34 Das Rad webt

Das erste Licht des nahenden Morgens überzog den Himmel grau, als Thom Merrilin wieder auf dem Weg zurück zur Traube war. Sogar dort, wo sich die Schenken und Festhallen aneinanderreihten, gab es eine kurze Strecke der Ruhe, wo ganz Vortor Luft zu holen schien. Doch in seiner augenblicklichen Stimmung hätte Thom noch nicht einmal bemerkt, wenn die leere Straße in Flammen gestanden hätte.

Einige von Barthanes Gästen hatten ihn noch lange aufgehalten, nachdem die meisten bereits aufgebrochen waren, und lange, nachdem Barthanes selbst sich zu Bett begeben hatte. Er war natürlich selbst schuld daran gewesen. Er hätte nicht von der Wilden Jagd nach dem Horn abkommen und die anderen Lieder und Geschichten vortragen sollen, die er sonst in den Dörfern vortrug: ›Mara und die drei närrischen Könige‹ und Wie Susa Jain Fernstreicher zähmte‹ und die Geschichten von Anla, der Weisen Ratgeberin. Er hatte sich das als privaten Kommentar zu ihrer Dummheit nicht verkneifen können und gar nicht damit gerechnet, daß jemand zuhören und gar Interesse daran zeigen würde. Jedenfalls waren sie auf ihre Art wirklich daran interessiert gewesen. Sie hatten mehr davon hören wollen, aber an den falschen Stellen und über die falschen Dinge gelacht. Sie hatten auch ihn ausgelacht und offensichtlich geglaubt, er werde es nicht bemerken oder aber ein voller Geldbeutel in der Tasche werde alle Wunden heilen. Er hatte ihn aber schon zweimal beinahe weggeworfen.

Der schwere Geldbeutel, der ihm in der Tasche und auf der Seele lastete, war nicht der einzige Grund für seine schlechte Laune, genausowenig wie die Verachtung des Adels. Sie hatten ihn über Rand ausgefragt und glaubten, einem bloßen Gaukler gegenüber noch nicht einmal sehr feinfühlig vorgehen zu müssen. Warum Rand sich in Cairhien befinde? Warum hatte ein Lord aus Andor ihn, einen Gaukler, auf die Seite gezogen, um mit ihm zu sprechen? Zu viele Fragen. Er war sich nicht sicher, ob seine Antworten klug gewesen waren. Seine Reaktionen in bezug auf das Große Spiel waren ein wenig rostig geworden.

Bevor er seine Schritte der Traube zuwandte, war er zum Großen Baum gegangen. Es war nicht schwer herauszufinden, wo sich jemand in Cairhien aufhielt, falls man Silber in ein oder zwei Hände drückte. Er war sich immer noch nicht sicher, was er eigentlich hatte sagen wollen. Rand war weg, und mit ihm seine Freunde und die Aes Sedai. Zurückgeblieben war ein Gefühl, als habe er eine Aufgabe noch nicht erfüllt. Der Junge ist jetzt selbständig. Seng mich, ich habe nichts mehr damit zu tun! Er schritt durch den Schankraum, der nun so leer war, wie selten zuvor, und nahm immer zwei Treppenstufen auf einmal. Zumindest versuchte er das, doch sein rechtes Bein war ziemlich steif, und so stürzte er beinahe. Er knurrte ärgerlich in sich hinein und ging den Rest der Treppe vorsichtiger hinauf. Er öffnete leise die Tür zu seinem Zimmer, damit er Dena nicht weckte.

Unwillkürlich lächelte er, als er sah, daß sie voll angezogen mit dem Gesicht zur Wand auf dem Bett lag. Sie ist eingeschlafen, während sie auf mich wartete. Verrücktes Mädchen. Es waren freundliche Gedanken; er glaubte nicht, daß sie irgend etwas tun könne, das er ihr nicht vergab oder wofür er kein Verständnis aufbrachte. Er entschloß sich spontan, daß heute abend der Tag gekommen sei, an dem er sie zum erstenmal auftreten ließ. So stellte er den Kasten mit der Harfe auf den Boden und legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie zu wecken und ihr die freudige Mitteilung zu machen.

Sie rollte schlaff auf den Rücken und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Quer über ihre Kehle verlief eine klaffende Wunde. Die vorher von ihrem Körper verdeckte Bettseite war dunkel und feucht.

Thom drehte sich der Magen um. Wäre seine Kehle nicht so wie zugeschnürt gewesen, er hätte sich übergeben oder geschrien oder beides auf einmal.

Nur das Knarren des Kleiderschranks warnte ihn. Er wirbelte herum. Messer glitten aus seinen Ärmeln und mit einer gleichzeitigen Bewegung warf er sie. Die erste Klinge bohrte sich in die Kehle eines fetten, fast glatzköpfigen Mannes, der einen Dolch in der Hand trug. Der Mann taumelte nach hinten, und Blut quoll zwischen den seinen Hals umklammernden Fingern heraus, als er zu schreien versuchte.

Da er sich auf seinem verletzten Bein drehen mußte, ging Thoms anderer Wurf fehl, doch das Messer blieb in der rechten Schulter eines schweren, muskulösen Mannes mit einem Narbengesicht stecken, der aus dem anderen Schrank kletterte. Das Messer des wuchtigen Mannes entfiel einer Hand, die plötzlich ihrem Eigentümer nicht mehr gehorchte, und dieser lief schwerfällig auf die Tür zu.

Bevor er einen weiteren Schritt tun konnte, hatte Thom ein neues Messer in der Hand und schlitzte dem anderen die Rückseite des Beines auf. Der große Kerl schrie auf und stolperte. Thom packte eine Handvoll schmierigen Haares, knallte ihn mit dem Gesicht an die Wand neben der Tür, und der Mann schrie erneut, als das in seiner Schulter steckende Messer an die Tür stieß.

