22 Heimliche Beobachter

»Nichts geschieht so, wie ich es erwarte«, murmelte Moiraine, und sie erwartete keine Antwort von Lan.

Der mattglänzende lange Tisch vor ihr war übersät mit Büchern und Papieren, Pergamentrollen und Manuskripten, viele davon vom langen Lagern verstaubt und vom Alter zerfleddert, manche auch nur noch aus Bruchstücken bestehend. Der ganze Raum schien nur aus Büchern und Manuskripten zu bestehen. Überall standen gefüllte Regale; nur Tür, Fenster und Kamin waren frei. Die Stühle hatten hohe Lehnen und waren gut gepolstert, aber auf der Hälfte von ihnen und auf den meisten kleinen Tischen lagen ebenfalls Bücher. Sogar unter manche Möbelstücke hatte man Bücher und Pergamentrollen gepackt. Allerdings gehörte Moiraine selbst nur das Durcheinander auf dem Tisch vor ihr.

Sie stand auf und trat zum Fenster. Dort spähte sie in die Nacht hinaus. Nicht weit entfernt schimmerten die Lichter des Dorfes. Hier bestand keine Gefahr von Verfolgung. Keiner würde erwarten, daß sie hierherkam. Wieder einen klaren Kopf bekommen und noch einmal von vorn anfangen, dachte sie. Das ist alles, was ich tun kann.

Keiner der Dorfbewohner hatte eine Ahnung davon, daß die beiden ältlichen Schwestern, die in dem gemütlichen Haus wohnten, Aes Sedai waren. So etwas vermutete man nicht in einem kleinen Ort wie Tifans Quell, einer Bauerngemeinde mitten in der Grasebene von Arafel. Die Dorfbewohner kamen zu den Schwestern, um Ratschläge in bezug auf ihre Sorgen, Heilkräuter und Salben für ihre Krankheiten zu erhalten, und sie schätzten sie als vom Licht gesegnete Frauen, aber nicht mehr. Adeleas und Vandene hatten sich vor so langer Zeit in die freiwillige Einsamkeit begeben, daß sich auch in der Weißen Burg nur wenige an sie erinnerten.

Mit dem genauso alten Behüter, der ihnen geblieben war, lebten sie ein ruhiges Leben und planten immer noch, eine Geschichte der Welt seit der Zerstörung zu schreiben und auch noch soviel wie möglich von der Geschichte davor mit einzuschließen. Eines Tages. In der Zwischenzeit gab es so viele Informationen, die man sammeln mußte; so viele Rätsel zu lösen. Ihr Haus war der ideale Ort, an dem Moiraine die benötigten Informationen finden konnte. Abgesehen davon, daß es hier heiß war.

Sie nahm eine Bewegung wahr und drehte sich um. Lan lehnte an dem aus gelbem Backstein gemauerten Kamin und wirkte so unbeweglich wie ein Felsblock. »Erinnerst du dich an unser erstes Zusammentreffen, Lan?«

Sie wartete auf eine Reaktion, sonst hätte sie das kurze Zucken seiner Augenbrauen nicht bemerkt. Sie konnte ihn nicht oft überraschen. Das war eigentlich ein Thema, das keiner von beiden berührte. Vor fast zwanzig Jahren hatte sie ihm mit dem Stolz einer so jungen Person gesagt, daß sie es nie wieder erwähnen werde und das gleiche Schweigen von ihm erwarte.

»Ich erinnere mich«, war alles, was er sagte.

»Und du entschuldigst dich immer noch nicht, oder? Du hast mich in einen Teich geworfen.« Sie lächelte nicht, obwohl sie sich mittlerweile darüber amüsieren konnte. »Jeder Fetzen Kleidung, den ich trug, war durchnäßt, und das zu einer Jahreszeit, die Ihr Männer der Grenzlande den Vorfrühling nennt. Ich wäre beinahe erfroren.«

»Ich erinnere mich auch daran, daß ich Feuer machte und Decken aufhängte, damit du dich ungesehen aufwärmen konntest.« Er stocherte zwischen den brennenden Scheiten herum und hängte den Feuerhaken wieder an seinen Platz. In den Grenzlanden waren selbst die Sommernächte kühl. »Ich erinnere mich weiterhin daran, daß du den halben Teich über mich geleert hast, während ich schlief. Es hätte uns beiden eine ganze Menge Zähneklappern erspart, wenn du mir einfach gesagt hättest, daß du eine Aes Sedai bist, anstatt es mir zu demonstrieren. Und anstatt zu versuchen, mich von meinem Schwert zu trennen. Das ist keine gute Methode, dich einem Mann aus den Grenzlanden vorzustellen, selbst für eine junge Frau.«

»Ich war wirklich jung und einsam, und du warst genauso groß wie jetzt, und deine Härte war stärker spürbar. Du solltest nicht wissen, daß ich eine der Aes Sedai war. Ich dachte mir zu jener Zeit, du würdest meine Fragen ehrlicher beantworten, wenn du es nicht wüßtest.« Sie schwieg und dachte an die Jahre seit diesem Zusammentreffen. Es war gut gewesen, einen Begleiter für ihre lange Suche zu finden. »In den Wochen danach, hast du da geahnt, daß ich dich bitten würde, mir den Treueeid zu schwören? Ich hatte mich schon am ersten Tag entschlossen, daß du derjenige sein solltest.«

