Rand rannte nicht sehr weit; nur bis zum Ausfalltor gleich um die Ecke vom Stall aus. Er verlangsamte seinen Schritt und versuchte, gleichgültig zu wirken, so, als habe er viel Zeit.
Das Tor unter dem schmalen Steinbogen war geschlossen. Es war kaum breit genug, daß zwei berittene Männer nebeneinander hindurchkamen, aber wie alle Tore in der Außenmauer war es durch breite Eisenbänder verstärkt und mit einem dicken Riegel verschlossen.
Zwei Wächter standen vor dem Tor. Sie trugen einfache kegelförmige Helme und mit Stahlplatten verstärkte Schuppenpanzer und hatten lange Zweihandschwerter auf dem Rücken. Ihre goldenen Wappenröcke zeigten auf der Brust den Schwarzen Falken. Einen von ihnen, Ragan, kannte er oberflächlich. Die von einem Trolloc-Pfeil hinterlassene Narbe stach weiß hinter dem Gitter seines Visiers von der dunklen Haut seiner Wange ab. Das narbige Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, als er Rand sah.
»Friede sei mit dir, Rand al'Thor.« Ragan schrie es fast, damit er ihn trotz des Glockengeläuts hörte. »Willst du den Kaninchen über den Schädel schlagen oder bestehst du immer noch darauf, daß dieser Knüppel ein Bogen sein soll?« Der andere Wächter schob sich direkt vor die Tür.
»Friede sei mit dir, Ragan«, sagte Rand, der vor den beiden stehengeblieben war. Er mußte sich Mühe geben, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Du weißt genau, daß es ein Bogen ist. Du hast zugesehen, wie ich damit geschossen habe.«
»Nicht gut von einem Pferd aus«, sagte der andere Wächter schlecht gelaunt. Rand erkannte ihn jetzt an seinen tiefliegenden, beinahe schwarzen Augen, die kaum jemals zu blinzeln schienen. Sie spähten unter seinem Helm hervor wie zwei Höhlen innerhalb einer weiteren Höhle. Es hätte ja noch schlimmer kommen können, als ausgerechnet Masema hier am Tor zu erwischen — viel schlimmer allerdings nicht, höchstens wenn eine Rote Aes Sedai hier gewesen wäre. »Er ist zu lang«, fügte Masema hinzu. »Ich kann mit einem Pferdebogen drei Pfeile abschießen, während du mit diesem Monster gerade einen loswirst.«
Rand zwang sich zu einem Lächeln, als glaube er, es handle sich um einen Scherz. Masema hatte in seinem Beisein noch nie einen Scherz gemacht oder über einen solchen gelacht. Die meisten Männer in Fal Dara akzeptierten Rand; er übte mit Lan und aß an Lord Agelmars Tisch, und — was am wichtigsten war — er war in der Gesellschaft von Moiraine, also einer Aes Sedai, nach Fal Dara gekommen. Nur ein paar schienen nicht vergessen zu können, daß er Ausländer war, und diese sprachen kaum zwei Worte mit ihm und auch nur dann, wenn es nicht zu umgehen war. Masema war der schlimmste unter denen.
»Für mich ist er gut genug«, sagte Rand. »Wenn wir schon von Kaninchen sprechen, Ragan, wie wär's, wenn du mich rausließest? Dieser ganze Lärm und Betrieb ist zuviel für mich. Besser draußen Kaninchen jagen, selbst wenn ich keines zu Gesicht bekomme.«
Ragan drehte sich halb um und sah seinen Gefährten an. Rands Hoffnung begann zu steigen. Ragan war ein umgänglicher Typ, dessen Verhalten keineswegs der grimmigen Narbe entsprach, und er schien Rand zu mögen. Doch Masema schüttelte bereits den Kopf. Ragan seufzte. »Es geht nicht, Rand al'Thor.« Er nickte kaum sichtbar zur Erklärung in Richtung Masema. Wenn er allein zu entscheiden hätte... »Niemand darf ohne einen Passierschein hinaus. So ein Pech, daß du nicht vor ein paar Minuten gekommen bist. Der Befehl, die Tore zu sperren, kam gerade erst herunter.«
»Aber warum sollte Lord Agelmar mich hier drinnen festhalten?« Masema musterte die Bündel auf Rands Rücken und seine Satteltaschen. Rand bemühte sich, seinen Blick zu ignorieren. »Ich bin doch sein Gast«, fuhr er zu Ragan gewandt fort. »Bei meiner Ehre, ich hätte jederzeit während der letzten Wochen gehen können. Warum also sollte dieser Befehl ausgerechnet mir gelten? Es ist doch ein Befehl Lord Agelmars, oder?« Masema riß die Augen auf, und seine ohnehin ständig finstere Miene verfinsterte sich noch mehr. Er schien fast Rands Bündel darüber zu vergessen.
Ragan lachte. »Wer sonst würde hier einen solchen Befehl geben, Rand al'Thor? Natürlich war es Uno, der ihn an mich weitergab, aber wessen Befehl könnte es schon sein?«
Masemas Blick war fest auf Rands Gesicht gerichtet. Er zuckte nicht mit der Wimper. »Ich will einfach mal allein raus, das ist alles«, sagte Rand. »Also gehe ich halt in einen der Gärten. Keine Kaninchen, aber wenigstens auch keine Menschenmenge. Das Licht leuchte dir und der Friede sei mit dir.«
Er ging weg, ohne auf eine Antwort zu warten, wobei er sich im klaren darüber war, daß er sich auf keinen Fall auch nur einem der Gärten nähern durfte.
Licht noch mal, wenn die offiziellen Feierlichkeiten vorbei sind, könnte überall eine Aes Sedai stecken. Er war sich Masemas Blicks auf seinem Rücken bewußt — er war sicher, es war Masema — und behielt einen gelassenen Schritt bei.
Plötzlich hörte das Glockengeläut auf. Er stolperte beinahe. Die Minuten verflogen. Zu viele von ihnen. Zeit genug, um die Amyrlin in die entsprechenden Gemächer zu bringen. Zeit genug, nach ihm zu schicken und eine Suche zu beginnen, wenn man ihn nicht finden konnte. Sobald er außer Sicht des Ausfalltores war, fing er wieder an zu rennen.
In der Nähe der Soldatenkantine befand sich der Lieferanteneingang, wo alle Lebensmittel für die Festung hereingebracht wurden. Auch der war geschlossen und verriegelt, und zwei Soldaten standen davor. Er eilte daran vorbei und über den Hof der Kantine, als habe er nie vorgehabt stehenzubleiben.
Das Hundetor im hinteren Teil der Festung, das gerade groß genug war, um einen Mann zu Fuß durchzulassen, war auch bewacht. Er drehte um, bevor sie ihn sehen konnten. Es gab nicht viele Ausgänge, so groß die Festung auch war, und wenn schon das Hundetor bewacht wurde, würden alle bewacht.
Vielleicht konnte er ein Stück Seil finden... Er stieg eine der Treppen zur Außenmauer hoch bis zum breiten Wehrgang mit seinen Zinnenmauern. Er fühlte sich nicht wohl dabei, so hoch oben und ungeschützt dazustehen, falls dieser Wind wieder käme, aber von hier aus konnte er über die hohen Schornsteine und kantigen Dächer der Stadt hinweg bis zur Stadtmauer blicken. Auch nach einem Monat hier berührten ihn die Häuser immer noch als eigenartig und ganz anders als im Gebiet der Zwei Flüsse.
Die Dächer hingen fast bis zum Boden herunter. Es wirkte, als bestünden die Häuser nur aus diesen schindelgedeckten Dächern und schräg gestellten Schornsteinen, die den schweren Schnee an sich vorbeigleiten ließen. Um die Festung herum zog sich ein weiter gepflasterter Platz, aber nur hundert Schritte von der Mauer entfernt begannen die von Menschen gefüllten Straßen, mit allen möglichen Leuten, die ihren alltäglichen Erledigungen nachgingen, Ladenbesitzern in Schürzen, die draußen unter den Markisen ihrer Geschäfte standen, grob gekleideten Bauern, die sich zum Kaufen und Verkaufen in der Stadt aufhielten, Hausierern und Straßenhändlern und Ortsansässigen, die in Gruppen herumstanden, zweifellos um über den Überraschungsbesuch der Amyrlin zu klatschen. Er konnte zuschauen, wie Karren und Menschen durch eines der Tore in der Stadtmauer strömten. Offensichtlich hatten die dortigen Wachen keinen Befehl erhalten, jemanden aufzuhalten.
