47 Das Grab ist keine Grenze...

Mat und Perrin waren schon aufgesessen, als Rand und Hurin zu ihnen stießen. Weit hinter ihnen hörte Rand Ingtars Stimme: »Für das Licht und Schinowa!« Das Klirren von Schwertern mischte sich in das Durcheinander anderer Stimmen.

»Wo ist Ingtar?« rief Mat. »Was ist da los?« Er hatte das Horn von Valere vor sich an das Sattelhorn gehängt, als wäre es ein ganz normales Instrument, aber der Dolch hing an seinem Gürtel. Den Griff mit dem Rubin hielt er schützend in einer blassen Hand, die nur aus Sehnen und Knochen zu bestehen schien.

»Er stirbt«, sagte Rand hart, als er sich auf den Braunen schwang.

»Dann müssen wir ihm helfen«, sagte Perrin. »Mat kann das Horn und den Dolch zu... «

»Er tut es für uns, damit wir entkommen können«, sagte Rand. Auch für uns jedenfalls. »Wir bringen dieses Horn zu Verin und dann könnt ihr helfen, daß es dorthin gelangt, wohin sie es wünscht.«

»Was willst du damit sagen?« fragte Perrin. Rand hieb dem Braunen die Fersen in die Flanken, und er galoppierte los auf die Hügel jenseits der Stadt zu.

»Für das Licht und Schinowa!« ertönte Ingtars Kampfschrei hinter ihm. Es klang triumphierend, und wie zur Antwort peitschte ein Blitz über den Himmel.

Rand schlug den Braunen mit den Zügeln und legte sich ganz auf den Hals des Hengstes. Der galoppierte, so schnell er nur konnte, mit wehender Mähne und flatterndem Schweif dahin. Er hoffte, das Gefühl loszuwerden, daß er vor Ingtars Schrei weglief und vor dem, was er für sie tat. Ingtar, ein Schattenfreund! Es kümmert mich nicht. Er war trotzdem mein Freund. Die Galoppsprünge des Braunen konnten ihm nicht helfen, vor den eigenen Gedanken zu fliehen. Der Tod ist leichter als eine Feder, aber die Pflicht ist schwerer als ein Berg. So viele Pflichten. Egwene. Das Horn. Fain. Mat und sein Dolch. Warum nicht nur eines und dann das nächste? Ich muß mich um alles gleichzeitig kümmern. O Licht, Egwene!

Er riß so plötzlich an den Zügeln, daß der Braune zum Stand schlitterte und beinahe auf den Hinterbacken saß. Sie befanden sich in einem Wäldchen auf der Kuppe eines Hügels, von wo aus sie Falme überblicken konnten. Die anderen galoppierten ebenfalls heran.

»Was hast du damit gemeint?« wollte Perrin wissen. » Wir könnten Verin helfen, das Horn an seinen Bestimmungsort zu bringen? Wo wirst du denn dann sein?«

»Vielleicht wird er bereits verrückt«, meinte Mat. »Wenn er dem Wahnsinn verfällt, will er sicher nicht bei uns bleiben, oder, Rand?«

»Ihr drei bringt Verin das Horn«, sagte Rand. Egwene. So viele Fäden, die in so großer Gefahr sind. So viele Aufgaben. »Ihr braucht mich nicht dazu.«

Mat streichelte den Griff des Dolches. »Alles schön und gut, aber was ist mit dir? Seng mich, aber du kannst doch wohl noch nicht verrückt werden. Das kannst du uns nicht antun!« Hurin starrte sie mit offenem Mund an und verstand nur die Hälfte.