»Das hätte ich nie gedacht«, antwortete er trocken. »Ich war zu sehr damit beschäftigt, dich mit heiler Haut nach Chachin zu bringen. Jeden Abend hattest du eine andere Überraschung für mich. Ich denke da besonders noch an die Ameisen. Ich glaube nicht, daß ich den ganzen Ritt über auch nur eine einzige ruhige Nacht hatte.«

Sie erlaubte sich bei der Erinnerung ein leichtes Lächeln. »Ich war jung«, wiederholte sie. »Und scheuert dein Halsband dich nach all den Jahren wund? Du bist kein Mann, der ein solches Halsband leicht erträgt, nicht einmal dann, wenn es so sanft ist wie das meine.« Der Kommentar war beißend, und das hatte sie auch beabsichtigt.

»Nein.« Seine Stimme klang kühl, doch er nahm den Feuerhaken wieder in die Hand und stocherte mit völlig überflüssiger Heftigkeit in der Glut herum. Funken stoben in die Kaminöffnung hinein. »Ich habe frei gewählt und wußte, worauf ich mich einlasse.« Der Eisenstab klapperte wieder an seinem Haken gegen die Kaminmauer, und er verbeugte sich höflich. »Eine Ehre, Euch zu dienen, Moiraine Aes Sedai. Das war so und wird immer so sein.«

Moiraine seufzte. »In deiner Unterwürfigkeit, Lan Gaidin, lag schon immer mehr Hochmut, als Könige mit einer ganzen Armee im Rücken an den Tag legten. Das war so seit dem ersten Tag, da ich dich traf.«

»Warum sprichst du so über die Vergangenheit, Moiraine?«

Zum hundertsten Mal — jedenfalls schien es ihr so —überlegte sie sich die Wahl ihrer Worte. »Bevor wir Tar Valon verließen, traf ich Vorsorge für den Fall, daß mir etwas zustoßen sollte. Dein Eid wird dann an eine andere weitergegeben.« Er sah sie schweigend an. »Wenn du fühlst, daß ich sterbe, wird dich ein innerer Zwang dazu bringen, sie sofort aufzusuchen. Ich will nicht, daß du davon überrascht wirst.«

»Gezwungen«, hauchte er leise und zornig. »Nie zuvor hast du den Eid benutzt, um mich zu etwas zu zwingen. Ich glaubte, das lehntest du ganz und gar ab.«

»Wenn ich dies nicht verfügt hätte, wärst du nach meinem Tod frei von deinem Eid, und nicht einmal mein nachdrücklichster Befehl würde verfolgt. Ich werde nicht zulassen, daß die bei dem nutzlosen Versuch, mich zu rächen, selbst umkommst. Und ich werde dir nicht gestatten, zu deinem ebenso nutzlosen Privatkrieg in der Fäule zurückzukehren. Der Krieg, in dem wir stehen, ist derselbe Krieg. Wenn du das nur einsähest! Ich werde dafür sorgen, daß du einen sinnvollen Kampf kämpfst. Weder Rache zu üben noch einsam in der Fäule zu sterben, kann einen Sinn haben.«

»Und siehst du deinen baldigen Tod kommen?« Seine Stimme klang ruhig; sein Gesicht war ausdruckslos. Beides wirkte wie Stein in einem Wintersturm. Diese Stimmung hatte sie an ihm schon oft bemerkt, gewöhnlich, wenn er nahe daran war, Gewalt anzuwenden. »Hast du etwas ohne mich geplant, das dir den Tod bringen wird?«

»Ich bin froh, daß es in diesem Raum keinen Teich gibt«, murmelte sie, und als er sich ob ihres leichten Tonfalles versteifte, hob sie beschwichtigend die Hände. »Ich sehe meinem Tod jeden Tag ins Gesicht, genau wie du. Wie könnte das auch anders sein angesichts der Aufgabe, der wir uns so viele Jahre lang gewidmet haben? Jetzt, da sich alles zuspitzt, wird die Wahrscheinlichkeit einfach größer.«

Einen Augenblick lang betrachtete er seine großen, eckigen Hände. »Ich habe nie daran gedacht«, sagte er schwerfällig, »daß du die erste von uns beiden sein könntest, die stirbt. Irgendwie schien es mir selbst in der schlimmsten Lage... « Er rieb sich die Hände. »Wenn die Möglichkeit besteht, daß ich wie ein Schoßhündchen weitergereicht werde, möchte ich wenigstens wissen, wem ich übergeben werde.«

»Ich habe dich nie als Schoßhündchen betrachtet«, sagte Moiraine in scharfem Tonfall, »und Myrelle tut es auch nicht.«

»Myrelle.« Er verzog das Gesicht. »Ja, es mußte wohl eine Grüne sein, sonst hätte es nur irgendein Mädchen sein können, das gerade erst die volle Schwesternschaft erlangt hat.«

»Wenn Myrelle mit ihren drei Gaidins fertig werden kann, dann schafft sie dich vielleicht auch noch. Obwohl sie dich, wie ich weiß, gern behalten würde, hat sie mir doch versprochen, dich an eine andere weiterzugeben, wenn sie eine findet, die besser zu dir paßt.«