Er blickte zum nächsten Wachturm hoch. Einer der Soldaten grüßte ihn mit erhobener Hand im schweren Kampfhandschuh. Mit bitterem Lachen winkte er zurück. Keine Fußbreit der Mauer, die nicht unter Bewachung von Soldaten stand. Er beugte sich in eine Mauerlücke und spähte hinunter, vorbei an den Schlitzen im Stein, in die man Baukräne einklemmen konnte, und in den Burggraben weit darunter. Zwanzig Schritte breit war er und zehn tief und mit glattgeschliffenen, rutschigen Steinen eingefaßt. Eine niedrige, abgeschrägte Mauer, die kein Versteck zuließ, umgab ihn, damit niemand aus Versehen hineinfallen konnte, und an seinem Grund befand sich ein Wald von rasiermesserscharfen Dornen. Selbst mit einem Seil zum Herunterklettern und ohne von den Wachen entdeckt zu werden, konnte er diese Kluft nicht überqueren. Was dazu diente, im Ernstfall Trollocs von der Festung fernzuhalten, diente genausogut dazu, ihn darin festzuhalten.
Plötzlich fühlte er sich total erschöpft, ausgelaugt. Die Amyrlin befand sich hier, und es gab keinen Weg hinaus. Kein Fluchtweg und die Amyrlin vor der Nase! Falls sie wußte, daß er hier war, falls sie den Wind gesandt hatte, der ihn auf dem Turm ergriff, dann jagte sie ihn bereits und jagte mit der Macht einer Aes Sedai. Ein Kaninchen hätte eine bessere Chance gegen einen Bogen. Aber er weigerte sich, so schnell aufzugeben. Es gab Leute, die behaupteten, die Menschen von den Zwei Flüssen könnten Steinen noch etwas beibringen und Maultieren zum Vorbild gereichen. Wenn nichts sonst mehr übrigblieb, hielten sich die Menschen der Zwei Flüsse eben an ihr Durchhaltevermögen.
Er verließ die Mauer und wanderte durch die Festung. Er achtete nicht darauf, wohin er sich wandte, solange es nur in keine Richtung ging, in der man ihn erwarten konnte. Nicht in die Nähe seines Zimmers oder der Ställe oder eines Tores — Masema könnte ja riskiert haben, von Uno gescholten zu werden, indem er darüber berichtete, daß er versucht hatte, die Festung zu verlassen — oder eines Gartens. Alles, woran er denken konnte, war, sich von jeder Aes Sedai fernzuhalten. Selbst von Moiraine. Sie wußte alles über ihn. Trotzdem hatte sie nichts gegen ihn unternommen. Bis jetzt. Soweit du weißt. Was ist, wenn sie ihre Meinung ändert? Vielleicht hat sie die Amyrlin herkommen lassen.
Einen Augenblick lang fühlte er sich so verloren, daß er sich gegen die Wand eines Korridors lehnte, die Schultern an den harten Stein gepreßt. Mit leeren Augen starrte er ins Nichts und sah Dinge, die er nicht sehen wollte. Eine Dämpfung. Wäre es denn so schlimm, wenn alles vorbei wäre? Wirklich vorbei? Er schloß die Augen, aber auch dann sah er sich noch selbst, wie er sich wie ein Kaninchen in eine Ecke kauerte, während die Aes Sedai sich wie Raben um ihn scharten. Sie sterben meist kurze Zeit danach, die Männer, die eine Dämpfung erfuhren. Sie wollen nicht mehr leben. Er erinnerte sich nur zu gut an Thom Merrilins Worte, um sich dem zu stellen. Nach einem kurzen Schütteln eilte er den Gang hinunter. Nicht gut, sich an einem Ort aufzuhalten, bis man ihn fand. Wie lange noch, bis sie dich sowieso finden? Du bist wie ein Schaf im Pferch. Wie lange? Er berührte die Scheide des Schwerts an seiner Seite. Nein, kein Schaf. Nicht für die Aes Sedai oder sonst jemand. Er fühlte sich zwar ein bißchen töricht, aber entschlossen.
Die Menschen kehrten an ihre Arbeitsplätze zurück. Der Lärm von Stimmen und klappernden Töpfen erfüllte die Küche, die dem Großen Saal am nächsten lag, in dem die Amyrlin und ihre Begleiter heute abend speisen würden. Köche und Mägde und Küchenjungen rannten beinahe bei der Arbeit. Die Spießhunde zockelten mit ihren Korbrädern herein, um das aufgespießte Fleisch ständig zu drehen. Er bahnte sich schnell seinen Weg durch Hitze und Dampf und durch die Gerüche der Speisen und Gewürze. Keiner warf ihm mehr als einen kurzen Blick zu; sie alle waren zu sehr beschäftigt.
In den hinteren Korridoren, an denen die Diener in kleinen Wohnungen lebten, wimmelte es wie in einem Ameisenhaufen, in den man getreten hat. Männer und Frauen wuselten durcheinander, um ihre besten Uniformen anzulegen. Kinder spielten in den Ecken und gingen den Erwachsenen damit aus dem Weg. Die Jungen schwenkten Holzschwerter, und die Mädchen spielten mit geschnitzten Puppen. Einige behaupteten, ihre Puppe sei die Amyrlin. Die meisten Türen standen offen, und der Blick in die Zimmer wurde lediglich durch Perlenvorhänge versperrt. Normalerweise bedeutete das, daß diejenigen, die hier wohnten, Besucher erwarteten, aber heute kam es einfach daher, daß sie keine Zeit hatten, auch nur die Türen zu schließen. Selbst diejenigen, die sich vor ihm verbeugten, taten das, ohne deshalb stehenzubleiben.
Würde irgendeiner von ihnen beim Servieren zufällig hören, daß man ihn suchte, und erzählen, er habe ihn gesehen? Mit einer Aes Sedai sprechen und ihr sagen, wo er zu finden sei? Die Augen, an denen er vorbeikam, schienen ihn mit einemmal genau und mit Hintergedanken zu mustern, abzuwägen und heimlich zu rechnen. Selbst die Kinder waren in seiner Vorstellung mit Vorsicht zu genießen. Er wußte, daß er sich das alles nur einbildete —er war ganz sicher, es konnte nicht anders sein, oder? —, aber als er die Quartiere der Diener hinter sich zurückließ, fühlte er sich wie aus einer Falle entronnen.
Einige Teile der Festung waren menschenleer. Die Leute, die normalerweise hier arbeiteten, waren in einen überraschenden Feiertag entlassen worden. Die Werkstatt des Rüstungsschmieds stand leer, die Feuer waren heruntergebrannt, und die Ambosse schwiegen. Still. Kalt. Leblos. Aber trotzdem irgendwie nicht ganz leer. Wieder eine Gänsehaut. Er wirbelte herum. Niemand da. Nur die großen Werkzeugtruhen und die gefüllten Ölfässer. Seine Nackenhaare sträubten sich, und wieder fuhr er blitzschnell herum. Die Hämmer und Zangen hingen ruhig auf ihren Plätzen an der Wand. Zornig sah er sich in dem großen Raum um. Es ist niemand hier. Das ist nur meine Einbildung. Dieser Wind und die Amyrlin — das ist genug, um sich die wildesten Sachen einzubilden.
Draußen im Hof der Waffenschmiede umspielte ihn der Wind einen Moment lang. Unwillkürlich fuhr er schon wieder zusammen und glaubte, er wolle ihn fangen. Im ersten Augenblick roch er wieder den schwachen Duft der Verwesung und hörte jemanden hinter sich hinterhältig lachen. Doch nur diesen einen Augenblick lang. Voller Angst schob er sich im Kreis außen um den Hof herum und sah sich dabei mißtrauisch um. Der mit roh behauenen Steinen gepflasterte Hof war bis auf ihn selbst leer. Nur deine verdammte Einbildung! Er rannte fort und glaubte, hinter sich wieder dieses Lachen zu hören, diesmal ohne die Begleitung des Windes.
