»Hast du es gefunden?« fragte Rand, während er Hurin eine enge Treppe hinunter nachlief. Die Küche befand sich in einem der unteren Stockwerke, und man hatte sämtliche Diener dorthin geschickt, die mit den Gästen zusammen angekommen waren. »Oder ist Mat wirklich etwas passiert?«
»Ach, Mat geht es gut, Lord Rand.« Der Schnüffler zog die Stirn kraus. »Zumindest scheint es so, und er schimpft wie ein gesunder Mann. Ich wollte Euch nicht beunruhigen, aber ich brauchte eine Ausrede, um Euch hier herunter zu holen. Ich hatte keine Schwierigkeiten, die Spur wiederzufinden. Die Männer, die Cuales Schenke ansteckten, sind alle in einen ummauerten Garten hinter dem Haus gegangen. Die Trollocs haben sich ihnen angeschlossen — sie sind auch da drinnen. Das muß wohl irgendwann gestern gewesen sein, schätze ich. Vielleicht auch schon vorgestern nacht.« Er zögerte. »Lord Rand, sie sind nicht wieder herausgekommen. Sie müssen einfach immer noch drin sein.«
Am Fuß der Treppe konnten sie hören, wie die Diener ein Stück weiter den Flur entlang feierten. Gelächter und Gesang erklangen von dort her. Jemand hatte eine Zither dabei und spielte eine schnelle, einfache Melodie, zu der die anderen im Rhythmus klatschten. Man hörte das Stampfen tanzender Füße. Hier gab es weder stuckverzierte Decken noch schöne Tapeten — nur blanken Stein oder Holz. Der Lichtschein im Gang rührte von Binsenfackeln her, deren Qualm die Decke schwärzte. Sie befanden sich so weit voneinander entfernt, daß es dazwischen fast dunkel war.
»Ich bin froh, daß du wieder normal mit mir sprichst«, sagte Rand. »So, wie du dich ständig verbeugt und Kratzfüße gemacht hast, glaubte ich schon, du wolltest die Leute aus Cairhien noch übertreffen.«
Hurins Gesicht lief rot an. »Also, was das betrifft... « Er blickte den Flur hinunter in Richtung des Lärms und spitzte die Lippen, als wolle er ausspucken. »Sie tun alle so wohlerzogen und korrekt, aber... Lord Rand, jeder von ihnen behauptet, seinem Herrn oder seiner Herrin gegenüber treu zu sein, aber alle deuten an, daß sie bereit sind, ihr Wissen oder ihre Kenntnisse weiterzuverkaufen. Und wenn sie ein paar Glas getrunken haben, dann flüstern sie einem Sachen über ihre Lords und Ladies ins Ohr, daß einem die Haare zu Berge stehen. Ich weiß, sie sind nun mal aus Cairhien, aber so was habe ich denn doch noch nie erlebt.«
»Wir gehen ja bald von hier weg, Hurin.« Rand drückte eher seine Hoffnung aus als eine Gewißheit. »Wo ist dieser Garten?« Hurin bog in einen Seitengang ein, der zur Rückseite des Hauses führte. »Hast du Ingtar und die anderen schon runtergebracht?«
Der Schnüffler schüttelte den Kopf. »Lord Ingtar ließ sich von sechs oder sieben dieser sogenannten Damen in die Enge treiben. Ich konnte nicht nahe genug herankommen, um mit ihm zu sprechen. Und Verin Sedai war bei Barthanes. Sie sah mich derart eigenartig an, als ich mich näherte, daß ich nicht einmal versucht habe, ihr etwas zu sagen.«
Sie bogen um eine weitere Ecke, und da standen Loial und Mat. Loial konnte wegen der niedrigen Decke nur gebückt stehen.
Loials Grinsen war fast so breit wie sein ganzes Gesicht. »Da bist du ja, Rand. Ich war noch niemals so froh, jemandem entkommen zu können, wie bei diesen Leuten dort droben! Sie fragten mich immer wieder, ob die Ogier zurückkehrten und ob Galldrian sich mit uns über die noch ausstehende Bezahlung geeinigt habe. Es scheint, als hätten all die Ogier-Steinwerker nur deshalb Cairhien verlassen, weil Galldrian sie nicht mehr bezahlte, außer mit Versprechungen. Ich mußte ihnen immer wieder erklären, daß ich davon nichts wisse, aber die Hälfte glaubte wohl, ich löge, und die andere Hälfte dachte, ich spiele auf irgend etwas an.«
»Wir hauen bald ab«, versicherte ihm Rand. »Mat, geht es dir gut?« Das Gesicht seines Freundes wirkte hohlwangiger, als er es zuletzt in Erinnerung hatte, hagerer sogar als in der Schenke, und seine Backenknochen standen deutlich hervor.
»Mir geht's gut«, erwiderte Mat mürrisch. »Es machte mir gewiß nichts aus, die anderen Diener zu verlassen. Diejenigen, die nicht daran glaubten, du würdest mich verhungern lassen, dachten wohl, ich sei krank, und wollten mir nicht zu nahe kommen.«
»Hast du den Dolch gefühlt?« fragte Rand.
Mat schüttelte betrübt den Kopf. »Das einzige, was ich gefühlt habe, war, daß mich jemand die meiste Zeit über beobachtet. Diese Leute sind genauso schlimm wie Blasse, was das Herumschleichen betrifft. Seng mich, ich bin vor Schreck fast aus der Haut gefahren, als mir Hurin sagte, er habe die Spur der Schattenfreunde aufgespürt. Rand, ich kann ihn überhaupt nicht spüren, und ich habe dieses verdammte Gebäude vom Dachstuhl bis zum Keller hin abgesucht.«
»Das muß nicht heißen, daß er sich nicht hier befindet, Mat. Ich habe ihn zum Horn in die Truhe gesteckt, denk daran. Vielleicht kannst du ihn deshalb nicht fühlen. Ich glaube nicht, daß Fain weiß, wie man sie öffnet, sonst hätte er sie nicht die ganze Zeit schleppen lassen, als er aus Fal Dara floh. Selbst das viele Gold ist unwichtig, wenn man es mit dem Horn von Valere vergleicht. Wenn wir das Horn finden, finden wir auch den Dolch. Du wirst ja sehen.«
»Solange ich nicht mehr so tun muß, als sei ich dein Diener«, knurrte Mat. »Solange du nicht verrückt wirst und... « Die Worte erstarben, und sein Mund verzog sich.