»Aha. Kein Schoßhündchen, sondern ein Paket. Myrelle wird also nur eine — Aufseherin sein! Moiraine, nicht einmal die Grünen behandeln ihre Behüter so. Keine Aes Sedai hat in den letzten hundert Jahren ihren Behüter unter Eid an eine andere weitergegeben, aber du hast das mit mir nicht nur einmal, sondern sogar zweimal vor!«

»Es ist geregelt, und ich werde es nicht mehr rückgängig machen.«

»Licht blende mich, aber wenn ich schon von Hand zu Hand weitergereicht werden soll, hast du dann wenigstens eine Ahnung, in wessen Hand ich schließlich enden werde?«

»Was ich tue, ist zu deinem eigenen Wohl und vielleicht auch zum Wohl einer anderen. Vielleicht wird Myrelle ja irgendein Mädchen finden, das gerade erst die volle Schwesternschaft erlangt hat — so hattest du das doch ausgedrückt? — und die einen kampferprobten Behüter braucht, der sich in der Welt auskennt, ein Mädchen, das vielleicht jemanden braucht, der sie in einen Teich wirft. Du hast viel zu bieten, Lan. Und das alles in einem unbekannten Grab enden zu lassen, oder unter den Schnäbeln der Raben, während es einer Frau dienen könnte, die es braucht, das wäre schlimmer als die Sünde, von der die Weißmäntel immer predigen. Ja, ich glaube, sie wird dich brauchen.«

Lans Augen weiteten sich. Bei ihm war dies das gleiche, als ob einem anderen Mann vor Überraschung der Atem stockte. Sie hatte ihn selten so aus dem Gleichgewicht gebracht. Er öffnete und schloß den Mund zweimal, bevor er ein Wort herausbrachte: »Und an wen denkst du dabei...?«

Sie schnitt ihm das Wort ab: »Bist du sicher, daß das Halsband nicht scheuert, Lan Gaidin? Erkennst du jetzt tatsächlich zum erstenmal, wie stark dieses Band wirklich ist und wie tief es in dein Leben eingreift? Du könntest bei einer aufblühenden Weißen enden, die ganz Logik ist und kein Herz hat, oder bei einer jungen Braunen, die nichts anderes in dir sieht als zwei Paar Hände, die ihr die Bücher und Skizzen hinterhertragen. Ich kann dich weitergeben, an wen ich will, so wie ein Paket — oder einen Schoßhund —, und du kannst nichts dagegen tun. Bist du sicher, daß es nicht scheuert?«

»Ist das der ganze Zweck gewesen?« schimpfte er. Seine Augen glühten wie blaues Feuer, und sein Mund verzog sich. Zorn. Zum erstenmal, seit sie sich kannten, verzerrte offen zur Schau getragener Zorn sein Gesicht. »War dieses ganze Geschwätz ein Test — ein Test! —, um festzustellen, ob du es schaffst, mein Band zum Scheuern zu bringen, mich wundzureiben? Nach all dieser Zeit? Vom Tag an, da ich mich dir verschwor, bin ich dorthin geritten, wohin ich reiten sollte, selbst wenn ich es für falsch hielt, selbst wenn ich einen Grund hatte, einen anderen Weg zu nehmen. Du mußtest dieses Band niemals benutzen, um mich zu etwas zu zwingen. Auf dein Wort hin habe ich zugesehen, wie du in eine Gefahr hineingerannt bist, und ich habe die Hände stillgehalten, obwohl ich nichts lieber getan hätte, als das Schwert zu ziehen und dir damit einen Weg in die Sicherheit zu hauen. Nach alldem willst du mich noch prüfen?«

»Das war keine Prüfung, Lan. Ich habe es klar ausgesprochen und nichts verdreht, und ich habe wirklich getan, was ich sagte. Aber in Fal Dara begann ich mich zu fragen, ob du tatsächlich noch ganz hinter mir stehst.« Sein Blick wurde vorsichtigmißtrauisch. Lan, vergib mir. Ich hätte die Mauer um dich herum nicht derartig eingeschlagen, aber ich muß es einfach wissen. »Warum hast du das mit Rand getan?« Er zwinkerte; das hatte er offensichtlich nicht erwartet. Sie wußte, woran er gedacht hatte, und ließ nicht mehr locker, nachdem sie ihn schon aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. »Du hast ihm beigebracht, vor der Amyrlin wie einer der GrenzlandLords und ein geborener Soldat zu handeln und zu sprechen. Auf gewisse Weise paßte das durchaus zu dem, was ich für ihn geplant hatte, aber wir haben niemals davon gesprochen, daß du ihn unterrichten solltest. Warum, Lan?«

»Es schien mir — richtig. Ein junger Wolfshund muß eines Tages seinen ersten Wolf treffen, aber wenn der Wolf ihn als Welpe betrachtet und wenn er sich wie ein Welpe verhält, dann wird ihn der Wolf mit Sicherheit töten. Der Wolfshund muß in den Augen des Wolfes ein Wolfshund sein, mehr noch als in seiner Selbstachtung, wenn er überleben will.«

»Siehst du die Aes Sedai so? Die Amyrlin? Mich? Wölfe, die deinen jungen Wolfshund zerreißen wollen?« Lan schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, was er ist, Lan. Du weißt, was aus ihm werden muß. Muß! Worauf ich hingearbeitet habe, seit dem Tag, da wir uns kennenlernten, und sogar schon davor. Zweifelst du jetzt an meinem Tun?«