Thom hielt dem Mann sein Messer direkt vor die dunklen Augen. Die Narben auf dem Gesicht des kräftigen Mannes gaben ihm ein finsteres Aussehen, aber jetzt sah er unverwandt die Schneide des Messers an, zuckte nicht mit der Wimper und rührte keinen Muskel. Der fette Mann, der halb innerhalb des Kleiderschranks lag, zuckte ein letztes Mal mit dem Bein und rührte sich dann nicht mehr.

»Bevor ich dich töte«, sagte Thom, »will ich wissen, warum.« Seine Stimme klang ruhig und wie betäubt. Innerlich fühlte er sich tot. »Das Große Spiel«, sagte der Mann schnell. Seine Aussprache klang nach der Gasse, entsprechend dem Aussehen seiner Kleider, allerdings waren diese ein klein wenig zu gut und zu neu. Er hatte wohl mehr Geld als der übliche Bewohner Vortors. »Es ist nicht persönlich gemeint, müßt Ihr wissen. Es ist halt nur das Spiel.«

»Das Spiel? Ich habe nichts mit Daes Dae'mar zu tun! Wer würde mich des Großen Spiels wegen töten wollen?«

Der Mann zögerte. Thom drückte ihm die Klinge noch näher vors Gesicht. Falls der Kerl die Wimpern bewegte, würden sie die Schneide berühren. »Wer?«

»Barthanes«, erklang die heisere Antwort. »Lord Barthanes. Wir hätten Euch nicht getötet. Barthanes geht es um Informationen. Wir wollten nur herausfinden, was Ihr wißt. Für Euch kann da noch einiges Gold drin sein. Eine nette, dicke Goldkrone für Euer Wissen. Vielleicht auch zwei.«

»Lügner! Ich war letzten Abend im Haus von Barthanes und stand genauso nahe bei ihm wie jetzt bei dir. Falls er etwas von mir wollte, wäre ich nicht lebendig zurückgekommen!«

»Ich sage Euch, wir haben schon tagelang nach Euch oder jemand anderem gesucht, der etwas über diesen andoranischen Lord weiß. Euren Namen habe ich erst gestern abend gehört — unten im Schankraum. Lord Barthanes ist großzügig. Es könnten auch fünf Kronen werden.«

Der Mann bemühte sich, den Kopf von dem Messer in Thoms Hand wegzudrehen, doch Thom drückte ihn noch fester gegen die Wand. »Welcher andoranische Lord?« Aber er wußte es schon. Licht hilf, er wußte Bescheid.

»Rand. Aus dem Haus al'Thor. Groß. Jung. Ein Schwertmeister, oder zumindest trägt er das Schwert eines Meisters. Ich weiß, daß er Euch besucht hat. Er und ein Ogier, und Ihr habt miteinander gesprochen. Sagt mir, was Ihr wißt. Ich lege vielleicht noch selbst ein oder zwei Kronen drauf.«

»Du Narr«, hauchte Thom. Dafür ist Dena gestorben? O Licht, sie ist tot. Er hätte am liebsten losgeheult. »Der Junge ist bloß ein Schäfer.« Ein Schäfer mit einem tollen Mantel und mit Aes Sedai, die ihn umschwärmen wie die Bienen eine Honigrose. »Nur Schäfer.« Er griff dem Mann noch fester ins Haar.

»Wartet! Wartet! Ihr könnt mehr als fünf Kronen verdienen, sogar mehr als zehn! Eher schon hundert! Jedes Haus will etwas von diesem Rand al'Thor wissen. Zwei oder drei haben sich an mich gewandt. Mit Eurem Wissen und durch die Leute, von denen ich weiß, daß sie es wissen wollen, können wir beide uns die Taschen füllen. Und da war auch noch eine Frau, eine Lady. Die habe ich mehr als einmal gesehen, als ich nach ihm suchte. Falls wir herausfinden können, wer sie ist... also, das könnten wir auch noch verkaufen.«

»Du hast bei allem nur einen wirklichen Fehler begangen«, sagte Thom.

»Fehler?« Die entferntere Hand des Mannes begann, sich seinem Gürtel zu nähern. Zweifellos hatte er dort einen weiteren Dolch stecken. Thom schenkte ihr keine Beachtung.

»Du hättest das Mädchen nicht anrühren sollen.«

Die Hand des Mannes fuhr zum Gürtel, und dann zuckte die große Gestalt krampfartig zusammen, denn Thoms Messer hatte gnadenlos sein Ziel gefunden.

Thom ließ ihn von der Tür wegfallen und stand einen Augenblick lang bloß da, bevor er sich müde bückte und seine Messer herauszog. Die Tür schlug auf, und er wirbelte mit wildem Gesichtsausdruck herum.

Zera zuckte zurück, eine Hand an der Kehle, und blickte ihn mit großen Augen an. »Diese idiotische Ella hat mir gerade erzählt«, sagte sie unsicher, »daß zwei von Barthanes Männern gestern abend nach dir gefragt haben, und nachdem, was ich heute morgen schon gehört habe... Ich dachte, du hättest mir gesagt, du spielst das Spiel nicht mehr.«

»Sie haben mich gefunden«, sagte er erschöpft.

Ihr Blick wandte sich von seinem Gesicht ab, und dann machte sie große Augen, als sie die Leichen der beiden Männer entdeckte. Schnell trat sie in das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. »Das ist schlimm, Thom. Du wirst Cairhien verlassen müssen.« Ihr Blick fiel auf das Bett, und ihr stockte der Atem. »O nein! Nein. O Thom, es tut mir so leid.«

»Ich kann noch nicht weg, Zera.« Er zögerte, und dann zog er sanft eine Decke über Dena, damit ihr Gesicht bedeckt war. »Ich muß zuerst noch einen anderen Mann töten.«

Die Wirtin schüttelte sich und wandte sich vom Bett ab. Ihre Stimme klang ziemlich atemlos. »Wenn du damit Barthanes meinst, kommst du zu spät. Darüber spricht doch schon jeder. Er ist tot. Seine Diener fanden ihn heute morgen. Er ist in seinem Schlafzimmer in Stücke gerissen worden. Sie konnten nur erkennen, daß er es war, weil man seinen Kopf auf einen Spieß gesteckt und über dem Kamin zur Schau gestellt hatte.« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Thom, du kannst nicht verleugnen, daß du letzte Nacht dort warst, jedenfalls nicht vor einem, der das in Erfahrung zu bringen versucht. Nimm noch diese beiden dazu, und keiner in Cairhien wird glauben, du hättest nichts damit zu tun.« In ihren letzten Worten schwang ein wenig von einer Frage mit, als sei auch sie selbst nicht sicher.