»Ich kehre zurück«, sagte Rand. »Ich hätte Falme nicht verlassen dürfen.« Irgendwie klang das noch nicht ganz richtig; es ergab noch keinen wirklichen Sinn für ihn. »Ich muß zurück. Jetzt gleich.« Das klang besser. »Egwene ist noch dort drinnen, habt ihr das vergessen? Mit einem dieser Halsbänder gefangen gehalten.«

»Bist du sicher?« fragte Mat. »Ich habe sie nicht gesehen. Aaaah! Wenn du sagst, sie ist dort, dann ist sie auch dort. Wir bringen das Horn zu Verin, und dann reiten wir alle zusammen zurück, um ihr zu helfen. Du glaubst doch nicht im Ernst, daß ich sie im Stich lasse.«

Rand schüttelt den Kopf. Fäden, Pflichten. Er hatte das Gefühl, als müsse er gleich wie ein Feuerwerkskörper explodieren. Licht, was geht mit mir vor? »Mat, Verin muß dich und den Dolch nach Tar Valon bringen, damit du endlich von deiner Abhängigkeit befreit wirst. Du kannst keine Zeit mehr verschwenden.«

»Egwene zu retten, ist keine Zeitverschwendung!« Doch Mats Hand verkrampfte sich so um den Dolchgriff, daß sie zitterte.

»Keiner von uns kehrt nach Falme zurück«, sagte Perrin. »Jedenfalls jetzt noch nicht. Seht!« Er deutete in Richtung Falme.

Die Stellplätze der Wagen und die Pferdekoppeln färbten sich schwarz mit Seanchan-Soldaten. Tausende von ihnen marschierten dort auf, Reihe auf Reihe, mit Berittenen auf schuppenbewehrten Kreaturen oder Pferden zur Seite. Farbflecke zeigten an, wo sich Offiziere befanden. Grolme und andere fremdartige Geschöpfe durchsetzten die Reihen, beinahe und doch nicht ganz wie ungeheure Vögel und Eidechsen, und dann noch riesige Kreaturen, die völlig unbeschreiblich waren, mit gerunzelter grauer Haut und riesigen Stoßzähnen. In regelmäßigen Abständen waren Gruppen von Sul'dam und Damane verteilt. Rand fragte sich, ob sich Egwene auch darunter befand. In der Stadt hinter den Truppen explodierte immer noch von Zeit zu Zeit ein Dach, und immer wieder zuckten Blitze über den Himmel. Zwei fliegende Geschöpfe mit ledrigen Schwingen, die bestimmt von Spitze zu Spitze zwanzig Spannen maßen, schwangen sich über allen durch die Luft. Sie hielten sich in vorsichtigem Abstand zu den tanzenden Blitzen.

»Alles wegen uns?« fragte Mat ungläubig. »Wer sind wir denn nach deren Meinung?«

Rand hatte die Antwort darauf, doch er schob sie ganz schnell beiseite, bevor sie ihm zu deutlich vor Augen trat.

»Wir können auch nicht nach der anderen Seite reiten, Lord Rand«, sagte Hurin. »Weißmäntel. Hunderte von ihnen.«

Rand drehte sein Pferd, bis er sah, worauf der Schnüffler deutete. Eine lange, in weiße Umhänge gehüllte Reihe kam wellenförmig über die Hügel auf sie zu.

»Lord Rand«, sagte Hurin leise, »wenn die das Horn von Valere sehen, werden wir es niemals bis zu einer Aes Sedai bringen. Wir werden uns nicht einmal selbst mehr dem Horn nähern können.«

»Vielleicht sammeln sich die Seanchan deshalb«, sagte Mat hoffnungsvoll. »Wegen der Weißmäntel. Vielleicht hat doch alles nichts mit uns zu tun.«

»Ganz gleich, aber auf jeden Fall wird in ein paar Minuten hier eine Schlacht beginnen«, bemerkte Perrin trocken.

»Jede Seite könnte unser Ende bedeuten«, meinte Hurin, »auch wenn sie das Horn nicht entdecken. Wenn sie es aber sehen... «

Rand brachte es nicht fertig, über die Weißmäntel und die Seanchan nachzudenken. Ich muß zurück. Ich muß.

Ihm wurde klar, daß er das Horn von Valere anblickte. Sie alle sahen es an. Das gekrümmte goldene Horn hing an Mats Sattelhorn, und alle Augen waren darauf gerichtet.