»Nein. Nein, aber...« Er hatte sich wieder besser im Griff, richtete die Mauer wieder auf. Aber noch stand sie nicht. »Wie oft hast du gesagt, daß ta'veren diejenigen in ihrer Umgebung wie Blätter in einen Strudel hineinreißen? Vielleicht wurde ich so hineingezogen. Ich weiß nur, daß es ein gutes Gefühl war. Diese Bauernburschen brauchten jemanden an ihrer Seite. Rand auf jeden Fall. Moiraine, ich glaube an das, was du tust. Selbst jetzt, da ich nicht einmal die Hälfte davon weiß, glaube ich daran, wie ich an dich glaube. Ich habe nicht darum gebeten, aus meinem Eid entlassen zu werden, und ich werde das auch nicht tun. Welche Pläne du auch für den Fall deines Todes und meine weitere — Verwendung haben magst: Ich werde dich mit größter Freude am Leben halten und dafür sorgen, daß wenigstens diese Pläne schiefgehen.«

»Ta'veren«, seufzte Moiraine. »Vielleicht lag es daran. Ich lenke kein Ästchen, das einen Bach hinuntertreibt sondern einen Baumstamm durch die Stromschnellen. Jedesmal, wenn ich ihm einen Stoß gebe, schlägt er zurück, und der Stamm wird immer größer, je weiter wir kommen. Und doch muß ich bis zum Ende darauf sitzenbleiben.« Sie lachte ein wenig. »Ich werde nicht unglücklich darüber sein, mein alter Freund, wenn du es schaffst, meine Pläne überflüssig zu machen. Jetzt geh aber bitte. Ich muß allein sein und nachdenken.« Er zögerte nur kurz, bevor er sich zur Tür wandte. Aber im letzten Moment konnte sie sich eine weitere Frage nicht verkneifen: »Träumst du manchmal von einem ganz anderen Leben, Lan?«

»Alle Menschen träumen. Aber ich kann die Träume von der Wirklichkeit unterscheiden. Dies hier« — er berührte den Griff seines Schwerts —, »ist die Wirklichkeit.« Die Mauer um sein Ich war wieder da, so hoch und fest wie immer.

Nachdem er gegangen war, lehnte sich Moiraine auf ihrem Stuhl zurück und blickte ins Feuer. Sie dachte an Nynaeve und die Risse in der Mauer. Ohne zu wollen und auch ohne überhaupt zu bemerken, was sie anrichtete, hatte diese junge Frau der Mauer um Lan herum Risse zugefügt und Schlingpflanzen hineingesät. Lan glaubte sich sicher, in der Festung seines Schicksals und seiner eigenen Wünsche gefangen, doch langsam und geduldig zerstörten die stetig wachsenden Ranken die Mauer und legten den Mann dahinter bloß. Bereits jetzt teilte er einige der Verhaltensmuster Nynaeves. Anfangs waren ihm die Leute aus Emondsfeld gleichgültig gewesen, außer eben als Menschen, an denen Moiraine einiges Interesse hatte. Nynaeve hatte diese Haltung geändert, so wie sie Lan bereits verändert hatte.

Zu ihrer eigenen Überraschung fühlte Moiraine doch etwas Eifersucht. Das war ihr noch nie zuvor passiert, jedenfalls bei keiner der anderen Frauen, die ihm ihr Herz zu Füßen gelegt hatten, oder bei denen, die sein Bett geteilt hatten. Sie hatte ihn überhaupt nie als ein Objekt der Eifersucht betrachtet, ihn genausowenig wie alle anderen Männer. Sie war mit ihrem Kampf verheiratet, so wie er mit seinem. Aber sie waren schon so lange Kampfgenossen. Nach der letzten Schlacht hatte er ein Pferd zuschanden geritten und sich anschließend beinahe zu Tode gerannt, immer mit ihr auf den Armen, um sie zu Anaiya zu bringen, damit die ihre Wunden heilen konnte. Sie hatte mehr als einmal seine Verwundungen versorgt und mit ihrer Heilkunst ein Leben erhalten, das er jederzeit wegwerfen würde, um ihres zu retten. Er hatte immer gesagt, er sei mit dem Tod verheiratet. Nun hatte ihn eine neue Braut für sich gewonnen, und er merkte es nicht einmal. Er glaubte sich immer noch sicher hinter seiner inneren Mauer, aber Nynaeve hatte einen Brautkranz in sein Haar geflochten. War er immer noch in der Lage, blindlings in den möglichen Tod zu reiten? Moiraine fragte sich, wann er sie wohl bitten würde, ihn von seinem Eid zu entbinden, und was sie dann tun würde.

Mit einer Grimasse stand sie auf. Es gab wichtigere Dinge. Viel wichtigere. Ihr Blick wanderte über die geöffneten Bücher und Papiere, mit denen der Raum übersät war. So viele Andeutungen, aber keine Antworten.