»Es spielt wohl keine Rolle«, sagte er stumpf. Er konnte nicht aufhören, die mit der Decke bedeckte Gestalt auf dem Bett zu betrachten. »Vielleicht gehe ich zurück nach Andor. Nach Caemlyn.«

Sie nahm ihn bei den Schultern und drehte ihn vom Bett weg. »Ihr Männer«, seufzte sie. »Ihr denkt nur immer entweder mit den Muskeln oder den Herzen, aber euren Kopf benützt ihr nicht. Caemlyn ist für dich genauso schlecht wie Cairhien. An jedem dieser Orte wirst du entweder sterben oder im Gefängnis enden. Glaubst du, das hätte sie gewollt? Wenn du ihr Andenken in Ehre halten willst, dann mußt du leben.«

»Kümmerst du dich um... « Er konnte es nicht aussprechen. Ich werde alt, dachte er. Gefühlsduselig. Er zog den schweren Geldbeutel aus der Tasche und drückte ihn ihr in die Hand. »Das sollte reichen für... alles. Und hilf bitte auch, wenn sie nach mir fragen.«

»Ich kümmere mich um alles«, sagte sie sanft. »Du mußt fort, Thom. Jetzt gleich.«

Er nickte zögernd und begann, langsam einige Sachen in zwei Satteltaschen zu stopfen. Während er arbeitete, betrachtete Zera zum ersten Mal den fetten Mann, der halb innerhalb und halb außerhalb ihres Kleiderschranks lag, und sie schnappte hörbar nach Luft. Er blickte sie fragend an. Solange er sie kannte, war sie nicht die Frau gewesen, die wegen ein bißchen Blut in Ohnmacht fiel.

»Das sind nicht Barthanes Männer, Thom. Zumindest der hier ist keiner.« Sie nickte in Richtung des fetten Mannes. »Es ist das wohl am schlechtesten gehütete Geheimnis in Cairhien, daß er für das Haus Riatin arbeitet. Für Galldrian.«

»Galldrian«, wiederholte er mit tonloser Stimme. Worin hat mich dieser blutige Schafhirte verwickelt? Was haben die Aes Sedai uns beiden angetan? Aber Galldrians Männer haben sie ermordet. Etwas von seinen Gedanken mußte sich auch auf seinem Gesicht gezeigt haben. Zera sagte in scharfem Ton: »Dena will, daß du lebst, du Narr! Versuche, den König zu töten, und du bist schon tot, bevor du dich ihm auf hundert Spannen genähert hast, falls du überhaupt so nahe herankommst!«

Von der Stadtmauer her erklang ein Geschrei, als beteilige sich die halbe Einwohnerschaft Cairhiens daran. Mit gerunzelter Stirn sah Thom aus dem Fenster. Jenseits der grauen Mauer, weit über den Dächern von Vortor, erhob sich eine dichte Rauchwolke in den Himmel. Weit hinter der Mauer. Neben der ersten, schwarzen Rauchsäule formte sich bald aus grauen Rauchfahnen eine zweite, und weiter hinten erschienen noch mehr Wölkchen. Er schätzte die Entfernung und holte tief Luft.

»Vielleicht solltest du auch daran denken, von hier zu verschwinden. Es sieht aus, als habe jemand die Getreidesilos angezündet.«

»Ich habe schon einige Male einen Aufruhr heil überstanden. Geh jetzt, Thom.« Nach einem letzten Blick auf Denas verhüllte Gestalt nahm er seine Sachen auf, doch als er gerade gehen wollte, sagte Zera noch: »Du hast einen gefährlichen Ausdruck im Blick, Thom Merrilin. Stelle dir vor, Dena säße gesund und munter hier. Überlege, was sie wohl sagen würde. Würde sie dich in einen sinnlosen Tod ziehen lassen?«

»Ich bin nur ein alter Gaukler«, sagte er von der Tür her. Und Rand al'Thor ist nur ein Schafhirte, aber wir tun beide, was wir tun müssen. »Für wen könnte ich denn schon gefährlich sein?«

Als er die Tür hinter sich zuzog und sie und Dena vor seinen Blicken verborgen waren, überzog ein freudloses, wölfisches Grinsen sein Gesicht. Sein Bein schmerzte, aber er fühlte es kaum, als er zielbewußt die Treppe hinuntereilte und aus der Schenke ging.

Padan Fain ließ sein Pferd auf einem Hügelkamm über Falme inmitten eines der wenigen Dickichte, die im Bereich der Hügel außerhalb der Stadt noch übrig waren, anhalten. Das Packpferd, das seine wertvolle Fracht geduldig trug, stieß gegen sein Bein, und er trat ihm, ohne überhaupt hinzusehen, in die Rippen. Das Tier schnaubte und ruckte zurück bis ans Ende der Leine, die er an seinem Sattel befestigt hatte. Die Frau hatte ihm ihr Pferd nicht geben wollen — alle Schattenfreunde hatten sich davor gefürchtet, im Hügelland allein mit den Trollocs zurückzubleiben, ohne daß Fain sie durch seine Gegenwart beschützte. Er hatte beide Probleme ohne Schwierigkeiten gelöst. Fleisch im Kochtopf eines Trollocs benötigte kein Pferd zum Reiten mehr. Die Begleiter der Frau waren schon erschüttert von ihrem Ritt durch die Kurzen Wege bis zu einem Wegetor bei einem lang verlassenen Stedding auf der Toman-Halbinsel, und der Anblick, wie die Trollocs ihr Mahl bereiteten, hatte die übrigen Schattenfreunde äußerst gefügig gemacht.