»Es muß bei der Letzten Schlacht zugegen sein«, sagte Mat und leckte sich nervös die Lippen. »Nichts spricht dagegen, daß es schon vorher benützt wird.« Er zog das Horn aus seiner Lederschlaufe und sah die anderen bittend an. »Es spricht doch nichts dagegen?«

Keiner sagte etwas. Rand brachte kein Wort heraus. Seine Gedanken waren zu drängend, als daß er hätte sprechen können. Muß zurückreiten. Muß zurückreiten. Je länger er das Horn anblickte, desto drängender wurde die Stimme in seinem Inneren. Muß. Muß. Mats Hände zitterten, als er das Horn von Valere an die Lippen hob.

Es war ein klarer Ton, so golden wie das Horn selbst. Die Bäume um sie herum schienen mitzuvibrieren, genau wie der Boden unter ihnen und der Himmel über ihnen. Dieser eine lange Ton erfaßte einfach alles.

Aus dem Nichts bildete sich Nebel. Zuerst hingen nur feine Nebelfäden in der Luft, dann größere Schwaden und immer größere, bis das Land wie mit Wolken bedeckt war.

Geofram Bornhald versteifte sich im Sattel als ein Ton die Luft erfüllte, so süß, daß er lachen wollte, und so traurig, daß er fast geweint hätte. Er schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. Ein feiner Dunst erhob sich und schwoll vor seinen Augen an.

Die Seanchan. Sie versuchen irgend etwas. Sie wissen, daß wir hier sind. Es war zu früh, die Stadt lag noch zu weit entfernt, aber er zog sein Schwert. Ein Klappern erklang die lange Reihe der Soldaten entlang, als die Schwerter aus den Scheiden fuhren. Er rief: »Die Legion rückt im Trab vor!«

Nun deckte der Nebel alles zu, doch er wußte, daß Falme immer noch vor ihm lag. Die Pferde trabten schneller. Er sah sie zwar nicht, dafür hörte er sie.

Plötzlich bäumte sich der Boden vor ihm donnernd auf und überschüttete ihn mit Erdbrocken und Steinchen. Aus der weißen Blindheit zu seiner Rechten erklang ein weiteres Donnern. Pferde wieherten wild, und Männer schrien. Dann dasselbe zu seiner Linken, dann erneut. Und noch einmal. Donner und Schreie, alles im Nebel verborgen.

»Die Legion greift an!« Sein Pferd sprang unter dem Druck seiner Fersen vorwärts, und er hörte den Aufschrei seiner Legion. Alles, was noch lebte, folgte ihm.

Donner und Schreie, in Weiß gehüllt.

Sein letzter bewußter Gedanke drückte Bedauern aus. Byar würde seinem Sohn Dain nicht berichten können, wie er gestorben war.

Rand erkannte nicht einmal mehr die Bäume auf dem Hügel. Mat hatte das Horn mit ehrfürchtigem Blick abgesetzt, doch Rand hatte den Klang immer noch im Ohr. Der Nebel verbarg alles in wehenden Schwaden, so weiß wie die feinste gebleichte Wolle, aber trotzdem sah Rand. Er sah, doch was er sah, war heller Wahnsinn. Falme schwebte irgendwo unter ihm. Am Stadtrand zum Landinneren zu war alles schwarz von Soldaten der Seanchan. Blitze durchzuckten Falmes Straßen. Falme hing über seinem Kopf. Dort griffen Weißmäntel an und starben, als sich die Erde feuerspeiend unter den Hufen ihrer Pferde auftat. Männer rannten über die Decks großer eckiger Schiffe im Hafen, und auf einem Schiff, das ihm sehr bekannt vorkam, warteten verängstigte Männer. Er erkannte sogar das Gesicht des Kapitäns. Bayle Domon. Er schlug die Hände vor das Gesicht. Die Bäume lagen im Verborgenen, aber die anderen erkannte er trotzdem ganz klar. Hurin: nervös. Mat: in Selbstgespräche vertieft, verängstigt. Perrin, der wirkte, als habe er alles das vorausgesehen. Der Nebel wallte um sie herum.

Hurin keuchte: »Lord Rand!« Er hätte nicht erst mit dem Finger deuten müssen.

