39 Flucht aus der Weißen Burg

Egwene und Elayne nickten jeweils kurz den Gruppen von Frauen zu, die sie unterwegs zum Ausgang der Burg trafen. Es war schon gut, daß sich gerade heute so viele Frauen von außerhalb in der Burg befanden, dachte Egwene. Es waren zu viele, als daß sie alle eine Aes Sedai zur Begleitung dabeihaben konnten. Allein oder in kleinen Gruppen zusammenstehend, reich oder ärmlich nach der Mode eines halben Dutzends Länder gekleidet, manche noch staubig von ihrer Reise nach Tar Valon: So standen sie ein wenig verloren herum und warteten darauf, bis sie an der Reihe waren, eine der Aes Sedai zu befragen oder ihre Petitionen abzugeben. Ein paar der Frauen — Ladies oder Kauffrauen oder die Ehefrauen von Kaufleuten —hatten Dienerinnen dabei. Sogar einige Männer waren mit Petitionen erschienen, standen abseits und wirkten nervös. Es war schon etwas Besonderes, sich in der Weißen Burg zu befinden. Sie beäugten sich gegenseitig mißtrauisch.

Vornweg marschierte Nynaeve mit flatterndem Umhang und stur geradeaus gerichtetem Blick. Sie schritt einher, als wisse sie genau, wohin sie wolle — was ja auch stimmte, jedenfalls, solange sie nicht angehalten wurden —, und als habe sie jedes Recht, sich hier zu befinden. Doch das war natürlich eine ganz andere Sache. Sie hatten die Kleidung angelegt, in der sie nach Tar Valon gekommen waren, und wirkten darin nicht wie Bewohnerinnen der Burg. Jede hatte ihr bestes Kleid angezogen, sofern der Rock zum Reiten geeignet war, und dazu trugen sie reich bestickte Wollumhänge. Solange sie sich von allen fernhielten, die sie vielleicht erkennen konnten — einigen hatten sie bereits ausweichen müssen —, glaubte Egwene, daß sie es schaffen konnten. »Das wäre wohl besser für einen Ausritt im Park irgendeines Lords geeignet als für den harten Ritt zur Toman-Halbinsel«, hatte Nynaeve trocken bemerkt, als Egwene ihr half, die Knöpfe des grauseidenen Kleides mit den Goldstickereien und den perlenbesetzten Blumen auf Busen und Ärmeln zu schließen, »aber damit können wir vielleicht unbemerkt entkommen.«

Jetzt schob Egwene ihren Umhang nach hinten und glättete ihr goldverziertes, grünes Seidenkleid. Sie sah Elayne kurz an, die in Blau mit beigefarbenen Streifen gekleidet war. Sie konnte nur hoffen, daß Nynaeve recht behielt. Bisher hatte man sie für adlige oder zumindest reiche Frauen gehalten, die hier Petitionen abgeben wollten.

Eine kleine Ansammlung von Bauersfrauen in dicken, dunklen Wollkleidern knickste, als sie vorbeischritten. Egwene blickte zu Min zurück, sobald sie weit genug entfernt waren. Min hatte wieder ihre Hosen und das bauschige Männerhemd an, und darüber den braunen Mantel und Umhang eines Jungen. Über ihr kurzes Haar hatte sie einen alten breitkrempigen Hut gestülpt. »Eine von uns muß den Diener spielen«, hatte sie lachend erklärt. »Frauen, die so angezogen sind wie ihr, haben immer mindestens einen dabei. Ihr werdet euch noch wünschen, meine Hosen zu tragen, wenn wir wegrennen müssen.« Sie schleppte vier Satteltaschen, die vor warmer Kleidung überquollen. Bevor sie zurückkehrten, würde es auf jeden Fall Winter. Auch Proviant hatten sie eingepackt, den sie aus der Küche entwendet hatten. Er würde reichen, bis sie sich wieder etwas kaufen konnten.

»Bist du sicher, daß du mir nicht einen Teil des Gepäcks zum Tragen geben willst, Min?« fragte Egwene leise.