Von der Bewuchsgrenze her musterte Fain die ohne Mauer daliegende Stadt und verzog verächtlich das Gesicht. Ein kurzer Wagenzug rumpelte gerade zwischen die Ställe und Pferdekoppeln und Abstellplätze am Stadtrand hinein, während ein anderer herausrollte. Auf der in vielen Jahren von den Wagen ausgefahrenen Straße erhob sich kaum noch eine Staubfahne. Der Kleidung nach waren die Fahrer und die wenigen berittenen Wächter Einheimische, aber die Berittenen hatten sich wenigstens Schwerter umgehängt, und ein paar besaßen sogar Speere und Bogen. Die Soldaten, die er erkennen konnte — es waren nur wenige —, schienen diese Bewaffneten kaum zu beachten, die sie ja wohl erst vor kurzer Zeit besiegt hatten.

An dem einen Tag und während seiner einzigen Nacht auf der Toman-Halbinsel hatte er einiges über dieses Volk, die Seanchan erfahren. Oder zumindest soviel, wie die unterlegenen Einheimischen eben wußten. Es war nicht schwer, jemanden allein zu erwischen, und wenn man die Fragen richtig stellte, bekam man auch eine Antwort. Die Männer versuchten ohnehin, mehr über die Invasoren in Erfahrung zu bringen, als glaubten sie tatsächlich, sie könnten mit diesem Wissen eines Tages etwas ausrichten. Nur manchmal hielten sie etwas zurück. Die Frauen schienen im allgemeinen nur daran interessiert zu sein, ihr Leben im gleichen Trott fortzusetzen, gleich, wer gerade herrschte, aber sie bemerkten Dinge, die den Männern entgangen waren. Sie plapperten auch eher los, wenn sie einmal mit Schreien aufgehört hatten. Kinder plauderten am schnellsten alles aus, aber sie sagten nur selten etwas wirklich Stichhaltiges.

Er hatte drei Viertel des Gehörten als Unsinn und Gerüchte abgetan, die sich bereits zu Fabeln auswuchsen, aber nun mußte er einige seiner Vorurteile zurücknehmen. Es schien, daß jedermann ungehindert nach Falme kommen konnte. Überrascht beobachtete er etwas anderes, was er als ›Unsinn‹ abgetan hatte, als eine Gruppe von zwanzig Soldaten Falme verließ. Er konnte ihre Reittiere nicht ganz genau sehen, aber es waren auf jeden Fall keine Pferde. Sie rannten mit einer fließenden Eleganz, und ihre dunklen Häute schienen wie Schuppen in der Morgensonne zu glitzern. Er verdrehte den Hals, um sie zu beobachten, bis sie landeinwärts verschwunden waren, und dann gab er seinem Pferd die Stiefel zu spüren und ritt in Richtung auf die Stadt los.

Die Einheimischen, die zwischen den Ställen und abgestellten Wagen und Koppeln herumliefen, beachteten ihn kaum. Er kümmerte sich auch nicht um sie, sondern ritt weiter in die Stadt hinein. Kopfsteingepflasterte Straßen neigten sich nach unten dem Hafen zu. Er konnte den ganzen Hafen überblicken und sah die großen, eigenartig eckig geformten Schiffe der Seanchan, die dort ankerten. Niemand belästigte ihn, als er suchend durch schwach belebte Straßen ritt. Hier befanden sich nun doch mehr Soldaten der Seanchan. Die Menschen eilten mit zu Boden gesenktem Blick ihren Geschäften nach und verbeugten sich, wenn sie an Soldaten vorbeikamen, doch die Seanchan würdigten sie keines Blickes. An der Oberfläche erschien alles sehr friedlich — trotz der gerüsteten Seanchan auf den Straßen und ihrer Schiffe im Hafen —, doch Fain spürte die Anspannung, die über allem lag. Er war immer dort besonders erfolgreich, wo Menschen nervös und verängstigt waren.

Er erreichte ein großes Haus, vor dem mehr als ein Dutzend Soldaten Wache hielt. Fain hielt an und stieg ab. Außer einem klar erkennbaren Offizier trugen alle ganz schwarze Rüstungen, und ihre Helme erinnerten ihn an Heuschreckenköpfe. An jeder Seite des Haupteingangs stand eine Kreatur mit ledriger Haut, drei Augen und gekrümmtem Schnabel anstelle eines Mundes. Sie hockten da wie Frösche. Die Soldaten, die neben den Kreaturen standen, hatten jeweils drei Augen auf ihren Brustpanzer gemalt. Fain musterte die blau geränderte Flagge, die über dem Dach flatterte: ein Falke mit ausgebreiteten Schwingen, der in den Klauen Blitze trug. Er schnaubte verächtlich.

Auf der anderen Straßenseite gingen Frauen in einem Haus ein und aus, Frauen, die durch silberne Leinen miteinander verbunden waren, doch er schenkte ihnen keine weitere Beachtung. Er kannte die Damane aus den Erzählungen der Dorfbewohner. Später könnten sie einmal nützlich werden, doch nicht jetzt.

Die Soldaten musterten ihn, besonders der Offizier. Seine Rüstung war golden und rot und grün bemalt.

Fain zwang seine Gesichtszüge zu einem unterwürfigen Lächeln und verbeugte sich tief. »Meine Herren, ich habe hier etwas, das Euren Hochlord interessieren wird. Ich versichere Euch, er wird es und auch mich persönlich sehen wollen.« Er deutete auf den eckigen Gegenstand auf seinem Packpferd, der immer noch in die riesige, gestreifte Decke gehüllt war, in der ihn seine Leute vorgefunden hatten. Der Offizier musterte ihn von oben bis unten. »Ihr klingt, als wärt Ihr hier fremd. Habt Ihr die Eide abgelegt?«

»Ich gehorche, warte ab und werde dienen«, antwortete Fain unterwürfig. Jeder, den er befragt hatte, hatte die Eide erwähnt, obwohl keiner verstand, was sie bedeuten sollten. Wenn diese Leute das Ablegen von Eiden verlangten, dann würde er schwören, was man von ihm wollte. Er konnte die Eide schon lange nicht mehr zählen, die er alle geschworen hatte.