»Rand ist nicht verrückt, Mat«, sagte Loial. »Die Leute aus Cairhien hätten ihn niemals hier eingelassen, wenn er kein Lord wäre. Sie sind es, die spinnen.«
»Ich bin nicht wahnsinnig«, sagte Rand grob. »Noch nicht. Hurin, zeig mir diesen Garten!«
»Hier herüber, Lord Rand.«
Sie gingen durch eine niedrige Tür — Rand mußte sich ducken — in die Nacht hinaus. Loial mußte sich richtig vornüberbeugen und die Schultern einziehen, um durchzukommen. Aus den Fenstern über ihnen drang genug gelber Lichtschein, daß Rand zwischen quadratischen Blumenbeeten eine Backsteinmauer erkennen konnte. Zu beiden Seiten warfen Ställe und andere außenliegende Gebäude wuchtige Schatten. Gelegentlich drangen Fetzen von Musik aus dem Hauptgebäude, entweder von der Feier der Diener her oder aus den Sälen mit ihren Herrschaften oben.
Hurin führte sie auf Gartenwegen entlang, bis selbst der trübe Lichtschein verblaßte und sie sich ihren Weg im Mondschein suchen mußten. Ihre Stiefel knirschten leise auf den Kieseln. Büsche, die im Tageslicht vor Blüten gestrahlt hätten, drohten nun wie düstere Gestalten im Dunkel. Rand faßte nach seinem Schwert, und sein Blick schweifte andauernd hin und her. Hundert Trollocs konnten ungesehen um sie herum lauern. Er wußte, Hurin hätte die Trollocs gerochen, wenn sie wirklich da wären, aber das half auch nicht sehr. Wenn Barthanes ein Schattenfreund war, dann mußten auch zumindest einige seiner Diener und Wächter ebenfalls welche sein. Hurin konnte einen Schattenfreund nicht immer am Geruch identifizieren. Schattenfreunde, die aus der Nacht hervorsprangen, waren auch nicht viel besser als Trollocs.
»Dort, Lord Rand«, flüsterte Hurin, und er deutete nach vorn.
Vor ihnen umschloß eine Steinmauer, die nicht viel über Loials Kopf hinausragte, eine quadratische Fläche von etwa fünfzig Schritt Seitenlänge. Rand war sich der Schatten wegen nicht sicher, aber es sah danach aus, als setze sich der Garten dahinter fort. Er fragte sich, warum Barthanes mitten in seinem Garten diese Fläche ausgespart und ummauert hatte. Über der Mauer war kein Dach zu sehen. Warum gingen sie da hinein und blieben drin? Loial beugte sich herunter und brachte seinen Mund dicht an Rands Ohr: »Ich habe dir doch gesagt, daß hier einst ein Ogierhain stand. Rand, das Wegetor befindet sich innerhalb dieser Mauer. Ich kann es fühlen.«
Rand hörte, wie Mat resignierend seufzte. »Wir geben nicht auf, Mat«, sagte er. »Ich gebe nicht auf. Ich habe aber genug Verstand, um nicht noch einmal durch die Kurzen Wege gehen zu wollen.«
»Das müssen wir aber vielleicht«, sagte Rand darauf. »Geh und suche Ingtar und Verin. Zieh sie irgendwie auf die Seite — es ist mir gleich, wie du das anstellst —, und sage ihnen, daß ich glaube, Fain habe das Horn durch ein Wegetor gebracht. Laß es aber niemand anders hören. Und denke daran, daß du hinkst; man glaubt, daß du gestürzt seist.« Es schien ihm erstaunlich, wenn selbst jemand wie Fain es riskierte, die Wege zu benützen, aber es war wohl die einzig mögliche Antwort. Sie verbringen doch keine Nacht und keinen Tag da drinnen, ohne Dach über dem Kopf.
Mat verbeugte sich tief, und seine Stimme triefte vor Ironie: »Sofort, Lord Rand. Wie der Lord wünschen. Soll ich Eure Flagge tragen, Herr?« Er ging in Richtung Herrenhaus los, und sein Gemurre verklang. »Jetzt muß ich hinken. Beim nächsten Mal habe ich mir dann wohl den Hals gebrochen oder... «
»Er hat lediglich Angst wegen des Dolches, Rand«, sagte Loial.
»Ich weiß«, gab Rand zurück. Aber wie lange noch, bis er irgend jemandem erzählt, was ich bin, auch wenn er das nicht bewußt vorhat? Er konnte nicht glauben, daß ihn Mat jemals absichtlich verraten würde — zumindest soviel war von der alten Freundschaft noch übrig. »Loial, heb mich bitte hoch, damit ich über die Mauer schauen kann.«
»Rand, falls die Schattenfreunde immer noch... «
»Sind sie nicht. Heb mich hoch, Loial!«
Alle drei traten ganz nahe an die Mauer heran, und Loial machte mit den Händen einen Steigbügel für Rand. Der Ogier richtete sich anschließend trotz Rands Gewicht problemlos auf, und damit befand sich Rands Kopf gerade in der richtigen Höhe, um über den Rand der Mauer hinwegblicken zu können.