Vandene kam mit einer Kanne Tee und mit Tassen auf einem Tablett herein. Sie war schlank und graziös in ihrer aufrechten Haltung und hatte die beinahe weißen Haare im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden. Die Alterslosigkeit ihres faltenlosen Gesichts zeugte von langen, langen Jahren. »Jaem hätte das ja hereinbringen können, um dich nicht zu stören, aber er ist draußen in der Scheune und übt mit dem Schwert.« Sie schnalzte mit der Zunge, als sie die zerfledderten Manuskripte zur Seite schob, um das Tablett abstellen zu können. »Seit Lan hier ist, hat er sich wieder daran erinnert, daß er mehr ist als ein Gärtner und Haushaltshelfer. Diese Gaidin sind so was von stolz! Ich dachte, Lan sei noch hier; deshalb habe ich eine Tasse mehr gebracht. Hast du gefunden, was du suchtest?«

»Ich bin nicht einmal sicher, was ich eigentlich suche.« Moiraine zog die Stirn kraus und betrachtete die Gefährtin. Vandene gehörte zu der Grünen Ajah, nicht zu den Braunen wie ihre Schwester, aber die beiden hatten so lange gemeinsam studiert, daß sie über die Geschichte genausogut Bescheid wußte wie Adeleas.

»Was es auch sein mag, du weißt offensichtlich nicht einmal, wo du suchen mußt.« Vandene schob einige Bücher und Manuskripte auf dem Tisch zur Seite und schüttelte den Kopf. »So viele Themen: die Trolloc-Kriege. Die Wächter der Wogen. Die Legende von der Wiedergeburt. Zwei Abhandlungen über das Horn von Valere. Drei über dunkle Prophezeiungen, und — Licht, hier ist Santhras Buch über die Verlorenen. Das ist eine böse Sache. Genauso schlimm wie dieses Buch über Shadar Logoth. Und die Prophezeiungen des Drachen in drei verschiedenen Übersetzungen und im Original. Moiraine, was suchst du denn da? Die Prophezeiungen —das sehe ich ja ein. Man hört selbst hier in dieser abgelegenen Gegend einiges. Wir hören auch einiges darüber, was sich in Illian abspielt. Es gibt im Dorf sogar ein Gerücht, jemand habe bereits das Horn gefunden.« Sie hob ein Manuskript hoch und hustete, als sich Staub davon erhob. »Darauf gebe ich natürlich nichts. Es mußte zu Gerüchten führen. Aber was... ? Nein. Du sagtest, du wolltest deine Ruhe haben, und die will ich auch geben.«

»Warte einen Moment!« bat Moiraine. Die andere Aes Sedai blieb kurz vor der Tür stehen. »Vielleicht kannst du mir einige Fragen beantworten.«

»Ich werde mir Mühe geben.« Vandene lächelte plötzlich. »Adeleas behauptet, ich hätte eine Braune werden sollen. Fang an zu fragen.« Sie goß zwei Tassen Tee ein und reichte Moiraine eine davon. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl am Feuer.

Dampf stieg von den Tassen auf, während Moiraine sich ihre Fragen überlegte. Antworten finden und doch nicht zuviel verraten. »Das Horn von Valere wird in den Prophezeiungen nicht erwähnt, aber gibt es irgendeine Verbindung zum Drachen?«

»Nein. Außer der Tatsache, daß das Horn vor Tarmon Gai'don gefunden werden muß und daß man annimmt, der Drache werde die Letzte Schlacht schlagen. Sonst gibt es keine Verbindung zwischen beiden.« Die weißhaarige Frau schlürfte ihren Tee und wartete.

»Gibt es irgendeine Verbindung des Drachen mit der Toman-Halbinsel?«

Vandene zögerte. »Ja und nein. Das ist ein umstrittener Punkt zwischen mir und Adeleas.« Ihre Stimme klang nun belehrend, und sie klang nun wirklich wie eine Braune. »Es gibt im Original einen Vers, der lautet wörtlich: ›Fünf reiten aus, und vier kehren zurück. Über den Wächtern wird er sich erklären und ein feuriges Banner über den Himmel ziehen...‹ Na ja, das geht so weiter. Das Wichtige daran ist das Wort Ma'vron. Ich meine, man kann das nicht einfach mit ›Wächter‹ übersetzen, denn das heißt A'vron. In Ma'vron liegt mehr Bedeutung. Ich behaupte, damit sind die Wächter der Wogen gemeint, auch wenn sie sich natürlich Do Miere A'vron nennen und nicht Ma'vron. Adeleas sagt, das seien Spitzfindigkeiten. Doch ich glaube, es bedeutet, daß der Wiedergeborene Drache irgendwo über der Toman-Halbinsel erscheinen wird, in Arad Doman oder Saldaea.

Adeleas wird mich vielleicht für närrisch halten, aber ich achte mittlerweile auf alles, was ich heutzutage aus Saldaea höre. Mazrim Taim kann wohl die Macht benutzen, habe ich gehört, und unsere Schwestern haben es bisher nicht geschafft, ihn zu isolieren. Falls der Drache wiedergeboren wurde und das Horn von Valere gefunden wird, dann kommt die Letzte Schlacht bald. Vielleicht können wir unser Geschichtsbuch niemals vollenden.« Sie schauderte und lachte. »Seltsam, sich über so etwas Gedanken zu machen. Ich schätze, ich werde tatsächlich immer mehr zur Braunen. Furchtbar, wenn man sich das richtig überlegt. Stell lieber deine nächste Frage.«

»Ich glaube nicht, daß du dir Taims wegen Gedanken machen mußt«, sagte Moiraine abwesend. Es war wirklich eine Verbindung zur Toman-Halbinsel, wenn auch klein und vage. »Man wird mit ihm ebenso fertig werden wie mit Logain. Was ist mit Shadar Logoth?«

