzdem nicht schlecht.«

»Es wird nicht zurückbeißen, Rand«, fügte Loial hinzu.

Rand aß zögernd ein wenig und ließ es vor Überraschung beinahe wieder aus dem Mund fallen. Es schmeckte so, wie es roch: gleichzeitig süß und scharf. Das Schweinefleisch war außen knusprig und innen zart, schmeckte nach einem Dutzend verschiedener Gewürze, und alle ergänzten sich und blieben dennoch erhalten. Er hatte noch nie etwas ähnliches im Mund gehabt. Es schmeckte wunderbar. Er leerte seinen Teller, und als Frau Madwen mit den Serviererinnen kam, um abzuräumen, hätte er beinahe so wie Loial um einen Nachschlag gebeten. Selenes Teller war noch halb voll, und sie bedeutete einem Mädchen knapp, ihn mitzunehmen.

»Aber gern, Freund Ogier.« Die Wirtin lächelte. »Einer wie Ihr braucht eine ganze Menge, um satt zu werden. Catrine, bring noch einen Teller voll und mach schnell!« Eines der Mädchen eilte davon. Frau Madwen wandte sich lächelnd Rand zu. »Lord Rand, ich hatte hier einen Mann, der Zither spielte, aber er hat ein Bauernmädchen von einem entfernten Hof geheiratet, und nun darf er die Zügel hinter dem Pflug zupfen. Ich sah zufällig, daß etwas aus dem Bündel Eures Mannes ragte, was wie ein Flötenkasten aussah. Da mein Musikant nicht mehr da ist, würdet Ihr vielleicht Eurem Mann erlauben, uns mit ein wenig Musik zu erfreuen?«

Hurin blickte verlegen drein. »Er spielt nicht«, erklärte Rand, »sondern ich.«

Die Frau riß die Augen auf. Anscheinend spielte ein Lord keine Flöte, jedenfalls nicht in Cairhien. »Ich ziehe meinen Wunsch zurück, Lord Rand. Bei der Wahrheit des Lichts, ich wollte Euch nicht kränken, das schwöre ich. Ich bäte niemals jemanden wie Euch, in einem Schankraum zu spielen.«

Rand zögerte nur einen Augenblick. Es war schon zu lange her, daß er statt mit dem Schwert mit der Flöte geübt hatte, und die Münzen in seiner Tasche würden auch nicht ewig reichen. Wenn er endlich seine vornehme Kleidung los war — nachdem er Ingtar das Horn und Mat den Dolch gegeben hatte —, würde er die Flöte brauchen, um sich wieder sein Essen zu verdienen, während er nach einem Ort suchte, an dem er vor den Aes Sedai sicher war. Und auch vor mir selbst sicher? Irgend etwas ist dort hinten geschehen. Aber was?

»Es macht mir nichts aus«, sagte er. »Hurin, gib mir den Behälter. Zieh ihn einfach raus.« Es war nicht nötig, den Umhang des Gauklers zu zeigen. Ohnedies erschienen schon genügend unausgesprochene Fragen in Frau Madwens dunklen Augen. Das mit Gold und Silber verzierte Instrument sah so aus, als könne es wirklich nur von einem Lord gespielt werden, falls es irgendwo Lords gab, die Flöte spielten. Der in seine rechte Handfläche eingebrannte Reiher machte ihm beim Spielen keine Schwierigkeiten. Selenes Salbe hatte so gut geholfen, daß er gar nicht mehr an das Brandzeichen gedacht hatte, bis es ihm jetzt wieder zu Bewußtsein kam. Jetzt mußte er daran denken, und deshalb spielte er unbewußt den ›Reiherflug‹.

