18 Zur Weißen Burg

Egwene stand unsicher auf dem Ladedeck, als die Flußkönigin den breiten Erinin unter dunkel bewölktem Himmel hinunterfuhr. Die Segel blähten sich im Wind, und die Flagge mit der Weißen Flamme flatterte wild am Hauptmast. Der Wind hatte sich erhoben, kaum daß die letzte von ihnen in Medo an Bord gegangen war, und er hatte keinen Moment nachgelassen oder gar aufgehört, weder bei Tag noch bei Nacht. Der Fluß führte nun Hochwasser, das gegen die Schiffe klatschte und sie schneller vorwärtstrieb. Wind und Fluß hatten nicht lockergelassen, genau wie die Schiffe, die in einer Gruppe dahintrieben. Die Flußkönigin führte sie an, und das gebührte ja auch dem Schiff, das die Amyrlin trug.

Der Steuermann hielt grimmig sein Ruder fest. Er hatte die Beine gespreizt, um das Gleichgewicht besser zu halten. An Deck gingen die Matrosen barfuß und konzentriert ihrer Arbeit nach. Wenn sie zum Himmel hinauf oder auf den Fluß hinunterblickten, rissen sie ihren Blick schnell wieder weg und murmelten leise Flüche. Ein Dorf verschwand gerade hinter ihnen, und am Ufer lief ein Junge entlang. Für eine kurze Strecke hatte er mit den Schiffen mitgehalten, doch jetzt ließen sie ihn hinter sich zurück. Als er verschwand, kehrte Egwene unter Deck zurück.

In der kleinen Kabine, die sie sich teilten, funkelte Nynaeve sie böse aus ihrer engen Koje an. »Sie sagen, daß wir heute noch nach Tar Valon kommen. Licht, hilf mir, bin ich froh, wieder an Land zu gehen, selbst wenn es Tar Valon ist.« Das Schiff schwankte in Wind und Strömung, und Nynaeve mußte schlucken. »Ich werde nie wieder ein Boot betreten«, murmelte sie erstickt.

Egwene schüttelte das Spritzwasser des Flusses aus ihrem Umhang und hängte ihn an einen Haken neben der Tür. Es war eine beengte Kabine — auf dem Schiff gab es nur kleine Kabinen, wie es schien, nicht einmal jene, die die Amyrlin vom Kapitän übernommen hatte, war geräumig, wenn auch etwas größer als die anderen. Die beiden Kojen waren in die Wand eingebaut; darüber befanden sich Schubfächer und darunter Regalbretter, so daß alles gleich zur Hand war.

Obwohl es schwierig war, das Gleichgewicht zu halten, störte die Bewegung des Schiffs Egwene nicht in dem Maß, wie es bei Nynaeve der Fall war. Sie hatte es aufgegeben, Nynaeve etwas zu essen anzubieten, nachdem die Seherin das dritte Mal die Schüssel nach ihr geworfen hatte. »Ich mache mir Sorgen um Rand«, sagte sie.

»Ich mache mir Sorgen um alle«, antwortete Nynaeve undeutlich. Einen Augenblick später fragte sie: »Wieder ein Traum letzte Nacht? So wie du seit dem Aufstehen ins Leere geschaut hast... «

Egwene nickte. Sie hatte es nie sehr gut verstanden, etwas vor Nynaeve zu verheimlichen, und bei den Träumen hatte sie es gar nicht erst versucht. Nynaeve hatte zuerst versucht, sie deshalb auf den Arm zu nehmen, aber als sie hörte, daß sich eine Aes Sedai dafür interessierte, glaubte sie ihr. »Er war wie die anderen. Anders, aber im Prinzip das gleiche. Rand befindet sich in Gefahr. Ich weiß es. Und es wird schlimmer. Er hat etwas getan oder wird etwas tun, daß ihn in...« Sie ließ sich auf das Bett fallen und beugte sich zu der Freundin hinüber.

»Ach, könnte ich mir nur einen Reim darauf machen!«

»Wendet er die Macht an?« fragte Nynaeve leise.

Unwillkürlich sah sich Egwene um, ob nicht jemand lauschte. Sie waren allein, die Tür war geschlossen, und trotzdem sprach sie ganz leise. »Ich weiß nicht. Vielleicht.« Man wußte nie, was Aes Sedai alles fertigbrachten — sie hatte bereits genug gesehen, um alles zu glauben, was man sich über ihre Fähigkeiten erzählte —, und sie wollte nicht riskieren, daß jemand sie belauschte. Ich setze doch Rand nicht aufs Spiel. Von Rechts wegen müßte ich es ihnen erzählen, aber Moiraine weiß Bescheid, und sie hat nichts gesagt. Außerdem ist es Rand! Ich kann nicht. »Ich weiß nicht mehr weiter.«

»Hat Anaiya noch etwas zu diesen Träumen gesagt?« Nynaeve fügte aus Prinzip niemals den Titel Sedai hinzu. Die meisten Aes Sedai schienen sich nicht darum zu kümmern, aber diese Angewohnheit hatte ihr schon ein paar befremdete und auch ein paar böse Blicke eingebracht; schließlich reiste sie zur Weißen Burg, um sich dort ausbilden zu lassen.