»Sie sind nur sperrig«, sagte Min grinsend, »aber nicht schwer.« Sie schien alles für ein Spiel zu halten oder tat zumindest so. »Und die Leute würden sich garantiert wundern, warum eine so feine Lady ihre eigenen Satteltaschen schleppen muß. Du kannst deine und meinetwegen auch meine dann tragen, wenn wir... « Ihr Grinsen verging, und sie flüsterte eindringlich: »Aes Sedai!«

Egwene blickte rasch nach vorn. Eine Aes Sedai mit langem, glattem, schwarzem Haar und zu Elfenbein gealterter Haut kam durch den Korridor auf sie zu, wobei sie den Ausführungen einer Frau in grober Bauernkleidung und einem geflickten Umhang lauschte. Die Aes Sedai hatte sie noch nicht erspäht, aber Egwene erkannte sie. Es war Takima, eine der Braunen Ajah, die ansonsten Geschichte der Weißen Burg und der Aes Sedai lehrte. Sie würde auf hundert Schritt Entfernung eine ihrer Schülerinnen erkennen.

Nynaeve bog in einen Seitengang ein, ohne ihre Schritte zu verlangsamen, aber dort kam eine der Aufgenommenen an ihnen vorbei, eine schlacksige Frau mit ewig finsterem Gesicht, die eine Novizin mit rot angelaufenem Gesicht am Ohr hinter sich herzog.

Egwene mußte schlucken, bevor sie etwas sagen konnte: »Das waren Irella und Else. Haben sie uns bemerkt?« Sie brachte es nicht fertig, sich noch einmal umzublicken.

»Nein«, sagte Min nach einem Moment. »Sie haben nur unsere Kleider bemerkt.« Egwene atmete vor Erleichterung tief durch. Auch von Nynaeve war ein Seufzer der Erleichterung zu hören.

»Bevor wir die Ställe erreichen, bekomme ich noch einen Herzschlag«, murmelte Elayne. »Fühlt man sich bei einem Abenteuer die ganze Zeit so, Egwene? Das Herz in der Hose und der Magen in den Kniekehlen?«

»Ich denke schon«, meinte Egwene bedächtig. Es war schwer zu verstehen, daß sie noch vor einiger Zeit ganz wild auf Abenteuer gewesen war und etwas Gefährliches und Aufregendes anstellen wollte, so wie die Menschen in den Legenden. Jetzt war ihr klar, daß alles Erregende darin bestand, woran man sich erinnerte, und daß die Geschichten eine Menge unangenehmer Dinge nicht erwähnten. Das sagte sie auch Elayne.

»Trotzdem«, meinte die Tochter-Erbin entschieden, »ich habe so etwas Aufregendes noch nie erlebt und hätte auch keine Gelegenheit dazu, wenn es nach Mutter ginge. Und die hat mich am Gängelband, bis ich selbst einmal den Thron besteige.«

»Seid jetzt ruhig, ihr beiden«, sagte Nynaeve. Zur Abwechslung einmal waren sie allein im Korridor. Nach beiden Seiten hin war niemand zu sehen. Sie zeigte auf eine enge Wendeltreppe, die nach unten führte. »Das ist genau das, was wir jetzt brauchen. Ich hoffe, ich habe bei den vielen Wendungen und Kurven, die wir beschrieben haben, nicht die Richtung verloren.«

Sie begab sich sicheren Schrittes zur Treppe, und die anderen folgten ihr. Und tatsächlich, die kleine Tür am Fuß der Treppe führte hinaus auf den staubigen Hof des Südstalles, wo die Pferde der Novizinnen eingestellt waren, soweit sie welche hatten. Gewöhnlich blieben sie dort, bis sie wieder gebraucht wurden, also bis sie zu Aufgenommenen gemacht oder heimgeschickt wurden. Die schimmernde Masse der Burg erhob sich hinter ihnen.

Das Gelände der Burg bedeckte eine große Fläche, und ihre Mauer war höher als die der sie umgebenden Stadt.

