2 Der Empfang

In den Räumen der Festung von Fal Dara, deren glatte Steinwände sparsam mit Tapeten von schlichter Eleganz und bemalten Wandbehängen geschmückt waren, überschlug sich der Klatsch über die unmittelbar bevorstehende Ankunft der Amyrlin. Diener in Schwarz und Gold eilten geschäftig umher, um die Zimmer vorzubereiten oder der Küche Aufträge zu bringen, und jammerten darüber, daß sie unmöglich alles für eine solch große Anzahl von Personen vorbereiten konnten, wo sie doch gar keine Vorwarnung gehabt hatten. Krieger mit dunklen Augen, deren Köpfe bis auf einen von einem Lederband zusammengehaltenen Haarknoten obenauf kahlgeschoren waren, rannten wohl nicht, aber ihre Schritte waren hastig, und ihre Gesichter zeugten von einer Erregung, die normalerweise dem Kampf vorbehalten war.

Einige der Männer sprachen Rand an, als er an ihnen vorbeieilte.

»Ach, da bist du ja, Rand al'Thor. Der Friede sei deinem Schwert gnädig. Gehst du nach oben, um dich zurechtzumachen? Du wirst schließlich gut aussehen wollen, wenn du der Amyrlin vorgestellt wirst. Sie wird dich genau wie deine beiden Freunde und die Frauen sehen wollen, darauf kannst du wetten.«

Er trabte auf die breite Treppe zu — breit genug für zwanzig Männer nebeneinander —, die zu den Wohnquartieren der Männer führte.

»Die Amyrlin selbst, und das ohne jede Vorwarnung, wie ein Hausierer. Das geschieht bestimmt euretwegen, wegen Moiraine und euch Südländern, was? Warum denn auch sonst?«

Die breite, eisenbeschlagene Tür zu den Männerquartieren stand offen und war halb verstopft mit Männern, die sich über die Ankunft der Amyrlin unterhielten. Ihre Haarknoten nickten beim Sprechen.

»He, Südländer! Die Amyrlin ist hier. Ist wegen dir und deinen Freunden gekommen, schätze ich. Friede, welche Ehre für euch! Sie verläßt Tar Valon nur selten, und sie ist noch nie, seit ich mich erinnern kann, in die Grenzlande gekommen.«

Er hielt sich die anderen mit ein paar Ausflüchten vom Leibe. Er müsse sich waschen. Ein sauberes Hemd anziehen. Keine Zeit, sich zu unterhalten. Sie glaubten zu verstehen und ließen ihn ziehen. Kein einziger von ihnen wußte irgend etwas, außer, daß er und seine Freunde in der Gesellschaft einer Aes Sedai unterwegs waren, daß zwei seiner Gruppe Frauen waren, die nach Tar Valon gehen wollten, um sich zur Aes Sedai ausbilden zu lassen, aber ihre Worte trafen ihn, als wüßten sie über alles Bescheid. Sie ist meinetwegen gekommen.

Er hetzte durch die Wohnquartiere der Männer, schoß in den Raum, den er mit Mat und Perrin teilte... und erstarrte mit offenem Mund. Der Raum war angefüllt mit Frauen in Schwarz und Gold, die alle zielbewußt arbeiteten. Es war kein großes Zimmer, und die Fenster, ein paar hohe, enge Schießscharten, aus denen man auf einen der Innenhöfe blicken konnte, taten nichts dazu, es größer erscheinen zu lassen. Die Einrichtung ließ es noch enger werden: drei Betten auf schwarzweiß gekachelten Podesten, an jedem Fußende eine Truhe, dazu drei einfache Stühle, ein Waschgestell neben der Tür und ein hoher und breiter Kleiderschrank. Die acht Frauen, die sich jetzt in dem Raum befanden, wirkten wie Fische im Netz.

Die Frauen schauten ihn kaum an und ließen sich nicht darin stören, seine Kleider — und auch die Mats und Perrins — aus dem Schrank zu holen und durch neue zu ersetzen. Alles, was sie in den Taschen fanden, legten sie auf die Truhen, während sie die alten Kleider achtlos wie Lumpen zu Bündeln verschnürten.

»Was macht ihr da?« wollte er atemlos wissen. »Das sind meine Kleider!« Eine der Frauen schnaubte und steckte einen Finger durch einen Riß im Ärmel seines einzigen Mantels. Dann legte sie ihn auf den Stoß am Fußboden.