Im Hof des Holzlagers kehrte dieser Eindruck des Beobachtetwerdens wieder. Er fühlte, wie ihn Augen hinter hohen Stapeln von Feuerholz hervor und unter den langen Schuppen heraus verfolgten und dann über die Stapel von lang gelagerten Brettern und Balken wegspähten, die auf der anderen Seite des Hofs gegenüber der Zimmermannswerkstatt lagen. Die Werkstatt war nun verschlossen. Diesmal wollte er sich nicht umsehen, wollte nicht darüber nachdenken, wie sich ein Paar Augen so schnell von einem Ort zum anderen fortbewegen und den offenen Hof vom Feuerholzschuppen bis zum Balkenlager überqueren konnten, ohne daß er auch nur den Hauch einer Bewegung entdeckte. Er war sicher, daß es sich um ein einziges Augenpaar handelte. Einbildung. Oder vielleicht werde ich auch bereits verrückt. Ihn schauderte. Noch nicht! Licht, bitte noch nicht! Steif stolzierte er über den Hof, und der unsichtbare Beobachter folgte ihm.
Ob in langen Korridoren, die nur von ein paar Binsenfackeln notdürftig beleuchtet wurden, oder in Lagerräumen voller Säcke mit getrockneten Erbsen oder Bohnen, mit Lattenregalen, auf denen Haufen eingeschrumpelter Zwiebeln und Rüben lagen, oder voller Weinfässer und Fässer mit Salzfleisch und Bierfässer —immer waren auch die Augen da. Manchmal folgten sie ihm, und manchmal erwarteten sie ihn, wenn er eintrat. Er hörte nie einen anderen Schritt als den seinen, hörte nie eine Tür knarren, außer, er selbst öffnete oder schloß sie, aber die Augen waren da. Licht, ich werde wirklich verrückt.
Dann öffnete er die Tür zu einem weiteren Lagerraum, und ihm schlugen menschliche Stimmen, menschliches Gelächter entgegen, und er fühlte sich erleichtert. Hier würde es keine unsichtbaren Augen geben. Er trat ein.
Der halbe Raum war bis zur Decke mit Getreidesäcken vollgestapelt. In der anderen Hälfte kniete eine Gruppe von Männern im Halbkreis vor einer der kahlen Wände. Sie alle schienen die ledernen Schürzen und den runden Haarschnitt der einfachen Arbeiter zu tragen. Kein Haarknoten eines Kriegers, keine Livree. Keiner, der ihn unabsichtlich verraten konnte. Und was ist mit ›absichtlich‹? Durch ihr leises Gespräch klang das Klappern von Würfeln. Irgend jemand lachte schallend über einen Wurf.
Loial sah zu, wie sie würfelten, und rieb sich gedankenschwer mit einem Finger über das Kinn, der dicker war als der Daumen eines großen Mannes. Sein Kopf berührte beinahe die Dachsparren in zwei Spannen Höhe. Keiner der Spieler beachtete ihn. Ogier waren in den Grenzlanden nicht gerade häufig anzutreffen, wie überall, aber hier kannte und akzeptierte man sie, und Loial war außerdem schon so lange in Fal Dara, daß er kaum noch Aufsehen erregte. Der dunkle Mantel des Ogiers mit seinem steifen Kragen war bis zum Hals zugeknöpft und fiel unterhalb der Hüfte weit ausgebreitet bis über die hohen Schaftstiefel. Eine seiner Taschen war ausgebeult und wurde von irgend etwas Schwerem heruntergezogen. Wenn Rand sich nicht täuschte, waren das Bücher. Selbst beim Kiebitzen hatte Loial immer ein Buch griffbereit.
Trotz allem mußte Rand unwillkürlich grinsen. Loial löste häufig diese Reaktion bei ihm aus. Der Ogier wußte so gut über viele Dinge Bescheid und so wenig über andere... Und er schien alles wissen zu wollen. Und doch konnte Rand sich noch gut an das erste Zusammentreffen mit Loial erinnern, als er seine behaarten Ohren sah und seine Augenbrauen, die wie lange Schnurrbartenden herunterhingen, und die Nase, die beinahe so breit war wie das ganze Gesicht. Er hatte ihn gesehen und geglaubt, er sei ein Trolloc. Er schämte sich dessen immer noch. Ogier und Trollocs. Myrddraal und Kreaturen aus den dunklen Ecken von Mitternachtsgeschichten. Wesen aus Geschichten und Legenden. Als das hatte er sie betrachtet, bevor er Emondsfeld verließ. Aber seither hatte er zu viele fleischgewordene Legenden erlebt, um sich je wieder so sicher zu sein. Aes Sedai und unsichtbare Beobachter und ein Wind, der ihn fing und festhielt. Das Lächeln verging ihm.
»All die Legenden sind Wirklichkeit«, sagte er leise.
Loials Ohren zuckten, und sein Kopf drehte sich Rand zu. Als er sah, wer da stand, grinste der Ogier über das ganze Gesicht, und er kam herüber. »Ach, da bist du ja!« Seine Stimme klang wie das Brummen einer Hummel. »Ich habe dich bei der Willkommensfeier gar nicht gesehen. Das war etwas, das ich noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Zwei Sachen: das Willkommen der Schienarer und die Amyrlin. Sie sieht müde aus, nicht? Es ist bestimmt nicht einfach, Amyrlin sein zu müssen. Schlimmer als ein Ältester zu sein, denke ich.« Er schwieg einen Moment und blickte nachdenklich drein. Das dauerte aber nur einen Atemzug lang. »Sag mal, Rand, würfelst du manchmal auch? Sie spielen hier ein einfacheres Spiel mit nur drei Würfeln. Im Stedding benützen wir vier. Weißt du, sie lassen mich einfach nicht mitspielen. Sie sagen nur ›Ehre den Erbauern‹ und setzen nicht gegen mich. Ich finde das nicht anständig. Was meinst du? Die Würfel, die sie benutzen, sind ziemlich klein« — er blickte stirnrunzelnd auf eine seiner Hände, die groß genug war, um einen menschlichen Kopf zu bedecken —, »aber ich glaube immer noch... «
Rand packte ihn am Arm und unterbrach ihn. Die Erbauer! »Loial, Fal Dara wurde doch von Ogiern erbaut, ja? Kennst du irgendeinen Weg hinaus, außer durch die Tore? Ein Loch zum Hinauskriechen? Ein Abflußrohr? Gleich was, Hauptsache es ist groß genug für einen Mann, um durchzukriechen. Es wäre auch gut, wenn der Wind nicht hineinkäme.«
Loial verzog schmerzlich berührt das Gesicht. Die Enden seiner Augenbrauen strichen ihm beinahe über die Wangen. »Rand, Ogier bauten Mafal Dadaranel wohl, aber diese Stadt wurde in den Trolloc-Kriegen zerstört. Das hier« — er berührte leicht die Steinmauer mit breiten Fingerspitzen — »wurde von Menschen erbaut. Ich kann dir einen Plan von Mafal Dadaranel zeichnen — ich habe einmal die Pläne in einem alten Buch im Stedding Schangtai gesehen —, aber ich weiß nicht mehr über Fal Dara als du. Es ist aber schon wirklich gut gebaut, nicht wahr? Schmucklos, aber eine gute Arbeit.«
Rand sackte gegen die Mauer und preßte die Augen zu. »Ich brauche einen Weg nach draußen«, flüsterte er. »Die Tore sind versperrt, und sie lassen keinen passieren, aber ich brauche einen Weg hinaus.«
»Aber warum denn, Rand?« fragte Loial bedächtig. »Niemand hier will dir etwas tun. Bist du in Ordnung, Rand?« Plötzlich erhob er die Stimme. »Mat! Perrin! Ich glaube, Rand ist krank.«
Rand öffnete die Augen und sah, wie sich seine Freunde in dem Knoten von Würfelspielern aufrichteten. Mat Cauthon mit seinen langen Storchenbeinen lächelte verklärt, als sehe er etwas Lustiges, das sonst niemand sehen konnte. Perrin Aybaras Haar war zerzaust und seine Schultern und Arme muskelbepackt von seiner Arbeit als Lehrling eines Hufschmieds. Sie trugen beide noch die typische Kleidung der Zwei Flüsse, einfach und wetterfest, aber auch abgetragen.