Der Offizier bedeutete zweien seiner Männer, nachzusehen, was sich unter der Decke verbarg. Ihr überraschtes Ächzen ob des Gewichts, als sie die Ladung aus dem Packsattel hoben, wich einem Nach-Luft-Schnappen, als sie die Decke entfernten. Der Offizier blickte mit ausdruckslosem Gesicht die mit Silber verzierte Goldtruhe an, die auf den Pflastersteinen stand, und dann sah er Fain wieder an. »Ein Geschenk, das selbst der Kaiserin würdig wäre. Ihr kommt mit mir.«

Einer der Soldaten durchsuchte Fain grob, aber er ertrug das schweigend und bemerkte dabei noch, daß der Offizier und die beiden Soldaten, die die Truhe aufhoben, ihre Schwerter und Dolche ablieferten, bevor sie hineingingen. Alles, was er über diese Leute in Erfahrung bringen konnte, ob wichtig oder unbedeutend, könnte einmal hilfreich sein, obwohl er am Gelingen seines Planes keinen Zweifel hegte. Er besaß ein großes Selbstvertrauen, aber dort war es am größten, wo Lords das Messer eines Attentäters aus den eigenen Reihen fürchteten.

Als sie das Tor durchschritten, sah ihn der Offizier mit finsterem Erstaunen an. Einen Augenblick lang fragte sich Fain, warum. Ach, natürlich. Diese Kreaturen neben dem Tor. Was sie auch waren, sie waren sicher nicht schlimmer als Trollocs und gar nichts, verglichen mit einem Myrddraal, und er hatte sie nicht weiter beachtet. Jetzt war es zu spät, um noch Furcht vor ihnen zu heucheln. Aber der Offizier sagte nichts, führte ihn lediglich weiter in das Haus hinein.

Und so lag Fain schließlich auf dem Bauch, das Gesicht nach unten, in einem unmöblierten Zimmer, in dem nur hölzerne Stellwände die wirklichen Wände hinter sich verbargen, während der Offizier dem Hochlord Turak von ihm und seiner Gabe erzählte. Diener trugen einen Tisch herein, auf den man die Truhe stellte, damit der Hochlord sich nicht bücken mußte. Alles, was Fain von ihnen sah, waren flink hin und her eilende Pantoffeln. Ungeduldig wartete er. Schließlich würde einmal der Zeitpunkt kommen, an dem nicht er es mehr war, der sich verbeugen mußte.

Dann wurden die Soldaten weggeschickt, und man sagte Fain, er solle sich erheben. Er tat das langsam und musterte derweil sowohl den Hochlord mit seinem glattrasierten Kopf, den langen Fingernägeln und der blauen, mit Blumen gesäumten Seidenrobe, wie auch den Mann, der neben ihm stand und auf der unrasierten Seite seines Kopfes das Haar zu einem langen Zopf geflochten hatte. Fain war sicher, daß der Kerl in Grün nur ein Diener war, wenn auch vielleicht hoch im Rang, aber Diener konnten nützlich sein, besonders wenn sie hoch in der Gunst ihres Herren standen.

»Ein wundervolles Geschenk.« Turaks Blick hob sich von der Truhe und erfaßte Fain. Ein Duft nach Rosen wehte von dem Hochlord herüber. »Doch die Frage liegt auf der Hand: Wie kommt jemand wie Ihr an eine Truhe, die viele weniger hochstehende Adlige sich niemals leisten könnten? Seid Ihr ein Dieb?«

Fain zupfte an seinem abgetragenen und nicht gerade sauberen Mantel. »Es ist manchmal notwendig, Hochlord, daß ein Mann weniger erscheint, als er ist. Mein augenblickliches schäbiges Aussehen ermöglichte mir, Euch dies unbehelligt zu überbringen. Die Truhe ist alt, Hochlord — so alt, wie das Zeitalter der Legenden her ist —und in ihr liegt ein Schatz, den nur wenige Augen jemals erblickt haben. Bald — sehr bald, Hochlord — werde ich fähig sein, sie zu öffnen und Euch das zu übergeben, was Euch ermöglichen wird, dieses Land zu erobern, soweit Ihr nur wollt, bis zum Rückgrat der Welt, zur Aielwüste, zu den Ländern dahinter. Nichts wird sich Euch in den Weg stellen, Hochlord, sobald ich... « Er brach ab, als Turak mit seinen langen Fingernägeln über die Truhe strich.

»Ich habe solche Truhen schon gesehen, Truhen aus dem Zeitalter der Legenden«, sagte der Hochlord, »allerdings noch keine so prächtige. Man hat sie so konstruiert, daß nur der sie öffnen kann, der das Muster kennt, aber ich — ah!« Er drückte an den Schnörkeln und Knöpfen herum, man hörte ein scharfes Klicken, und er hob den Deckel hoch. Ein Aufflackern von — vielleicht war es Enttäuschung — huschte über sein Gesicht.

Fain biß sich in die Wangen, daß das Blut herausquoll, damit er nicht vor Wut fauchte. Es verschlechterte seine Lage bei der zu erwartenden Feilscherei erheblich, daß nicht er es gewesen war, der die Truhe öffnete. Trotzdem konnte alles andere so ablaufen, wie er es geplant hatte, wenn er sich nur zur Geduld zwang. Aber er hatte schon so lange geduldig sein müssen.