»Shadar Logoth!« schnaubte Vandene. »Kurz gesagt, wurde die Stadt von ihrem eigenen Haß zerstört, alles, was lebte, bis auf Mordeth, den Ratgeber, mit dem alles begonnen hatte. Er benutzte die gleiche Taktik wie Schattenfreunde gegen Schattenfreunde, und jetzt steckt er dort in der Falle und wartet auf eine Seele, die er stehlen kann. Es ist gefährlich, die Stadt zu betreten und irgend etwas darin zu berühren. Aber das weiß ja wohl jede Novizin, die kurz davor steht, zu den Aufgenommenen erhoben zu werden. Um die ganze Geschichte zu hören, mußt du einen Monat hierbleiben und dir Adeleas' Vorträge anhören — sie weiß wirklich sehr viel darüber —, aber sogar ich kann dir sagen, daß nichts über den Drachen darin enthalten ist. Der Ort war schon hundert Jahre lang tot, bevor sich Yurian Steinbogen aus der Asche der Trolloc-Kriege erhob, und von allen falschen Drachen der Geschichte liegt er dem am nächsten.«

Moiraine hob eine Hand. »Ich habe mich nicht klar ausgedrückt, und ich spreche jetzt nicht von einem Drachen, sei er wiedergeboren oder falsch. Kannst du dir irgendeinen Grund denken, warum ein Blasser etwas aus Shadar Logoth mitnehmen würde?«

»Nicht, wenn er wußte, was das wirklich war. Der Haß, der Shadar Logoth tötete, war Haß, der gegen den Dunklen König eingesetzt werden sollte. Er würde einen Abkömmling des Schattens genauso zerstören wie jemanden, der im Licht wandelt. Sie fürchten sich zu Recht genauso wie wir vor Shadar Logoth.«

»Was kannst du mir über die Verlorenen berichten?«

»Du springst von einem Thema zum anderen! Ich kann dir nicht viel mehr erzählen, als du schon als Novizin gelernt hast. Niemand weiß viel mehr über die Namenlosen. Erwartest du von mir, daß ich dir das herunterbete, was wir beide als Mädchen gelernt haben?«

Moiraine schwieg. Sie wollte nicht zuviel ausplaudern, aber Vandene und Adeleas wußten viel mehr als jede andere außerhalb der Weißen Burg, und dort erwartete sie mehr Schwierigkeiten, als sie ertragen konnte. Sie sprach den Namen aus, als wäre es unabsichtlich geschehen: »Lanfear.«

»Ausnahmsweise«, seufzte die andere Frau, »weiß ich darüber kein bißchen mehr als damals als Novizin. Die Tochter der Nacht bleibt ein Geheimnis, als habe sie sich tatsächlich in Dunkelheit gehüllt.« Sie unterbrach sich, starrte in ihre Tasse, und als sie wieder aufblickte, traf ihr scharfer Blick Moiraines Gesicht. »Lanfear war mit dem Drachen, mit Lews Therin Telamon, eng verknüpft. Moiraine, hast du einen Hinweis darauf, wo der Drache wiedergeboren wird? Oder wiedergeboren wurde? Ist er schon da?«

»Falls ich das wüßte«, sagte Moiraine verbindlich, »wäre ich dann hier und nicht auf der Weißen Burg? Ich schwöre dir, die Amyrlin weiß genausoviel wie ich. Bist du zu ihr gerufen worden?«

»Nein, aber ich glaube wohl, daß wir zusammengerufen werden. Wenn die Zeit kommt, daß wir uns dem Wiedergeborenen Drachen entgegenstellen müssen, dann braucht die Amyrlin jede Schwester, jede Aufgenommene, jede Novizin, die ohne Hilfe eine Kerze entzünden kann.« Vandenes Stimme senkte sich nachdenklich. »Bei der Macht, die er zur Verfügung hat, müssen wir ihn überwältigen, bevor er eine Möglichkeit hat, sie gegen uns einzusetzen, bevor er wahnsinnig werden und die Welt zerstören kann. Doch zuerst müssen wir ihn gegen den Dunklen König kämpfen lassen.« Sie lachte humorlos, als sie Moiraines überraschten Blick wahrnahm. »Ich bin keine Rote. Ich habe die Prophezeiungen gründlich genug studiert, um zu wissen, daß wir es nicht wagen dürfen, ihn gleich einer Dämpfung zu unterziehen. Falls wir ihn überhaupt dämpfen können. Ich weiß so gut wie du, so gut wie jede Schwester, die es herauszufinden wagt, daß die Siegel, die den Dunklen König in Shayol Ghul binden, bereits schwächer werden. Die Illianer rufen zur Wilden Jagd nach dem Horn auf. Falsche Drachen tauchen auf. Und zwei von ihnen, Logain und nun dieser Bursche in Saldaea, sind in der Lage, die Macht zu benutzen. Wann ist es das letztemal geschehen, daß die Roten innerhalb eines Jahres gleich zwei Männer gefunden haben, die die Macht benutzen können? Sie haben ja nicht einmal einen in fünf Jahren gefunden! Jedenfalls nicht während meiner Lebenszeit, und ich bin ein gutes Stück älter als du. Die Anzeichen sind überall zu finden. Tarmon Gai'don kommt. Der Dunkle König wird sich befreien. Und der Drache wird wiedergeboren.« Die Tasse klapperte beim Hinstellen. »Und deshalb hatte ich gefürchtet, du hättest einen Hinweis auf ihn entdeckt.«