Mat warf die Würfel in den Halbkreis zurück, als er heraustrat, und einer der Männer rief: »He, Südländer, du kannst nicht einfach aufhören, während du gewinnst!«
»Besser als wenn ich gerade am Verlieren bin«, sagte Mat lachend. Unbewußt berührte er seinen Mantel an der Hüfte, und Rand verzog das Gesicht. Dort trug Mat einen Dolch mit einem Rubin im Griff, einen Dolch, ohne den man ihn nie antraf, einen Dolch, ohne den er nicht sein konnte. Es war eine verfluchte Klinge aus der toten Stadt Shadar Logoth, von etwas Bösem verdorben und verdreht, das beinahe so schlimm war wie der Dunkle König. Das Böse hatte vor zweitausend Jahren Shadar Logoth getötet, aber es lebte immer noch in den verlassenen Ruinen. Dieser Fluch würde Mat umbringen, wenn er den Dolch behielt. Er würde ihn aber noch schneller umbringen, wenn er ihn ablegte. »Ihr bekommt noch eine Chance, es zurückzugewinnen.« Sarkastisches Schnauben der knienden Männer deutete an, daß sie nicht an diese Chance glaubten.
Perrin hatte die Augen niedergeschlagen, als er Mat zu Rand hinüber folgte. Perrin schlug neuerdings immer die Augen nieder, und seine Schultern sackten herunter, als trüge er eine Last, die selbst bei deren Breite zu schwer war.
»Was ist los, Rand?« fragte Mat. »Du bist so weiß wie dein Hemd. He! Woher hast du diese Kleider? Wirst du jetzt ein Schienarer? Vielleicht kaufe ich mir auch einen Mantel wie den und ein feines Hemd.« Er schüttelte seine Manteltasche, was ein Klimpern von Münzen erzeugte. »Ich scheine beim Würfeln Glück zu haben. Ich brauche sie kaum zu berühren, schon gewinne ich.«
»Du mußt gar nichts kaufen«, sagte Rand müde. »Moiraine hat alle unsere Kleidungsstücke durch neue ersetzen lassen. Soweit ich weiß, sind die alten jetzt schon verbrannt worden, außer denen natürlich, die ihr gerade tragt. Elansu wird wahrscheinlich auch zu euch kommen und sie einsammeln. Also würde ich mich an eurer Stelle schnell umziehen, bevor sie sie euch vom Leibe reißt.« Perrin blickte immer noch nicht auf, doch seine Wangen färbten sich rot. Mats Grinsen wurde breiter, aber es wirkte doch etwas gezwungen. Auch sie hatten ihre Erfahrungen in den Bädern gemacht, und nur Mat bemühte sich vorzugeben, er mache sich nichts daraus. »Und ich bin nicht krank. Ich muß lediglich hier raus. Die Amyrlin ist da. Lan sagte... er sagte, wenn sie da ist, wäre es besser für mich, schon eine Woche lang weg zu sein. Ich muß abhauen, doch alle Tore sind verrammelt!«
»Das hat er gesagt?« Mat runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht. Er sagt doch niemals etwas gegen eine Aes Sedai. Warum dann jetzt? Schau mal, Rand, ich mag die Aes Sedai genausowenig wie du, aber sie werden uns ganz gewiß nichts tun.« Er senkte die Stimme bei diesen Worten und blickte sich nach hinten um, ob irgendeiner der Spieler ihnen lauschte. Man fürchtete die Aes Sedai schon, aber in den Grenzlanden waren sie keineswegs verhaßt, und eine respektlose Bemerkung über sie konnte einem durchaus eine Rauferei oder Schlimmeres einbringen. »Nimm doch mal Moiraine. Sie ist gar nicht so übel, auch wenn sie eine Aes Sedai ist. Du denkst schon wie der alte Cenn Buie, wenn er zu Hause in der Weinquellenschenke seine übertriebenen Geschichten erzählt. Ich meine, sie hat uns nichts getan, und das werden die anderen auch nicht. Warum sollten sie auch?«
Perrin hob den Blick. Gelbe Augen schimmerten wie poliertes Gold in der düsteren Beleuchtung. Moiraine hat uns nichts getan? dachte Rand. Perrins Augen waren bei ihrem Aufbruch von den Zwei Flüssen genauso dunkelbraun gewesen wie die Mats. Rand hatte keine Ahnung, wie es zu dieser Änderung gekommen war —Perrin wollte nicht darüber sprechen, wie er überhaupt nicht viel sprach, seit das geschehen war — aber es war zur selben Zeit geschehen, in der er die heruntersackenden Schultern abbekommen und sich die Distanz in seinem Verhalten bemerkbar gemacht hatte, als fühle er sich selbst in der Gegenwart seiner Freunde einsam. Perrins Augen und Mats Dolch. Nichts von alledem wäre geschehen, hätten sie nicht Emondsfeld verlassen, und es war Moiraine gewesen, die sie weggebracht hatte. Er wußte, daß er jetzt nicht fair war. Sie wären vielleicht alle durch Trollocs getötet worden und dazu auch ein ganzer Teil der Emondsfelder, wenn sie nicht in ihr Dorf gekommen wäre. Aber das ließ Perrin auch nicht wieder lachen wie früher oder nahm den Dolch von Mats Gürtel. Und was ist mit mir? Wenn ich zu Hause wäre und immer noch am Leben, wäre ich dann auch, was ich jetzt bin? Zumindest würde ich mir keine Gedanken darüber machen, was die Aes Sedai mit mir anstellen.
Mat sah ihn immer noch fragend an, und Perrin hatte den Kopf weit genug gehoben, um ihn mit gerunzelter Stirn erstaunt anzusehen. Loial wartete geduldig. Rand konnte ihnen nicht sagen, warum er sich von der Amyrlin fernhalten mußte. Sie wußten ja nicht, was er war. Lan wußte es, und Moiraine auch. Und Egwene und Nynaeve. Er wünschte, keiner von ihnen wüßte Bescheid, und vor allem Egwene nicht, aber wenigstens glaubten Mat und Perrin und auch Loial immer noch, er sei unverändert. Er dachte sich, er würde lieber sterben als ihnen die Wahrheit zu sagen, als das Zögern und die Besorgtheit zu erblicken, die er manchmal bei Egwene und bei Nynaeve bemerkte, auch wenn sie sich sehr bemühten, dieses zu verschleiern.
»Irgend jemand... beobachtet mich«, sagte er schließlich. »Folgt mir. Nur... Nur, es ist niemand da.«
Perrins Kopf zuckte hoch, und Mat leckte sich die Lippen und flüsterte: »Ein Blasser?«
»Natürlich nicht«, schnaubte Loial. »Wie könnte einer der Augenlosen nach Fal Dara hineinkommen und dann noch in die Festung? Es ist ein Gesetz, daß niemand innerhalb der Stadtmauern sein Gesicht verbergen darf, und die Lampenanzünder sind gehalten, die Straßen nachts gut zu beleuchten, so daß es keinen Schatten gibt, in dem sich ein Myrddraal verbergen könnte. Das kann einfach nicht geschehen.«
»Mauern können einen Blassen nicht aufhalten«, murmelte Mat. »Nicht, wenn er unbedingt herein will. Ich bezweifle, daß Gesetze und Lampen daran etwas ändern können.« Er klang nicht wie jemand, der vor einem halben Jahr noch geglaubt hatte, Blasse seien bloß Schreckgespenster aus den Erzählungen von Gauklern. Auch er hatte zuviel gesehen.