»Das soll ein Schatz aus dem Zeitalter der Legenden sein?« fragte Turak, und er hob das gekrümmte Horn mit der einen und den geschweiften Dolch mit dem Rubin im Griff mit der anderen Hand heraus. Fain ballte die Hände zu Fäusten, damit er nicht nach dem Dolch griff. »Das Zeitalter der Legenden«, wiederholte Turak leise, und er fuhr die silbern eingelegte Schrift um die goldene Öffnung des Horns herum mit der Spitze des Dolches nach. Seine Augenbrauen hoben sich erstaunt. Das war das erste Mal, daß Fain eine Regung in seinem Gesicht erkennen konnte. Aber im nächsten Moment war Turaks Gesicht so ausdruckslos wie vorher. »Habt Ihr eine Ahnung, was das ist?«

»Das Horn von Valere, Hochlord«, sagte Fain aalglatt, und es bereitete ihm Vergnügen zu beobachten, wie der Mann mit dem Zopf mit offenem Mund dastand. Turak nickte nur in sich hinein.

Der Hochlord wandte sich ab. Fain blinzelte und öffnete den Mund, aber nach einer gebieterischen Geste des gelbhaarigen Mannes folgte er den beiden wortlos.

Sie betraten ein weiteres Zimmer, aus dem man das gesamte Mobiliar entfernt und durch Stellwände ersetzt hatte. Es gab nur einen einzigen Stuhl, der vor einer hohen, geschwungenen Kommode stand. Turak, der immer noch Dolch und Horn trug, sah die Kommode an und blickte dann wieder weg. Er sagte kein Wort, aber der andere Seanchan bellte kurz einige Befehle, und Augenblicke später erschienen Männer in einfachen Wollgewändern aus einer Tür hinter den Stellwänden und trugen einen kleinen Tisch herein. Eine junge Frau mit so blassem Haar, daß es beinahe weiß erschien, kam hinterher. Sie trug beide Arme voll mit kleinen Untersetzern in allen möglichen Formen und Größen, alle aus lackiertem Holz. Ihr Kleid war aus weißer Seide und so dünn, daß Fain ihren Körper ganz deutlich sehen konnte, aber er hatte nur Augen für den Dolch. Das Horn war ein Mittel zum Zweck, doch der Dolch war ein Teil seiner selbst.

Turak berührte kurz einen der hölzernen Untersetzer, die das Mädchen trug, und sie stellte ihn in die Mitte der Tischfläche. Nach den Anweisungen des Mannes mit dem Zopf drehten die anderen Männer den Stuhl so, daß er auf den Tisch hin zeigte. Das Haar dieser niedrigeren Diener reichte bis auf die Schultern. Sie hasteten hinaus, wobei sie sich so tief verbeugten, daß ihre Gesichter beinahe die Knie berührten.

Turak stellte das Horn senkrecht auf den Untersetzer, und den Dolch gleich davor. Dann setzte er sich auf den Stuhl.

Fain konnte es nicht mehr ertragen. Er griff nach dem Dolch.

Der gelbhaarige Mann packte sein Handgelenk mit mörderisch festem Griff. »Unrasierter Hund! Wißt, daß die Hand, die ungebeten das Eigentum des Hochlords berührt, abgehackt wird.«

»Er gehört mir«, murrte Fain. Geduld! So lange schon...

Turak lehnte sich entspannt zurück und hob einen blaulackierten Fingernagel. Fain wurde zurückgerissen, damit der Hochlord ungestört das Horn betrachten konnte.

»Euch?« fragte Turak. »In einer Truhe, die Ihr nicht öffnen konntet? Falls Ihr mein Interesse in genügendem Maße weckt, gebe ich Euch vielleicht den Dolch. Auch wenn er aus dem Zeitalter der Legenden stammt, habe ich an so etwas kein Interesse. Aber vor allem anderen werdet Ihr mir eine Frage beantworten: Warum habt Ihr mir das Horn von Valere gebracht?«

Fain sah den Dolch noch einen Augenblick lang sehnsüchtig an, riß dann sein Handgelenk aus dem Griff des Mannes mit dem Zopf und rieb es, während er sich verbeugte. »Damit Ihr es blast, Hochlord. Dann könnt Ihr dieses ganze Land einnehmen, falls Ihr das wünscht. Die ganze Welt. Ihr könnt die Weiße Burg schleifen und die Aes Sedai zu Staub zermalmen, denn nicht einmal ihre Macht kann Helden aufhalten, die von den Toten auferstanden sind.«

»Ich soll es blasen?« Turaks Stimme klang ausdruckslos. »Und die Weiße Burg schleifen? Nochmals, warum? Ihr behauptet, Ihr würdet gehorchen, warten und dienen, doch dies ist ein Land von Eidbrechern. Warum gebt Ihr mir Euer Land? Habt Ihr irgendeinen privaten Streit mit diesen... Frauen?«

Fain bemühte sich, in überzeugendem Ton zu sprechen. Geduld — wie ein Wurm, der von innen her bohrt. »Hochlord, in meiner Familie gibt es eine Tradition, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Wir dienten dem Hochkönig Artur Paendrag Tanreall, und als er von den Hexen von Tar Valon ermordet wurde, haben wir unseren Eid nicht gebrochen. Während andere Kriege führten und das zerrissen, was Artur Falkenflügel aufgebaut hatte, hielten wir uns an unseren Eid und litten darunter. Doch wir zerbrachen nicht. Das ist unsere Tradition, Hochlord, vom Vater auf den Sohn weitergegeben und von Mutter zu Tochter, all die Jahre hindurch, seit der Hochkönig ermordet wurde: Daß wir die Rückkehr des Heeres erwarten, das Artur Falkenflügel über das Aryth-Meer gesandt hat, daß wir die Rückkehr des Blutes von Artur Falkenflügel erwarten, um die Weiße Burg zu zerstören und zurückzugewinnen, was dem Hochkönig gehörte. Und wenn das Blut Falkenflügels zurückkehrt, werden wir dienen und beraten, wie wir dem Hochkönig dienten. Hochlord, von dem Saum abgesehen ist die Flagge, die über diesem Haus weht, das Banner von Luthair, dem Sohn, den Artur Paendrag Tanreall mit seinem Heer über das Meer aussandte.« Fain fiel auf die Knie und brachte eine gute Darstellung eines völlig überwältigten Mannes zustande. »Hochlord, ich wünsche nur zu dienen und dem Blute des Hochkönigs als Berater zur Seite zu stehen.«