Eine andere, schwarzhaarige Frau mit einem großen Schlüsselring an der Hüfte sah ihn an. Das war Elansu, die Shatayan der Festung. Er betrachtete die Frau mit dem schmalen Gesicht als eine Art Haushälterin, obwohl das Haus, in dem sie für Ordnung sorgte, eine Festung war und sie zahllose Diener hatte, die ihre Aufträge ausführen mußten. »Moiraine Sedai sagte, alle Eure Kleider seien abgetragen, und Lady Amalisa ließ für Euch neue anfertigen. Steht uns nicht im Weg herum«, fügte sie entschlossen hinzu, »dann sind wir um so schneller fertig.« Es gab nur wenige Männer, die diese Shatayan nicht dazu bringen konnte, zu tun, was sie verlangte —manche behaupteten, sogar Lord Agelmar gehorche ihr —, und es war ganz klar, daß sie von einem Mann, der jung genug war, um ihr Sohn zu sein, keine Schwierigkeiten erwartete.

Er schluckte hinunter, was er eigentlich gern gesagt hätte. Es war einfach keine Zeit zum Herumstreiten. Die Amyrlin konnte jede Minute nach ihm rufen lassen. »Ehre sei der Lady Amalisa für ihr Geschenk«, brachte er in schienarischer Höflichkeit heraus, »und Ehre Euch, Elansu Shatayan. Bitte gebt meine Worte an die Lady Amalisa weiter und sagt ihr, ich sei mit Herz und Seele ihr Diener.« Das sollte die schienarische Liebe zum Zeremoniell bei beiden Frauen zufriedenstellen. »Aber nun entschuldigt mich, ich will mich umziehen.«

»Das ist gut«, meinte Elansu gemütlich. »Moiraine Sedai hat mir aufgetragen, alle alten Sachen mitzunehmen. Jeden Fetzen. Auch die Unterwäsche.« Einige der Frauen beäugten ihn von der Seite her. Keine von ihnen machte Anstalten zu gehen.

Er biß sich auf die Unterlippe, um nicht hysterisch zu lachen. Vieles in Schienar war anders, als er es gewohnt war, und es gab einige Sitten, an die er sich nie gewöhnen würde, und wenn er ewig lebte. Er hatte sich angewöhnt, in den ganz frühen Morgenstunden zu baden, wenn die großen, gekachelten Badebecken leer waren, nachdem er gemerkt hatte, daß es zu jeder anderen Tageszeit geschehen konnte, daß eine Frau zu ihm ins Wasser stieg. Es konnte eine Magd sein oder auch Lady Amalisa selbst, Lord Agelmars Schwester — die Bäder waren ein Ort in Schienar, an dem es keine Klassenunterschiede gab —, die erwartete, daß er ihr den Rücken schrubbte, nachdem sie ihm den gleichen Gefallen erwiesen hatte, und die ihn fragte, warum er so rot im Gesicht sei, ob er ein zu langes Sonnenbad genommen habe. Sie hatten bald mitbekommen, warum er errötete, und es gab kaum eine Frau in der Festung, die davon nicht fasziniert gewesen wäre.

Ich bin vielleicht in einer Stunde tot oder noch schlimmer, und die warten darauf, daß ich rot werde! Er räusperte sich. »Wenn Ihr draußen warten würdet, reiche ich Euch den Rest hinaus. Auf meine Ehre.«

Eine der Frauen schnaubte leise, und selbst Elansus Lippen verzogen sich, aber die Shatayan nickte und sagte den anderen Frauen, sie sollten die Bündel mitnehmen, die sie verknotet hatten. Sie verließ den Raum als letzte und blieb noch einmal in der Tür stehen, um hinzuzufügen: »Auch die Stiefel. Moiraine Sedai sagte — alles.«

Er öffnete den Mund, schloß ihn aber gleich wieder. Wenigstens seine Stiefel waren noch in gutem Zustand. Alwyn al'Van hatte sie gemacht, der Schuster zu Hause in Emondsfeld, und sie waren gut eingelaufen und bequem. Aber wenn es die Shatayan dazu brachte, ihn allein zu lassen, so daß er fliehen konnte, würde er ihr eben seine Stiefel geben und alles, was sie noch wollte. Er hatte keine Zeit. »Ja. Ja, natürlich. Auf meine Ehre.« Er schob die Tür gegen ihren Widerstand zu.

Endlich allein, ließ er sich auf das Bett fallen und zog seine Stiefel aus. Sie waren noch gut, ein bißchen abgenützt, das Leder hatte hier und da einen kleinen Riß, aber immer noch gut zu tragen und gut eingelaufen, gerade richtig für seine Füße. Dann zog er sich schnell aus, legte alles auf seine Stiefel und wusch sich genauso schnell am Waschbecken. Das Wasser war kalt — in den Wohnquartieren der Männer war das Wasser immer kalt.