»Das Rad webt, wie das Rad es wünscht.« Egwene imitierte Anaiya: »›Der Junge ist weit weg, Kind, und wir können nichts unternehmen, bis wir mehr wissen. Ich werde dafür sorgen, daß ich selbst deine Fähigkeiten überprüfe, wenn wir die Weiße Burg erreicht haben, Kind.‹ Aaaach! Sie weiß, daß an diesen Träumen etwas dran ist. Ich fühle es deutlich. Ich mag diese Frau, Nynaeve, wirklich! Aber sie will mir einfach nicht sagen, was ich wissen muß. Ich kann ihr nicht alles erzählen. Wenn ich könnte, vielleicht... «

»Wieder der Mann mit der Maske?«

Egwene nickte. Irgendwie fand sie es besser, Anaiya nichts von ihm zu erzählen. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum, doch sie war sich ganz sicher. Dreimal war der Mann mit den Augen aus Feuer in ihren Träumen aufgetaucht, immer wenn sie etwas träumte, das Rand in Gefahr zeigte. Er trug immer eine Gesichtsmaske. Manchmal konnte sie seine Augen sehen, und manchmal sah sie nur Flammen an der Stelle seiner Augen. »Er lachte mich aus. Es war so... voller Verachtung. Als sei ich ein Welpe, den er mit dem Fuß beiseite schieben müsse. Das ängstigt mich. Ich fürchte mich vor ihm.«

»Bist du sicher, daß es etwas mit den anderen Träumen zu tun hat, den Träumen von Rand? Manchmal ist ein Traum doch nur ein Traum.«

Egwene hob gereizt die Hände. »Und manchmal, Nynaeve, redest du schon genauso wie Anaiya Sedai!« Sie legte besondere Betonung auf den Titel und freute sich, als Nynaeve das Gesicht verzog.

»Falls ich noch einmal aus dieser Koje herauskomme, Egwene... «

Was auch immer sie noch hatte sagen wollen, wurde durch ein Klopfen an die Tür unterbrochen. Bevor Egwene etwas sagen oder sich auch nur bewegen konnte, kam die Amyrlin selbst herein und schloß die Tür hinter sich. Erstaunlicherweise war sie einmal allein. Sie verließ sonst nur selten ihre Kabine und dann auch nur mit Leane an der Seite und vielleicht noch einer der Aes Sedai.

Egwene sprang auf. Der Raum war ziemlich voll mit drei Menschen.

»Fühlt Ihr Euch beide wohl?« fragte die Amyrlin aufmunternd. Sie hielt den Kopf schief und sah Nynaeve an. »Ich hoffe, Ihr eßt auch gut? Seid Ihr guter Stimmung?«

Nynaeve setzte sich mühsam auf und lehnte sich gegen die Wand. »Meine Stimmung ist ausgezeichnet, vielen Dank.«

»Es ist uns eine Ehre, Mutter«, begann Egwene, aber die Amyrlin gab ihr durch einen Wink zu verstehen, sie solle schweigen.

»Es ist gut, sich wieder auf dem Wasser zu befinden, aber wenn man nichts zu tun hat, wird es mit der Zeit so langweilig wie ein Mühlteich.« Das Schiff schwankte, und sie verlagerte ihr Gewicht, ohne es überhaupt zu bemerken. »Heute unterrichte ich Euch.« Sie setzte sich im Schneidersitz auf das Ende von Egwenes Koje. »Setzt Euch, Kind.«

Egwene setzte sich, aber Nynaeve bemühte sich, auf die Beine zu kommen. »Ich denke, ich gehe an Deck.«

»Ich sagte, setzt Euch!« Die Stimme der Amyrlin peitschte durch die Kabine, aber Nynaeve versuchte immer noch, wankend aufzustehen. Sie stützte sich mit beiden Händen am Bett ab, doch sie stand schon fast. Egwene war schon bereit, sie aufzufangen, falls sie stürzte.

