14 Wolfsbruder

»Weg?« wollte Ingtar von der Luft wissen. »Und meine Wachen haben nichts gesehen? Nichts! Sie können doch nicht einfach weg sein!«

Perrin hörte zu und spannte die Schultern. Er sah Mat an, der etwas entfernt stand, die Stirn gerunzelt hatte und in sich hinein murmelte. Er war sich mit sich selbst nicht einig, so sah es Perrin. Die Sonne lugte bereits über den Horizont, und es war höchste Zeit, weiterzureiten. Schatten erstreckten sich über der Mulde, lang und blaß, aber sie sahen immer noch den Bäumen ähnlich, die sie hervorriefen. Die Packpferde stampften ungeduldig. Sie waren beladen und an der langen Führleine angebunden. Alle Soldaten standen neben ihren Pferden und warteten.

Uno kam mit langen Schritten heran. »Keine einzige ziegenküssende Spur, Lord Ingtar.« Es klang beleidigt; eine Schande bei seinem Können. »Seng mich, nicht einmal ein flammender Kratzer von Pferdehufen. Sie sind einfach blutig verschwunden.«

»Drei Männer und drei Pferde verschwinden nicht so einfach«, grollte Ingtar. »Sieh dir den Boden noch einmal genau an, Uno. Wenn jemand herausfinden kann, wo sie hin sind, dann bist du es.«

»Vielleicht sind sie einfach weggerannt«, sagte Mat. Uno blieb stehen und funkelte ihn an. Als hätte er eine Aes Sedai beschimpft, dachte Perrin staunend.

»Warum sollten sie denn wegrennen?« Ingtars Stimme klang gefährlich sanft. »Rand, der Erbauer, mein Schnüffler — mein Schnüffler! —, warum sollte auch nur einer von ihnen wegrennen, geschweige denn alle drei?«

Mat zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Rand war... « Perrin hätte am liebsten etwas nach ihm geworfen, ihn geschlagen, irgend etwas getan, um ihn zum Schweigen zu bringen, aber Ingtar und Uno sahen zu. Erleichterung durchströmte ihn, als Mat zögerte, die Hände spreizte und knurrte: »Ich weiß nicht, warum. Ich habe nur so gedacht... «

Ingtar verzog das Gesicht. »Weggerannt«, grollte er, als habe er das nicht einen Moment lang geglaubt. »Der Erbauer kann gehen, wohin er will, aber Hurin rennt nicht weg. Und Rand al'Thor auch nicht. Das täte er nicht, denn er kennt jetzt seine Pflichten. Geh weiter, Uno. Such den Boden nochmals ab.« Uno verbeugte sich halb und eilte davon. Der Griff seines Schwertes hüpfte über den Schultern. Ingtar murrte: »Warum sollte Hurin ohne ein Wort mitten in der Nacht abhauen? Er weiß doch, worum es geht. Wie soll ich diesen schattengeborenen Dreckskerlen ohne seine Hilfe folgen? Ich gäbe tausend Goldkronen für ein Rudel Spürhunde. Wenn ich es nicht besser wüßte, müßte ich annehmen, die Schattenfreunde hätten ihre Hand im Spiel gehabt, so daß sie nach Osten oder Westen verschwinden können, ohne daß ich es weiß. Friede, ich weiß nicht einmal, was ich überhaupt weiß.« Er stapfte hinter Uno her.

Perrin trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. Zweifellos entfernten sich die Schattenfreunde von Minute zu Minute von ihnen. Sie entfernten sich, und mit ihnen das Horn von Valere — und der Dolch aus Shadar Logoth. Er glaubte nicht, daß Rand, was immer mit ihm geschehen war, diese Jagd aufgeben würde. Aber wo steckt er? Loial war vielleicht aus Freundschaft mit Rand gegangen — aber warum Hurin?