Der Kleiderschrank war dreitürig. Die Holztüren waren auf die einfache, in Schienar übliche Art geschnitzt, so daß sie eine Reihe von Wasserfällen und felsgerahmten Teichen mehr andeuteten als zeigten. Er zog die mittlere Tür auf und bestaunte kurz das, was die wenigen mitgebrachten Kleidungsstücke ersetzt hatte. Ein Dutzend Mäntel mit hohem Kragen aus feinster Wolle und von so gutem Schnitt, wie er ihn bei keinem Händler oder Lord besser gesehen hatte, die meisten davon wie Festtagsgewänder bestickt. Ein Dutzend! Drei Hemden für jeden Mantel, sowohl aus Leinen als auch aus Seide, mit weiten Ärmeln und engen Manschetten. Zwei Umhänge. Zwei, und er hatte sein ganzes Leben lang nur einen einzigen besessen. Ein Umhang war einfach — feste Wolle und dunkelgrün —, während der andere von einem tiefen Blau war mit einem steifen Kragen, der mit goldenen Reihern bestickt war... und oben an der linken Brustseite, wo ein Lord sein Wappen tragen würde...

Seine Hand glitt ganz von allein über den Stoff des Umhangs. Als seien sie unsicher in bezug auf das, was sie fühlen würden, streiften seine Finger über die gestickte Schlange, die beinahe zu einem Kreis zusammengerollt war. Aber es war eine Schlange mit vier Beinen und der goldenen Mähne eines Löwen, mit roten und goldenen Schuppen, und an jedem Fuß wuchsen fünf goldene Klauen. Seine Hand zuckte wie verbrannt zurück. Licht, hilf mir! Hat Amalisa das machen lassen oder Moiraine? Wie viele haben das gesehen? Wie viele wissen, was das ist und was es bedeutet? Selbst einer ist schon einer zuviel. Licht noch mal, sie bemüht sich redlich darum, daß mich jemand umbringt. Die verfluchte Moiraine spricht nicht mal mit mir, aber dafür hat sie mir verdammt schöne neue Kleider gegeben, um darin zu sterben!

Ein Klopfen an die Tür ließ ihn vor Schreck fast aus der Haut fahren.

»Seid Ihr fertig?« erklang Elansus Stimme. »Restlos alles! Vielleicht sollte ich lieber...« Ein Quietschen, als drehe sie den Türknopf.

Auffahrend wurde Rand klar, daß er noch immer nackt war. »Ich bin fertig«, rief er. »Friede! Kommt nicht herein!« Hastig sammelte er alles auf, was er getragen hatte; auch die Stiefel. »Ich bringe es schon!« Er versteckte sich hinter der Tür und öffnete sie gerade weit genug, um das Bündel hinzuhalten und in die Arme der Shatayan zu legen. »Das ist alles.«

Sie versuchte, durch den Türspalt zu spähen. »Seid Ihr sicher? Moiraine Sedai hat gesagt: wirklich alles. Vielleicht sollte ich schnell mal nachsehen... «

»Es ist alles«, knurrte er. »Auf meine Ehre!« Er schob ihr mit der Schulter die Tür vor der Nase zu und hörte Gelächter von der anderen Seite.

Er fluchte leise vor sich hin und zog sich hastig an. Er traute ihnen zu, daß sie irgendeine Ausrede fänden, um trotzdem hereinzuplatzen. Die grauen Hosen waren enger, als er es gewohnt war, aber sie saßen bequem, und das Hemd mit den Puffärmeln war weiß genug, um jede Emondsfelder Hausfrau am Waschtag zufriedenzustellen. Die kniehohen Stiefel paßten, als habe er sie schon ein Jahr lang getragen. Er hoffte, das sei lediglich auf die Qualität des Schusters zurückzuführen und nicht wieder ein Werk der Aes Sedai.

All diese Kleidungsstücke zusammen würden einen Stapel ergeben, so hoch, wie er groß war. Inzwischen hatte er sich an den Luxus sauberer Hemden gewöhnt; nicht dieselben Hosen Tag um Tag tragen zu müssen, bis sie von Schweiß und Schmutz so steif wurden wie seine Stiefel, und sie selbst dann noch weiterzutragen... Er nahm seine Satteltaschen aus der Truhe und steckte hinein, was nur hineinpaßte. Dann breitete er zögernd den bestickten Umhang auf dem Bett aus und legte noch ein paar Hemden und Hosen darauf. Er legte ihn mit dem gefährlichen Wappen nach innen zusammen und verschnürte das Bündel so, daß er es an einer Schlaufe über der Schulter tragen konnte. Nun sah es nicht viel anders aus als die Bündel, die er oft schon an den Schultern anderer junger Männer auf der Straße gesehen hatte.