Die dünne Sichel des abnehmenden Mondes warf nur spärliches Licht auf den Garten, und der größte Teil der Innenfläche lag sowieso im Schatten, doch auf jeden Fall schien es dort drinnen weder Blumen noch Sträucher zu geben. Nur eine einsame Bank aus blassem Marmor stach ins Auge. Sie war so plaziert, daß man von ihr aus das anblicken konnte, was sich wie ein riesiger, aufrecht stehender Grabstein in der Mitte der Fläche erhob.
Rand klammerte sich an der Mauerkrone fest und zog sich hinauf. Loial zischte leise und griff nach seinem Fuß, aber er riß sich los und ließ sich auf der anderen Mauerseite hinunterfallen. Unter seinen Füßen befand sich eine kurzgeschnittene Grasdecke. Es kam ihm der flüchtige Gedanke, daß Barthanes wohl Schafe hereinließ. Er sah so angestrengt zu der Steinplatte — dem Wegetor —hinüber, daß er zusammenfuhr, als neben ihm schwere Stiefel auf dem Boden aufschlugen.
Hurin stand auf und klopfte sich den Staub von der Kleidung. »Ihr solltet vorsichtig mit solchen Manövern sein, Lord Rand. Hier könnte sich jeder versteckt halten —oder alles.« Er spähte in die Dunkelheit der ummauerten Zone hinein und faßte sich dabei unwillkürlich an den Gürtel. Doch das Kurzschwert und der Schwertbrecher waren in der Schenke zurückgeblieben. In Cairhien liefen Diener nicht bewaffnet herum. »Springt in ein Loch hinein, ohne Euch zu vergewissern, und es ist bestimmt eine Schlange darin.«
»Du würdest sie riechen«, sagte Rand.
»Vielleicht.« Der Schnüffler atmete tief ein. »Aber ich kann nur das riechen, was sie getan haben, und nicht, was sie vorhaben.«
Über Rands Kopf erklang ein Schaben, und dann ließ sich Loial langsam an der Mauer herunterrutschen. Der Ogier mußte nicht einmal die Arme ganz durchstrecken, da standen seine Stiefel bereits auf dem Boden. »Voreilig«, knurrte er. »Ihr Menschen handelt immer so voreilig und überhastet. Und nun mache ich es euch auch schon nach. Der Älteste Haman würde mich ganz schön ins Gebet nehmen und meine Mutter... « Die Dunkelheit verbarg sein Gesicht, aber Rand war sicher, daß seine Ohren dabei lebhaft zuckten. »Rand, wenn du nicht ein bißchen vorsichtiger vorgehst, dann wirst du mich noch in Schwierigkeiten bringen.«
Rand ging zum Wegetor hinüber und dann außen herum. Selbst aus der Nähe wirkte es lediglich wie eine dicke Steinplatte, die ihn ein gutes Stück überragte. Die Rückseite war glatt geschliffen und fühlte sich kühl an —er strich nur kurz mit der Hand darüber —, aber die Vorderseite hatte ein Künstler geschaffen. Ranken, Blätter und Blüten bedeckten sie, alles so fein herausgearbeitet, daß es im trüben Mondschein beinahe echt wirkte. Er tastete über den Boden davor. Das Gras war in zwei weiten Bögen weggeschabt, wie es beim Öffnen von Torflügeln geschah.
»Ist das ein Wegetor?« fragte Hurin unsicher. »Ich habe natürlich davon gehört, aber... « Er schnüffelte, wie um eine Witterung aufzunehmen. »Die Spur führt geradewegs darauf zu und endet hier, Lord Rand. Wie sollen wir ihnen jetzt folgen? Ich habe gehört, wenn man durch ein Wegetor geht, kommt man als Wahnsinniger wieder heraus, falls man überhaupt wieder herauskommt.«
»Es geht durchaus, Hurin. Ich habe es selbst schon gemacht und Loial, Mat und Perrin auch.« Rand wandte den Blick nicht von dem Gewirr der Blätter auf dem Stein. Eines war dabei, das war anders als die anderen in diesem Blattrelief; soviel wußte er: das dreiteilige Blatt des legendären Avendesora, des Lebensbaumes. Er legte die Hand darauf. »Ich wette, du kannst auch in den Kurzen Wegen ihre Spur wittern. Wir können ihnen überallhin folgen, welchen Weg sie auch immer zur Flucht benützen.« Es wäre nicht schlecht, auch sich selbst zu beweisen, daß er den Mut hatte, durch ein Wegetor zu gehen. »Ich werde es dir beweisen.« Er hörte, wie Hurin aufstöhnte. Das Blatt war genauso wie die anderen in das Relief eingearbeitet, doch es löste sich nun und er hielt es in der Hand. Loial stöhnte ebenfalls.
In diesem Augenblick wurde die Illusion lebendiger Pflanzen zur Wirklichkeit. Steinblätter schienen im leichten Wind zu flattern, Blumen erstrahlten selbst in der Dunkelheit in ihren natürlichen Farben. Unten in der Mitte des Ganzen wurde eine Trennlinie sichtbar, und die beiden Hälften der Platte schwangen langsam auseinander — eine davon auf Rand zu. Er trat zurück. Es bot sich ihm nun allerdings weder der Anblick der anderen Seite der ummauerten Zone noch das mattsilberne Leuchten, wie er es in Erinnerung hatte. Der Raum zwischen den sich öffnenden Torflügeln war von einem so dunklen Schwarz, daß es die sie umgebende Nacht heller erscheinen ließ. Diese Pechschwärze quoll zwischen den immer noch aufschwingenden Torflügeln hervor.