»Vielleicht ist er wirklich weggerannt«, knurrte er und blickte sich um. Keiner schien es gehört zu haben; selbst Mat achtete nicht auf ihn. Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Wenn hinter ihm die Aes Sedai her gewesen wären, um aus ihm einen falschen Drachen zu machen, wäre er auch weggerannt. Aber sich um Rand Sorgen zu machen, half auch nicht, die Spur der Schattenfreunde zu finden.

Es gab vielleicht eine Möglichkeit, falls er das wirklich wollte. Er wollte aber nicht. Er war lange genug davor weggelaufen. Vielleicht konnte er jetzt nicht mehr länger weglaufen. Geschieht mir recht nach allem, was ich Rand gesagt habe. Ach, könnte ich doch weglaufen! Obwohl er wußte, was er tun mußte, um zu helfen, zögerte er.

Keiner sah ihn an. Keinem wäre auch klar gewesen, was er da sah, wenn er ihn anblickte. Schließlich schloß er zögernd die Augen und ließ sich treiben, ließ seine Gedanken hinaustreiben, weg von ihm selbst.

Er hatte es von Anfang an abgelehnt, lange bevor die Farbe seiner Augen sich von Dunkelbraun zu glänzendem Goldgelb veränderte. Bei diesem ersten Zusammentreffen, dem ersten Augenblick des Erkennens, hatte er sich geweigert, daran zu glauben, und vor dieser Erkenntnis war er seither weggelaufen. Er wollte immer noch fliehen.

Seine Gedanken trieben hinaus, fühlten nach dem, was dort draußen sein mußte, was sich immer in einem Land befand, wo die Menschen weit verstreut lebten suchten nach seinen Brüdern.

Anfangs hatte er gefürchtet, sein Tun werde irgendwie vom Dunklen König geprägt oder auch von der Einen Macht — beides genauso schlimm für einen Mann, der nicht mehr wollte, als ein Hufschmied sein und sein Leben lang im Licht und in Frieden wandeln. Von der Zeit an konnte er Rands Gefühle besser nachvollziehen: sich vor den eigenen Fähigkeiten fürchten, sich unrein fühlen. Er war noch nicht ganz darüber hinweg. Aber was er da tat, hatte es schon gegeben, bevor Menschen die Eine Macht anwendeten. Es stammte von der Geburt der Zeit her. Es sei nicht die Macht, hatte Moiraine gesagt. Etwas lange Verschwundenes, das nun wiedergekehrt war. Auch Egwene wußte davon, wenn es ihm auch lieber gewesen wäre, sie hätte nichts gewußt. Er wünschte, keiner hätte darüber Bescheid gewußt. Er hoffte, daß sie es niemandem erzählt hatte.

Kontakt. Er fühlte sie, fühlte andere Wesen. Fühlte seine Brüder, die Wölfe.

Ihre Gedanken erreichten ihn als ein Gewirr von Eindrücken und Gefühlen. Zuerst war er nicht in der Lage gewesen, mehr als die stärksten Gefühle darin auszumachen, doch nun formte sein Verstand die Worte, die darin steckten. Wolfsbruder. Überraschung. Zweibeiner, der spricht. Ein verblaßtes Bild, vom Alter getrübt, älter als alt, das Menschen zeigte, die mit den Wölfen jagten. Zwei Rudel, die gemeinsam jagten. Wir haben gehört, daß es wiederkommt. Bist du Langzahn?

Es war das blasse Bild eines in Felle gekleideten Mannes mit einem langen Messer in der Hand, aber das Bild wurde in der Mitte von dem eines zerzausten Wolfs überlagert, der einen Zahn besaß, länger als alle anderen, einen stählernen Zahn, der im Sonnenschein glitzerte, als der Wolf das Rudel in einem verzweifelten Angriff auf einen Hirsch durch den Tiefschnee führte. Der Hirsch bedeutete für sie Leben anstelle des langsamen Hungertodes. Er trat um sich und versuchte, durch den bauchhohen Schnee zu rennen. Die Sonne gleißte auf dem Weiß, bis die Augen schmerzten, und der Wind heulte die Pässe herunter, wirbelte den Pulverschnee wie Nebelschwaden auf, und... Die Namen von Wölfen bestanden immer aus komplexen Bildern und Vorstellungen.