Trompetengeschmetter drang durch die Schießscharten. Fanfarenklänge außerhalb der Mauern wurden durch Trompeten von den Türmen der Festung herunter beantwortet.

»Ich werde die Stickerei bei erster Gelegenheit herauszupfen«, murmelte er. Er hatte gesehen, wie Frauen Stickerei wieder entfernt hatten, wenn sie einen Fehler gemacht hatten oder das Muster ändern wollten, und es hatte nicht sehr schwierig ausgesehen.

Den Rest der Kleidung — das meiste davon also — stopfte er in den Schrank zurück. Er mußte ja nicht gleich dem ersten, der den Kopf nachher zur Tür hereinsteckte, zeigen, daß er geflohen war.

Mit gerunzelter Stirn kniete er sich neben sein Bett. Die gekachelten Podeste, auf denen die Betten standen, waren Öfen. Ein kleines, eingedämmtes Feuer, das die ganze Nacht über brannte, konnte das Bett auch im schlimmsten Winter Schienars warm halten. Die Nächte waren immer noch kälter als das, woran er um diese Jahreszeit gewöhnt war. Aber Decken reichten schon, um sich warm zu halten. Er zog die kleine Ofentür auf und nahm ein Bündel heraus, das er niemals zurückgelassen hätte. Er war froh darüber, daß Elansu nicht daran gedacht hatte, hier könne jemand Kleider aufbewahren.

Er legte das Bündel auf die Decken, band ein Ende auf und entfaltete es ein wenig. Der Umhang eines Gauklers, mit der Innenseite nach außen gefaltet, damit die zahllosen Flicken verdeckt waren, die ihn bedeckten, Flicken in jeder Farbe und Größe, die man sich vorstellen konnte. Der Umhang selbst war in gutem Zustand — die Flicken waren einfach das Abzeichen eines Gauklers. Waren das Abzeichen eines Gauklers gewesen.

Drinnen lagen zwei feste Lederbehälter. Im größeren steckte eine Harfe, die er niemals anrührte. Die Harfe ist nicht für die ungeschickten Finger eines Bauern gemacht, Junge. Der andere, lange und schmale Behälter enthielt die mit Gold und Silber verzierte Flöte, die er benützt hatte, um sich mehr als einmal, seit sie von zu Hause weg waren, sein Essen und eine Unterkunft zu verdienen. Thom Merrilin hatte ihm beigebracht, auf dieser Flöte zu spielen, bevor der Gaukler starb. Rand konnte sie nicht berühren, ohne an Thom zu denken — mit seinen scharfen, blauen Augen und seinem langen, weißen Schnurrbart —, wie er ihm den zusammengerollten Umhang in die Hände gelegt und geschrien hatte, er solle weglaufen. Und dann war auch Thom selbst gerannt. Messer tauchten wie durch Zauberei in seinen Händen auf, als gebe er eine Vorstellung, aber er mußte dem Myrddraal gegenübertreten, der gekommen war, sie zu töten.

Schaudernd packte er das Bündel wieder zusammen. »Das ist nun alles vorbei.« Er dachte an den Wind auf der Turmspitze und fügte hinzu: »Seltsame Dinge geschehen so nahe an der Fäule.« Er war nicht sicher, ob er selbst daran glaubte, jedenfalls nicht so, wie Lan es gemeint hatte. Auf jeden Fall war es höchste Zeit für ihn, gleich ob nun die Amyrlin hier war oder nicht, Fal Dara zu verlassen.

Er schlüpfte in den Mantel, den er draußen gelassen hatte. Er war von einem tiefen, dunklen Grün, das ihn an die Wälder zu Hause erinnerte, an Tams Hof im Westwald, auf dem er aufgewachsen war, und an den Wasserwald, wo er Schwimmen gelernt hatte. Er schnallte sich das Reiherschwert um die Hüfte und hängte den mit Pfeilen prall gefüllten Köcher auf die andere Seite. Sein im Moment nicht bespannter Bogen stand zusammen mit denen Mats und Perrins in der Ecke. Der Bogen überragte ihn um zwei Handbreiten. Er hatte ihn selbst gebaut, nachdem sie sich in Fal Dara eingerichtet hatten, und außer ihm selbst konnten ihn nur Lan und Perrin spannen. Er steckte seine Deckenrolle und den neuen Umhang durch die Schlaufen an seinen Bündeln, schlang sich alles über die linke Schulter, warf seine Satteltaschen obenauf und ergriff den Bogen. Laß den Schwertarm frei, dachte er. Laß sie denken, ich sei gefährlich. Vielleicht glaubt irgend jemand wirklich daran.