Rand sprang mit einem Schrei zurück und ließ in der Eile das Avendesorablatt fallen. Loial rief: »Machin Shin. Der Schwarze Wind!«
Das Rauschen des Windes übertönte alles andere. Das Gras raschelte und bewegte sich wellenförmig in Richtung der Mauer. Staub wirbelte durch die Luft. Und im Wind riefen tausend Stimmen Wahnsinniger, zehntausend, überschlugen sich und übertönten einander. Rand konnte einige davon verstehen, obwohl er sich bemühte, nicht darauf zu hören.
... so süßes Blut, so süß, das Blut zu trinken, das tropfende Blut, es tropft so rot; hübsche Augen, gute Augen, ich habe keine Augen, ich pflücke dir die Augen aus dem Kopf; zermalme deine Knochen, spalte dir die Knochen im Fleisch, sauge dein Mark aus, während du schreist; schrei, schrei, sing deine Schreie aus, sing und schrei... Und das Schlimmste von allem war ein Flüstern, das sich durch alles hindurchzog: Al'Thor. Al'Thor. Al'Thor. Rand entkam in das Nichts, das sich um ihn herum aufbaute, und diesmal störte ihn nicht einmal das lockende, kränkliche Glühen von Saidin gerade außerhalb seines Gesichtsfeldes. Die größte aller Gefahren in den Kurzen Wegen war der Schwarze Wind, der die Seelen derer raubte, die er tötete, und die zum Wahnsinn trieb, die er am Leben ließ. Doch Machin Shin war ein Teil der Wege und konnte sie nicht verlassen. Nur, daß er jetzt in die Nacht hinauswallte, und der Schwarze Wind rief ihn beim Namen.
Das Wegetor stand noch nicht ganz offen. Wenn sie das Avendesorablatt an den richtigen Fleck zurückstecken konnten... Er sah, wie Loial auf den Knien herumkroch und in der Dunkelheit über das Gras tastete.
Saidin erfüllte ihn. Es war ein Gefühl, als vibrierten seine Knochen. Er spürte den rotglühenden, eiskalten Fluß der Einen Macht, fühlte sich lebendiger als jemals sonst, fühlte den öligen Schmutz... Nein! Und lautlos schrie er sich selbst von jenseits der Leere her an: Es will dich holen! Es wird uns alle töten! Er wuchtete alles in Richtung der wallenden Schwärze, die nun schon zehn Spannen weit über das Wegetor hinausreichte. Er wußte nicht, was er dahin schleuderte oder wie, aber im Herzen jener Dunkelheit blühte ein funkelnder Lichtbrunnen auf.
Der Schwarze Wind kreischte — zehntausend wortlose Schmerzensschreie. Langsam, einen Fingerbreit nach dem anderen, wich das schwarze Wallen zurück, schrumpfte, kroch zurück durch das immer noch offenstehende Wegetor.
Ein Strom der Macht durchlief Rand. Er konnte die Verbindung mit Saidin richtig fühlen. Es war wie ein über die Ufer tretender Fluß, der sich in einem tobenden Wasserfall zwischen ihn und das Feuer im Herzen des Schwarzen Windes schob. Die Hitze in seinem Inneren wurde noch brennender, wurde so stark, daß sie Stein schmelzen und Stahl verdampfen konnte und daß die Luft durch sie entzündet wurde. Die Kälte breitete sich aus, bis der Atem in seiner Lunge gefroren und hart wie Metall erschien. Er fühlte, wie es ihn überwältigte, wie sein Leben abschmolz, als sei es das lehmige Ufer eines starken Flusses. Sein Selbst wurde langsam abgetragen.
Kann nicht aufhören! Wenn es herauskommt... Muß es töten! Ich — kann — nicht — aufhören! Verzweifelt klammerte er sich an die Reste seiner Persönlichkeit. Die Eine Macht durchtobte ihn. Er schwamm auf ihr wie ein Stück Holz in den Stromschnellen. Das Nichts begann zu schmelzen und abzufließen; die Leere dampfte vor Kälte.
Die Bewegung der Torflügel hielt inne und kehrte sich dann um.
Rand war sich auf verschwommene Art sicher, daß er nur sah, was er zu sehen wünschte.
Die Torflügel näherten sich einander und schoben dabei Machin Shin zurück, als handele es sich um eine feste Masse. Das Inferno tobte weiter in der Brust des Schwarzen Windes.
Verschwommen und mit einem entferntfragenden Blick sah Rand, wie Loial sich — immer noch auf allen vieren — von dem zuschwingenden Tor zurückzog.
Der Spalt wurde enger und verschwand. Die Blätter und Ranken verschmolzen mit dem festen Steinhintergrund und wurden zu Stein.
Rand fühlte, wie die Verbindung zwischen ihm und dem Feuer abriß und der Strom der Macht, der durch seinen Körper floß, versiegte. Einen Augenblick später, und er hätte sich darin vollständig verloren gehabt. Zitternd fiel er auf die Knie. Es befand sich immer noch in seinem Inneren: Saidin. Es durchfloß ihn nicht mehr, sondern lag still wie ein See in ihm. Er selbst war ein See, gefüllt mit der Einen Macht. Er zitterte bei diesem Gedanken. Er roch das Gras, die Erde unter sich und die Steine der Mauer. Selbst in der Dunkelheit konnte er jeden Grashalm sehen, einzeln und alle zusammen, die gesamte Menge des Grases. Er fühlte jeden noch so schwachen Luftzug an seinem Gesicht. Seine Zunge floh vor dem Geschmack der Verderbnis zu seinem Gaumen; sein Magen verkrampfte sich.
Verzweifelt suchte er sich einen Weg aus dem Nichts heraus, krallte sich in dessen Wänden fest. Bewegungslos, noch immer auf den Knien, kämpfte er sich frei. Und dann blieben nur noch der faulige Geschmack auf seiner Zunge, einige Magenkrämpfe und seine Erinnerung. So —lebendig. »Ihr habt uns gerettet, Erbauer.« Hurin stand mit dem Rücken an die Mauer gelehnt und sprach mit heiserer Stimme. »Dieses — Ding — war das der Schwarze Wind? Das war schlimmer als... wollte es dieses Feuer auf uns schleudern? Lord Rand! Hat es Euch berührt? Ist Euch etwas zustoßen?« Er rannte zu ihm hin, als Rand aufstand, und war ihm behilflich. Auch Loial stand auf und klopfte sich den Schmutz von Händen und Knien.