Nynaeve ging in den Stall hinein, als gehöre er ihr. Es roch drinnen nach sauberem Heu und Pferden. Zwei lange Boxenreihen zogen sich nach hinten in die Schatten hinein, die von Lichtbalken aus den Dachluken durchbrochen wurden. Endlich einmal standen die zerzauste Bela und Nynaeves graue Stute in Boxen nahe dem Tor. Bela schob ihre Nase über die Boxentür und wieherte leise, als Egwene zu ihr ging. Es war nur ein Stallbursche in der Nähe, ein netter älterer Mann mit Grau im Bart, der auf einem Strohhalm herumkaute.

»Du wirst unsere Pferde satteln«, sagte Nynaeve im Kommandoton zu ihm. »Diese beiden. Min, suche dein und Elaynes Pferd.« Min ließ die Satteltaschen fallen und zog Elayne tiefer in den Stall hinein.

Der Stallbursche runzelte die Stirn und nahm bedächtig den Strohhalm aus dem Mund. »Da muß irgendein Fehler vorliegen, Lady. Diese Tiere... «

»... sind unsere«, sagte Nynaeve mit fester Stimme. Sie verschränkte die Arme über der Brust, so daß ihr Schlangenring deutlich sichtbar war. »Du sattelst sie jetzt bitte.«

Egwene hielt die Luft an. Es war ihr letzter Ausweg gewesen, daß Nynaeve sich als Aes Sedai ausgeben würde, falls sie Schwierigkeiten mit jemand hatten, der sie möglicherweise unter diesen Umständen als solche akzeptieren würde. Natürlich konnte das einer Aufgenommenen oder gar einer Aes Sedai nicht passieren, aber bei einem Stallburschen...

Der Mann sah erst Nynaeves Ring an und dann sie selbst. »Man hat mir gesagt, zwei«, sagte er schließlich unbeeindruckt. »Eine der Aufgenommenen und eine Novizin. Es war nicht von vieren die Rede.«

Egwene hätte am liebsten laut losgelacht. Ganz klar —Liandrin hatte sie nicht für fähig gehalten, ihre Pferde selbst zu holen.

Nynaeve blickte enttäuscht drein, sagte dann aber in schärferem Tonfall:

»Du holst jetzt die Pferde heraus und sattelst sie, oder du wirst Liandrin als Heilerin benötigen, falls sie so was für dich tut.«

Der Stallbursche flüsterte Liandrins Namen, aber nach einem Blick auf Nynaeves Miene kümmerte er sich um die Pferde. Er knurrte höchstens ein oder zweimal etwas in sich hinein, aber so leise, daß nur er selbst es hören konnte. Min und Elayne kehrten mit ihren eigenen Reittieren zurück, als er gerade den zweiten Sattelgurt festzurrte. Mins Pferd war ein hoher, staubfarbener Wallach, und Elayne führte eine braune Stute mit edel gekrümmtem Hals am Zügel.

Nach dem Aufsitzen wandte sich Nynaeve noch einmal dem Stallburschen zu: »Zweifellos hat man dir befohlen, den Mund zu halten, und daran ändert sich nichts, ob wir nun zwei sind oder zweihundert. Falls du anders denkst, solltest du auch bedenken, was Liandrin mit dir macht, wenn sie erfährt, daß du etwas ausgeplaudert hast, worüber du schweigen solltest.«

Beim Wegreiten warf ihm Elayne eine Münze zu und murmelte: »Für deine Mühe, guter Mann. Du hast es gut gemacht.« Draußen lächelte sie Egwene an und meinte: »Mutter sagt, Zuckerbrot und Peitsche wirken immer besser als die Peitsche allein.«

»Ich hoffe, bei den Wachen werden wir beides nicht benötigen«, sagte Egwene. »Ich hoffe, daß Liandrin auch mit denen gesprochen hat.«

Am Tarlomen-Tor jedoch, das die Südmauer der Burgumfriedung durchbrach, war nicht festzustellen, ob jemand mit den Wachsoldaten gesprochen hatte oder nicht. Sie winkten die vier Frauen nach einem kurzen Blick und einer höflichen Verbeugung einfach durch. Die Wachen waren dazu da, jene zurückzuweisen, die gefährlich wirkten, hatten aber wohl keine Anweisung, irgend jemanden drinnen festzuhalten.