»Und dann war da noch der Wind«, fügte Rand hinzu. Seine Stimme zitterte kaum, als er ihnen erzählte, was auf dem Turm geschehen war. Perrins Fäuste verkrampften sich, bis seine Knöchel knackten. »Ich will nur weg von hier«, schloß Rand. »Ich will nach Süden. Irgendwohin. Einfach irgendwohin.«
»Aber wenn die Tore geschlossen sind«, sagte Mat, »wie kommen wir dann hinaus?«
Rand sah ihn mit großen Augen an. »Wir?« Er mußte allein gehen. Es wäre für jeden anderen in seiner Nähe schließlich zu gefährlich. Er wäre gefährlich, und selbst Moiraine konnte ihm nicht sagen, wieviel Zeit er noch hatte. »Mat, du weißt, daß du mit Moiraine nach Tar Valon gehen mußt. Sie sagte doch, das sei der einzige Ort, an dem man dich von diesem verdammten Dolch befreien kann, ohne dich umzubringen. Und du weißt, was passiert, wenn du ihn behältst.«
Mat berührte seinen Mantel über dem Dolch und schien noch nicht einmal zu bemerken, was er da tat. »Das Geschenk einer Aes Sedai ist ein Köder für Fische«, zitierte er. »Also, vielleicht möchte ich mir den Köder nicht in den Mund stecken. Vielleicht ist das, was sie in Tar Valon mit mir anstellen will, noch schlimmer, als gar nicht hinzugehen. Vielleicht lügt sie auch. ›Die Wahrheit, die dir eine Aes Sedai sagt, ist niemals dieselbe Wahrheit, wie du sie dir vorstellst.‹«
»Hast du noch ein paar alte Sprichwörter auf Lager, die du loswerden möchtest?« fragte Rand. »›Ein Südwind bringt einen warmen Gast, ein Nordwind ein leeres Haus‹? ›Ein mit Goldfarbe angestrichenes Schwein ist immer noch ein Schwein‹? Wie steht es mit ›Reden scheren kein Schaf‹? Oder ›Die Worte eines Narren sind Staub‹?«
»Laß ihn, Rand«, sagte Perrin leise. »Es ist nicht nötig, ihn so hart anzupacken.«
»Wirklich nicht? Vielleicht will ich nicht, daß ihr zwei mitkommt, immer herumstolpert, in Schwierigkeiten geratet und dann erwartet, daß ich euch heraushole. Habt ihr schon jemals daran gedacht? Licht noch mal, habt ihr je daran gedacht, daß ich die Nase davon voll haben könnte, stets euch vorzufinden, wenn ich mich umdrehe? Immer seid ihr da, und ich habe genug davon.« Der Schmerz auf Perrins Gesicht schnitt wie ein Messer in sein Innerstes, aber er machte beharrlich weiter. »Ein paar hier glauben, ich sei ein Lord. Ein Lord. Vielleicht gefällt mir das? Aber seht euch mal an! Zockt mit Stallburschen. Wenn ich gehe, dann gehe ich allein. Ihr zwei könnt nach Tar Valon gehen oder euch aufhängen, aber ich gehe allein von hier weg.«
Mats Gesicht war erstarrt, und er hielt den Dolch durch den Stoff seines Mantels so fest, daß seine Knöchel weiß anliefen. »Wenn du es so haben willst...«, sagte er kalt. »Ich dachte, wir seien... Wie du wünschst, Rand al'Thor. Aber sollte ich mich entschließen, zur gleichen Zeit wie du abzureisen, dann werde ich das tun, und du hältst dich am besten von mir fern.«
»Niemand wird irgendwohin gehen«, sagte Perrin, »solange die Tore versperrt sind.« Er blickte wieder zu Boden. Eine Welle des Gelächters kam von den Spielern her, als jemand verlor.
»Geht oder bleibt«, sagte Loial, »zusammen oder einzeln, es bleibt sich doch gleich. Ihr seid alle drei ta'veren. Das kann selbst ich sehen, und ich habe dieses Talent nicht. Ich sehe es nur daran, was um euch drei herum passiert. Und Moiraine Sedai meint das auch.«
Mat hob abwehrend die Hände. »Aufhören, Loial! Ich will nichts mehr davon hören!«
Loial schüttelte den Kopf. »Ob du es hören willst oder nicht, es bleibt doch wahr. Das Rad der Zeit webt das Muster des Zeitalters und benützt statt Fäden Menschenleben. Und ihr drei seid ta'veren, zentrale Punkte im Gewebe.«
»Hör auf, Loial!«
»Eine Zeitlang wird das Rad das Muster um euch drei herum formen, was immer ihr auch anstellt. Und was ihr macht, ist wahrscheinlich eher vom Rad bestimmt worden, als von euch. Ta'veren ziehen die Weltgeschichte hinter sich her und verändern das Muster durch ihre bloße Existenz, aber das Rad webt ta'veren viel enger ein als andere Menschen. Wo ihr auch hingeht und was ihr auch macht, bis es das Rad anders will, werdet ihr... «
»Aufhören!« schrie Mat. Die Spieler sahen sich um, und er starrte mit finsterer Miene zurück, bis sie sich wieder ihrem Spiel zuwandten.
»Tut mir leid, Mat«, grollte Loial. »Ich weiß, daß ich zuviel rede, aber ich wollte nicht... «
»Ich bleibe nicht hier«, sagte Mat zu den Dachsparren, »bei einem geschwätzigen Ogier und einem Idioten, dessen Kopf so angeschwollen ist, daß er unter keinen Hut mehr paßt. Kommst du mit, Perrin?« Perrin seufzte, sah Rand an und nickte dann.
Rand sah mit einem Kloß im Hals zu, wie sie weggingen. Ich muß alleine gehen. Licht, hilf mir, aber ich muß!
Loial sah ihnen auch nach, und seine Augenbrauen hingen sorgenerfüllt herunter. »Rand, ich wollte wirklich nicht... «
Rand bemühte sich, barsch zu klingen: »Worauf wartest du denn noch? Geh doch mit ihnen! Ich verstehe nicht, warum du noch hier bist. Du nützt mir gar nichts, wenn du keinen Weg nach draußen kennst. Geh schon! Geh und suche deine Bäume und deine geliebten Haine, falls sie nicht gefällt wurden, und dann macht es auch nichts.«
Loials tassengroße Augen blickten zuerst überrascht und verletzt drein, doch dann zogen sie sich zusammen und zeigten etwas, das man beinahe schon Zorn nennen konnte. Rand glaubte aber nicht, daß es Zorn war. In einigen alten Legenden wurde behauptet, Ogier seien gewalttätig, obwohl es niemals näher erklärt wurde, aber Rand hatte noch nie jemanden getroffen, der ein so sanftes Gemüt hatte wie Loial.
»Wenn du wünschst, Rand al'Thor«, sagte Loial schroff. Er verbeugte sich steif und stolzierte Mat und Perrin hinterher.
Rand sackte nach hinten an den Stapel Getreidesäcke. Also, sagte eine Stimme in seinem Kopf bissig, das hast du ja nun geschafft. Ich mußte doch, antwortete er ihr. Es wird gefährlich, sich in meiner Nähe aufzuhalten. Blut und Asche, ich werde wahnsinnig, und... Nein! Nein, das werde ich nicht! Ich werde die Macht nicht benützen, dann schnappe ich auch nicht über... Aber ich kann es nicht riskieren. Ich kann nicht, verstehst du das? Doch die Stimme lachte ihn nur aus.
Er merkte, daß ihn die Spieler ansahen. Sie knieten noch vor der Wand, und alle hatten sich zu ihm umgedreht. Schienarer waren fast immer höflich und korrekt, gleich, welcher gesellschaftlichen Klasse sie angehörten, selbst zu Todfeinden, und Ogier waren nun bestimmt keine Feinde der Schienarer. In den Augen der Spieler stand der Schock. Ihre Gesichter waren ausdruckslos, doch ihre Augen sagten, daß es schlimm war, was er getan hatte. Ein Teil von ihm gab ihnen recht, und so ging ihm ihre schweigende Anklage mächtig unter die Haut. Sie sahen ihn einfach nur an, aber er stolperte aus dem Lagerraum, als seien sie hinter ihm her.
Wie betäubt ging er weiter durch die Lagerräume und suchte nach einem Ort, wo er sich heimlich aufhalten konnte, bis die Tore wieder dem Verkehr geöffnet wurden. Dann könnte er sich vielleicht unten im Karren eines Lebensmittelhändlers verstecken. Falls sie die Karren nicht auf dem Weg nach draußen durchsuchten. Falls sie nicht auch die Lagerräume oder sogar die ganze Festung nach ihm durchsuchten. Beharrlich verdrängte er die Gedanken an diese Möglichkeit, und er konzentrierte sich ganz darauf, einen Hort der Sicherheit aufzuspüren. Aber bei jedem in Frage kommenden Platz, den er ausfindig machte — einem Hohlraum in einem Stapel von Getreidesäcken, einem schmalen Durchgang an einer Wand hinter einigen Weinfässern, einem zur Hälfte mit leeren Kisten und Schatten gefüllten, aber ansonsten leerstehenden Lagerraum — stellte er sich vor, wie ihn die Häscher dort fänden. Er stellte sich auch vor, wie der unsichtbare Beobachter, wer oder was er auch sein mochte, ihn dort ausfindig machte. Also schlich er weiter, durstig und staubig und mit Spinnweben im Haar.