»Auf diesem Weg werden wir Fain niemals folgen können.« Rand berührte Loials Arm. »Danke. Du hast uns wirklich gerettet.« Mich zumindest hast du gerettet. Es wollte mich töten. Mich töten, und das war ein —wunderbares Gefühl. Er schluckte; ein schwacher, fauliger Nachgeschmack war noch in seinem Mund. »Ich brauche etwas zum Trinken.«
»Ich habe nur das Blatt gefunden und wieder an seinen Platz zurückgesteckt«, sagte Loial achselzuckend. »Es schien, daß wir sterben müßten, wenn wir das Tor nicht wieder hätten schließen können. Ich fürchte, ich bin kein großer Held, Rand. Ich hatte solche Angst und konnte kaum noch klar denken.«
»Wir hatten beide Angst«, sagte Rand. »Wir sind vielleicht alles andere als Helden, aber so ist das eben. Ich bin jedenfalls froh, Ingtar bei uns zu haben.«
»Lord Rand«, sagte Hurin zögernd, »könnten wir vielleicht jetzt — wieder zurückgehen?«
Der Schnüffler wollte absolut nicht, daß Rand als erster über die Mauer kletterte, weil sie ja nicht wußten, was mittlerweile draußen auf sie wartete, aber dann machte Rand ihm klar, daß er als einziger von ihnen bewaffnet sei. Selbst dann paßte es Hurin offensichtlich nicht, Rand von Loial hochheben zu lassen, damit er sich über die Mauerkrone ziehen konnte.
Rand landete aufrecht mit einem dumpfen Aufprall und blieb erst einmal stehen, wobei er in die Nacht hinein lauschte und spähte. Einen Augenblick lang bildete er sich ein, er habe eine Bewegung gesehen, einen Stiefel auf dem gepflasterten Weg scharren gehört, aber nichts davon wiederholte sich, und er schob es auf seine Nervosität. Er hatte ja auch wohl ein Recht darauf, nervös zu sein. Er wandte sich Hurin zu, um ihm herunterzuhelfen.
»Lord Rand«, sagte der Schnüffler, kaum daß seine Füße den Boden berührten, »wie werden wir ihnen nun folgen? Nach allem, was ich von diesen Wegen gehört habe, könnten sie sich bereits um die halbe Welt in jeder Richtung von uns entfernt haben.«
»Verin wird schon etwas einfallen.« Rand hätte am liebsten gelacht: Um Horn und Dolch zu finden — falls er sie jetzt überhaupt noch finden konnte —, mußte er sich wieder an die Aes Sedai wenden. Sie hatten ihn von der Leine gelassen, und nun mußte er zurückkehren. »Ich lasse Mat nicht sterben, ohne alles in meiner Macht Stehende zu unternehmen.«
Loial schloß sich ihnen an, und sie gingen zurück zum Herrenhaus, wo Mat sie an einer kleinen Seitentür erwartete. Er öffnete sie gerade in dem Moment, als Rand nach der Klinke fassen wollte. »Verin sagt, ihr sollt nichts unternehmen. Falls Hurin herausfand, wo man das Horn aufbewahrt, dann können wir im Moment nicht mehr tun, meint sie. Sie sagt, wir gehen, sobald ihr zurück seid, und dann werden wir einen Schlachtplan entwerfen. Aber das ist das letzte Mal, daß ich den Botenjungen spielen werde. Wenn ihr irgend jemandem etwas mitteilen wollt, dann sagt es ihm gefälligst selbst.« Mat blickte an ihnen vorbei in die Dunkelheit hinaus. »Befindet sich das Horn irgendwo dort draußen? In einem der äußeren Gebäude? Habt ihr den Dolch gesehen?«
Rand drehte ihn einfach um und zog ihn nach innen. »Es ist in keinem Außengebäude, Mat. Ich hoffe, Verin weiß, was jetzt zu tun ist; ich habe nämlich keine Ahnung.«
Mat wirkte, als wolle er ihn mit Fragen überschütten, ließ sich aber doch durch den trüb beleuchteten Korridor ziehen. Er dachte sogar daran, daß er humpeln mußte, als sie die Treppe hochgingen.
Als Rand mit den anderen wieder in die Säle zurückkehrte, in denen die Adeligen herumstanden, zogen sie einige Blicke auf sich. Rand fragte sich, ob irgend jemand etwas von dem ahnte, was draußen vorgefallen war, oder ob er besser Mat und Hurin ins Foyer geschickt hätte, um dort zu warten, aber dann wurde ihm klar, daß sich die Blicke in nichts von denen unterschieden, die ihnen vorher schon gegolten hatten — sie waren neugierig und berechnend. Was hatten der Lord und der Ogier wohl gemacht? Diener waren für diese Leute einfach unsichtbar. Keiner versuchte, sich ihnen zu nähern, da sie zusammen waren. Es schien, für die Intrigen des Großen Spiels gab es gewisse Vorschriften. Jeder konnte eine private Unterhaltung belauschen, aber man drängte sich nicht direkt hinein.
Verin und Ingtar standen beieinander und waren demzufolge auch allein. Ingtar wirkte ein wenig benommen. Verin blickte Rand und die anderen kurz an, runzelte ob ihrer Mienen die Stirn und zupfte dann ihre Stola zurecht, bevor sie sich auf den Weg zum Foyer begab.