Er öffnete die Tür einen Spaltbreit und sah, daß der Flur beinahe leer war. Nur ein livrierter Diener huschte vorbei, aber er warf Rand nicht einmal einen Blick zu. Sobald die schnellen Schritte des Mannes nicht mehr hörbar waren, schlüpfte Rand schnell hinaus in den Korridor.

Er bemühte sich, natürlich zu gehen, aber mit den Satteltaschen auf der Schulter und den Bündeln auf dem Rücken war ihm schon bewußt, daß er aussah wie ein Mann, der zu einer Reise aufbricht und nicht vorhat, zurückzukommen. Die Trompeten erklangen wieder. Hier, innerhalb der Festung, klangen sie schwächer.

Er hatte ein Pferd, einen großen braunen Hengst, im nördlichen Stall, den man den Stall des Lords nannte und der sich in der Nähe des Ausfalltores befand, das Lord Agelmar benützte, wenn er ausritt. Allerdings würde heute weder der Herr von Fal Dara noch eines seiner Familienmitglieder ausreiten, und der Stall müßte bis auf die Stallburschen leer sein. Es gab zwei Wege, auf denen man von Rands Zimmer aus den Stall des Lords erreichen konnte. Einer führte ganz außen um die Festung herum, hinter Lord Agelmars privatem Garten durch, an der Rückseite der Festung entlang und durch die Hufschmiedewerkstatt, die jetzt wohl auch leer stand, zum Stallhof. Auf diesem Weg wäre genug Zeit, um Befehle auszugeben und eine Suche zu beginnen, bevor er bei seinem Pferd war. Der andere Weg war viel kürzer: erst über den äußeren Hof, wo gerade jetzt die Amyrlin mit einem Dutzend oder mehr Aes Sedai eintreffen würde.

Bei dem Gedanken daran bekam er eine Gänsehaut; er hatte von den Aes Sedai mehr als die Nase voll — es reichte ihm fürs ganze Leben. Eine war schon zuviel. All die Geschichten sagten das aus, und er wußte, daß sie recht hatten. Er war nicht weiter überrascht, als ihn seine Beine in Richtung des äußeren Hofs trugen. Er würde das legendäre Tar Valon niemals sehen — das konnte er weder jetzt noch später riskieren —, aber er könnte ja einen Blick auf die Amyrlin erspähen, bevor er ging. Das war ja genauso, als ob er eine Königin sähe. Es kann ja nicht gefährlich sein, wenn ich nur aus der Entfernung hingucke. Ich werde dabei weitergehen und weg sein, bevor sie jemals erfährt, daß ich da war.

Er öffnete eine schwere, eisenbeschlagene Tür zum äußeren Hof und trat in eine schweigende Welt. Auf den Wehrgängen der Mauern standen die Menschen dicht gedrängt: Soldaten mit Haarknoten und livrierte Diener und Arbeiter in ihrer verschmutzten Arbeitskleidung. Alle drückten sich eng aneinander. Kinder saßen auf den Schultern und spähten über die Köpfe ihrer Eltern weg oder quetschten sich durch die Menge und lugten hinter Hüften und Knien hervor. Jede Schützenplattform war vollgepackt wie ein Faß Äpfel, und selbst in den engen Schießscharten der Mauer zeigten sich Gesichter. Wie eine weitere Mauer stand eine dichte Menschenmenge am Rand des Hofs aufgereiht. Und alle beobachteten und warteten schweigend.

Er drückte sich an der Mauer entlang, gerade vor den Ständen der Schmiede und der Pfeilmacher, die um den Hof herum aufgebaut waren. Fal Dara war eine Festung und kein Palast, trotz der Größe und der düsteren Pracht, und alles um die Festung herum war zweckgebunden. Rand entschuldigte sich leise bei den Leuten, die er anrempelte. Ein paar musterten ihn finster und warfen einen Blick auf seine Satteltaschen und die Bündel, aber keiner brach das Schweigen. Die meisten kümmerten sich noch nicht einmal darum, wer sie angerempelt hatte.