Dann betrat er einen nur trüb von Fackeln beleuchteten Korridor, und da war Egwene und schlich von Tür zu Tür. Sie blieb jeweils stehen, um in die Lagerräume zu spähen. Ihr dunkles, bis an die Hüften reichendes Haar wurde von einem roten Band zusammengehalten. Sie trug ein hellgraues Kleid schienarischen Schnitts mit einer roten Borte. Bei ihrem. Anblick überkamen ihn Trauer und Sehnsucht, schlimmer als zu der Zeit, da er Mat und Perrin und Loial verscheucht hatte. Er war in dem Bewußtsein aufgewachsen, daß er eines Tages Egwene heiraten würde — genau wie sie umgekehrt ja auch. Aber jetzt...
Sie zuckte zusammen, als er plötzlich vor ihr stand. Ihr schien der Atem zu stocken, aber dann sagte sie nur: »Also da bist du! Mat und Perrin erzählten mir, was du getan hast. Und Loial auch. Ich weiß, was du damit erreichen willst, Rand, und das ist einfach idiotisch.« Sie verschränkte die Arme unter dem Busen, und ihre großen, dunklen Augen sahen ihn unverwandt an. Er hatte sich schon immer gefragt, wie sie es fertigbrachte, daß es so wirkte, als blicke sie auf ihn herunter — das machte sie, wann immer sie gerade wollte —, obwohl sie ihm nur bis ans Kinn reichte und auch noch zwei Jahre jünger war.
»Gut«, sagte er. Plötzlich ärgerte er sich über ihr Haar. Er hatte niemals eine erwachsene Frau gesehen, die ihr Haar offen und nicht als Zopf trug, bevor er die Zwei Flüsse verließ. Dort wartete jedes Mädchen ungeduldig darauf, daß der Frauenzirkel ihres Dorfs entschied, sie sei alt genug, um ihr Haar zum Zopf zu flechten. Egwene war keine Ausnahme gewesen. Und nun war sie hier und trug ihr Haar offen, nur mit einem Band gehalten. Ich will nach Hause und kann nicht, während sie es gar nicht erwarten kann, Emondsfeld zu vergessen. »Geh weg und laß mich in Ruhe. Du willst dich doch nicht mehr mit einem Schäfer abgeben. Hier sind ja jetzt genug Aes Sedai, die du anhimmeln kannst. Und erzähl keiner davon, daß du mich gesehen hast. Sie sind hinter mir her, und ich kann es nicht auch noch verkraften, wenn du ihnen hilfst.«
Auf ihren Wangen brannten rote Flecke. »Glaubst du, ich würde... «
Er drehte sich um und wollte weitergehen, doch da warf sie sich mit einem kleinen Aufschrei auf ihn und umklammerte seine Beine. Beide taumelten auf den Steinfußboden hinunter. Seine Satteltaschen und das Bündel flogen durch die Gegend. Er keuchte beim Aufschlag auf den Boden. Der Griff seines Schwertes bohrte sich in seine Seite, und das wiederholte sich, als sie sich hochrappelte und sich anschließend auf seinen Rücken fallen ließ, als sei er ein Stuhl. »Meine Mutter«, sagte sie entschlossen, »hat mir immer beigebracht der beste Weg zu lernen, wie man mit einem Mann umgeht, sei zu lernen, wie man auf einem Maulesel reitet. Sie sagte, die meiste Zeit über hätten sie ungefähr den gleichen Verstand. Manchmal sei auch der Maulesel schlauer.«
Er hob den Kopf und blickte sie über die Schulter hinweg an. »Geh runter von mir, Egwene. Runter! Egwene, wenn du nicht gleich unten bist« — er senkte die Stimme vielsagend — »dann tue ich dir etwas an. Du weißt, was ich bin.« Er warf ihr einen bitterbösen Blick zu, um seine Drohung zu unterstreichen.
Egwene schnaubte. »Das würdest du nicht, auch wenn du könntest. Du kannst niemandem etwas zuleide tun. Aber außerdem geht das auch gar nicht. Ich weiß, daß du die Eine Macht nicht nach Belieben lenken kannst. Es geschieht einfach, und du kannst es nicht kontrollieren. Also wirst du weder mir noch sonst jemandem etwas antun. Andererseits habe ich bei Moiraine Unterricht gehabt, und wenn du keine Vernunft annimmst, Rand al'Thor, dann könnte ich vielleicht deine Hose in Brand setzen. So was schaffe ich. Mach nur so weiter, dann wirst du es erleben.« Plötzlich flammte einen Augenblick lang die ihnen am nächsten befindliche Fackel prasselnd auf. Sie quiekte und starrte überrascht hin.
Er wand sich herum, packte ihren Arm, zog sie von seinem Rücken herunter und stieß sie gegen die Wand. Als er sich aufrichtete, saß sie ihm gegenüber und rieb sich wütend den Arm. »Du hättest das wirklich fertiggebracht, stimmt's?« sagte er verärgert. »Du spielst mit Sachen, die du nicht verstehst. Du hättest uns beide zu Holzkohle verbrennen können!«
»Männer! Wenn ihr uns nicht überzeugen könnt, dann rennt ihr entweder davon oder ihr greift zur Gewalt.«
»Mach mal halblang! Wer hat wen zu Fall gebracht? Wer hat sich auf wen gesetzt? Und wer hat gedroht —versucht...« Er hob die Hände. »Nein, du machst nicht so weiter. Du versuchst das immer wieder. Wenn du merkst, daß es nicht nach deinem Kopf geht, dann reden wir plötzlich von etwas ganz anderem. Aber diesmal nicht!«
»Ich will nicht streiten«, sagte sie ruhig, »und ich wechsle auch nicht das Thema. Verstecken heißt doch nur weglaufen. Und nach diesem Versteckspiel läufst du ohnehin weg. Und du tust Mat und Perrin und Loial weh! Und wie steht es mit mir? Ich weiß, warum. Du hast Angst davor, daß du jemandem noch mehr weh tust, wenn du ihn bei dir bleiben läßt. Wenn du nicht tätest, was du sowieso nicht solltest, dann müßtest du dir auch keine Gedanken darüber machen, jemandem weh zu tun. All dieses Herumrennen und auf jeden Loshacken, und dabei weißt du noch nicht einmal, ob du einen wirklichen Grund dazu hast! Wieso sollte die Amyrlin oder irgendeine Aes Sedai außer Moiraine überhaupt wissen, daß es dich gibt?«
Er blickte sie einen Augenblick lang stumm an. Je mehr Zeit sie mit Moiraine und Nynaeve verbrachte, desto mehr nahm sie deren Art an, zumindest wenn ihr das paßte. Sie waren sich manchmal so ähnlich, die Aes Sedai und die Seherin, verschlossen und weise zugleich. Dasselbe bei Egwene festzustellen, brachte ihn durcheinander.