Über die Nebelschwaden hinweg, als seien sie der Abhang eines Berges, ritten dunkle Gestalten. Zuerst verbarg der dichte Nebel die Einzelheiten, aber sie kamen langsam näher, und nun war es an Rand, nach Luft zu schnappen. Er erkannte sie. Männer, nicht alle von ihnen gerüstet, und Frauen. Ihre Kleidung und ihre Waffen stammten aus allen Zeitaltern, aber er kannte sie alle.

Rogosch Adlerauge, ein väterlich wirkender Mann mit weißem Haar und so scharfem Blick, daß sein Name noch weit untertrieben schien. Gaidal Cain, ein dunkelhäutiger Mann, über dessen breite Schultern die Griffe zweier Schwerter ragten. Die goldhaarige Birgitte mit ihrem schimmernden Silberbogen und dem Köcher, der vor silbernen Pfeilen überquoll. Weitere. Er kannte ihre Gesichter, kannte ihre Namen. Doch als er einen nach dem anderen anblickte, hörte er hundert Namen bei jedem, einige davon so fremdartig, daß er sie nicht mehr als Namen erkannte. Aber er wußte, wer sie waren. Michael statt Mikel. Patrick statt Paedrig. Oscar statt Otarin.

Er kannte auch den Mann, der an ihrer Spitze ritt: hochgewachsen, mit einer Hakennase, dunklen tiefliegenden Augen und mit dem großen Schwert namens Gerechtigkeit an der Seite: Artur Falkenflügel.

Mat starrte sie mit offenem Mund an, als sie ihre Pferde vor ihm und den anderen anhielten. »Sind das... ? Seid Ihr alle?« Es waren wenig mehr als hundert, wie Rand sah, und es wurde ihm bewußt, daß er auch nicht mehr erwartet hatte. Hurin stand der Mund ebenfalls offen, und die Augen fielen ihm fast aus dem Kopf.

»Es ist mehr als nur Mut nötig, um einen Mann an das Horn zu binden.« Artur Falkenflügels Stimme war tief und hallend, eine Stimme, die es gewohnt war, Befehle zu erteilen.

»Oder eine Frau«, sagte Birgitte in scharfem Ton.

»Oder eine Frau«, stimmte Falkenflügel zu. »Nur wenige sind an das Rad gebunden und werden von ihm immer wieder hinausgewirbelt, um den Willen des Rads im Muster der Zeitalter zu erfüllen. Du könntest es ihm sagen, Lews Therin, könntest du dich nur daran erinnern.« Er blickte Rand an.

Rand schüttelte den Kopf, wollte aber keine Zeit verschwenden: »Es hat eine Invasion stattgefunden von Leuten, die sich Seanchan nennen und die im Kampf gefangene Aes Sedai einsetzen. Sie müssen ins Meer zurückgetrieben werden. Und — da ist noch ein Mädchen. Egwene al'Vere. Eine Novizin aus der Weißen Burg. Sie ist ebenfalls eine Gefangene der Seanchan. Ihr müßt mir helfen, sie zu befreien.«

Zu seiner Überraschung löste das bei einigen in Artur Falkenflügels Truppe Schmunzeln aus, und Birgitte, die an ihrer Bogensehne zupfte, lachte geradeheraus: »Du hast doch immer etwas mit Frauen, die dich in Schwierigkeiten bringen, Lews Therin.« Es klang neckend, so wie zwischen alten Freunden.

»Ich heiße Rand al'Thor«, fauchte er. »Ihr müßt schnell machen. Es bleibt nicht viel Zeit.«

»Zeit?« sagte Birgitte lächelnd. »Wir haben alle Zeit der Welt.« Gaidal Cain ließ die Zügel fallen, lenkte das Pferd durch Schenkeldruck und zog mit jeder Hand ein Schwert. Die kleine Gruppe von Helden entblößte jetzt die Waffen, nahm die Bogen zur Hand und hob Speere und Äxte.