Er konnte mühelos über die Köpfe der meisten hinwegblicken. Es reichte, um klar erkennen zu können, was im Hof vor sich ging. Gleich innerhalb des Tores stand eine Reihe von sechzehn Männern neben ihren Pferden. Nicht zwei von ihnen trugen die gleiche Rüstung oder die gleiche Art von Schwert, und keiner sah wie Lan aus, doch Rand hatte keine Zweifel daran, daß sie Behüter waren. Runde Gesichter, kantige Gesichter, lange Gesichter, schmale Gesichter, aber sie wirkten alle irgendwie gleich, als sähen sie Dinge, die andere Männer nicht sehen, hörten Dinge, die andere Männer nicht hören. Sie standen entspannt da und wirkten doch so tödlich wie ein Rudel Wölfe. Nur etwas an ihnen war gleich: Alle, ohne Ausnahme, trugen die farbverändernden Umhänge, wie er zuerst einen bei Lan gesehen hatte, der sich häufig so sehr dem Farbton des Hintergrundes anpaßte, daß er kaum noch zu bemerken war. Das machte es schwer, sie zu beobachten, konnte einem auch mal den Magen umdrehen, und dann auch noch gleich so viele Männer in solchen Umhängen!

Ein Dutzend Schritte vor den Behütern stand eine Reihe von Frauen vor ihren Pferden. Die Kapuzen ihrer Umhänge hatten sie zurückgeschlagen. Jetzt konnte er sie zählen. Vierzehn. Vierzehn Aes Sedai. Das mußten sie sein. Große und kleine, schlanke und mollige, dunkle und Blondinen, mit langem oder kurzem Haar, lose herabhängend oder zu Zöpfen gebunden... Ihre Kleider unterschieden sich voneinander wie die der Behüter. Man konnte genausoviele verschiedene Schnitte und Farben sehen wie Frauengestalten. Aber auch sie wirkten auf eine Art gleich, und die Gleichheit fiel nur auf, weil sie nun so dicht beieinander standen. Bis hin zur letzten war es unmöglich, ihr Alter zu bestimmen. Aus dieser Entfernung hätte er sie an sich alle als jung bezeichnet, aber er wußte, daß sie aus der Nähe wie Moiraine sein würden. Scheinbar jung und doch nicht, mit glatter Haut, aber Gesichtern, die zu viel Reife zeigten, um jung zu sein, und deren Augen zu viel Wissen ausstrahlten.

Näher heran? Narr! Ich bin jetzt schon zu nahe. Licht noch mal, ich hätte doch den langen Weg nehmen sollen. Er schob sich weiter seinem Ziel entgegen, einer weiteren eisenbeschlagenen Tür am hinteren Ende des Hofs, aber er konnte den Blick nicht abwenden.

Die Aes Sedai ignorierten gelassen die Zuschauer und widmeten ihre Aufmerksamkeit der von Vorhängen verhüllten Sänfte, die nun in der Mitte des Hofes stand. Die Pferde, die sie getragen hatten, standen so still, als würden sie von Stallburschen am Geschirr gehalten, aber neben der Sänfte stand nur eine einzige hochgewachsene Frau mit dem Gesicht einer Aes Sedai, und sie beachtete die Pferde gar nicht. Der Stab, den sie mit beiden Händen senkrecht hielt, war genauso lang wie sie. Die vergoldete Flamme an seinem oberen Ende befand sich über ihren Augen.

Lord Agelmar stand stämmig und eckig und mit undurchschaubarem Gesicht der Sänfte gegenüber am hinteren Ende des Hofs. Auf seinem dunkelblauen Mantel mit dem hohen Kragen waren sowohl die drei rennenden Rotfüchse des Hauses Jagad als auch der sich duckende schwarze Falke von Schienar zu sehen. Neben ihm stand Ronan, vom Alter gezeichnet, aber immer noch groß. Am oberen Ende des langen Stabs, den der Shambayan trug, befanden sich drei Füchse, die man aus rotem Avatin gemeißelt hatte. Ronan war Elansu in der Verwaltung der Festung gleichgestellt, Shambayan und Shatayan, aber Elansu ließ ihm wenig übrig, so daß er eben für Zeremonien zuständig war und als Lord Agelmars Sekretär fungierte. Die Haarknoten beider Männer waren schneeweiß.

Alle — die Behüter, die Aes Sedai, der Herr von Fal Dara und sein Shambayan — standen stocksteif und schweigend da. Die wartende Menge schien die Luft anzuhalten. Unwillkürlich verlangsamte Rand seine Schritte.

Plötzlich stieß Ronan seinen Stab laut vernehmlich dreimal auf die breiten Steinplatten des Hofs und rief in die Stille hinein: »Wer kommt hier? Wer kommt hier? Wer kommt hier?«

Die Frau neben der Sänfte klopfte mit ihrem Stab dreimal zur Antwort. »Die Wächterin über die Siegel. Die Flamme von Tar Valon. Die Amyrlin.«

»Warum sollen wir denn wachen?« wollte Ronan wissen.