Perrin erkannte den Mann. Elyas Machera, der ihn zuerst mit den Wölfen bekanntgemacht hatte. Manchmal wünschte er sich, er hätte Elyas nie getroffen.

Nein, dachte er und versuchte, sich selbst im Geist darzustellen.

Ja. Wir haben von dir gehört. Es war aber nicht das Bild, das er geschaffen hatte, von einem jungen Mann mit kräftigen Schultern und zerzausten braunen Locken, eines jungen Mannes mit einer Axt am Gürtel, von dem andere glaubten, er denke und bewege sich langsam. Dieser Mann war schon da, irgendwo in jenem geistigen Bild, das von den Wölfen stammte, aber stark überlagert von dem eines wuchtigen wilden Bullen mit gekrümmten Hörnern aus glänzendem Metall, der mit der Schnelligkeit und dem Überschwang der Jugend durch die Nacht stürmte, das lockige Fell im Mondschein glänzend, der sich zwischen die Weißmäntel auf ihren Pferden stürzte... Die Luft war beißend kalt und dunkel, das Blut so rot an den Hörnern und...

Junger Stier.

Einen Augenblick lang verlor Perrin in seiner Überraschung den Kontakt. Er hatte sich nicht träumen lassen, daß sie ihm einen Namen gegeben hatten. Er wünschte, sich nicht mehr daran zu erinnern, wie er sich den Namen verdient hatte. Er berührte die Axt am Gürtel mit ihrer schimmernden Halbmondschneide. Licht, hilf mir, ich habe zwei Männer getötet! Sie hätten mich und

Egwene sogar noch schneller getötet, aber...

Er schob alles beiseite. Es war vorbei und lag hinter ihm. Er verspürte kein Bedürfnis, sich noch weiter daran zu erinnern. Er teilte den Wölfen die Witterung Rands, Loials und Hurins mit und fragte sie, ob sie die drei irgendwo gewittert hatten. Das war eine der Eigenschaften, die er zusammen mit der Veränderung seiner Augen gewonnen hatte: Er konnte Menschen durch ihren Geruch unterscheiden, selbst wenn er sie nicht sah. Er sah auch besser als vorher und bei jedem Licht außer völliger Dunkelheit. Er achtete mittlerweile sehr darauf, Lampen oder Kerzen anzuzünden, oft lange bevor ein anderer dies für nötig hielt.

Von den Wölfen kam das Bild von Männern auf Pferden, die sich spät am Tag noch der Mulde näherten. Das war das letzte, was sie von Rand und den beiden anderen gewittert oder gesehen hatten.

Perrin zögerte. Der nächste Schritt wäre sinnlos, außer er sprach mit Ingtar darüber. Und Mat wird sterben, wenn wir den Dolch nicht finden. Seng dich, Rand, warum hast du den Schnüffler mitgenommen?

Beim einzigen Mal, als er Egwene in den Kerker begleitet hatte, hatten sich ihm bei Fains Geruch die Haare gesträubt; nicht einmal Trollocs stanken so fürchterlich. Er hätte die Gitterstäbe der Zelle am liebsten weggefetzt und den Mann zerrissen, und allein dieser Wunsch hatte ihn noch mehr erschüttert als Fain selbst. Um Fains Geruch im eigenen Geist zu überdecken, fügte er den Geruch von Trollocs hinzu, bevor er laut heulte.

Aus der Entfernung erklang das Jaulen des Wolfsrudels und in der Mulde stampften und wieherten die Pferde vor Angst. Einige der Soldaten legten die Hände an die Schäfte ihrer Lanzen und beobachteten wachsam den Rand der Mulde. In Perrins Kopf ging es viel schlimmer zu. Er fühlte den Zorn und den Haß der Wölfe. Es gab nur zwei Dinge, die Wölfe haßten. Alles andere ertrugen sie, aber sie haßten das Feuer und die Trollocs, und sie würden durch das Feuer springen, um Trollocs zu töten.