Schließlich erzählte er ihr, was Lan ihm gesagt hatte. »Was kann er sonst gemeint haben?«
Ihre Hand erstarrte auf seinem Arm, und sie runzelte angestrengt die Stirn. »Moiraine weiß das von dir, und sie hat nichts unternommen; also warum sollte sie das jetzt tun? Aber falls Lan... « Mit gerunzelter Stirn sah sie ihm in die Augen. »Die Lagerräume sind der erste Ort, an dem sie suchen werden. Falls sie suchen. Bis wir herausfinden, ob sie dich suchen, müssen wir dich irgendwohin bringen, wo sie niemals suchen würden. Ich weiß wo. Im Kerker.«
Er rappelte sich hoch. »Im Kerker?«
»Nicht in einer Zelle, Dummkopf. Ich gehe manchmal abends hin, um Padan Fain zu besuchen. Nynaeve auch. Keiner wird sich etwas dabei denken, wenn ich heute etwas früher komme. In Wirklichkeit wird uns überhaupt niemand beachten, weil alle die Amyrlin sehen wollen.«
»Aber Moiraine... «
»Sie geht nicht in den Kerker, um Meister Fain zu verhören. Sie läßt ihn zu sich bringen. Und sie hat das in den letzten Wochen nicht gerade oft getan. Glaub mir, dort bist du in Sicherheit.«
Er zögerte noch. Padan Fain. »Warum besuchst du überhaupt den Händler? Er ist ein Schattenfreund, wie du aus seinem eigenen Munde weißt, und ein sehr schlimmer noch dazu. Licht noch mal, Egwene, er hat die Trollocs nach Emondsfeld geführt! Der Jagdhund des Dunklen Königs nannte er sich, und er hat seit Winternacht meine Spur gesucht.«
»Ja, aber jetzt befindet er sich ganz sicher hinter eisernen Gitterstäben, Rand.« Nun zögerte sie und sah ihn beinahe bittend an. »Rand, er ist jeden Frühling seit meiner Geburt mit seinem Wagen in die Zwei Flüsse gekommen. Er kennt alle Menschen, die ich kenne, und alle Orte. Es ist seltsam, aber je länger er eingesperrt ist, desto umgänglicher wird er. Es ist beinahe, als komme er vom Dunklen König los. Er lacht wieder und erzählt lustige Geschichten über die Leute aus Emondsfeld und manchmal von Orten, deren Namen ich noch nie gehört habe. Manchmal ist er fast wieder so wie früher. Ich spreche einfach gern mit jemandem über zu Hause.«
Da ich dich gemieden habe, dachte er, und da Perrin alle gemieden hat und Mat seine ganze Zeit mit Spielen und Vergnügungen zubringt. »Ich hätte mich wohl nicht so zurückziehen sollen«, gab er leise zu, und dann seufzte er. »Na ja, wenn Moiraine glaubt, daß du nicht in Gefahr bist, dann ist es wohl auch kein Risiko für mich. Aber es ist nicht nötig, daß du darin verwickelt wirst.«
Egwene stand auf, wischte sich betont das Kleid ab und mied seinen Blick.
»Moiraine hat doch gesagt, daß es ungefährlich ist? Egwene?«
»Moiraine Sedai hat mir nicht gesagt, daß ich Meister Fain nicht besuchen könne«, sagte sie trotzig.
Er sah sie entgeistert an, und dann brach es aus ihm heraus: »Du hast sie überhaupt nicht gefragt! Sie weiß es nicht einmal! Egwene, das ist derart dumm! Padan Fain ist ein Schattenfreund und so schlimm, wie einer nur sein kann.«
»Er ist in einem Käfig eingesperrt«, sagte sie trotzig, »und ich muß Moiraine nicht um Erlaubnis bitten, wenn ich etwas tun will. Es ist ein bißchen zu spät für dich, dir zu überlegen, daß jemand tun soll, was eine Aes Sedai wünscht. Also, kommst du jetzt mit?«
»Ich kann den Kerker auch ohne dich finden. Sie suchen nach mir, oder werden nach mir suchen, und es wäre nicht gut für dich, wenn sie dich bei mir finden.«
»Ohne mich«, bemerkte sie trocken, »wirst du wahrscheinlich über die eigenen Füße fallen und geradewegs in den Schoß der Amyrlin fallen und dort alles gestehen, während du dich herauszureden versuchst.«
»Blut und Asche! Du gehörst wirklich in den Frauenzirkel zu Hause. Wenn Männer wirklich so unbeholfen und hilflos wären, wie du zu glauben scheinst, würden wir nie... «
»Willst du hier stehen und quatschen, bis sie dich finden? Heb deine Sachen auf, Rand, und komm mit mir!« Sie wartete nicht auf eine Antwort, drehte sich auf dem Fuß um und ging den Flur hinunter. Rand fluchte unterdrückt und gehorchte ihr zögernd.
Es hielten sich auf den Hintertreppen, die sie benützten, nur wenige Menschen auf, meist Diener, aber Rand hatte das Gefühl, sie starrten ihn besonders aufmerksam an. Nicht den Mann, der für eine Reise ausgerüstet war, sondern speziell ihn, Rand al'Thor. Er wußte, daß er sich das einbildete, zumindest hoffte er das, aber trotzdem fühlte er sich keineswegs erleichtert, als sie in einem Gang tief unter der Festung vor einer hohen Tür mit einem kleinen Eisengitter darin stehenblieben. Die Tür war so stark mit Eisenbändern befestigt wie die Tore in der Festungsmauer. Unter dem Gitter hing ein Türklopfer.
Durch das Gitter konnte Rand kahle Wände erkennen und zwei Soldaten mit ihren Haarknoten, die ohne Kopfbedeckung an einem Tisch saßen, auf dem eine Lampe stand. Einer der Männer schärfte einen Dolch mit langgezogenen, langsamen Bewegungen seines Schleifsteins. Die Bewegungen wurden nicht unterbrochen, als Egwene den Türklopfer betätigte. Es gab einen scharfen, hallenden Schlag von Eisen auf Eisen.
Der andere Mann, der ein plattes und mürrisches Gesicht hatte, sah die Tür überlegend an, bevor er sich schließlich doch erhob und herüberkam. Er war untersetzt und stämmig und gerade groß genug, um durch die Gitterstäbe zu blicken.
»Was wollt Ihr? Ach, du bist es wieder, Mädchen. Bist du gekommen, um deinen Schattenfreund zu besuchen? Wer ist das?« Er machte keine Anstalten, die Tür zu öffnen.
»Es ist ein Freund von mir, Changu. Er möchte auch Meister Fain sehen.«
Der Mann betrachtete Rand. Er zog die Oberlippe hoch, so daß seine Zähne blank lagen. Rand glaubte nicht, daß es ein Lächeln darstellen sollte. »Aha«, sagte Changu schließlich. »Aha. Groß seid Ihr. Groß. Und hübsch angezogen für einen von Eurer Sorte. Hat Euch einer jung in den Ostsümpfen eingefangen und gezähmt?« Er riß die Bolzen nach hinten und die Tür auf. »Also, dann kommt schon herein.« Sein Tonfall wurde spöttisch. »Gebt acht, daß Ihr euch nicht den Kopf anstoßt, Lord.«
Doch da bestand keine Gefahr; die Tür war hoch genug für Loial. Rand folgte Egwene mit finsterer Miene hinein. Er überlegte, ob Changu vielleicht Ärger machen würde. Er war der erste unhöfliche Schienarer, den Rand kennengelernt hatte; selbst Masema war nur kalt, aber nicht wirklich unhöflich. Doch der Bursche schlug lediglich die Tür zu und rammte die schweren Bolzen wieder hinein. Dann ging er zu einem Regal hinter dem Tischende und nahm eine der dort stehenden Lampen. Der andere Mann hörte nicht auf, sein Messer zu schleifen, und blickte nicht einmal auf. Der Raum war bis auf den Tisch und Bänke und Regale leer. Auf dem Boden lag Stroh, und eine weitere eisenverstärkte Tür führte tiefer in den Kerker hinein.
»Ihr werdet Licht brauchen, klar?« sagte Changu. »Dort drinnen bei Eurem Schattenfreund ist es dunkel.« Er lachte grob und ohne Humor und entzündete die Lampe. »Er wartet auf Euch.« Er hielt Egwene die Lampe hin und öffnete die innere Tür beinahe eifrig. »Wartet auf Euch. Dort drinnen im Dunkeln.«
Rand blieb unsicher ob der dort herrschenden Schwärze stehen und Changu grinste hinter ihm, doch Egwene packte ihn am Ärmel und zog ihn weiter. Die Tür schlug zu und erwischte ihn beinahe noch an der Ferse. Die Riegel wurden knirschend vorgeschoben. Es gab nur noch den Laternenschein, der seinen kleinen Lichtkreis in die Dunkelheit hineinzeichnete.
»Bist du sicher, daß er uns wieder herauslassen wird?« fragte er. Der Mann hatte, das wurde ihm jetzt klar, sein Schwert und seinen Bogen überhaupt nicht angesehen und auch nicht gefragt, was er in seinen Bündeln habe. »Das sind keine sehr guten Wachen. So, wie der aufgepaßt hat, könnten wir genausogut hier sein, um Fain zu befreien.«
»Dazu kennen sie mich zu gut«, sagte sie, doch es klang besorgt, und sie fügte hinzu: »Sie scheinen jedesmal schlimmer zu werden, wenn ich komme. Alle Wachen. Bissiger und mürrischer. Changu hat bei meinem ersten Besuch noch Witze erzählt, und Nidao sagt überhaupt kein Wort mehr. Aber ich schätze, wenn man an einem Ort wie diesem arbeitet, kann man wohl kein leichtes Herz bewahren. Vielleicht liegt es auch an mir. Dieser Ort macht mein Herz auch nicht gerade leichter.« Trotz ihrer Worte zog sie ihn voller Selbstvertrauen weiter in die Schwärze. Er hielt mit seiner freien Hand das Schwert.