Dann schloß Nynaeve die Augen und setzte sich wieder auf das Bett. »Vielleicht bleibe ich doch. Es ist oben bestimmt windig.«

Die Amyrlin lachte auf. »Man sagte mir, Ihr hättet eine Laune wie eine Möwe mit einer Gräte in der Kehle Einige meinen, Kind, es sei besser für Euch, eine Weile als Novizin zu verbringen, gleichgültig, wie alt Ihr schon seid. Ich dagegen sage, wenn Ihr wirklich die Fähigkeiten besitzt, von denen ich hörte, verdient Ihr es, unter die Aufgenommenen eingereiht zu werden.« Sie lachte erneut. »Ich glaube daran, jedem das zu geben, was er verdient hat. Ja. Ich vermute, Ihr werdet eine Menge lernen, wenn Ihr einmal in der Weißen Burg seid.«

»Mir wäre es lieber, einer der Behüter brächte mir bei, wie man ein Schwert gebraucht«, grollte Nynaeve. Sie schluckte krampfhaft und öffnete die Augen weit. »Es gibt jemanden, bei dem ich das gern verwenden würde.« Egwene warf ihr einen scharfen Blick zu. Meinte Nynaeve damit die Amyrlin — das wäre dumm und gefährlich —oder Lan? Sie hatte Egwene jedesmal angefaucht, wenn Lan erwähnt wurde.

»Ein Schwert?« fragte die Amyrlin. »Ich habe niemals daran geglaubt, daß Schwerter sehr nützlich seien — selbst wenn Ihr die Fertigkeit besitzt, Kind, gibt es immer Männer, die es genausogut können und kräftiger sind. Aber wenn Ihr ein Schwert haben wollt...« Sie er hob die Hand — Egwene keuchte völlig überrascht, und selbst Nynaeves Augen quollen beinahe heraus — und hielt ein Schwert. Klinge und Griff waren von einem eigenartigen bläulichen Weiß und wirkten irgendwie... kalt. »Aus der Luft erschaffen, Kind. Es ist so gut wie die meisten Stahlklingen, sogar besser als die meisten und doch zu wenigem zu gebrauchen.« Aus dem Schwert wurde ein Hirschfänger. Es schrumpfte nicht etwa; es war erst ein Schwert und dann übergangslos etwas anderes. »Das hier ist zum Beispiel nützlich.« Der Hirschfänger verwandelte sich in Nebel, und der Nebel verflog. Die Amyrlin legte die Hand wieder in den Schoß. »Aber beides kostet mehr Mühe, als es wert ist. Es ist besser und leichter, einfach ein gutes Messer bei sich zu tragen. Ihr müßt lernen, wann Ihr Eure Fähigkeiten anwendet, genauso wie Ihr lernen müßt, wie Ihr sie richtig anwendet und wann es besser ist, die Dinge so anzupacken wie jede normale Frau. Laßt den Schmied Messer anfertigen, um Fische auszunehmen. Gebraucht Ihr die Eine Macht zu oft und in zu hohem Maße, dann gefällt es Euch vielleicht zu sehr. Darin liegt Gefahr. Ihr wollt dann mehr und mehr davon, und früher oder später riskiert Ihr, mehr Macht an Euch zu reißen, als Ihr gefahrlos beherrschen könnt. Und das wiederum kann Euch ausbrennen wie eine abgeschnittene Kerze oder... «

»Wenn ich das alles schon lernen muß«, unterbrach Nynaeve sie unnachgiebig, »dann möchte ich lieber gleich etwas Nützliches erlernen. All dieses... dieses... ›Beweg die Luft, Nynaeve. Entzünde die Kerze, Nynaeve. Jetzt lösch sie wieder. Entzünde sie nochmals.‹ Pah!«

Egwene schloß die Augen. Bitte, Nynaeve, bitte zügle dein Temperament! Sie biß sich auf die Lippen, um es nicht laut auszusprechen.

Die Amyrlin schwieg ein Weilchen. »Nützlich«, sagte sie schließlich. »Etwas Nützliches. Ihr wolltet ein Schwert haben. Stellt Euch vor, ein Mann griffe mich mit einem Schwert an. Was täte ich? Etwas Nützliches, da könnt Ihr sicher sein. Ich glaube, zum Beispiel das hier.«

Für einen Augenblick glaubte Egwene, einen Lichtschein um die Frau sehen zu können, die am anderen Ende des Bettes saß. Dann schien sich die Luft zu verdichten. Es änderte sich nichts, soweit Egwene es sehen konnte, aber sie konnte etwas fühlen. Sie versuchte, den Arm zu heben. Er bewegte sich nicht. Es war, als stecke sie bis zum Hals in Gelatine. Sie konnte nichts außer dem Kopf bewegen.