Als sie dort ankamen, erschien Barthanes, als habe ihm jemand gesagt, sie verließen das Fest. »Ihr geht schon? Verin Sedai, kann ich Euch nicht dazu überreden, länger zu bleiben?«
Verin schüttelte den Kopf. »Wir müssen gehen, Lord Barthanes. Ich bin schon ein paar Jahre nicht mehr in Cairhien gewesen. Ich war froh, daß Ihr den jungen Rand eingeladen habt. Es war wirklich... interessant.«
»Dann soll Euch die Gnade des Lichts sicher zu Eurer Schenke zurückführen. Ihr wohnt im ›Großen Baum‹, nicht wahr? Vielleicht gebt Ihr Euch wieder die Ehre, mich zu besuchen? Es wäre mir wirklich eine Ehre, Verin Sedai, Lord Rand, Lord Ingtar und auch Euch nicht zu vergessen, Loial, Sohn des Arent, Sohn des Halam.« Sein Gruß der Aes Sedai gegenüber war ein wenig ehrfürchtiger als bei den anderen, bestand aber auch nur in einem leichten Kopfneigen.
Verin nickte zurück. »Vielleicht. Das Licht erleuchte Euch, Lord Barthanes.« Sie wandte sich dem Tor zu.
Als Rand den anderen folgen wollte, zupfte ihn Barthanes mit zwei Fingern am Ärmel und hielt ihn zurück. Mat wollte schon ebenfalls zurückbleiben, aber Hurin zog ihn mit sich und den anderen fort.
»Ihr seid tiefer in das Spiel verwickelt, als ich glaubte«, sagte Barthanes leise. »Als ich Euren Namen hörte, konnte ich das nicht glauben, und doch seid Ihr gekommen, und die Beschreibung paßt auf Euch und... ich denke, daß die Botschaft Euch galt, die man mir gab. Also werde ich sie wohl doch an Euch weitergeben.«
Rand war es bei Barthanes Worten kalt den Rücken hinuntergelaufen, aber nun schaute er verblüfft drein. »Eine Botschaft? Von wem? Lady Selene?«
»Von einem Mann. Nicht die Art von Mann, dessen Botschaften ich sonst überbringen würde, aber er hat gewisse... Ansprüche auf meine Hilfe, die ich nicht mißachten kann. Er hat keinen Namen genannt, doch er kam aus Lugard. Aaah! Ihr kennt ihn.«
»Ich kenne ihn.« Fain ließ eine Botschaft zurück? Rand sah sich in dem geräumigen Foyer um. Mat und Verin und die anderen warteten am Ausgang auf ihn. Livrierte Diener standen steif an der Wand und warteten auf Aufträge. Ansonsten sahen oder hörten sie nichts. Der Lärm der festlichen Menge erklang von drinnen heraus. Es wirkte nicht wie ein Ort, an dem ein Angriff von Schattenfreunden zu befürchten war. »Wie lautet die Botschaft?«
»Er sagte, er werde auf der Toman-Halbinsel auf Euch warten. Er hat das, was Ihr sucht, und wenn Ihr es wollt, dann müßt Ihr ihm folgen. Falls Ihr es vorzieht, ihm nicht zu folgen, wird er Eure Familie und Euer Volk und alle, die Ihr liebt, vernichten, bis Ihr Euch ihm stellt. Natürlich hört sich das verrückt an, wenn ein Mann einen Lord so herausfordert, aber er hatte so etwas an sich... Ich glaube, er ist wirklich verrückt — er hat ja auch offensichtlich verleugnet, daß Ihr ein Lord seid — aber es dürfte schon etwas dran sein. Was hat er bei sich, das er von Trollocs bewachen läßt? Was sucht Ihr?« Barthanes schien ob der eigenen direkten Fragen zu erschrecken.
»Das Licht erleuchte Euch, Lord Barthanes.« Rand brachte eine Verbeugung fertig, aber seine Knie zitterten, als er wieder bei Verin und den anderen war. Er will, daß ich ihm folge? Und wenn nicht, wird er Emondsfeld und Tam angreifen. Er hatte keinen Zweifel daran: Falls Fain die nötigen Mittel hatte, würde er das tun. Wenigstens ist Egwene in der Weißen Burg in Sicherheit. Er stellte sich mit flauem Gefühl im Magen vor, wie Trolloc-Horden Emondsfeld überschwemmten, wie augenlose Blasse Egwene auflauerten. Aber wie kann ich ihm denn folgen? Wie? Dann war er draußen in der Nacht und bestieg den Braunen. Verin und Ingtar und die anderen saßen bereits auf ihren Pferden, und die Eskorte von Schienarern schloß sich um sie.
»Was habt Ihr herausgefunden?« wollte Verin wissen. »Wo bewahrt er es auf?« Hurin räusperte sich vernehmlich, und Loial rutschte im Sattel umher. Die Aes Sedai blickte sie scharf an.
»Fain hat das Horn durch ein Wegetor zur TomanHalbinsel mitgenommen«, sagte Rand niedergeschlagen. »In diesem Augenblick wartet er vielleicht schon dort auf mich.«
»Wir sprechen später über alles«, sagte Verin so bestimmt, daß während des Rests des Weges zur Stadt und zum ›Großen Baum‹ niemand mehr ein Wort sagte.
Dort verließ Uno die anderen, nachdem er leise mit Ingtar gesprochen hatte. Er nahm die Soldaten mit zu ihrer Schenke in Vortor. Hurin warf im Licht des Schankraums nur einen Blick auf Verins entschlossenes Gesicht, murmelte etwas von Bier und ging allein zu einem Ecktisch. Die Aes Sedai wischte die Bemerkung der Wirtin, sie hätten sich hoffentlich amüsiert, mit einer Handbewegung beiseite und führte Rand und die anderen schweigend in das private Speisezimmer.