»Er wird kommen«, sagte Moiraine ausweichend, »und wir werden tun, was getan werden muß.«

»Wenn es von irgendwelchem Nutzen wäre, würde ich Adeleas' Nase aus den Büchern zerren und mit ihr zur Weißen Burg aufbrechen. Aber um ehrlich zu sein, ich bin lieber hier als dort. Vielleicht haben wir doch genügend Zeit, um unser Geschichtsbuch zu vollenden.«

»Ich hoffe, das wird Euch gelingen, Schwester.«

Vandene erhob sich. »Also, jetzt muß ich noch einiges erledigen, bevor ich ins Bett gehe. Falls du keine weiteren Fragen hast, werde ich dich deinen Studien überlassen.« Aber dann hielt sie noch einmal inne und bewies, daß sie trotz all der mit dem Studium von Büchern verbrachten Zeit immer noch eine Grüne war. »Du solltest etwas wegen Lan unternehmen, Moiraine. In dem Mann grollt es schlimmer als im Drachenberg. Früher oder später wird er explodieren. Ich habe schon oft genug erlebt, wie ein Mann einer Frau wegen in Schwierigkeiten geriet. Ihr beiden seid lange Zeit zusammengewesen. Vielleicht hat er sich endlich dazu durchgerungen, dich als Frau zu sehen und nicht nur als Aes Sedai.«

»Lan sieht mich als das, was ich bin, Vandene. Aes Sedai. Und immer noch als Freundin, hoffe ich.«

»Ihr Blauen. Immer dazu bereit, die Welt zu retten, und dabei verliert ihr euch selbst aus den Augen.«

Nachdem die weißhaarige Aes Sedai gegangen war, raffte Moiraine ihren Umhang um sich und ging vor sich hinmurmelnd in den Garten. Irgend etwas von Vandenes Worten nagte an ihrem Verstand, doch sie konnte sich nicht erinnern, was es war. Eine Antwort oder der Anflug einer Antwort auf eine Frage, die sie nicht gestellt hatte. Aber sie konnte sich auch an die Frage nicht erinnern.

Wie das Haus war auch der Garten klein, aber sehr gepflegt. Das wurde selbst im Mondschein deutlich, der von dem gelben Schein aus den Fenstern unterstützt wurde. Zwischen sauber angelegten Blumenbeeten zogen sich Sandwege entlang. Sie zog in der sanften Kühle der Nacht den Umhang etwas fester zusammen. Welche

Antwort war das — und auf welche Frage?

Sand knirschte hinter ihr, und sie drehte sich um, im Glauben, es sei Lan.

Ein Schatten ragte nur wenige Schritte vor ihr auf, ein Schatten, der wie ein viel zu großer, in einen Umhang gehüllter Mann wirkte. Aber der Mondschein enthüllte das Gesicht. Hagere Wangen, blasse Haut, zu große schwarze Augen über einem Schmollmund mit blutroten Lippen. Der Umhang öffnete sich und wurde zu den riesigen Schwingen einer Fledermaus.

Im Bewußtsein, daß es zu spät war, öffnete sie sich Saidar, doch der Draghkar begann leise zu singen, und die sanften Töne durchrieselten sie und ließen ihre Willenskraft erlahmen. Saidar entschlüpfte ihr. Sie empfand nur eine verwaschene Traurigkeit, als sie auf die Kreatur zuschritt. Das tiefe Singen, das sie immer näher lockte, unterdrückte jedes andere Gefühl. Weiße, weiße Hände —wie die Hände eines Mannes, doch mit Klauen bewehrt —streckten sich nach ihr aus, und blutrote Lippen verzogen sich zum schrecklichen Abklatsch eines Lächelns. Spitze Zähne zeigten sich, aber nur undeutlich, ganz undeutlich. Sie wußte, daß er nicht beißen oder reißen würde. Fürchte den Kuß des Draghkar. Sobald diese Lippen sie berührten, war sie so gut wie tot. Erst würde ihr die Seele geraubt und dann das Leben. Wer immer sie auch finden mochte, und wenn es in dem Augenblick war, in dem der Draghkar sie fallen ließ, der würde eine Leiche ohne jede Verwundung finden — so kalt, als sei sie bereits zwei Tage lang tot. Und falls jemand kam, bevor sie tot war, wäre das, was sie fänden, noch schlimmer und hätte wirklich mit ihr nichts mehr zu tun. Das Singen lockte sie in die Reichweite dieser blassen Hände, und der Kopf des Draghkar neigte sich langsam ihr zu.

Sie empfand nur eine leichte Überraschung, als eine Schwertklinge über ihre Schulter fuhr und sich in die Brust des Draghkar bohrte, und auch nicht viel mehr, als eine zweite über ihre andere Schulter hinwegfuhr und neben der ersten eindrang.

Betäubt und wankend beobachtete sie wie aus großer Entfernung, daß die Kreatur von ihr weggedrückt wurde. Lan kam in Sicht und dann Jaem. Die knochigen Arme des grauhaarigen Behüters hielten seine Klinge genauso gerade und fest wie die des jüngeren Mannes. Die blassen Hände des Draghkar färbten sich rot, als sie an dem scharfen Stahl rissen. Schwingen schlugen durch die Luft und erzeugten Donnerschläge. Plötzlich, verwundet und blutend, begann er wieder zu singen. Er sang zu den Behütern.