Noch mehr als die Trollocs hatte Fains Witterung sie in wilde Erregung versetzt, als röchen sie etwas, gegen das selbst Trollocs natürlich und gut rochen.

Wo?

Der Himmel rollte durch seinen Kopf, und das Land schwankte wild. Die Wölfe kannten kein Ost und West. Sie kannten die Bewegung von Sonne und Mond, den Wechsel der Jahreszeiten, die Gestalt der Landschaft. Perrin fand heraus, wie er es ihnen am besten beibringen konnte. Süden. Der Sonne entgegen. Und noch heftiger fügte er hinzu: den Willen, die Trollocs zu töten. Die Wölfe würden es dem Jungen Stier erlauben, am Töten teilzunehmen. Er konnte auch die Zweibeiner mit der harten Haut mitbringen, wenn er wollte, aber der Junge Stier und Rauch und Zwei Hirsche und Winterdämmerung und der Rest des Rudels würden die Verzerrten verfolgen, die in ihr Land eingedrungen waren. Das ungenießbare Fleisch und das bittere Blut würden ihnen auf der Zunge brennen, aber sie mußten getötet werden. Tötet sie. Tötet die Verzerrten.

Ihre Wut steckte ihn an. Er verzog die Lippen zu einem Knurren und trat einen Schritt vor, um sich ihnen anzuschließen, um neben ihnen herzurennen, um mit ihnen zu töten.

Mit Mühe unterbrach er die Verbindung bis auf das schwache Gefühl, daß die Wölfe da waren. Er hätte über die ganze Entfernung hinweg direkt auf sie deuten können. Innerlich war ihm kalt. Ich bin ein Mensch und kein Wolf. Licht, hilf mir, ich bin doch ein Mensch!

»Geht es dir gut, Perrin?« fragte Mat, der auf ihn zutrat. Er klang ganz so wie immer, leichthin und in letzter Zeit mit einem bitteren Unterton, aber er sah besorgt aus. »Das kann ich gerade noch gebrauchen. Rand weggelaufen, und du wirst krank. Ich weiß nicht, wo ich eine Seherin auftreiben soll, die dich hier draußen behandelt. Ich glaube, ich habe noch etwas Weidenrinde in einer Satteltasche. Ich kann dir Tee daraus bereiten, falls Ingtar so lange wartet. Geschieht dir recht, wenn ich ihn zu stark mache.«

»Mir... mir geht's gut, Mat.« Perrin schüttelte den Freund ab und suchte Ingtar. Der schienarische Lord suchte den Boden am Rand ab, zusammen mit Uno, Ragan und Masema. Die anderen warfen ihm böse Blicke zu, als er Ingtar zur Seite zog. Er vergewisserte sich, daß Uno und die anderen zu weit entfernt waren, um zu lauschen, bevor er loslegte. »Ich weiß nicht, wohin Rand und die anderen verschwunden sind, Ingtar, aber Padan Fain und die Trollocs — und ich denke, auch die anderen Schattenfreunde — sind immer noch auf dem Weg nach Süden.«

»Woher wißt Ihr das?« fragte Ingtar.

Perrin atmete tief durch. »Die Wölfe haben es mir gesagt.« Er wartete, doch er war nicht sicher, worauf. Lachen, Spott, die Anklage, er sei ein Schattenfreund oder verrückt. Absichtlich hakte er seine Daumen hinter dem Gürtel ein — ein Stück von der Axt entfernt. Ich werde nicht töten. Nicht noch einmal. Wenn er versucht, mich als Schattenfreund zu töten, werde ich wegrennen, aber ich werde niemanden töten.

»Ich habe von solchen Dingen gehört«, sagte Ingtar bedächtig nach einem Augenblick des Schweigens.