Gerechtigkeit schimmerte wie ein Spiegel in der im Kampfhandschuh steckenden Faust Falkenflügels. »Ich habe in zahllosen Schlachten Seite an Seite mit dir gekämpft, Lews Therin, und ebensooft gegen dich. Das Rad wirft uns zur Erfüllung seines eigenen Zwecks in das Muster hinaus, nicht um uns selbst zu dienen. Ich kenne dich, auch wenn du selbst dich nicht kennen magst. Wir werden diese Invasoren für dich vertreiben.« Sein Streitroß bäumte sich auf, und er sah sich mit gerunzelter Stirn um. »Etwas stimmt hier nicht. Irgend etwas hält mich fest.« Plötzlich traf sein scharfer Blick Rand. »Du bist hier. Ist auch das Banner hier?« Die hinter ihm murmelten zustimmend.

»Ja.« Rand riß die Schnallen an seinen Satteltaschen auf und zog die Drachenflagge hervor. Sie füllte seine Hände und hing beinahe bis zu den Knien seines Hengstes hinunter. Das Gemurmel unter den Helden wurde lauter.

»Das Muster webt sich um unsere Hälse wie eine Schlinge«, sagte Artur Falkenflügel. »Du bist hier. Das Banner ist hier. Das Muster dieses Augenblicks ist fertiggestellt. Wir sind dem Ruf des Horns gefolgt, aber es ist das Banner, dem wir folgen müssen. Und der Drache.« Hurin stieß einen erstickten Laut aus.

»Seng mich«, hauchte Mat. »Es ist also wahr. Seng mich!«

Perrin zögerte nur einen Moment, bevor er sich von seinem Pferd schwang und in den Nebel hineinschritt. Bald hörte man ein Hacken, und als er zurückkehrte, trug er einen frisch geschnittenen dünnen Baumstamm in der Hand, den er von kleinen Ästen befreit hatte. »Gib sie mir, Rand«, sagte er ernst. »Wenn sie sie brauchen... Gib sie mir.«

Schnell half ihm Rand, die Flagge an den Stab zu binden. Als Perrin sie in der Hand hielt und wieder aufs Pferd stieg, flatterte das Tuch der ganzen Länge nach im Wind. Es wirkte, als bewege sich der schlangenähnliche Drache, als lebe er. Der Wind berührte den Nebel überhaupt nicht, nur die Flagge.

»Du bleibst hier«, sagte Rand zu Hurin. »Wenn es vorbei ist... Hier bist du in Sicherheit.«

Hurin zog sein Kurzschwert und hielt es so, als könne er damit vom Pferderücken aus kämpfen. »Verzeiht mir, Lord Rand, aber lieber nicht. Ich verstehe nicht den zehnten Teil dessen, was ich gehört habe... oder dessen, was ich vor mir sehe« Er wurde ganz leise und schüchtern, erhob aber dann doch wieder die Stimme. »Aber ich bin soweit gekommen, und nun will ich auch den ganzen Weg gehen.«

Artur Falkenflügel schlug dem Schnüffler auf die Schulter. »Manchmal bringt uns das Rad neue Kameraden, mein Freund. Vielleicht bist du wirklich eines Tages einer von uns.« Hurin saß stolz im Sattel, als hätte man ihm eine Krone angeboten. Falkenflügel verbeugte sich förmlich im Sattel vor Rand. »Mit Eurer Genehmigung... Lord Rand. Bläser, spielst du uns auf dem Horn auf? Es paßt doch, sich vom Horn von Valere in die Schlacht singen zu lassen. Bannerträger, gebt Ihr den Schritt vor?«

Mat stieß wieder in das Horn. Es gab einen langen und hohen Ton von sich, der den Nebel vibrieren ließ. Perrin spornte sein Pferd an und ritt neben Mat dahin. Rand zog sein Reiherschwert und drängte sich zwischen seine beiden Freunde.

Er sah nichts außer dicken weißen Schwaden, und trotzdem nahm er gleichzeitig alles wahr, das er zuvor gesehen hatte. Falme, wo jemand auf der Straße gerade die Macht gebrauchte, und den Hafen, das Heer der Seanchan, die sterbenden Weißmäntel, alles unter ihm, alles über ihm, alles so, wie es gewesen war. Es schien ihm, daß überhaupt keine Zeit vergangen, seit das Horn ertönt war, als hätte die Zeit stillgestanden, während die Helden dem Ruf Folge leisteten. Jetzt aber begann die Zeit wieder zu laufen.