Hurin nickte mit dem Kopf im Takt des Liedes, und Loial schlug den Takt mit einem dicken Finger auf dem Tisch. Selene sah Rand an, als frage sie sich, wer er überhaupt sei... Ich bin kein Lord, meine Lady. Ich bin Schäfer und spiele Flöte in Schankräumen. Die Soldaten hielten in ihrem Gespräch inne und lauschten. Der Offizier schloß den Holzdeckel des Buches, in dem er gerade lesen wollte. Selenes ruhiger Blick löste in Rand Trotz aus. Bewußt mied er jedes Lied, das in einem Palast oder im Herrenhaus eines Lords gespielt werden mochte. Statt dessen spielte er ›Nur ein Eimer Wasser‹ und ›Tabak von den zwei Flüssen‹, ›Der alte Jak sitzt oben im Baum‹ und ›Meister Prikets Pfeife‹.

Beim letzten Lied begannen die Soldaten, mit rauhen Stimmen mitzusingen, wenn auch nicht den Text, den Rand kannte.

Wir reiten hinunter zum Iralell, dort, wo der Taren mündet.

Wir stehen am Ufer, als die Sonne sich gerade über dem Horizont befindet.

Ihre Pferde zertrampeln das Sommergras, ihre Flaggen verdunkeln den Himmel, doch wir halten das Feld gegen sie am Ufer des Iralell.

Ja, wir halten das Feld, wir halten das Feld, wir halten das Feld am Iralell.

Rand stellte nicht zum ersten Mal fest, daß eine Melodie in einem anderen Land oder manchmal sogar in einem anderen Dorf des gleichen Landes einen anderen Text und Titel hatte. Er begleitete sie, bis sie den Text beendet hatten, sich gegenseitig auf die Schultern schlugen und bissige Kommentare über die Gesangskunst des anderen abgaben.

Als Rand die Flöte senkte, erhob sich der Offizier und machte eine abgehackte Handbewegung. Mitten im Lachen verstummten die Soldaten, schoben ihre Stühle zurück, verbeugten sich mit einer Hand auf der Brust vor dem Offizier und vor Rand und gingen hinaus, ohne sich umzusehen. Der Offizier kam an Rands Tisch und verbeugte sich mit der Hand auf dem Herzen. Der kahlgeschorene vordere Teil seines Kopfes sah aus, als habe er ihn weiß gepudert. »Die Gnade des Lichts leuchte Euch, mein Lord. Ich hoffe, sie haben Euch mit ihrem Gesang nicht belästigt. Es sind gewöhnliche Leute, aber ich versichere Euch, daß sie Euch nicht beleidigen wollten. Ich heiße Aldrin Caldevwin, Eure Lordschaft, Hauptmann im Dienst seiner Majestät, das Licht sei ihm gnädig.« Sein Blick glitt über Rands Schwert. Rand hatte das Gefühl, Caldevwin habe die Reiher sofort bemerkt, als sie hereinkamen.

»Sie haben mich nicht beleidigt.« Die Aussprache des Offiziers erinnerte ihn an Moiraine, so genau sprach er jedes einzelne Wort aus. Hat sie mich wirklich einfach fortgelassen? Ich frage mich, ob sie mir folgt. Oder auf mich wartet. »Setzt Euch doch bitte, Hauptmann.« Caldevwin zog einen Stuhl vom Nachbartisch heran. »Wenn Ihr nichts dagegen habt, Hauptmann, dann beantwortet mir doch bitte eine Frage. Habt Ihr in letzter Zeit Fremde gesehen? Ein Dame, klein und schlank, und einen Kämpfer mit blauen Augen? Er ist groß und trägt manchmal das Schwert auf dem Rücken.«

»Ich habe überhaupt keine Fremden gesehen«, sagte er, während er sich steif auf den Stuhl sinken ließ. »Außer Euch und Eurer Lady, Eure Lordschaft. Wenig Adlige verirren sich jemals hierher.« Sein Blick huschte leicht beunruhigt zu Loial, während er Hurin als Diener übersah.