Der blasse Laternenschein enthüllte einen breiten Flur mit Eisengittern auf beiden Seiten, hinter denen sich Zellen mit aus Stein gehauenen Wänden befanden. Nur zwei der Zellen, an denen sie vorbeikamen, waren besetzt. Die Gefangenen richteten sich von ihren schmalen Pritschen auf, als der Lichtschein auf sie fiel, schützten ihre Augen mit den Händen und starrten böse zwischen den Fingern hindurch. Obwohl ihre Gesichter verborgen blieben, war Rand sich ihrer bösen Blicke sicher. Ihre Augen funkelten im Laternenschein.
»Der da trinkt und rauft zuviel«, murmelte Egwene und deutete auf einen stämmigen Burschen, dessen Gelenke fast unter Muskelpaketen verschwanden. »Diesmal hat er ganz allein den Schankraum einer Schenke in der Stadt auseinandergenommen und einige Männer schwer verletzt.« Der andere Gefangene trug einen goldbestickten Mantel mit weiten Ärmeln und niedrige, glänzende Stiefel. »Er versuchte, die Stadt zu verlassen, ohne seine Rechnung in der Schenke zu begleichen« — dabei schnaubte sie laut und verachtungsvoll; schließlich war ihr Vater Wirt und auch noch Bürgermeister von Emondsfeld — »und er schuldet auch noch einem halben Dutzend Ladenbesitzern und Kaufleuten Geld.«
Die Männer fauchten sie an und knurrten kehlige Flüche, wie Rand sie bisher nur von den Leibwächtern der Händler gehört hatte.
»Auch sie werden jeden Tag schlimmer«, sagte sie mit angespannter Stimme und beschleunigte ihren Schritt.
Sie befand sich weit genug vor ihm, als sie Padan Fains Zelle ganz am Ende des Ganges erreichten, daß Rand sich in dem Moment ganz außerhalb des Lichtscheins befand. Er blieb an dem Fleck im Schatten hinter ihrer Laterne stehen.
Fain saß auf seiner Pritsche und beugte sich erwartungsvoll vor, als habe er wirklich gewartet, so wie Changu behauptet hatte. Er war ein knochiger Mann mit stechendem Blick, langen Armen und einer großen Nase, und er war noch hagerer, als Rand ihn in Erinnerung hatte. Die hagere Gestalt rührte nicht vom Aufenthalt im Kerker her — das Essen hier war das gleiche, das auch die Diener bekamen, und auch der schlimmste Gefangene bekam die gleichen Portionen —, sondern von dem, was er getan hatte, bevor er nach Fal Dara gekommen war. Der Anblick ließ in Rand Erinnerungen aufkommen, auf die er lieber verzichtet hätte. Fain auf dem Bock seines großen Händlerwagens, wie er über die Wagenbrücke rumpelte und am Tag der Winternacht in Emondsfeld ankam. Und an Winternacht kamen die Trollocs und mordeten und brannten Häuser nieder und jagten. Sie jagten drei junge Männer, hatte Moiraine gesagt. Sie jagten mich, auch wenn sie es nicht wußten, und Fain benutzten sie als Spürhund.
Fain stand bei Egwenes Annäherung auf, doch er schützte seine Augen nicht vor dem Licht; er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Er lächelte sie an. Das Lächeln berührte aber kaum seine Mundwinkel. Dann hob er den Blick und sah über ihren Kopf hinweg. Er schaute geradewegs Rand an, der in der Schwärze hinter dem Lichtschein verborgen stand, und deutete mit einem langen Finger auf ihn. »Ich fühle, wie du dich dort verbirgst, Rand al'Thor«, sagte er in einem Singsangton. »Du kannst dich nicht verbergen, nicht vor mir und nicht vor ihnen. Du dachtest, es sei vorüber, nicht wahr? Aber der Kampf wird nie vorüber sein, al'Thor. Sie holen mich, und sie werden dich holen, und der Krieg geht weiter. Ob du lebst oder stirbst, es wird nie vorüber sein für dich. Nie.« Plötzlich begann er zu singen:
»Es nähert der Tag der Freiheit sich. Auch für dich und selbst für mich. Es naht der Tag, da sterben alle. Besonders du, doch ich entrinn der Falle.«
Er ließ den Arm fallen, und sein Blick hob sich erneut. Er starrte angestrengt nach oben in die Dunkelheit hinein. Ein schiefes Grinsen verzerrte seine Mundpartie. Er lachte tief und kehlig, als amüsiere er sich über das, was immer er auch sehen mochte. »Mordeth weiß mehr als ihr alle. Mordeth weiß Bescheid.«
Egwene schob sich nach hinten von der Zelle weg, bis sie Rand erreicht hatte und nur der äußerste Rand des Lichtscheins noch die Gitterstäbe von Fains Zelle berührte. Die Dunkelheit verbarg den Händler, doch sie konnten sein Lachen noch immer hören. Obwohl er ihn nicht mehr sehen konnte, war Rand sicher, daß Fain nach wie vor ins Nichts blickte.
Schaudernd löste er die Finger vom Schwertgriff. »Licht!« sagte er heiser. »Und du sagst, er ist so wie früher?«
»Manchmal ist es besser, und manchmal wieder schlimmer.« Egwenes Stimme klang unsicher. »Jetzt ist es schlimmer — viel schlimmer als sonst.«
»Ich frage mich, was er da sieht. Er spinnt — starrt im Dunklen an die Steindecke.« Wenn der Stein nicht wäre, würde er genau in die Wohnquartiere der Frauen blicken. Dort ist Moiraine, und auch die Amyrlin. Er schauderte wieder. »Er ist verrückt.«
»Es war kein guter Einfall, Rand.« Sie blickte sich nach hinten zur Zelle um und zog ihn weg. Sie senkte die Stimme, als fürchte sie, daß Fain sie belauschen könnte. Fains Lachen verfolgte sie. »Selbst wenn sie hier nicht suchen, kann ich nicht bei ihm bleiben, und ich glaube auch nicht, daß du hier bleiben solltest. Heute hat er etwas an sich...« Sie holte bebend Luft. »Es gibt einen Ort, an dem du noch sicherer wärst als hier. Ich habe ihn bloß nicht erwähnt, weil es leichter war, dich hier herein zu bringen, aber sie würden niemals in den Frauenquartieren nachschauen. Nie.«
»Die Frauen...? Egwene, Fain mag ja spinnen, aber du bist noch verrückter. Du kannst dich doch vor Hornissen nicht ausgerechnet im Hornissennest verstecken!«
»Welcher Ort wäre besser geeignet? Was ist der einzige Ort in der Festung, den kein Mann ohne die Einladung einer Frau betreten würde, noch nicht einmal Lord Agelmar? Was ist der einzige Ort, an dem niemals jemand nach einem Mann suchen würde?«
»Welches ist der einzige Ort in der Festung, bei dem du sicher sein kannst, daß er voll von Aes Sedai steckt? Das ist verrückt, Egwene.«
Sie deutete auf seine Bündel und redete, als sei alles beschlossene Sache. »Du mußt dein Schwert und den Bogen in deinen Umhang wickeln, dann sieht es aus, als würdest du mir die Sachen tragen. Es sollte nicht zu schwierig sein, ein Wams und ein Hemd für dich zu finden, die nicht so hübsch aussehen. Du mußt aber gebückt laufen, ja?«
»Ich sage dir doch, ich mache das nicht mit.«
»Da du so stur wie ein Maulesel bist, geschieht es dir nur recht, wenn du meinen Träger spielen mußt. Es sei denn, du möchtest lieber hier unten bei ihm bleiben.«
Fains von Gelächter erfülltes Flüstern drang durch die schwarzen Schatten. »Die Schlacht wird niemals enden, al'Thor. Mordeth weiß das.«
»Meine Chancen wären wohl noch besser, wenn ich von der Mauer springen würde«, murmelte Rand. Aber er legte seine Bündel ab und machte sich daran, Schwert und Bogen und Köcher einzuwickeln, wie sie es vorgeschlagen hatte.
In der Dunkelheit lachte Fain. »Es ist nie vorbei, al'Thor. Nie!«