Eine kühle Brise vom Fluß her erlaubte ihnen, die Kapuzen über die Köpfe zu ziehen, während sie langsam durch die Stadt ritten. Das Klappern ihrer Pferdehufe auf den Pflastersteinen ging im Lärm der Menge unter, die die Straßen füllte. Aus einigen der Gebäude, an denen sie vorbeiritten, erklang Musik. Die Menge teilte sich vor ihren Pferden wie ein Fluß vor einem Felsen, und sie konnten sich nur langsam vorwärtsbewegen. Kleidung aus aller Herren Länder war da zu sehen; von der nüchternen, dunklen Mode Cairhiens bis zu den leuchtenden Farben des Fahrenden Volks über jeden möglichen Stil dazwischen.

Egwene beachtete die sagenhaften Türme mit ihren schwindelerregenden Verbindungsbrücken nicht, genausowenig wie die Gebäude, die aussahen wie sich brechende Wogen oder vom Wind zerklüftete Klippen oder phantasievolle Muscheln und gar nicht wie etwas, das man aus Stein gebaut hat. Oft kamen Aes Sedai in die Stadt, und inmitten dieser Menge konnten sie einer plötzlich gegenüberstehen, ohne es rechtzeitig zu bemerken. Nach einer Weile wurde ihr bewußt, daß die anderen Frauen genauso scharf danach Ausschau hielten wie sie, aber der Anblick des Ogierhains war dann doch mehr als nur eine Erleichterung für sie.

Über den Dächern kamen die Großen Bäume in Sicht.

Ihre weit ausladenden Kronen befanden sich mehr als hundert Spannen weit oben. Hochaufragende Eichen und Ulmen, Lederblattbäume und Tannen wirkten im Vergleich dazu winzig. Eine Art von Mauer umgab den Hain, der etwa je zwei Meilen lang und breit war, aber sie bestand lediglich aus einer endlosen Reihe von verschlungenen Steinbögen — jeder fünfzig Spannen hoch und fast doppelt so breit. An der Außenseite dieser Mauer wuselte der Verkehr entlang — Kutschen, Karren, Fußgänger —, während sich innerhalb eine Art von Wildnis erstreckte. Der Hain wirkte weder wie ein künstlich angelegter Park noch wie ein zufällig entstandener Urwald. Er erschien statt dessen wie ein natürlicher Idealzustand, wie der absolut perfekte Wald, der schönste, den man sich vorstellen konnte. Einige Blätter hatten sich schon zu verfärben begonnen, und sogar der kleinste orangefarbene oder gelbe oder rote Fleck inmitten des Grüns schien für Egwene ein Idealbild des Herbstlaubs abzugeben.

Vereinzelt schlenderten Menschen innerhalb des von der Mauer umgebenen Gebiets umher, doch niemand nahm von den Frauen Notiz, als sie unter die Bäume ritten. Die Stadt geriet schnell außer Sicht. Selbst ihr Lärm wurde gedämpft und schließlich vom Wald verschluckt.

»Am Nordrand des Hains, sagte sie«, murmelte Nynaeve und spähte umher. »Das ist doch wohl schon der nördlichste Punkt... « Sie unterbrach sich, als zwei Pferde aus einem schwarzen Holundergesträuch hervorbrachen; eine dunkle, glänzende Stute mit einer Reiterin und ein leicht beladenes Packpferd.

Die dunkle Stute bäumte sich auf. Ihre Hufe traten ins Leere, als Liandrin die Zügel hart zu sich her riß. Das Gesicht der Aes Sedai war eine Maske der Wut. »Ich habe euch gesagt, ihr solltet niemandem davon erzählen! Niemandem!« Egwene bemerkte auf dem Packpferd einige Laternen an Stangen und wunderte sich darüber. »Sie sind Freundinnen«, begann Nynaeve. Ihr Rücken versteifte sich, aber Elayne unterbrach sie gleich.