»Es war nur so eine Idee.«

»Beim Licht, Eure Lordschaft, und bei allem Respekt, aber dürfte ich Eure Namen wissen? Es gibt hier so wenig Fremde, daß ich jeden von ihnen kennen möchte.«

Rand nannte ihm seinen Namen — er fügte keinen Titel hinzu, aber das schien der Offizier nicht zu bemerken —und erklärte, was er auch zur Wirtin gesagt hatte: »Von den Zwei Flüssen in Andor.«

»Ein erstaunliches Land, wie ich gehört habe, Lord Rand — ich darf Euch doch so nennen? —, und gute Kämpfer, die Männer von Andor. Niemand aus Cairhien hat das Schwert eines Schwertmeisters in so jungen Jahren gewonnen wie Ihr. Ich habe einst einige Männer aus Andor kennengelernt, darunter den Generalhauptmann der königlichen Garde. Ich kann mich zu meiner Scham nicht an seinen Namen erinnern. Könntet Ihr mir vielleicht damit dienen?«

Rand bemerkte die Serviererinnen, die im Hintergrund zu putzen und kehren begannen. Caldevwin schien sich nur unterhalten zu wollen, aber sein Blick lauerte durchbohrend. »Gareth Bryne.«

»Natürlich. Jung, und doch hat er schon eine solche Verantwortung.«

Rand behielt seinen ruhigen Tonfall bei: »Gareth Bryne hat genug graue Haare, um Euer Vater zu sein, Hauptmann.«

»Vergebt mir, Lord Rand. Ich wollte sagen, daß er schon jung dieses Amt erlangte.« Caldevwin wandte sich Selene zu und sah sie einen Moment lang nur an. Schließlich schüttelte er sich, als erwache er aus einer Trance. »Vergebt mir, Lady, daß ich Euch so ansah, und vergebt mir meine Worte, aber die Schönheit hat Euch reich gesegnet. Nennt Ihr mir einen Namen für soviel Schönheit?«

Gerade als Selene den Mund öffnete, schrie eine der Bedienungen auf und ließ eine Lampe fallen, die sie von einem Regal heruntergenommen hatte. Öl spritzte und bildete eine flammende Lache auf dem Boden. Rand sprang zusammen mit den anderen auf, doch bevor einer von ihnen sich rühren konnte, erschien Frau Madwen, und sie und das Mädchen erstickten die Flammen mit ihren Schürzen.

»Ich habe dir doch gesagt, du sollst aufpassen, Catrine«, sagte die Wirtin und schwenkte die rußige Schürze unter der Nase des Mädchens. »Du wirst noch die ganze Schenke niederbrennen und dich mit!«

Das Mädchen schien den Tränen nahe. »Ich habe aufgepaßt, Frau Madwen, aber ich spürte plötzlich ein solches Zwicken im Arm.«

Frau Madwen hob beschwörend die Arme. »Du hast immer eine Ausrede und doch zerbrichst du mehr Geschirr als alle anderen. Ach, ist schon in Ordnung. Putz es auf und verbrenn dich nicht dabei.« Die Wirtin wandte sich Rand und den anderen zu, die immer noch am Tisch standen. »Ich hoffe, keiner von Euch wird das falsch verstehen. Das Mädchen wird natürlich die Schenke nicht niederbrennen. Sie behandelt das Geschirr etwas rauh, wenn sie wieder mal einem jungen Burschen schöne Augen macht, aber sie hat noch nie zuvor Schwierigkeiten mit einer Lampe gehabt.«

»Ich möchte gern in mein Zimmer gebracht werden. Mir geht es doch nicht so gut.« Selene sprach so langsam, als sei sie sich der Reaktion ihres Magens nicht sicher, aber es klang genauso kühl und ruhig wie immer, und so sah sie auch aus. »Die Reise und das Feuer... «

Die Wirtin gluckste wie eine Henne. »Natürlich, Lady. Ich habe ein schönes Zimmer für Euch und Euren Lord. Soll ich Mutter Caredwain holen lassen? Sie hat viel Geschick mit Heilkräutern.«

Selenes Tonfall verschärfte sich. »Nein. Und ich will ein Zimmer für mich allein.«

Frau Madwen sah Rand an, doch im nächsten Moment verbeugte sie sich und geleitete Selene zur Treppe. »Wie Ihr wünscht, Lady. Lidan, hol die Sachen der Lady. Sei ein gutes Mädchen.« Eines der Mädchen eilte zu Hurin und nahm ihm Selenes Satteltaschen ab. Dann verschwanden die Frauen nach oben. Selene schritt mit steifem Kreuz und schweigend hinauf.