»Um der Menschheit die Hoffnung zu erhalten«, antwortete die hochgewachsene Frau. »Wogegen stehen wir Wache?« »Gegen den Schatten zur Mittagszeit.«

»Wie lange sollen wir wachen?«

»Von der aufgehenden Sonne bis zur aufgehenden Sonne, solange sich das Rad der Zeit dreht.«

Agelmar verbeugte sich. Die Haare um seinen weißen Knoten wehten im leichten Wind. »Fal Dara entbietet Euch Brot und Salz und unser Willkommen. Es ist gut, daß die Amyrlin nach Fal Dara kommt, denn hier wird die Wache gehalten, und hier wird der Pakt gewürdigt. Willkommen.«

Die große Frau zog den Vorhang der Sänfte weg, und die Amyrlin trat in Erscheinung. Sie hatte dunkles Haar und war ebenso alterslos wie alle Aes Sedai. Sie richtete sich auf und musterte dabei die versammelten Zuschauer. Rand zuckte zusammen, als ihr Blick über ihn huschte; er hatte dabei das Gefühl einer Berührung. Aber ihr Blick wanderte weiter und ruhte schließlich auf Lord Agelmar. Ein livrierter Diener kniete neben ihr nieder und bot ihr auf einem Silbertablett zusammengefaltete Handtücher an, aus denen noch Dampf aufstieg. Förmlich wischte sie sich die Hände ab und betupfte ihr Gesicht mit einem feuchten Tuch. »Ich entbiete Euch meinen Dank für Euer Willkommen, mein Sohn. Möge das Licht das Haus Jagad segnen. Möge das Licht Fal Dara und alle seine Einwohner segnen.«

Agelmar verbeugte sich erneut. »Ihr ehrt uns, Mutter.« Es klang irgendwie gar nicht komisch, daß sie ihn Sohn und er sie Mutter nannte, obwohl ein Vergleich ihrer glatten Wangen mit seinem zerfurchten Gesicht eher ihn wie ihren Vater wirken ließ — oder sogar wie ihren Großvater. Sie besaß eine Ausstrahlung, die der seinen überlegen war. »Das Haus Jagad steht zu Euren Diensten. Fal Dara steht zu Euren Diensten.«

Von allen Seiten ertönten Hurrarufe und hallten von den Mauern der Festung wider wie sich brechende Wogen.

Rand lief es kalt den Rücken herunter. Er eilte auf die Tür und ihre Sicherheit zu. Jetzt war ihm gleich, wen er anrempelte. Ist doch bloß deine verfluchte Einbildung. Sie weiß noch nicht einmal, wer du bist. Noch nicht. Blut und Asche, wenn sie Bescheid wüßte... Er wollte lieber nicht daran denken, was geschehen würde, sollte sie wissen, wer er war oder was er war. Was geschähe wohl, wenn sie es schließlich herausfände? Er fragte sich, ob sie irgend etwas mit dem Wind oben auf dem Turm zu tun gehabt hatte. Aes Sedai brachten solche Sachen fertig. Als er sich durch die Tür zwängte, sie hinter sich zuschlug und den Lärm der Willkommensrufe dämpfte, der immer noch den Hof erfüllte, atmete er erleichtert auf.

Die Gänge hier waren ebenso leer wie die anderen, und so rannte er beinahe. Hinaus und über einen kleineren Hof mit einem plätschernden Brunnen im Zentrum, durch einen weiteren Korridor und hinaus auf den mit breiten Steinplatten gepflasterten Stallhof. Der Stall des Lords war an die Mauer der Festung angebaut, lang und hoch, mit großen, nach innen gerichteten Fenstern. Die Pferde wurden auf zwei Stockwerken gehalten. Die Schmiede auf der anderen Hofseite lag verwaist; Hufschmied und Helfer waren fort, um die Willkommensfeier zu sehen.

Tema, der Stallmeister mit dem ledern wirkenden Gesicht, empfing ihn mit einer tiefen Verbeugung an der Stalltür, wobei er zuerst seine Stirn und dann seine Herzgegend mit der Hand berührte. »Geist und Herz zu Euren Diensten, Lord. Wie kann Euch Tema helfen, Lord?« Er trug nicht den Haarknoten eines Soldaten; Temas Haar saß auf dem Kopf wie ein umgedrehter grauer Topf.

Rand seufzte. »Zum hundertsten Mal, Tema, ich bin kein Lord.«

»Wie der Lord wünscht.« Die Verbeugung des Stallmeisters war diesmal noch tiefer.