»Vergebt uns, Liandrin Sedai. Sie haben es uns nicht gesagt; wir haben Euch belauscht. Wir wollten gar nicht hören, was wir nicht wissen sollten, aber wir haben es nun mal gehört. Und wir wollen auch Rand al'Thor helfen. Und natürlich auch den anderen Jungen«, fügte sie hastig hinzu.

Liandrin blickte Elayne und Min durchdringend an. Die Spätnachmittagssonne sandte Lichtbalken zwischen den Zweigen hindurch und warf Schatten auf ihre von den Kapuzen teilweise verdeckten Gesichter. »Also«, sagte sie schließlich, beobachtete aber dabei immer noch die beiden. »Ich hatte zwar bereits arrangiert, daß man sich um euch kümmert, aber da ihr nun einmal hier seid, seid ihr eben hier. Vier können diese Reise ebensogut antreten wie zwei.«

»Um uns kümmert, Liandrin Sedai?« fragte Elayne. »Das verstehe ich nicht.«

»Kind, du und diese andere seid als Freundinnen dieser beiden bekannt. Glaubst du nicht, daß man euch verhören würde, wenn man ihr Fehlen feststellt? Glaubst du, die Schwarzen Ajah würden euch sanft behandeln, nur weil eine von euch einen Thron erben soll? Wenn ihr in der Weißen Burg geblieben wärt, hättet ihr diese Nacht wohl kaum überlebt.« Das brachte sie einen Moment lang zum Schweigen, doch dann ließ Liandrin ihr Pferd wenden und rief: »Folgt mir!«

Die Aes Sedai führte sie tiefer in den Hain hinein, bis sie an ein hohes Eisengitter mit rasiermesserscharfen Spitzen kamen. Leicht gekrümmt, als umspanne es eine größere Fläche, verlief das Gitter nach rechts und nach links, bis es unter den Bäumen nicht mehr sichtbar war. Im Gitter befand sich ein Tor mit einem großen Schloß. Liandrin schloß es mit einem mächtigen Schlüssel auf, den sie aus ihrem Umhang zog. Sie ließ sie hineinreiten und schloß dann hinter ihnen wieder ab. Sofort danach ritt sie weiter hinein. Von einem Ast über ihnen keckerte ein Eichhörnchen auf sie herab, und von irgendwoher erklang das harte Trommeln eines Spechts.

»Wohin reiten wir?« wollte Nynaeve wissen. Liandrin antwortete nicht, und Nynaeve blickte sich zornig nach den anderen um. »Warum reiten wir immer tiefer in diesen Wald hinein? Wir müssen eine Brücke überqueren oder ein Schiff nehmen, wenn wir Tar Valon verlassen wollen, und hier drinnen gibt es weder Brücke noch... «

»Aber dafür das hier«, verkündete Liandrin. »Der Zaun soll nur jene abhalten, die hier zu Schaden kommen könnten, doch wir mußten heute hierher kommen.« Worauf sie deutete, war eine hohe, dicke, hochkant stehende Platte, anscheinend aus Stein gehauen, deren eine Seite mit einem komplizierten Fries aus Blättern und Ranken verziert war.

Egwenes Kehle zog sich zusammen. Mit einem Mal wußte sie, warum Liandrin Laternen mitgenommen hatte. Der Grund gefiel ihr überhaupt nicht. Sie hörte Nynaeve flüstern: »Ein Wegetor.« Sie erinnerten sich beide nur zu gut an die Kurzen Wege.

»Wir haben es einmal überstanden«, sagte sie genauso zu sich selbst wie zu Nynaeve. »Also werden wir es auch beim zweiten Mal überstehen.« Wenn Rand und die anderen uns brauchen, dann müssen wir ihnen helfen. Das reicht ja wohl. »Ist das wirklich...?« begann Min mit erstickender Stimme und konnte dann den Satz nicht beenden.