Die wilden Aufschreie, die Mat nun dem Horn entlockte, fanden im Nebel ein Echo, und das Trommeln der Hufe wurde schneller. Rand galoppierte in den Nebel hinein und fragte sich, wohin er wohl ritt. Die Wolken verdichteten sich und verbargen die Reihe von Helden, die zu beiden Seiten galoppierten, vor seinen Blicken. Immer mehr wurde vor ihm verborgen, bis er nur noch Mat, Perrin und Hurin klar erkannte. Hurin duckte sich im Sattel und trieb mit weit aufgerissenen Augen sein Pferd an. Mat stieß ins Horn und lachte zwischendurch. Perrins gelbe Augen glühten, und das Banner des Drachen flatterte hinter ihm her. Dann waren auch sie verschwunden, und Rand ritt, wie es schien, allein weiter.

Auf gewisse Weise nahm er sie ja immer noch wahr, aber nur auf die gleiche Weise, wie er auch Falme und die Seanchan wahrnahm. Er wußte nicht, wo sie sich befanden oder wo er war. Er packte sein Schwert fester und spähte in die Nebelschwaden hinaus. Ganz allein ritt er durch den Nebel und wußte, daß es so vorbestimmt war.

Plötzlich stand Ba'alzamon vor ihm im Nebel und breitete die Arme aus.

Der Braune bäumte sich wild auf und warf Rand aus dem Sattel. Rand klammerte sich beim Sturz verzweifelt an sein Schwert. Es folgte aber keine harte Landung. Er staunte nicht schlecht, denn er landete — auf nichts. Im einen Augenblick flog er durch den Nebel und im nächsten nicht mehr. Das war alles.

Als er wieder auf den Beinen stand, war sein Pferd weg, aber Ba'alzamon war noch da. Er schritt mit einem langen schwarzangekohlten Stab in der Hand auf ihn zu. Sie waren allein miteinander und dem wallenden Nebel. Hinter Ba'alzamon lag nur Schatten. Der Nebel hinter ihm war nicht dunkel. Nein, diese Schwärze schloß den weißen Nebel vollkommen aus.

Rand nahm auch noch andere Dinge wahr: Artur Falkenflügel und die anderen Helden trafen im dichten Nebel auf die Seanchan. Perrin mit dem Banner in der Hand handhabte seine Axt, um Angreifer zurückzuschlagen, die ihn zu erreichen suchten. Mat blies immer noch eine wilde Musik auf dem Horn von Valere. Hurin kämpfte am Soden mit Kurzschwert und Schwertbrecher, wie er es gewohnt war. Es schien, als würden sie in einer einzigen Welle von den Seanchan überrannt, doch es waren die Seanchan in ihren schwarzen Rüstungen, die zurückwichen.

Rand trat vor, um sich Ba'alzamon zu stellen. Zögernd bildete er das Nichts um sich herum, griff nach der Wahren Quelle und ließ sich von der Einen Macht erfüllen. Es gab keinen anderen Weg. Vielleicht hatte er keine Aussicht auf Sieg gegen den Dunklen König, es sei denn mit Hilfe der Einen Macht. Sie durchdrang seine Glieder und schien alles in sich aufzunehmen, sogar seine Kleider und sein Schwert. Er fühlte sich wie eine glühende Sonne. Er genoß es, und gleichzeitig hätte er sich am liebsten übergeben.

»Geh mir aus dem Weg!« rief er. »Ich bin nicht deinetwegen hier!«

»Das Mädchen?« Ba'alzamon lachte. Sein Mund wandelte sich zu einem Feuerofen. Seine Verbrennungen waren beinahe verheilt und hatten nur ein paar rötliche Narben zurückgelassen, die auch schon verblaßten. Er wirkte wie ein gutaussehender Mann von mittleren Jahren. Abgesehen natürlich von seinem Mund und seinen Augen. »Welche davon, Lews Therin? Diesmal kann dir niemand helfen. Du gehörst mir, oder du bist tot. In diesem Fall gehörst du mir sowieso.«

»Lügner!« fauchte Rand. Er schlug nach Ba'alzamon, doch an dem Stab aus angekohltem Holz rief sein Schwert lediglich einen Funkenschauer hervor. »Vater der Lügen!«

»Narr! Haben dir die anderen, die du heraufbeschworen hast, nicht gesagt, wer du wirklich bist?« Die Feuer in Ba'alzamons Gesicht brüllten auf vor Lachen.