Turak schwieg so lange, daß Fain sich schon fragte, ob er noch immer nicht überzeugt sei. Er hatte mehr zu bieten, alles, was notwendig war. Aber schließlich sprach der Hochlord: »Ihr scheint zu wissen, was niemand —weder hochstehend noch gemein — ausgesprochen hat, seit dieses Land in Sicht kam. Die Menschen hier betrachten es als eines von vielen Gerüchten, aber Ihr wißt Bescheid. Ich kann es in Euren Augen sehen und in Eurer Stimme hören. Ich könnte beinahe auf die Idee kommen, Ihr seid ausgesandt worden, um mich in eine Falle zu locken. Aber wer, der sich im Besitz des Horns von Valere befindet, würde das Horn so mißbrauchen? Keiner von denen aus dem Blute, der mit den Hailene hier ankam, kann das Horn gehabt haben, denn die Legende sagt, es sei in diesem Land verborgen worden. Und sicherlich würde jeder Lord dieses Landes, der es besäße, das Horn gegen mich verwenden, anstatt es in meine Hände zu legen. Wie kam es dazu, daß Ihr das Horn von Valere besitzt? Behauptet Ihr, ein Held wie in einer der Legenden zu sein? Habt Ihr große Taten vollbracht?«

»Ich bin kein Held, Hochlord.« Fain brachte ein bescheidenes Lächeln fertig, doch Turaks Gesichtsausdruck änderte sich nicht, und so ließ er es bleiben. »Einer meiner Vorfahren fand das Horn während des Aufruhrs nach dem Tod des Hochkönigs. Er wußte, wie man die Truhe öffnet, aber mit ihm starb auch dieses Wissen im Hundertjährigen Krieg, der das Reich Artur Falkenflügels zersplitterte. Alles, was wir, seine Nachfolger, wußten, war, daß das Horn drinnen lag und wir es sicher aufbewahren mußten, bis das Blut des Hochkönigs zurückkehrte.«

»Ich könnte Euch beinahe Glauben schenken.«

»Glaubt mir, Hochlord. Sobald Ihr das Horn blast... «

»Verderbt nicht alles, was Ihr vorher an Überzeugungsarbeit geleistet habt. Ich werde das Horn von Valere nicht blasen. Wenn ich nach Seanchan zurückkehre, werde ich es der Kaiserin als den größten meiner erworbenen Schätze präsentieren. Vielleicht wird die Kaiserin selbst das Horn blasen.«

»Aber, Hochlord«, protestierte Fain, »Ihr müßt... « Er lag plötzlich auf der Seite, und sein Kopf schmerzte fürchterlich. Erst als er wieder klar sehen konnte, sah er, wie sich der Mann mit dem Zopf die Hände rieb, und ihm wurde klar, was geschehen war.

»Es gibt Worte«, sagte der Kerl leise, »die benützt man dem Hochlord gegenüber nicht.«

Fain beschloß in diesem Moment, auf welche Art der Mann sterben würde.

Turak blickte von Fain zurück zum Horn, und zwar so gelassen, als habe er nichts bemerkt. »Vielleicht schenke ich Euch ebenfalls der Kaiserin, zusammen mit dem Horn von Valere. Ihr amüsiert sie vielleicht — ein Mann, der behauptet, seine Familie sei treu geblieben, obwohl alle anderen ihre Eide brachen oder sie vergaßen.«

Fain verbarg seine neu erwachende Hochstimmung, als er langsam wieder aufstand. Er hatte noch nicht einmal gewußt, daß es eine Kaiserin gab, bevor Turak sie erwähnte, aber wieder Zugang zu einem Herrscher zu haben... das eröffnete neue Möglichkeiten, neue Pläne. Zugang zu einer Herrscherin mit der ganzen Macht Seanchans im Rücken und dem Horn von Valere in Händen. Viel besser, als aus diesem Turak einen König zu machen. Er konnte mit einigen Einzelheiten seines Planes durchaus noch warten. Vorsichtig. Er soll nicht wissen, wie sehr ich ihn brauche. Nach so langer Zeit wird ein bißchen mehr Geduld nicht wehtun. »Wie Hochlord wünschen«, sagte er und bemühte sich, wie ein Mann zu klingen, der nur dienen will.

»Ihr scheint übereifrig«, sagte Turak, und Fain wäre beinahe zusammengezuckt, konnte es aber gerade noch verhindern. »Ich werde Euch sagen, warum ich das Horn von Valere nicht blasen und es noch nicht einmal behalten werde, und vielleicht wird das Euren Übereifer dämpfen. Ich will nicht, daß eines meiner Geschenke die Kaiserin durch seine Taten abstößt. Wenn Euer Übereifer nicht gedämpft werden kann, wird er niemals befriedigt werden, denn dann verlaßt Ihr diese Küste nicht. Wißt Ihr, daß derjenige, der das Horn von Valere bläst, für immer daran gebunden ist? Solange er oder sie lebt, ist das Horn für jeden anderen nur ein Musikinstrument.« Er machte nicht den Eindruck, als erwarte er eine Antwort, und er hielt auch nicht inne, um auf eine zu warten. »Ich stehe an zwölfter Stelle in der Rangfolge der Thronfolger. Wenn ich das Horn von Valere für mich behielte, würden alle zwischen mir und der Kaiserin glauben, ich wolle mich damit zum ersten Anwärter auf den Kristallthron machen. Die Kaiserin wünscht natürlich, daß wir im Wettbewerb miteinander danach streben, damit der stärkste und schlaueste von uns ihr Nachfolger wird, aber sie zieht selbst im Moment ihre zweite Tochter vor, und sie würde eine Bedrohung Tuons nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wenn ich es bliese und ihr dann meinetwegen dieses Land zu Füßen legte und jede Frau in der Weißen Burg zur Damane machte, würde die Kaiserin — möge sie ewig leben — glauben, ich wolle mehr als nur ihr Erbe werden.«

Fain hielt sich gerade noch zurück, bevor er herausplatzte, wie gut die Chancen dafür mit Hilfe des Horns stünden. Aber irgend etwas an der Stimme des Hochlords sagte ihm — auch wenn Fain das kaum glauben konnte —, daß sein Wunsch des ewigen Lebens für die Kaiserin ernst gemeint sei. Ich muß Geduld haben — wie ein Wurm an der Wurzel.