»Gerüchte. Es gab einmal einen Behüter, einen Mann namens Elyas Machera, von dem man sagte, er könne mit Wölfen sprechen. Er verschwand vor Jahren.« Er schien Perrins Blick etwas zu entnehmen. »Ihr kennt ihn?«

»Ich kenne ihn«, sagte Perrin knapp. »Er ist derjenige... Ich will nicht darüber sprechen. Ich habe nicht darum gebeten.« Das hat auch Rand gesagt. Licht, ich wünsche, ich wäre zu Hause und könnte in Meister Luhhans Schmiede arbeiten.

»Diese Wölfe«, sagte Ingtar, »werden sie für uns die Schattenfreunde und Trollocs aufspüren?« Perrin nickte. »Gut. Ich muß das Horn haben, gleich wie.« Der Schienarer blickte sich nach Uno und den anderen um, die immer noch nach Spuren suchten. »Aber es ist besser, niemandem davon zu erzählen. Wölfe werden in den Grenzlanden als Glücksbringer betrachtet. Die Trollocs haben Angst vor ihnen. Aber trotzdem ist es besser, das alles eine Weile für uns zu behalten. Einige von ihnen verstünden es vielleicht nicht.«

»Mir wäre es recht, wenn niemals jemand davon erführe«, sagte Perrin.

»Ich werde ihnen sagen, Ihr hättet vermeintlich Hurins Gabe. Das kennen sie; es stößt sie nicht ab. Einige von ihnen haben bemerkt, wie Ihr damals in dem Dorf und auch an der Fähre Eure Nase gerümpft habt. Ich habe Scherze über Eure empfindliche Nase gehört. Ja, Ihr führt uns heute auf ihre Spur, und Uno wird genug von ihren Spuren sehen, um zu bestätigen, daß es wirklich die richtige Spur ist, und dann ist noch vor Anbruch der Nacht auch der letzte meiner Männer davon überzeugt, daß Ihr ein Schnüffler seid. Ich muß das Horn haben.« Er blickte zum Himmel auf und erhob die Stimme: »Wir werden kein Tageslicht mehr verschwenden! Aufsitzen!«

Zu Perrins Überraschung schienen die Schienarer Ingtars Geschichte zu glauben. Ein paar von ihnen blickten skeptisch drein — Masema ging sogar so weit, daß er ausspuckte —, aber Uno nickte nachdenklich, und das genügte den meisten. Mat war am schwersten zu überzeugen.

»Ein Schnüffler? Du? Du willst Mörder am Geruch erkennen? Perrin, du spinnst ja schon genauso wie Rand! Ich bin der einzige aus Emondsfeld, der noch normal ist. Und Egwene und Nynaeve trotteln nach Tar Valon, um dort... « Er brach ab und sah sich unsicher nach den Schienarern um. Perrin übernahm Hurins Platz neben Ingtar, als die kleine Kolonne nach Süden ritt. Mat machte ständig verächtliche Bemerkungen, bis Uno die ersten Spuren von Trollocs und von menschlichen Reitern fand, aber Perrin achtete sowieso nicht viel auf ihn. Er hatte genug damit zu tun, die Wölfe davon abzuhalten, vorauszurennen, um die Trollocs zu töten. Den Wölfen lag nur daran, die Verzerrten zu töten; für sie unterschieden sich Schattenfreunde nicht von allen anderen Zweibeinern. Perrin konnte sich vorstellen, wie die Schattenfreunde in allen Richtungen auseinanderstoben, während die Wölfe Trollocs rissen. Sie würden mit dem Horn von Valere fliehen; mit dem Dolch fliehen. Und wenn die Trollocs einmal tot waren, dann glaubte er nicht, daß er die Wölfe noch dafür gewinnen konnte, die Menschen zu verfolgen. Er wüßte auch gar nicht, welche von ihnen er dann verfolgen sollte. Er setzte sich fortwährend deswegen mit den Wölfen auseinander, und seine Stirn war schweißbedeckt, als er die ersten Bilder aufblitzen sah, die ihm den Magen umdrehten.