»Laßt mich frei!« krächzte Nynaeve. Ihre Augen funkelten zornig, und ihr Kopf ruckte von einer Seite zur anderen, doch der Rest von ihr saß so starr wie eine Statue. Egwene wurde klar, daß sie nicht die einzige war, die auf diese Art festgehalten wurde. »Laßt mich los!«

»Nützlich, nicht wahr? Und es hat nur mit dem Element Luft zu tun.« Die Amyrlin sprach in einem Tonfall, als säßen sie beim Tee und klatschten lediglich miteinander. »Ein großer Mann mit viel Muskeln und seinem Schwert, aber das Schwert nutzt ihm genausoviel wie die Haare auf der Brust.«

»Laßt mich los, sage ich!«

»Und wenn es mir nicht paßt, wo er sich befindet, na ja, dann hebe ich ihn hoch.« Nynaeve quiekte wütend, als sie langsam hochschwebte, immer noch in sitzender Haltung, bis ihr Kopf beinahe an die Decke stieß. Die Amyrlin lächelte. »Ich habe mir oft gewünscht, ich könne dies selbst zum Fliegen benutzen. Die Berichte sagen aus, daß die Aes Sedai im Zeitalter der Legenden tatsächlich fliegen konnten, aber sie drücken sich nicht klar genug aus, wie das vor sich ging. Jedenfalls nicht so. Das geht so einfach nicht. Man kann die Hände ausstrecken und eine Truhe aufheben, die genausoviel wiegt wie man selbst. Man sieht stark aus dabei. Aber Ihr könnt Euch selbst packen, wie immer Ihr wollt — es gelingt Euch nicht, Euch selbst hochzuheben.«

Nynaeves Kopf zuckte aufgebracht, doch kein anderer Muskel an ihrem Körper rührte sich. »Das Licht versenge Euch, laßt mich endlich los!«

Egwene schluckte und hoffte, sie werde nicht auch noch hochgehoben.

»Also«, fuhr die Amyrlin fort, »der große haarige Mann. Er kann mir nichts antun, während ich ihm alles antun kann. Tja, wenn es mir in den Kopf käme« — sie beugte sich vor, sah Nynaeve eindringlich an, und ihr Lächeln erschien nicht mehr so freundlich —, »könnte ich ihn einfach in der Luft kopfstehen lassen und ihm das Hinterteil versohlen. Genau so... « Plötzlich schlug es die Amyrlin nach hinten, so daß ihr Kopf gegen die Wand prallte, und dort blieb sie, als hielte sie etwas fest.

Egwene starrte sie an. Ihr Mund war ausgetrocknet. Das gibt es doch nicht. Das kann doch nicht sein!

»Sie hatten recht«, sagte die Amyrlin. Ihre Stimme klang gequält, als habe sie Schwierigkeiten mit dem Atmen. »Sie sagten, Ihr lerntet äußerst schnell. Und sie sagten auch, Ihr müßtet erst ganz schlechter Laune sein, um wirklich zu dem durchzudringen, was Ihr vollbringen könnt.« Sie atmete schwer ein. »Sollen wir uns nicht gegenseitig wieder loslassen, Kind?«

Nynaeve, die immer noch mit funkelnden Augen in der Luft schwebte, rief: »Laßt mich sofort los, oder ich werde...« Schlagartig verzog sich ihr Gesicht vor Überraschung und wirkte dann ein wenig verloren. Ihr Mund bewegte sich lautlos.

Die Amyrlin setzte sich auf und bewegte probeweise die Schultern. »Ihr wißt eben doch nicht alles, oder? Nicht einmal den hundertsten Teil von allem. Ihr habt nicht vermutet, daß ich Euch von der Wahren Quelle abschneiden kann. Ihr könnt sie immer noch dort draußen fühlen, aber Ihr könnt sie genausowenig berühren wie ein Fisch den Mond. Wenn Ihr genug gelernt habt, um zur vollen Schwester erhoben zu werden, wird keine Frau in der Lage sein, mit Euch so etwas anzustellen. Je stärker Ihr werdet, desto mehr Aes Sedai werden nötig sein, um Euch gegen Euren Willen abzuschirmen. Seid Ihr jetzt der Meinung, Ihr solltet es vielleicht doch lernen?« Nynaeve preßte die Lippen ganz fest zusammen und sah ihr grimmig in die Augen. Die Amyrlin seufzte. »Wenn Ihr auch nur um Haaresbreite weniger Potential besäßet, Kind, würde ich Euch zur Oberin der Novizinnen schicken und ihr befehlen, sie solle Euch für den Rest Eures Lebens dort behalten. Aber Ihr werdet bekommen, was Ihr verdient.«

Nynaeves Augen weiteten sich, und sie hatte gerade noch Zeit, mit einem Aufschrei zu beginnen, da fiel sie auch schon mit einem lauten dumpfen Schlag auf ihr Bett zurück. Egwene verzog schmerzlich das Gesicht; die Matratzen waren dünn, und das Holz darunter war ziemlich hart. Nynaeves Gesicht verzog sich nicht. Sie rutschte nur ein winziges Stückchen weiter, um bequemer zu sitzen.