Caldevwin blickte ihnen nach, bis sie nicht mehr zu sehen waren, dann schüttelte er sich wieder. Er wartete darauf, daß Rand sich setzte, und nahm seinen Stuhl wieder ein. »Vergebt mir, Lord Rand, daß ich Eure Lady so anstarrte, aber Ihr seid wirklich ein beneidenswerter Mann, nichts für ungut.«

»Ist schon gut«, sagte Rand. Er fragte sich, ob alle Männer die gleichen Gefühle empfanden wie er, wenn sie Selene anblickten. »Als ich auf das Dorf zuritt, Hauptmann, sah ich eine riesige Kugel. Sie schien aus Kristall zu bestehen. Was ist das?«

Der Blick des Mannes aus Cairhien wurde schärfer. »Sie ist ein Teil der Statue, Lord Rand«, sagte er bedächtig. Sein Blick huschte zu Loial hinüber; einen Moment lang schien ein neues Element in seine Überlegungen einzufließen.

»Statue? Ich sah eine Hand und auch ein Gesicht. Sie muß riesig sein.«

»Das ist sie, Lord Rand. Und alt.« Caldevwin schwieg. »Aus dem Zeitalter der Legenden, hat man mir erzählt.«

Rand überlief es kalt. Das Zeitalter der Legenden, als überall die Eine Macht in Gebrauch war, falls man den Geschichten darüber Glauben schenken konnte. Was ist dort geschehen? Ich weiß, da war etwas.

»Das Zeitalter der Legenden«, sagte Loial. »Ja, das muß stimmen. Keiner wußte seither solch großartige Arbeiten auszuführen. Eine sehr wichtige Aufgabe, diese Ausgrabungen, Hauptmann.« Hurin saß schweigend da, als höre er gar nicht zu und sei überhaupt nicht da.

Caldevwin nickte zögernd. »Ich habe fünfhundert Arbeiter im Lager bei den Ausgrabungen, trotzdem werden wir viel Zeit über den Sommer hinaus brauchen, um alles freizulegen. Das sind Leute aus Vortor. Meine Arbeit besteht zur Hälfte daraus, sie zum Graben anzutreiben, und zur anderen Hälfte, sie vom Dorf fernzuhalten. Die Leute aus Vortor haben eine Schwäche fürs Trinken und Austoben, versteht Ihr, und diese Menschen hier führen ein ruhiges Leben.« Seinem Tonfall nach lagen seine Sympathien eindeutig bei den Dorfbewohnern.

Rand nickte. Er interessierte sich nicht für die Menschen in Vortor, wo immer das auch sein mochte. »Was wird dann mit der Figur geschehen?« Der Hauptmann zögerte, aber Rand sah ihn so lange an, bis er sich äußerte.

»Galldrian selbst hat befohlen, daß sie in die Hauptstadt gebracht wird.«

Loial zwinkerte überrascht. »Das wird aber ein hartes Stück Arbeit. Ich möchte wissen, wie man etwas so Großes so weit transportieren kann.«

»Seine Majestät hat es befohlen«, sagte Caldevwin in scharfem Ton. »Die Figur wird außerhalb der Stadt aufgestellt als Sinnbild der Größe Cairhiens und des Hauses Riatin. Ogier sind nicht die einzigen, die es verstehen, mit Stein umzugehen.« Loial blickte verletzt drein, und der Hauptmann beruhigte sich sichtlich. »Verzeihung, Freund Ogier. Ich habe vorschnell und unhöflich gesprochen.« Er klang aber immer noch ein wenig barsch. »Werdet Ihr lange in Tremonsien bleiben, Lord Rand?«