Perrin blickte von seinem Exemplar der Reisen des Jain Fernstreicher auf, als sie eintraten. Er runzelte beim Anblick ihrer Mienen die Stirn. »Es ging nicht gut, oder?« sagte er und schloß den Lederband. Lampen und Wachskerzen überall im Raum ergaben ein helles Licht. Frau Tiedra vermietete zu einem hohen Preis, aber sie geizte dafür auch nicht.
Verin faltete sorgfältig ihre Stola und legte sie über eine Stuhllehne. »Erzählt mir alles noch mal. Die Schattenfreunde haben das Horn durch ein Wegetor mitgenommen? Bei Barthanes Haus?«
»Der Boden, auf dem das Herrenhaus steht, gehörte einst zu einem Ogierhain«, erklärte Loial. »Als wir noch bauten... « Seine Stimme brach ab, und seine Ohren welkten unter ihrem Blick.
»Hurin ist ihnen bis vor das Tor gefolgt.« Rand ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen. Jetzt muß ich erst recht hinterher. Aber wie? »Ich öffnete es, um ihm zu zeigen, daß er der Spur immer noch folgen könne, wohin sie auch gingen, doch der Schwarze Wind lauerte dahinter. Er versuchte, uns zu erreichen, aber Loial schaffte es, das Tor zu schließen, bevor er ganz herauskommen konnte.« Er errötete ein wenig, als er das sagte, aber Loial hatte schließlich das Tor geschlossen, und ohne sein Bemühen hätte Machin Shin vielleicht wirklich herauskommen können. »Er hat das Tor bewacht.«
»Der Schwarze Wind«, hauchte Mat und erstarrte beinahe vor seinem Stuhl. Auch Perrin starrte nun Rand an, genau wie Verin und Ingtar. Mat ließ sich mit einem lauten Plumpsen auf den Stuhl fallen. »Ihr müßt Euch irren«, sagte Verin schließlich. »Machin Shin kann man nicht als Wächter benutzen. Niemand bringt den Schwarzen Wind dazu, irgend etwas zu tun.«
»Es ist ein Geschöpf des Dunklen Königs«, sagte Mat benommen. »Sie sind Schattenfreunde. Vielleicht wußten sie, wie man ihn um Hilfe bittet oder ihn dazu bringt.«
»Keiner weiß genau, was Machin Shin eigentlich ist«, sagte Verin. »Gut, vielleicht ist es das Wesen reines Wahnsinns und reiner Grausamkeit, das sich hier manifestiert. Man kann nicht mit ihm streiten oder verhandeln oder mit ihm sprechen, Mat. Er kann auch nicht zu etwas gezwungen werden, jedenfalls von keiner jetzt lebenden Aes Sedai und vielleicht von niemandem, der jemals gelebt hat. Glaubt ihr wirklich, Padan Fain könnte gelingen, was zehn Aes Sedai nicht schaffen?« Mat schüttelte den Kopf.
Im Raum verbreitete sich eine Atmosphäre der Verzweiflung, ein Gefühl von Ziellosigkeit und verlorener Hoffnung. Ihr Ziel war ihnen entschwunden, und selbst Verins Gesicht wirkte enttäuscht. »Ich hätte nie gedacht, daß Fain den Mut aufbringt, die Kurzen Wege zu benützen.« Ingtars Stimme klang beinahe mild, aber plötzlich schlug er mit der Faust gegen die Wand. »Es ist mir gleich, ob oder wie Machin Shin Fain unterstützt. Sie haben das Horn von Valere in die Kurzen Wege gebracht, Aes Sedai. Mittlerweile könnten sie sich in der Fäule befinden oder unterwegs nach Tear oder Tanchico oder auf der anderen Seite der Aielwüste. Das Horn ist verloren. Ich bin verloren.« Seine Hände fielen schlaff herunter, und seine Schultern sackten nach vorn. »Ich bin verloren.«
»Fain bringt es zur Toman-Halbinsel«, sagte Rand, und sofort sahen ihn alle wieder an. Verin musterte ihn eindringlich. »Das habt Ihr schon einmal behauptet. Woher wollt Ihr das wissen?«
»Er hinterließ eine Botschaft bei Barthanes«, sagte Rand.