Mit Mühe riß sich Moiraine zusammen. Sie fühlte sich beinahe so leer, als hätte das Ding seinen Kuß bekommen. Keine Zeit für Schwäche. Einen Moment später öffnete sie sich Saidar und, als die Macht sie erfüllte, bereitete sie sich darauf vor, den Abkömmling des Schattens direkt zu berühren. Die beiden Männer waren zu nahe. Alles andere würde auch sie in Gefahr bringen. Aber selbst wenn sie die Macht benutzte, wußte sie, daß sie sich von dem Draghkar beschmutzt fühlen würde. Doch in dem Augenblick, als sie begann, rief Lan: »Empfange den Tod!« Jaem tat es ihm mit fester Stimme gleich: »Empfange den Tod!« Und die beiden Männer traten vor in die Reichweite des Draghkar und stießen ihre Klingen bis zum Knauf in dessen Brust. Der Draghkar warf den Kopf in den Nacken und kreischte. Der Schrei schien Moiraines Kopf wie mit Nadeln zu durchbohren. Obwohl sie sich in Saidar hüllte, konnte sie ihn dennoch fühlen. Wie ein gefällter Baum stürzte der Draghkar. Eine Schwinge stieß Jaem fast um, und er ging in die Knie. Lan sackte erschöpft in sich zusammen.

Laternen bewegten sich vom Haus her auf sie zu, von Vandene und Adeleas getragen. »Was war denn das für ein Lärm?« wollte Adeleas wissen. Sie war beinahe ein Spiegelbild ihrer Schwester. »Ist Jaem verrückt geworden...?« Der Laternenschein fiel auf den Draghkar, und ihre Stimme erstarb.

Vandene ergriff Moiraines Hände. »Es hat doch nicht...?« Sie ließ die Frage unausgesprochen. In Moiraines Augen bildete sich eine Aura um sie herum. Moiraine fühlte Kraft von der anderen Frau zu sich herüberströmen und wünschte sich nicht zum erstenmal, daß die Aes Sedai dasselbe für sich tun könnten wie für andere.

»Es hat nicht«, sagte sie dankbar. »Schau nach dem Gaidin.«

Lan sah sie an. Sein Gesicht wirkte angespannt. »Wenn ich nicht aus Wut über dich zu Jaem gegangen wäre, um mit ihm zu üben, so wütend gewesen wäre, daß ich das Haus nicht betreten wollte... «

»Aber ich habe«, sagte sie. »Das Muster schließt alles ins Gewebe mit ein.« Jaem murmelte etwas, erlaubte aber Vandene doch, nach seiner Schulter zu sehen. Er schien nur aus Sehnen und Knochen zu bestehen, wirkte aber so hart wie eine zähe alte Wurzel.

»Wie konnte nur«, wollte Adeleas wissen, »eine Kreatur des Schattens so nahe kommen, ohne daß wir sie fühlten?«

»Sie wurde abgeschirmt«, sagte Moiraine.

»Unmöglich!« fauchte Adeleas. »Nur eine Schwester könnte... « Sie brach mitten im Satz ab, und Vandene drehte sich von Jaem weg und blickte Moiraine an.

Moiraine sprach die Worte aus, die keine von ihnen hören wollte: »Die Schwarzen Ajah.« Rufe erklangen vom Dorf herüber. »Am besten versteckt Ihr das« — sie deutete auf den Draghkar, der auf einem Blumenbeet lag — »ganz schnell. Sie kommen gleich, Euch zu fragen, ob Ihr Hilfe braucht, aber wenn sie das sehen, wird es zu unerwünschtem Gerede führen.«

»Ja, natürlich«, sagte Adeleas. »Jaem, geh ihnen entgegen. Sag ihnen, du wüßtest nicht, was den Lärm verursachte, aber es gehe uns gut. Halt sie auf!« Der grauhaarige Behüter eilte in die Nacht hinaus und auf die Geräusche der sich nähernden Dorfbewohner zu. Adeleas dreht sich um und betrachtete den Draghkar, als sei er lediglich ein schwer zu verstehender Absatz in einem ihrer Bücher. »Ob nun Aes Sedai darin verwickelt sind oder nicht: Was mag ihn hergeführt haben?« Vandene sah Moiraine schweigend an.

»Ich fürchte, ich muß Euch verlassen«, sagte Moiraine. »Lan, machst du bitte die Pferde fertig?« Als er ging, sagte sie: »Ich werde Euch Briefe hinterlassen, die zur Weißen Burg geschickt werden müssen. Könnt Ihr das veranlassen?« Adeleas nickt abwesend. Ihre Aufmerksamkeit galt immer noch dem Ding am Boden.

»Und wirst du dort, wo du hingehst, deine Antworten finden?« fragte Vandene.

»Ich habe möglicherweise bereits eine Antwort gefunden, von der ich nicht wußte, daß ich nach ihr suche. Ich hoffe nur, ich komme nicht zu spät. Ich brauche eine Feder und Pergament.« Sie zog Vandene zum Haus zu und ließ Adeleas zurück, die sich um den Draghkar kümmern sollte.

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