Er zerrte an den Zügeln und ließ sein Pferd auf der Stelle anhalten. Die anderen folgten seinem Beispiel und warteten. Er starrte geradewegs nach vorn und fluchte leise und bitter.

Wölfe töteten schon auch gelegentlich Menschen, aber Menschen waren für sie keine besonders beliebte Beute. Zum einen erinnerten sich die Wölfe daran, daß man einmal gemeinsam gejagt hatte, und zum anderen schmeckten die Zweibeiner schlecht. Wölfe waren in bezug auf ihr Fressen wählerischer, als er geglaubt hatte. Sie fraßen kein Aas, außer sie waren am Verhungern, und nur wenige töteten mehr, als sie fressen konnten. Was Perrin nun von den Wölfen empfing, konnte man am besten als Ekel bezeichnen. Und da waren die Bilder, die Eindrücke. Er sah sie viel genauer, als er wollte. Leichen, Männer und Frauen und Kinder, aufeinandergehäuft und herumgeschleudert. Blutgetränkte Erde, von Hufen und verzweifelten Fluchtversuchen aufgewühlt. Zerfetztes Fleisch. Abgeschlagene Köpfe. Geier flatterten um sie herum, die weißen Schwingen rotgefärbt. Blutige federlose Köpfe rissen und schlangen. Er brach den Kontakt ab, bevor sich sein Magen entleerte.

Über einigen Bäumen in der Ferne konnte er gerade noch schwarze Flecke ausmachen, die in geringer Höhe kreisten, sich fallen ließen und dann wieder erhoben. Geier, die sich um ihre Beute stritten.

»Da vorn ist etwas Schlimmes.« Er schluckte und sah Ingtar in die Augen. Wie konnte er das mit der Geschichte erklären, daß er ein Schnüffler war? Ich will nicht nahe genug herankommen, um das alles zu sehen. Aber sie werden nachsehen wollen, sobald sie die Geier sehen. Ich muß ihnen genug sagen, damit sie einen Bogen darum machen. »Die Leute aus diesem Dorf... Ich glaube, die Trollocs haben sie getötet.«

Uno fluchte leise, und einige Schienarer murmelten vor sich hin. Keiner von ihnen jedoch schien seine Erklärung eigenartig zu finden. Lord Ingtar sagte, er sei ein Schnüffler, und Schnüffler konnten Morde riechen.

»Und jemand folgt uns«, sagte Ingtar.

Mat drehte übereifrig sein Pferd um. »Vielleicht ist es Rand. Ich wußte, daß er mir nicht fortrennen würde.«

Dünne Staubwölkchen erhoben sich im Norden: Ein Pferd galoppierte über spärlich mit Gras bewachsene Flächen. Die Schienarer verteilten sich mit erhobenen Lanzen, so daß sie alle Richtungen überblicken konnten. Dies war kein Ort, an dem man die Ankunft eines Fremden leichtnahm.

Ein Fleck schälte sich aus dem Staub — Pferd und Reiter. Lange bevor jemand den Reiter erkennen konnte, wußte Perrin, daß es eine Frau war, die sich ihnen schnell näherte. Sie ritt langsamer, als sie sie sah, und wedelte sich mit einer Hand frische Luft zu. Es war eine mollige Frau mit ergrautem Haar, den Umhang hinter den Sattel geschnallt, die sie abwesend anblinzelte.

»Das ist eine der Aes Sedai«, sagte Mat enttäuscht. »Ich kenne sie. Verin.«

»Verin Sedai«, sagte Ingtar in scharfem Ton und verbeugte sich im Sattel vor ihr.