»Und jetzt«, sagte die Amyrlin mit fester Stimme, »werden wir mit den Lektionen beginnen, außer Ihr wünscht noch eine weitere Demonstration. Man könnte auch sagen, laßt uns mit der Lektion fortfahren.«

»Mutter?« fragte Egwene schwach. Sie konnte sich unter Kinnhöhe immer noch nicht rühren.

Die Amyrlin sah sie fragend an und lächelte. »Oh, das tut mir leid, Kind. Eure Freundin hat meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen.« Plötzlich konnte sich Egwene wieder bewegen. Sie hob die Arme, um sich davon zu überzeugen. »Seid Ihr beide bereit zu lernen?«

»Ja, Mutter«, sagte Egwene schnell.

Die Amyrlin zog die Augenbrauen in Richtung Nynaeve hoch.

Einen Augenblick später sagte Nynaeve mit angespannter Stimme: »Ja, Mutter.«

Egwene seufzte vor Erleichterung auf.

»Gut. Nun denn. Entleert Eure Gedanken von allem, bis auf eine Knospe.«

Egwene kam ordentlich ins Schwitzen, bis die Amyrlin endlich ging. Sie hatte geglaubt, einige der anderen Aes Sedai seien harte Lehrerinnen gewesen, aber diese lächelnde Frau mit dem nichtssagenden Gesicht holte die letzten Reserven aus ihnen heraus, pumpte sie aus, und wenn keine Energie mehr übrig war, schien sie in die beiden einzudringen und immer noch etwas aus ihnen herauszuholen. Aber die Stunde war gut verlaufen. Als sich die Tür hinter der Amyrlin schloß, hob Egwene eine Hand. Eine winzige Flamme entstand, balancierte um Haaresbreite über ihrem Zeigefinger und tanzte anschließend von Fingerspitze zu Fingerspitze. Sie durfte das eigentlich nicht ohne die Anwesenheit einer Lehrerin tun — mindestens einer der Aufgenommenen —, aber sie war zu freudig erregt ob ihrer Fortschritte, um darauf zu achten.

Nynaeve sprang auf und warf ihr Kissen nach der sich schließenden Tür. »Diese gemeine, verachtungswürdige, miese — Hexe! Das Licht soll sie versengen! Ich würde sie gern an die Fische verfüttern. Ich würde ihr gern Elixiere einflößen, damit sie für den Rest ihres Lebens grün anläuft! Es ist mir gleich, daß sie alt genug ist, um meine Mutter zu sein. Wenn ich sie in Emondsfeld hätte, könnte sie sich nicht mal fünf Minuten lang ruhig auf den Hintern setzen... « Sie knirschte so laut mit den Zähnen, daß Egwene zusammenfuhr.

Egwene ließ die Flamme ersterben und richtete den Blick fest auf ihren Schoß. Sie hätte sich gern aus dem Raum geschlichen, ohne Nynaeves Aufmerksamkeit zu erregen.

Für Nynaeve war die Unterrichtsstunde nicht so gut verlaufen, denn sie hatte ihr Temperament streng gezügelt, bis die Amyrlin weg war. Sie konnte aber nur dann viel erreichen, wenn sie wütend war, aber dann brach alles aus ihr heraus. Nachdem sie eins ums andere Mal versagt hatte, hatte die Amyrlin ihr Bestes getan, sie wieder richtig aufzuregen.

Nynaeve stolzierte steif hinüber zu ihrer Koje und starrte die Wand an. Die Fäuste hatte sie geballt. Egwene sah die Tür sehnsuchtsvoll an.

»Es war ja nicht deine Schuld«, sagte Nynaeve, und Egwene fuhr zusammen. »Nynaeve, ich... «

Nynaeve drehte sich um und sah sie an. »Es war nicht deine Schuld«, wiederholte sie, klang aber nicht ganz überzeugend. »Aber wenn du jemals auch nur ein Wort weitererzählst, dann werde ich... «

»Kein Sterbenswörtchen«, beteuerte Egwene schnell. »Ich erinnere mich an gar nichts, was ich erzählen könnte.«

Nynaeve blickte sie noch einen Moment lang an und nickte dann. Plötzlich verzog sie das Gesicht. »Licht, ich hätte nicht gedacht, daß etwas noch schlechter schmecken könnte als rohe Schafszungenwurzel!«