»Eine Finte«, höhnte Ingtar. »Er wird uns wohl kaum sagen, wohin wir ihm folgen müssen.«
»Ich weiß nicht, was ihr anderen unternehmen werdet«, meinte Rand, »aber ich gehe zur Toman-Halbinsel. Ich kann nicht anders. Ich werde beim ersten Morgengrauen aufbrechen.«
»Aber, Rand«, unterbrach ihn Loial, »wir werden Monate bis zur Toman-Halbinsel brauchen. Glaubst du, daß Fain so lange auf uns warten wird?«
»Er wird warten.« Aber wie lange, bis er schließlich doch glaubt, ich käme nicht? Warum hat er einen solchen Wächter hinterlassen, wenn er will, daß ich ihm folge? »Loial, ich werde so schnell reiten, wie es nur geht, und wenn ich den Braunen zuschande reite. Dann kaufe ich mir ein neues Pferd oder stehle eines, wenn es sein muß. Bist du sicher, daß du mitkommen willst?«
»Ich bin nun schon so lange bei dir, Rand. Warum sollte ich jetzt zurückbleiben?« Loial zog seine Pfeife und den Tabaksbeutel heraus und stopfte gemütlich Tabak in den Pfeifenkopf. »Siehst du, ich mag dich einfach. Ich hätte dich auch gern, wärst du nicht Ta'veren. Vielleicht mag ich dich trotzdem. Du scheinst mich allerdings immer wieder bis zum Hals in Schwierigkeiten zu bringen. Na ja, jedenfalls gehe ich mit.« Er saugte probeweise an der Pfeife, ob sie auch zog, nahm dann einen Holzsplitter aus dem Kamin und entzündete ihn an einer Kerze. »Und ich glaube nicht, daß du mich aufhalten kannst.«
»Also, ich gehe auch mit«, sagte Mat. »Fain hat den Dolch immer noch; deshalb muß ich mitkommen. Aber der ganze Dienerquatsch ist hiermit beendet.«
Perrin seufzte. Seine gelben Augen schienen nach innen zu blicken. »Ich schätze, ich komme auch mit.« Einen Augenblick später grinste er. »Irgend jemand muß doch auf Mat aufpassen.«
»Nicht einmal eine sehr schlaue Finte«, murmelte Ingtar. »Irgendwie erwische ich Barthanes alleine, und dann bekomme ich die Wahrheit heraus. Ich werde das Horn von Valere bekommen und nicht hinter Geistern herjagen.«
»Es ist vielleicht keine Finte«, meinte Verin vorsichtig. Dabei unterzog sie anscheinend den Boden unter ihren Füßen einer genauen Betrachtung. »Im Kerker von Fal Dara wurden gewisse Dinge gefunden, schriftliche Berichte, die eine Verbindung zwischen dem, was in jener Nacht geschah« — sie warf Rand einen kurzen Blick unter halb geschlossenen Lidern zu — »und der Toman-Halbinsel herstellen. Ich verstehe noch nicht alles, doch ich glaube auch, daß wir zur Toman-Halbinsel müssen. Und ich glaube, wir werden dort das Horn finden.«
»Auch wenn sie zur Toman-Halbinsel gehen«, sagte Ingtar, »könnten Fain oder einer der anderen Schattenfreunde das Horn schon hundertmal geblasen haben, bis wir dort ankommen. Dann streiten die Helden aus den Gräbern für den Schatten.«
»Ach, Fain hätte doch das Horn schon hundertmal blasen können, seit wir in Fal Dara aufbrachen«, erwiderte ihm Verin. »Und ich denke, das hätte er auch getan, falls er die Truhe öffnen könnte. Wir müssen uns vielmehr den Kopf darüber zerbrechen, was geschieht, wenn er jemanden findet, der sie öffnen kann. Wir müssen ihm durch die Kurzen Wege folgen.«
Perrin riß den Kopf hoch, und Mat rutschte auf seinem Stuhl umher. Loial stöhnte leise auf.
»Wenn wir auch irgendwie an Barthanes Wächtern vorbeikämen«, sagte Rand, »würden wir wahrscheinlich Machin Shin noch immer dort vorfinden. Wir können die Wege nicht benützen.«
»Wie viele von uns könnten sich schon auf Barthanes Land schleichen?« Verin schien sich mit der Aussichtslosigkeit eines solchen Unternehmens abgefunden zu haben. »Es gibt andere Wegetore. Das Stedding Tsofu liegt im Südosten nicht weit von der Stadt entfernt. Es ist ein junges Stedding, vor nur etwa sechshundert Jahren wiederentdeckt, aber zu der Zeit züchteten die Ältesten der Ogier immer noch weitere Wege. Stedding Tsofu hat bestimmt ein Wegetor. Es ist vorhanden, und wir brechen im ersten Tageslicht dorthin auf.«
Loial gab einen etwas lauteren Ton von sich, von dem Rand nicht wußte, ob er dem Wegetor oder dem Stedding galt.
Ingtar schien immer noch nicht überzeugt, aber Verin war so sicher und eindeutig in ihrer Haltung wie Schnee, der in einer Lawine abwärtstobt. »Haltet Eure Soldaten bereit zum Aufbruch, Ingtar. Schickt Hurin hin, damit er es Uno sagt, bevor der im Bett ist. Ich denke, wir sollten alle so schnell wie möglich schlafen gehen. Diese Schattenfreunde haben bereits mindestens einen Tag Vorsprung, und morgen werden wir soviel wie möglich davon aufholen müssen.« Das Gebaren der molligen Aes Sedai war derart klar und bestimmt, daß Ingtar schon auf dem Weg zur Tür war, bevor sie noch ausgesprochen hatte.
Rand ging hinter den anderen hinaus, aber an der Tür blieb er neben der Aes Sedai stehen und beobachtete erst einmal, wie Mat den durch Kerzen erleuchteten Flur hinunterschritt. »Wieso sieht er so schlecht aus?« fragte er sie. »Ich glaubte, Ihr hättet ihn soweit geheilt, so daß er wieder einigermaßen bei Kräften ist.«
Sie wartete mit ihrer Antwort, bis Mat und die anderen die Treppe hinauf verschwunden waren. »Offensichtlich war die Heilung nicht so wirkungsvoll, wie wir glaubten. Die Krankheit hat bei ihm eine interessante Wende genommen. Seine Kraft bleibt erhalten, und das wahrscheinlich bis zum Ende. Aber sein Körper verfällt. Noch ein paar Wochen vielleicht, mehr gebe ich ihm nicht. Seht Ihr, es gibt Gründe genug, um uns zu beeilen.«
»Man braucht mir nicht noch die Sporen zu geben, Aes Sedai«, sagte Rand, und dabei stieß er die Bezeichnung betont hart hervor. Mat. Das Horn. Fains Drohung. Licht, Egwene! Seng mich, mir braucht man wirklich nicht die Sporen zu geben. »Und wie steht es mit Euch, Rand al'Thor? Fühlt Ihr Euch wohl? Kämpft Ihr immer noch dagegen an, oder habt Ihr Euch dem Rad ergeben?«
»Ich reite mit Euch, um das Horn zu finden«, antwortete er. »Darüber hinaus gibt es nichts zwischen mir und irgendeiner Aes Sedai. Versteht Ihr mich? Nichts!«
Sie sagte nichts, und er ging weg, aber als er sich vor der Treppe kurz umwandte, beobachtete sie ihn immer noch. Ihre dunklen Augen blickten scharf und berechnend.