»Moiraine Sedai hat mich geschickt, Lord Ingtar«, verkündete Verin mit befriedigtem Lächeln. »Sie dachte, Ihr würdet mich brauchen. Welch ein Ritt war das! Ich glaubte schon, ich würde Euch nicht mehr vor Cairhien erreichen. Ihr habt natürlich dieses Dorf gesehen? Oh, das war schlimm, nicht wahr? Und dieser Myrddraal. Auf allen Dächern saßen Raben und Krähen, aber kein einziger näherte sich ihm, so tot er auch war. Ich mußte allerdings Fliegen vom Gewicht des Dunklen Königs wegscheuchen, bevor ich erkannte, wer das war. Eine Schande, daß ich keine Zeit hatte, ihn herunterzunehmen. Ich hatte noch nie Gelegenheit, einen Myrddraal zu... « Plötzlich verengten sich ihre Augen, und das abwesende Gebaren verschwand. »Wo ist denn Rand al'Thor?«

Ingtar verzog das Gesicht. »Weg, Verin Sedai. Verschwand letzte Nacht spurlos. Er, der Ogier und Hurin, einer meiner Männer.«

»Der Ogier, Lord Ingtar? Und Euer Schnüffler ging mit ihnen? Was könnten diese beiden gemeinsam haben mit...?« Ingtar starrte sie mit offenem Mund an und schnaubte. »Habt Ihr geglaubt, Ihr könntet so etwas geheimhalten?« Sie schnaubte nochmals. »Schnüffler. Verschwunden, behauptet Ihr?«

»Ja, Verin Sedai.« Ingtar klang verstört. Es war unangenehm, festzustellen, daß Aes Sedai die Geheimnisse kannten, die man vor ihnen verborgen hielt. Perrin hoffte, Moiraine habe nichts von ihm erzählt. »Aber ich habe... Ich habe einen neuen Schnüffler.« Der schienarische Lord deutete auf Perrin. »Dieser Mann scheint die gleiche Begabung zu haben. Ich werde das Horn von Valere finden, wie ich es schwor, keine Angst. Eure Gesellschaft ist uns willkommen, Aes Sedai, falls Ihr mit uns reiten wollt.« Zu Perrins Überraschung wirkte er dabei nicht so ganz überzeugt.

Verin sah Perrin an, bis er unsicher hin und her rutschte. »Ein neuer Schnüffler, nachdem Ihr gerade Euren alten verloren habt. Wie — vorsorglich. Ihr habt keine Spuren gefunden? Nein, natürlich nicht. Ihr sagtet ja: spurlos. Seltsam. Letzte Nacht.« Sie drehte sich im Sattel um und blickte nach Norden zurück. Einen Augenblick lang glaubte Perrin, sie werde denselben Weg zurückreiten, den sie gekommen war. Ingtar sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Glaubt Ihr, daß ihr Verschwinden etwas mit dem Horn zu tun hat, Aes Sedai?«

Verin setzte sich bequem zurecht. »Mit dem Horn? Nein. Nein, ich... glaube nicht. Aber es ist eigenartig. Sehr seltsam. Ich mag keine eigenartigen Dinge, wenn ich sie nicht verstehe.«

»Ich kann Euch von zwei Männern dorthin zurückbringen lassen, wo sie verschwanden, Verin Sedai. Es wird ihnen keine Mühe bereiten, Euch geradewegs zu dem Ort zu führen.«

»Nein. Wenn Ihr sagt, daß sie spurlos verschwanden... « Für einen langen Augenblick musterte sie Ingtar mit nichtssagender Miene. »Ich werde mit Euch reiten. Vielleicht finden wir sie wieder, oder sie finden uns. Sprecht mit mir, während wir reiten, Lord Ingtar. Erzählt mir alles, was Ihr wißt, über diesen jungen Mann. Alles, was er tat, und alles, was er sagte.«

Sie ritten mit klimperndem Zaumzeug und quietschenden Rüstungen los, Verin neben Ingtar. Sie fragte ihn eindringlich aus, aber zu leise, um von den anderen gehört zu werden. Sie warf Perrin einen Blick zu, als er seinen Platz wieder einnehmen wollte, und er ließ sich zurückfallen.

»Sie ist hinter Rand her«, murmelte Mat, »und nicht hinter dem Horn.«

Perrin nickte. Wo immer du auch sein magst, Rand, bleib dort. Dort bist du sicherer als hier.

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