Sein Name war es und eine zufällige Ähnlichkeit, die ihm dieses Problem eingebracht hatten. Rand al'Thor. Al'Lan Mandragoran. Der Sitte von Malkier entsprechend bedeutete das königliche ›al‹ vor Lans Namen, daß er ein König war, auch wenn er den Titel nie benutzte. Für Rand war das ›al‹ nur ein Teil seines Namens. Er hatte allerdings gehört, daß vor langer, langer Zeit, bevor man die Zwei Flüsse überhaupt so nannte, das ›al‹ bedeutet hatte: »Sohn des...« Einige der Diener in der Festung von Fal Dara hatten sich in den Kopf gesetzt, daß er also ein König sei oder zumindest ein Prinz. All seine Gegenargumente hatten lediglich bewirkt, daß er zum bloßen Lord degradiert worden war. Jedenfalls glaubte er das; er hatte niemals so viele tiefe Verbeugungen und Kratzfüße erlebt, noch nicht einmal bei Lord Agelmar.

»Ich brauche meinen Braunen zum Ausreiten, Tema.« Er machte nicht den Fehler anzubieten, das Pferd selbst zu satteln; Tema würde nicht zulassen, daß Rand sich die Hände schmutzig machte. »Ich denke, ich werde ein paar Tage lang das Land um Fal Dara herum erforschen.« Wenn er einmal auf dem Rücken des großen braunen Hengstes saß, könnte er in ein paar Tagen den Erinin erreichen oder die Grenze nach Arafel überschreiten. Dann finden sie mich nicht mehr.

Der Stallmeister verbeugte sich beinahe bis zum Boden hinunter und blieb auch noch in der Haltung. »Vergebt mir, Lord«, flüsterte er heiser. »Vergebt, denn Tema kann nicht gehorchen.«

Rand lief vor Verlegenheit rot an und sah sich schnell um — es war sonst aber niemand in Sichtweite —, dann packte er den Mann bei den Schultern und zog ihn hoch. Er war vielleicht nicht in der Lage, Tema und die anderen von solch unterwürfigem Benehmen abzuhalten, aber wenigstens wollte er verhindern, daß jemand anders es beobachtete. »Warum nicht, Tema? Tema, sieh mich bitte an. Warum nicht?«

»Es wurde so befohlen, Lord«, sagte Tema immer noch im Flüsterton. Er schlug immer wieder die Augen nieder, nicht aus Angst, sondern aus Scham, weil er nicht tun konnte, was Rand wünschte. Schienarer schämten sich derart, wie andere Menschen, wenn sie als Dieb gebrandmarkt wurden. »Kein Pferd darf diesen Stall verlassen, bevor ein neuer Befehl erlassen wurde. Das gilt für alle Stallungen der Festung, Lord Rand.«

Rand öffnete den Mund, um dem Mann zu sagen, daß es schon in Ordnung sei, aber statt dessen leckte er sich nur die Lippen. »Kein Pferd aus irgendeinem der Ställe?«

»Ja, Lord Rand. Der Befehl kam erst vor ganz kurzer Zeit durch. Vor ein paar Augenblicken.« Temas Stimme wurde fester. »Auch die Tore sind alle geschlossen, Lord. Keiner darf ohne besondere Genehmigung herein oder hinaus. Noch nicht einmal die Polizei, wie man Tema gesagt hat.«

Rand hatte schwer daran zu kauen, was das Gefühl nicht minderte, daß sich Finger um seinen Hals zusammenzogen. »Der Befehl, Tema. Kam er von Lord Agelmar?«

»Natürlich, Lord Rand. Von wem sonst? Natürlich hat Lord Agelmar nicht selbst mit Tema gesprochen und noch nicht einmal mit dem Mann, der zu Tema geschickt wurde, aber, Lord, wer sonst könnte in Fal Dara einen solchen Befehl geben?«

Wer sonst? Rand fuhr zusammen, als die größte Glocke im Glockenturm der Festung plötzlich volltönend zu läuten begann. Die anderen Glocken fielen ein, und dann die aus der Stadt.

»Falls Tema sich die Bemerkung erlauben darf«, rief ihm der Stallmeister über das Läuten hinweg zu, »dann muß der Lord sich sehr glücklich schätzen.«

Rand mußte schreien, damit Tema ihn verstehen konnte. »Glücklich? Warum?«

»Die Willkommensfeier ist beendet, Lord.« Tema deutete auf den Glockenturm. »Jetzt wird die Amyrlin nach dem Lord und seinen Freunden schicken und Euch empfangen.«

Rand rannte los. Er hatte gerade noch Zeit, die Überraschung auf Temas Gesicht zu erkennen, dann war er weg. Es kümmerte ihn nicht, was Tema dachte. Sie wird mich jetzt kommen lassen.

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