»Die Lauscher der Kaiserin könnten überall ihre Ohren haben«, fuhr Turak fort. »Jeder könnte zu ihnen gehören. Huan wurde im Hause Aladon geboren und großgezogen wie seine Familie schon elf Generationen lang vor ihm, und doch könnte sogar er ein Lauscher sein.« Der Mann mit dem Zopf gestikulierte protestierend, riß sich aber sofort wieder zusammen und stand reglos da. »Selbst ein Hochlord oder eine Hochlady findet manchmal heraus, daß seine oder ihre bestgehüteten Geheimnisse den Lauschern bekannt sind, und eines Tages wachen sie auf und befinden sich bereits in den Händen der Sucher nach der Wahrheit. Es ist immer schwer, die Wahrheit herauszufinden, aber die Sucher geizen nicht mit Schmerzen bei ihrer Suche, und sie suchen, solange sie glauben, es sei notwendig. Natürlich geben sie sich große Mühe, daß unter ihrer Obhut kein Hochlord und keine Hochlady stirbt, denn es ist keinem Menschen erlaubt, jemanden zu töten, in dessen Adern das Blut Artur Falkenflügels fließt. Falls die Kaiserin einen solchen Tod befehlen muß, wird der Unglückliche in einen Sack aus Seide gesteckt, und diesen Sack hängt man über die Brüstung des Turms der Raben und läßt ihn dort hängen, bis er verfault ist. Solche Mühe würde man sich mit jemandem wie Euch nicht geben. Am Hof der Neun Monde in Seandar würde man Euch den Suchern schon übergeben, wenn Ihr nur in die falsche Richtung blickt oder ein falsches Wort sagt — einfach so. Wie steht es nun mit Eurem Eifer?«

Fain brachte seine Knie zum Zittern. »Ich wünsche nur, zu dienen und zu beraten, Hochlord. Ich weiß vieles, was nützlich sein könnte.« Dieser Hof in Seandar schien genau der Ort zu sein, an dem seine Fähigkeiten und seine Pläne auf fruchtbaren Boden fallen würden.

»Bis ich nach Seanchan zurücksegle, werdet Ihr mich mit Berichten von Eurer Familie und ihren Traditionen unterhalten. Es ist eine Erleichterung, in diesem lichtverlassenen Land noch einen zweiten Mann zu finden, der mich unterhalten kann, auch wenn Ihr beide mir Lügen erzählt, wie ich stark vermute. Ihr dürft mich jetzt verlassen.« Es wurde kein weiteres Wort gesprochen, aber das Mädchen mit dem beinahe weißen Haar und dem fast durchscheinenden Kleid kam leichtfüßig hereingeeilt, kniete sich mit gesenktem Kopf neben dem Hochlord nieder und bot ihm eine einzelne dampfende Tasse auf einem lackierten Tablett dar.

»Hochlord«, sagte Fain. Der Mann mit dem Zopf —Huan — nahm ihn beim Arm, doch er riß sich los. Huans Mund verzog sich wütend, als Fain zu seiner bisher tiefsten Verbeugung ansetzte. Ja, ich werde ihn ganz langsam töten. »Hochlord, da sind andere, die mich verfolgen. Sie wollen das Horn von Valere rauben. Schattenfreunde und noch schlimmere, Hochlord, und sie können sich kaum mehr als einen oder zwei Tage hinter mir befinden.«

Turak balancierte die dünne Tasse trotz der langen Nägel auf seinen Fingerspitzen und nippte an der schwarzen Flüssigkeit. »In Seanchan sind nicht viele Schattenfreunde übrig. Diejenigen, die die Arbeit der Sucher nach der Wahrheit überstehen, werden von der Axt des Henkers getroffen. Es könnte ganz amüsant sein, einen Schattenfreund kennenzulernen.«

»Hochlord, sie sind gefährlich. Sie haben Trollocs dabei. Sie werden von jemand angeführt, der sich Rand al'Thor nennt. Ein junger Mann, der jedoch unter dem Schatten so böse geworden ist, daß man es kaum glauben kann. Er hat eine trügerische, verlogene Zunge. An den verschiedensten Orten hat er ganz unterschiedliche Angaben über seine Person gemacht, aber es kommen immer Trollocs nach, wo er sich auch befindet, Hochlord. Immer kommen die Trollocs... und morden.«

»Trollocs«, meinte Turak nachdenklich. »In Seanchan gab es keine Trollocs. Aber die Heere der Nacht hatten andere Verbündete. Andere — Dinge. Ich habe mich oft gefragt, ob ein Grolm es mit einem Trolloc aufnehmen kann. Ich werde Leute ausschicken, um sich nach Euren Trollocs und Schattenfreunden umzusehen, falls nicht auch die erlogen sind. Dieses Land läßt mich noch vor Langeweile ersticken.« Er seufzte und sog die Dämpfe über seiner Tasse ein.

Fain ließ sich von dem grimassenschneidenden Huan aus dem Raum zerren. Er hörte kaum noch hin, als Huan ihm einen Vortrag darüber hielt, was geschehe, wenn er Lord Turak nicht sofort verlasse, nachdem der ihm die Erlaubnis dazu erteilt hatte. Er bemerkte auch kaum, daß er auf die Straße befördert wurde und man ihm eine Münze in die Hand drückte, mit der Anweisung, sich am nächsten Morgen wieder dort einzufinden. Jetzt gehörte Rand al'Thor ihm allein. Ich werde endlich für das sorgen, daß er stirbt. Und dann wird die Welt dafür bezahlen, was man mir angetan hat.

Leise kichernd führte er seine Pferde auf der Suche nach einer Schenke in den Ort hinunter.

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