Egwene zuckte zusammen. Das war das erste gewesen, was die Amyrlin probiert hatte, um Nynaeve wütend zu machen. Plötzlich war ein dunkler Klumpen aufgetaucht, der wie Schmiere glänzte und schrecklich stank. Während die Amyrlin Nynaeve mit Hilfe der Macht festhielt, wurde der Seherin das Zeug in den Mund hineingezwungen. Die Amyrlin hatte ihr sogar die Nase zugehalten, damit sie es schluckte. Und Nynaeve vergaß nie, was sie einmal erlebt hatte — sie war schrecklich nachtragend. Egwene wußte, daß es keine Möglichkeit gab, sie von ihrer Rache abzuhalten. Bei allem Erfolgsgefühl, daß sie eine Flamme zum Tanzen bringen konnte, hätte sie die Amyrlin niemals an der Wand festgehalten. »Wenigstens wirst du jetzt nicht mehr seekrank.«

Nynaeve brummte und lachte dann kurz und hart auf. »Ich bin zu wütend, um seekrank zu sein.« Nach einem weiteren freudlosen Lacher schüttelte sie den Kopf. »Ich fühle mich zu schlecht, um seekrank zu sein. Licht, ich fühle mich, als hätte mich einer rückwärts durch ein Astloch gezogen. Wenn so der Unterricht bei den Novizinnen aussieht, dann erwarten uns ja herrliche Zeiten.«

Egwene blickte finster auf ihre Knie. Im Gegensatz zu Nynaeve hatte die Amyrlin lediglich ruhig auf sie eingeredet, ihre Erfolge belächelt, Verständnis für gelegentliches Versagen ausgedrückt und ihr dann wieder Streicheleinheiten geschenkt. Aber alle Aes Sedai hatten behauptet, in der Weißen Burg werde es schwieriger werden, härter, auch wenn keine gesagt hatte, inwiefern. Wenn sie Tag für Tag das durchmachen mußte, was Nynaeve erlebt hatte, dann konnte sie das wohl kaum durchhalten.

Etwas änderte sich an der Bewegung des Schiffes. Das Schaukeln ließ nach, und auf Deck über ihren Köpfen trampelten Schritte. Ein Mann rief etwas, das Egwene nicht ganz verstehen konnte.

Sie blickte zu Nynaeve auf. »Glaubst du... Tar Valon?«

»Es: gibt nur eine Möglichkeit, um das herauszufinden«, antwortete Nynaeve und nahm entschlossen ihren Umhang vom Haken.

Als sie an Deck kamen, rannten überall Matrosen herum, zogen an Tauen, refften Segel und hielten lange Stangen bereit. Der Wind war zu einer Brise abgeflaut, und die Wolken zerstreuten sich allmählich.

Egwene eilte zur Reling. »Es stimmt! Es ist Tar Valon!« Nynaeve trat mit ausdruckslosem Gesicht neben sie.

Die Insel war so groß, daß es eher so wirkte, als teile sich der Fluß in zwei Arme. Brücken, die aus zarten Spitzen zu bestehen schienen, spannten sich von jedem Ufer zur Insel hinüber. Die Stadtmauer, die Leuchtende Mauer von Tar Valon, glänzte weiß, als die Sonne durch die Wolken brach. Und nahe dem westlichen Ufer erhob sich schwarz der Drachenberg, aus dessen zerrissenem Gipfel eine dünne Rauchfahne quoll. Es war der einzige Berg in einer ebenen, von welligen Hügeln eingerahmten Landschaft. Der Drachenberg, wo der Drache gestorben war. Der Drachenberg, der durch den Tod des Drachen entstand.

Egwene mußte wieder an Rand denken, als sie den Berg ansah. Ein Mann, der die Macht lenkt. Licht, hilf ihm.

Die Flußkönigin fuhr durch eine breite Öffnung in einer hohen kreisförmigen Mauer, die sich über den Fluß erstreckte. Drinnen zog sich eine lange Kaimauer rund um den Hafen. Matrosen legten die letzten Segel zusammen und verwendeten die Stangen, um das Schiff mit dem Heck nach vorn an den Anlegeplatz zu befördern. Überall an der Kaimauer wurden nun die anderen Schiffe, die ebenfalls den Fluß heruntergekommen waren, an ihre Liegeplätze zwischen die bereits dort befindlichen Schiffe gezurrt. Die Flagge mit der Weißen Flamme lockte Arbeiter herbei, die den schon belebten Kai noch mehr bevölkerten.