»Wir reisen morgen früh ab«, sagte Rand. »Wir sind unterwegs nach Cairhien.«

»Wie der Zufall will, schicke ich morgen einige meiner Soldaten in die Stadt zurück. Ich muß sie immer wieder austauschen. Es ermüdet sie, Männern beim Schaufeln und Hacken zuzuschauen. Ihr habt doch nichts dagegen, in ihrer Gesellschaft zu reisen?« Er formulierte es als Frage, doch so, als sei ihr Einverständnis vorweggenommen. Frau Madwen erschien auf der Treppe, und er erhob sich. »Wenn Ihr mich nun entschuldigen würdet, Lord Rand; ich muß früh aufstehen. Also, dann bis morgen. Die Gnade des Lichts sei mit Euch.« Er verbeugte sich vor Rand, nickte Loial zu und ging.

Als sich die Tür hinter dem Offizier aus Cairhien schloß, kam die Wirtin zu ihnen an den Tisch.

»Ich habe Eure Lady gut untergebracht, Eure Lordschaft. Und ich habe schöne Zimmer für Euch und Euren Mann und Euch, Freund Ogier, richten lassen.« Sie hielt inne und musterte Rand. »Verzeiht mir, falls ich zu weit gehe, Lord Rand, aber ich glaube, ich kann frei mit einem Lord sprechen, der seinen Mann ohne Aufforderung reden läßt. Falls ich mich täusche... Also, ich meine es nicht böse. Dreiundzwanzig Jahre lang haben Barin Madwen und ich uns gestritten, wenn wir uns nicht gerade küßten... Also, ich will damit sagen, daß ich einige Erfahrung besitze. Im Moment glaubt Ihr wahrscheinlich, Eure Lady wolle Euch nie wieder sehen, aber aus Erfahrung bin ich der Meinung, wenn Ihr heute nacht an ihre Tür klopft, dann wird sie Euch einlassen. Lächelt und sagt ihr, es sei alles Eure Schuld gewesen, gleichgültig, ob es stimmte oder nicht.«

Rand räusperte sich und hoffte, daß sein Gesicht nicht rot anlief. Licht, Egwene brächte mich um, wenn sie wüßte, daß ich auch nur an so etwas gedacht habe. Und Selene brächte mich um, wenn ich es täte. Oder? Der Gedanke rötete ihm die Wangen. »Ich... danke Euch für Eure Anregung, Frau Madwen. Die Zimmer... « Er vermied es, die mit einer Decke bedeckte Truhe neben Loials Stuhl anzusehen. Sie wagten es nicht, sie einfach ohne Bewachung stehen zu lassen. »Wir drei schlafen alle im gleichen Zimmer.«

Die Wirtin wirkte überrascht, fing sich aber gleich wieder. »Wie Ihr wünscht, Eure Lordschaft. Hier hinauf, bitte.«

Rand folgte ihr die Treppe hinauf. Loial trug die Truhe mit der Decke. Die Treppe knarrte unter der Last doch die Wirtin schien zu glauben, es liege nur an dem Gewicht des Ogiers. Hurin trug immer noch alle Satteltaschen und den zum Bündel verschnürten Umhang mit Harfe und Flöte. Frau Madwen ließ ein drittes Bett hereinbringen, zusammenbauen und beziehen. Eines der beiden bereits vorhandenen Betten erstreckte sich von Wand zu Wand. Das war ganz offensichtlich für Loial vorgesehen gewesen. Es war kaum Platz genug, um sich zwischen den Betten zu bewegen. Sobald die Wirtin gegangen war, wandte sich Rand an die anderen. Loial hatte die Truhe unter sein Bett geschoben und probierte die Matratze aus. Hurin lehnte die Satteltaschen an die Wand. »Weiß einer von euch, warum der Hauptmann uns so mißtrauisch behandelt hat? Das hat er doch, da bin ich sicher.« Er schüttelte den Kopf. »So, wie er geredet hat, könnte man fast glauben, wir wollten diese Statue stehlen.«