Selbst im Nichts, in dem er schwebte, lief es Rand kalt den Rücken hinunter. Hatten sie gelogen? Ich will nicht der Wiedergeborene Drache sein! Er griff sein Schwert noch fester. Die Seide zur Seite schieben, doch Ba'alzamon schlug sein Schwert jedesmal weg. Funken flogen wie in der Werkstatt eines Schmieds. »Ich habe in Falme zu tun und nicht mit dir. Mit dir niemals«, sagte Rand. Ich muß seine Aufmerksamkeit auf mich lenken, bis sie Egwene befreien. Auf diese eigenartige Weise nahm er wahr, wie die Schlacht nun um die nebelverhüllten Stellplätze der Wagen und die Koppeln herum tobte.

»Du bemitleidenswerter Krüppel. Du hast das Horn von Valere benützt. Jetzt bist du daran gebunden. Glaubst du, daß diese Würmer von der Weißen Burg dich jemals wieder freilassen werden? Sie werden dir Ketten um den Hals legen, die so schwer sind, daß du sie niemals sprengen kannst.«

Rand war so überrascht, daß er dieses Gefühl sogar im Nichts noch empfand. Er weiß nicht alles! Er weiß es nicht! Er war sicher, daß sich die Freude darüber auf seinem Gesicht zeigte. Um sie zu verbergen, griff er Ba'alzamon erneut an. Die Hummel küßt eine Rose. Mond auf den Wassern. Der Flug der Schwalbe. Blitze zuckten zwischen Schwert und Stab auf. Aufsprühende Funken stoben in den Nebel. Ba'alzamon wich zurück. Seine Augen glühten wie tosende Hochöfen.

Am Rand seines Bewußtseins nahm Rand wahr, wie sich die Seanchan in Falme weiter zurückzogen und verzweifelt ums Überleben kämpften. Damane zerfetzten die Erde mit Hilfe der Einen Macht, doch das half nicht gegen Artur Falkenflügel und die anderen Helden des Horns.

»Willst du für immer ein Wurm unter einem Felsbrocken bleiben?« knurrte Ba'alzamon. Die Dunkelheit hinter ihm brodelte und kochte. »Während wir noch hier stehen, tötest du dich selbst. Die Macht wütet in deinem Inneren. Sie verbrennt dich. Sie tötet dich. Nur ich allein auf der Welt kann dir beibringen, wie man sie beherrscht. Dien mir und bleib am Leben. Dien mir oder stirb!«

»Niemals!« Ich muß ihn lang genug aufhalten. Beeil dich, Falkenflügel! Mach schnell! Er warf sich erneut auf Ba'alzamon. Die Schwalbe fliegt auf. Blatt im Wind. Diesmal war er es, der zurückgetrieben wurde. Verschwommen nahm er wahr, daß die Seanchan einen Gegenangriff begannen und wieder bis zu den Ställen vorstießen. Er verdoppelte seine Anstrengungen. Der

Eisvogel fängt eine Forelle. Die Seanchan wichen vor einem Angriff zurück. Artur Falkenflügel und Perrin ritten Seite an Seite in der Vorhut. Stroh zusammenbinden. Ba'alzamon fing seinen Schlag in einem Springbrunnen roter Glühwürmchen ab und er mußte zurückspringen, damit ihm der Stab nicht den Schädel spaltete. Der Luftzug strich ihm über das Haar. Die Seanchan rückten vor. Funken schlagen. Funken sprühten wie Hagelkörner, Ba'alzamon sprang vor seinem Schlag weg, und die Seanchan wurden in der Bereich der Pflasterstraßen zurückgetrieben.