Die Amyrlin kam an Deck, bevor noch die Haltetaue festgemacht waren, und Arbeiter brachten sofort einen Laufsteg herbei, als sie erschien. Leane schritt an ihrer Seite, den Stab mit der Flammenspitze in der Hand, und die anderen Aes Sedai auf dem Schiff folgten ihr an Land. Keine von ihnen warf Egwene und Nynaeve auch nur einen Blick zu. Auf dem Kai begrüßte eine Delegation die Amyrlin — Aes Sedai, mit ihren Stolen bekleidet, die sich höflich verbeugten und den Ring der Amyrlin küßten. Auf dem Kai quirlte alles durcheinander: Schiffe wurden entladen, die Amyrlin wurde begrüßt, Soldaten formierten sich, um an Land zu gehen, Männer richteten Ladebäume auf; Trompetensignale hallten von der Mauer wider und konkurrierten mit den Hurrarufen der Zuschauer.

Nynaeve schniefte laut. »Es scheint, man hat uns vergessen. Komm mit. Wir machen uns selbständig.«

Egwene riß sich nur schwer vom Anblick Tar Valons los, aber sie folgte Nynaeve nach unten, um ihre Sachen zu packen. Als sie mit Bündeln auf den Armen wieder nach oben kamen, waren die Soldaten und Trompeter fort, und die Aes Sedai ebenfalls. Männer öffneten die Luken an Deck und rollten Taue um ihre Halterungen.

An Deck packte Nynaeve einen der Schauerleute am Arm — einen stämmigen Burschen in einem groben, braunen, ärmellosen Hemd. »Unsere Pferde...«, begann sie.

»Ich bin beschäftigt«, grollte er und riß sich los. »Die Pferde werden alle zur Weißen Burg gebracht.« Er musterte sie von oben bis unten. »Wenn Ihr in der Weißen Burg etwas zu erledigen habt, dann bewegt Euch. Die Aes Sedai mögen es nicht, wenn Neulinge sich vertrödeln.« Ein anderer Mann, der sich mit einem Ballen abmühte, der an einem Tau aus einer Luke gezogen wurde, schrie ihm etwas zu, und er ließ die beiden stehen, ohne einen Blick zurückzuwerfen.

Egwene und Nynaeve sahen sich an. Es schien, daß man sie wirklich sich selbst überlassen hatte.

Nynaeve stolzierte mit einem Ausdruck grimmiger Entschlossenheit los, Egwene hingegen ging traurig den Laufsteg hinunter. Über dem Kai lag ein Geruch nach Teer. All das Geschwätz, daß sie uns hier haben wollen, und nun scheint es sie nicht mehr zu kümmern.

Breite Treppen führten vom Kai hinauf zu einem weiten Sandsteinbogen. Als sie ihn durchschritten, blieben Egwene und Nynaeve stehen und nahmen den Anblick in sich auf, der sich ihnen bot.

Jedes Gebäude erschien ihnen wie ein Palast, obgleich die näher an dem Torbogen gelegenen meist Schenken oder Läden beherbergten, nach den Schildern über den Türen zu schließen. Überall sah man kunstvolle Friese. Die Form eines Gebäudes schien so gewählt, daß es das danebenstehende ergänzte und besser zur Geltung brachte. Für den Betrachter wirkte das, als sei alles Teil eines einzigen riesigen Musters. Einige der Strukturen sahen nicht einmal wie normale Gebäude aus, sondern wie riesige Wogen, die sich am Strand brachen, oder wie Muscheln oder kunstvolle, vom Wind abgeschliffene Klippen. Vor dem Torbogen lag ein breiter Platz mit einem Brunnen und Bäumen, und Egwene erkannte weiter hinten einen weiteren solchen Platz. Über allem erhoben sich die Türme, hoch und elegant in den Himmel; einige waren durch weit geschwungene Brücken miteinander verbunden. Und über allen wiederum erhob sich eine Burg, ein Turm, höher und breiter als alle anderen und so weiß wie die Leuchtende Mauer selbst.

»Raubt einem beinahe den Atem, wenn man es zum erstenmal sieht«, sagte eine Frauenstimme hinter ihnen. »Allerdings auch noch beim zehnten und beim hundertsten Mal.«

Egwene drehte sich um. Die Frau war eine Aes Sedai, da war sie sicher, auch wenn sie keine Stola trug. Niemand sonst sah so alterslos aus, und dazu strömte sie ein solches Selbstvertrauen, solche Sicherheit aus, daß es gar nicht anders sein konnte. Ein Blick auf ihre Hand zeigte den goldenen Ring mit der Schlange, die sich in den eigenen Schwanz biß. Die Aes Sedai mit ihrem warmen Lächeln war ein wenig mollig und vom Aussehen her eine der eigenartigsten Frauen, die Egwene je gesehen hatte. In dem runden Gesicht zeichneten sich ganz deutlich hohe Backenknochen ab, ihre klaren blaßgrünen Augen standen schräg und ihr Haar war beinahe feuerrot. Egwene mußte sich zurückhalten, um dieses Haar und diese Augen nicht unhöflich anzustarren.