»Daes Dae'mar, Lord Rand«, sagte Hurin. »Das Große Spiel. Das Spiel der Häuser wird es von manchen genannt. Dieser Caldevwin glaubt, Ihr führtet irgend etwas im Schilde, sonst wärt Ihr nicht hier. Und was immer Ihr vorhabt: Es könnte zu seinem Nachteil gereichen, also muß er vorsichtig taktieren.«

Rand schüttelte den Kopf. »Das Große Spiel? Was für ein Spiel?«

»Es ist überhaupt kein Spiel, Rand«, sagte Loial von seinem Bett her. Er hatte ein Buch aus der Tasche gezogen; es lag jedoch ungeöffnet auf seiner Brust. »Ich weiß nicht viel darüber — Ogier tun so etwas nicht —, aber ich habe davon gehört. Die Adligen und die adligen Familien, die Häuser, intrigieren, um sich Vorteile zu verschaffen. Sie tun Dinge, die ihnen vermeintlich helfen oder einem Gegner schaden — oder beides. Normalerweise läuft das alles geheim ab, und wenn nicht, tun sie so, als wollten sie etwas ganz anderes als in Wirklichkeit.« Er kratzte sich fragend ein behaartes Ohr. »Aber obwohl ich weiß, was es ist, verstehe ich es nicht. Der Älteste Haman hat immer gesagt, es sei ein größerer Verstand nötig, um die Dinge zu verstehen, die Menschen so anstellen, na ja, und ich kenne nicht viele, die so klug sind wie der Älteste Haman. Ihr Menschen seid schon eigenartig.«

Hurin sah den Ogier prüfend an, sagte aber: »Er hat recht in bezug auf Daes Dae'mar, Lord Rand. Die Adligen in Cairhien spielen das noch häufiger als andere, obwohl das überall im Süden verbreitet ist.«

»Diese Soldaten morgen früh«, sagte Rand, »sind sie ein Teil von Caldevwins Strategie, das Große Spiel mitzuspielen? Wir können es uns nicht leisten, in so etwas verwickelt zu werden.« Das Horn mußte er gar nicht erst erwähnen. Sie alle waren sich seiner Gegenwart nur zu bewußt.

Loial schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, Rand. Er ist ein Mensch, also kann es alles mögliche bedeuten.« »Hurin?«

»Ich weiß es auch nicht.« Hurin klang genauso besorgt, wie Loial aussah. »Es kann sein, daß er genau das meint, was er sagt, oder... So ist das Spiel der Häuser. Man weiß nie genau Bescheid. Ich verbrachte die meiste Zeit in Vortor, als ich in Cairhien lebte, Lord Rand, und weiß deshalb nicht viel über den Adel der Stadt, aber... Na ja, Daes Dae'mar kann überall gefährlich sein, und ganz besonders in Cairhien, wie ich hörte.« Plötzlich hellte sich seine Miene auf. »Die Lady Selene, Lord Rand. Sie wird es besser wissen als ich oder der Erbauer. Ihr könnt sie morgen früh danach fragen.«

Aber am Morgen war Selene fort. Als Rand in den Schankraum hinunterging, händigte ihm Frau Madwen einen versiegelten Umschlag aus. »Vergebt mir, Eure Lordschaft, doch Ihr hättet besser auf mich gehört. Ihr hättet doch an die Tür Eurer Lady klopfen sollen.«

Rand wartete, bis sie weg war, dann zerbrach er das weiße Wachssiegel. In das Wachs war eine Mondsichel mit Sternen eingedrückt.

Ich muß Euch für eine Weile verlassen. Es gibt hier zuviele Leute, und mir gefällt dieser Caldevwin nicht. Ich werde in Cairhien auf Euch warten.

Glaubt niemals, daß ich Euch fern sei. Ihr werdet immer in meinen Gedanken sein, so wie ich in Euren —das weiß ich.

Es war nicht unterschrieben, aber diese elegante fließende Schrift sah ganz nach Selene aus.

Er faltete den Brief sorgfältig zusammen und steckte ihn in die Tasche, bevor er nach draußen ging, wo Hurin mit den Pferden wartete.