Rand hätte am liebsten laut aufgeheult. Plötzlich war ihm klar, daß zwischen den beiden Kämpfen eine Verbindung bestand. Wenn er angriff, dann trieben die vom Horn herbeigerufenen Helden die Seanchan zurück. Wich er aber zurück, dann erhoben sich die Seanchan wieder.

»Sie werden dich nicht retten«, sagte Ba'alzamon. »Diejenigen, die dich vielleicht retten könnten, werden weit über das Aryth-Meer gebracht. Falls du sie jemals wiedersiehst, sind sie Sklavinnen an der Leine und werden dich im Namen ihrer neuen Herren vernichten.«

Egwene. Ich kann nicht zulassen, daß man ihr so etwas antut. Ba'alzamons Stimme drang durch seine Gedanken. »Es gibt für dich nur eine Rettung, Rand al'Thor. Lews Therin Brudermörder. Ich bin deine Rettung. Diene mir, und ich schenke dir die Welt. Widerstehe, und ich werde dich vernichten wie so viele Male zuvor. Doch diesmal werde ich dich bis auf den Grund deiner Seele vernichten, ganz und gar und auf ewig!«

Ich habe wieder gewonnen, Lews Therin. Der Gedanke trieb an der Blase des Nichts vorbei, aber es war schwer, ihn nicht zu beachten, nicht an alle die anderen Leben zu denken, nachdem er ihn gehört hatte. Er hob sein Schwert, und Ba'alzamon hielt seinen Stab bereit.

Zum erstenmal wurde Rand klar, daß sich Ba'alzamon so verhielt, als könne ihn das Reiherschwert wirklich verletzen. Stahl kann doch dem Dunklen König nicht schaden. Doch Ba'alzamon beobachtete vorsichtig jede Bewegung des Schwerts. Rand war eins mit dem Schwert. Er spürte jedes Metallteilchen, aus dem es zusammengesetzt war, winzige Teilchen, die tausendmal zu klein waren, um für das Auge sichtbar zu sein. Und er fühlte, wie die ihn durchdringende Macht auch in das Schwert eindrang und das komplizierte Muster in sich aufnahm, das die Aes Sedai während der Trolloc-Kriege geschaffen hatten.

Dann hörte er eine andere Stimme — die Stimme Lans. Es wird eine Zeit kommen, da willst du etwas, das dir wichtiger ist als dein Leben. Ingtars Stimme. Es ist das Recht jedes Mannes zu wählen, wann er durch das Schwert sterben will. Ein Bild von Egwene formte sich in seinen Gedanken, mit einem Halsband, als Damane ihr Leben fristend. Fäden meines Lebens sind in Gefahr. Egwene. Bevor es ihm bewußt wurde, hatte er bereits die Grundstellung für Der Reiher watet durchs Schilf eingenommen, stand nur auf einem Fuß, das Schwert hoch erhoben, offen und ohne Abwehrmöglichkeit. Der Tod ist leichter als eine Feder, die Pflicht schwerer als ein Berg. Ba'alzamon sah ihn groß an. »Warum grinst du wie ein Tor, du Narr? Weißt du nicht, daß ich dich gänzlich vernichten kann?«

Rand war ruhig, und diese Ruhe kam nicht aus dem Nichts. »Ich werde dir niemals dienen, Vater der Lügen. In tausend Leben habe ich dir nicht gedient. Das weiß ich. Da bin ich sicher. Komm! Es ist Zeit zu sterben.«

Ba'alzamons Augen wurden groß. Einen Moment lang waren sie Öfen, die Rand den Schweiß ins Gesicht trieben. Die Schwärze hinter Ba'alzamon wallte auf und um ihn herum, und sein Gesicht verhärtete sich. »Dann stirb, Wurm!« Er stieß mit dem Stab wie mit einem Speer zu.

Rand schrie auf, als er spürte, wie er ihm die Seite durchbohrte und es brannte wie ein weißglühendes Brenneisen. Das Nichts erzitterte, aber mit letzter Kraft erhielt er es und stieß das Reiherschwert tief in Ba'alzamons Herz. Ba'alzamon schrie, und die Dunkelheit hinter ihm schrie. Die Welt explodierte in einem Feuerschlag.

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