»Natürlich von Ogiern erbaut«, fuhr die Aes Sedai fort, »und wohl das absolute Meisterstück ihrer Baukunst, so sagt man. Eine der ersten Städte, die nach der Zerstörung errichtet wurden. Damals wohnten hier kaum fünfhundert Menschen — nicht mehr als zwanzig Schwestern —, aber sie bauten für die Bedürfnisse der Nachwelt.«

»Es ist eine wunderschöne Stadt«, sagte Nynaeve.

»Man erwartet, daß wir uns zur Weißen Burg begeben. Wir sind hierhergekommen, um ausgebildet zu werden, aber nun scheint sich niemand darum zu kümmern, ob wir gehen oder bleiben.«

»Sie kümmern sich«, meinte die Frau lächelnd. »Ich bin hergekommen, um Euch abzuholen, aber ich wurde durch ein Gespräch mit der Amyrlin aufgehalten. Ich bin Sheriam, die Oberin der Novizinnen.«

»Ich werde keine Novizin«, sagte Nynaeve mit Entschlossenheit in der Stimme, aber ein wenig vorschnell. »Die Amyrlin selbst sagte, ich solle eine der Aufgenommenen werden.«

»Das hat man mir auch gesagt.« Sheriam klang amüsiert. »Ich habe noch nie von einem solchen Fall gehört, aber man sagt, Ihr wärt — außergewöhnlich. Denkt aber daran, daß sogar eine der Aufgenommenen in mein Arbeitszimmer gerufen werden kann. Sie muß dann wohl einige Vorschriften mehr gebrochen haben als eine Novizin, aber es ist schon vorgekommen.« Sie wandte sich Egwene zu, als habe sie Nynaeves gerunzelte Stirn nicht bemerkt. »Und Ihr seid unsere neue Novizin. Es ist immer gut, wenn eine neue kommt. Heutzutage haben wir viel zu wenige. Mit Euch sind es vierzig. Nur vierzig. Und nicht mehr als acht oder neun von Euch werden zu den Aufgenommenen erhoben. Ich glaube aber nicht, daß Ihr Euch darüber Gedanken machen müßt, solange Ihr hart arbeitet und Nützliches leistet. Die Arbeit ist schwer, und auch für jemanden mit Eurem Talent wird sie nicht leichter. Falls Ihr das nicht durchhaltet, ganz gleich, wie schwer es ist, oder falls Ihr unter der Belastung zusammenbrecht, sollten wir das am besten gleich herausfinden und Euch Eurer Wege ziehen lassen und nicht erst warten, bis Ihr eine volle Schwester seid und andere sich auf Euch verlassen. Das Leben einer Aes Sedai ist nicht einfach. Hier werden wir Euch darauf vorbereiten, wenn Ihr das Notwendige in Euch tragt.«

Egwene schluckte. Unter der Belastung zusammenbrechen? »Ich werde es versuchen, Sheriam Sedai«, sagte sie matt. Und ich werde nicht zusammenbrechen.

Nynaeve sah sie besorgt an. »Sheriam... « Sie hielt inne und holte tief Luft. »Sheriam Sedai« — sie schien den Titel aus sich herauszuzwingen —, »muß es denn für sie so schlimm kommen? Fleisch und Blut können eben nur soviel ertragen und nicht mehr. Ich weiß... ein bißchen von dem... was die Novizinnen durchmachen müssen. Sicher wird es doch nicht notwendig sein, sie zu zerbrechen, um festzustellen, wie stark sie ist.«

»Ihr meint, was die Amyrlin heute mit Euch angestellt hat?« Nynaeves Rücken versteifte sich. Sheriam machte den Eindruck, als bemühe sie sich krampfhaft, ernst zu bleiben. »Ich habe Euch ja gesagt, daß ich mit der Amyrlin gesprochen habe. Macht Euch keine Sorgen um Eure Freundin. Die Übungen der Novizinnen sind schwer, aber nicht so schwer. Was Ihr erlebt habt, war für die ersten Wochen einer Aufgenommenen gedacht.« Nynaeve stand mit offenem Mund da; Egwene glaubte, ihr würden gleich die Augen aus dem Kopf fallen. »Man muß die wenigen erwischen, die sich unberechtigterweise als Novizinnen gerade so durchgemogelt haben. Wir können nicht riskieren, daß eine von uns — eine volle Aes Sedai —unter der Belastung der Welt dort draußen zusammenbricht.« Die Aes Sedai nahm die beiden freundschaftlich in die Arme, um sie wegzuführen. Nynaeve schien gar nicht zu bemerken, wohin sie ging. »Kommt«, sagte Sheriam, »ich werde Euch zu Euren Zimmern bringen. Die Weiße Burg erwartet Euch.«

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