Hauptmann Caldevwin war auch da. Er hatte einen jüngeren Offizier dabei, und fünfzig berittene Soldaten drängten sich auf der Straße. Die beiden Offiziere trugen keine Kopfbedeckung, wohl aber stahlbewehrte Handschuhe, und sie hatten goldverzierte Brustpanzer über ihre blauen Mäntel geschnallt. Ein kurzer Stab war auf dem Rücken jedes Offiziers an der Rüstung befestigt, so daß ein kleiner steifer Flaggenwimpel über seinem Kopf hing. Caldevwins Flagge zeigte einen einzelnen weißen Stern, während auf dem Wimpel des jüngeren Offiziers zwei gekreuzte weiße Balken zu sehen waren. Sie bildeten einen harten Kontrast zu den Soldaten in ihren einfachen Rüstungen und Helmen, die wie Glocken aussahen, bei denen man ein Stück Metall herausgeschnitten hatte, damit sie sehen konnten.

Caldevwin verbeugte sich, als Rand aus der Schenke trat. »Einen guten Morgen, Lord Rand. Darf ich Euch Elricain Tavolin vorstellen, der Eure Eskorte befehligt, falls ich so sagen darf?« Der andere Offizier verbeugte sich. Sein Kopf war vorn kahlgeschoren wie der von Caldevwin. Er schwieg.

»Uns ist eine Eskorte willkommen, Hauptmann«, sagte Rand und brachte es fertig, dabei ganz entspannt zu wirken. Fain würde nichts gegen fünfzig Soldaten unternehmen, aber Rand hoffte, daß sie wirklich nur als Eskorte gedacht waren.

Der Hauptmann musterte Loial, der mit der verdeckten Truhe auf dem Weg zu seinem Pferd war. »Eine schwere Last, Ogier.«

Loial wäre beinahe gestolpert. »Ich möchte nie von meinen Büchern getrennt sein, Hauptmann.« Die Zähne in seinem breiten Mund blitzten auf, als er verlegen grinste, und er beeilte sich damit, die Truhe auf den Sattel zu schnallen.

Caldevwin sah sich mit gerunzelter Stirn um. »Eure Lady ist noch nicht heruntergekommen. Und ihr edles Pferd fehlt auch noch.«

»Sie ist bereits abgereist«, teilte Rand ihm mit. »Sie mußte schnell, noch während der Nacht, nach Cairhien reiten.«

Caldevwin zog die Augenbrauen hoch. »In der Nacht?

Aber meine Männer... Verzeiht, Lord Rand.« Er zog den jüngeren Offizier auf die Seite und flüsterte heftig auf ihn ein.

»Er ließ die Schenke überwachen, Lord Rand«, flüsterte Hurin. »Lady Selene muß irgendwie unbemerkt an ihnen vorbeigekommen sein. Vielleicht haben sie geschlafen.«

Rand kletterte mit einer Grimasse auf den Rücken des Braunen. Falls Caldevwin sie bisher doch irgendwie für unverdächtig gehalten hatte, so hatte Selene dem wohl ein Ende bereitet. »Zu viele Leute, hat sie gesagt«, murmelte er. »In Cairhien gibt es noch viel mehr Leute.«

»Ihr habt etwas bemerkt, Eure Lordschaft?«

Rand blickte auf, als Tavolin sich ihnen anschloß. Er saß auf einem hochrahmigen staubfarbenen Wallach. Auch Hurin saß im Sattel, und Loial stand beim Kopf seines großen Pferdes. Die Soldaten hatten sich zu Rängen formiert. Caldevwin war nicht mehr zu sehen.

»Nichts geschieht so, wie ich es erwarte«, sagte Rand.

Tavolin lächelte ihn kurz an. Es war kaum mehr als ein Zucken der Lippen. »Sollen wir reiten, Eure Lordschaft?«

Die eigenartige Prozession bewegte sich auf die ausgefahrene Straße zu, die zur Stadt Cairhien führte.

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