»Ein Wegetor«, hauchte Elayne. »Ich habe nicht geglaubt, daß man die Kurzen Wege noch benutzen kann. Zumindest dachte ich, es sei verboten.«

Liandrin war bereits abgestiegen und pflückte das Avendesora-Blatt aus dem Fries. Wie zwei riesige, aus lebenden Ranken bestehende Torflügel öffnete sich der Eingang und gab den Blick auf etwas frei, das wie ein matter, silbriger Spiegel wirkte, in dem sie sich schwach widerspiegelten. »Ihr müßt nicht mitkommen«, sagte Liandrin. »Ihr könnt hier auf mich warten in der Sicherheit des umzäunten Gebietes, bis ich euch abhole. Aber vielleicht finden euch die Schwarzen Ajah eher als ich.« Ihr Lächeln wirkte nicht gerade angenehm. Hinter ihr öffnete sich das Wegetor vollends und blieb offen stehen.

»Ich habe nicht gesagt, daß ich nicht mitkomme«, sagte Elayne, doch dabei warf sie einen sehnsüchtigen Blick auf den schattigen Wald. »Wenn wir schon da hineingehen«, sagte Min heiser, »dann los.« Sie starrte das Wegetor an, und Egwene glaubte, sie murmeln zu hören: »Das Licht soll dich versengen, Rand al'Thor.«

»Ich muß als letzte gehen«, sagte Liandrin. »Hinein, ihr alle. Ich folge euch.« Sie blickte nun in Richtung des Waldes, als fürchte sie, jemand könne ihnen gefolgt sein. »Schnell! Schnell!«

Egwene wußte nicht, was Liandrin zu sehen erwartete, aber falls irgend jemand kam, könnte man denjenigen daran hindern, das Wegetor zu benutzen. Rand, du wollköpfiger Idiot, dachte sie, warum kannst du nicht zur Abwechslung einmal in Schwierigkeiten hineinstolpern, bei denen ich nicht gezwungen bin, die Heldin aus dem Märchen zu spielen? Sie hieb Bela die Fersen in die Flanken, und die zerzauste Stute, sowieso nervös vom langen Stehen im Stall, sprang mit einem Satz los. »Langsam!« rief ihr Nynaeve hinterher, doch es war zu spät. Egwene und Bela jagten auf ihre matten Spiegelbilder los; zwei zerzauste Pferde berührten sich an den Nasen und schienen ineinander zu verschmelzen. Dann verschmolz auch Egwene unter einem eisigen Schock mit ihrem Spiegelbild. Die Zeit schien sich zu strecken, als kröche die Kälte Haar für Haar über ihren Körper, und bei jedem Haar dauerte es minutenlang.

Plötzlich stolperte Bela durch pechschwarze Nacht. Sie bewegte sich so schnell, daß sie sich beinahe überschlagen hätte. Sie fing sich jedoch und stand zitternd da, während Egwene schnell herunterkletterte und an den Beinen der Stute entlangfühlte, ob sie sich verletzt habe. Sie war beinahe froh über die Dunkelheit, die ihr hochrotes Gesicht verbarg. Sie wußte, daß sowohl die Zeit als auch die Entfernungen auf der anderen Seite eines Wegetores ganz anders verliefen. Sie hatte sich gedankenlos verhalten.

In jeder Richtung erstreckte sich nur die Dunkelheit, außer dort, wo das Rechteck des geöffneten Tores wie ein von hinten beleuchtetes Rauchglasfenster schimmerte. Es ließ in Wirklichkeit kein Licht nach innen durch — die Schwärze schien sich direkt dagegenzupressen —, aber Egwene konnte die anderen sehen, die sich stark verlangsamt bewegten: Gestalten in einem Alptraum. Nynaeve bestand darauf, den anderen die Laternen zu geben und sie zu entzünden. Liandrin stimmte mürrisch zu und bestand offensichtlich auf Eile.

Als Nynaeve durch das Tor kam und langsam, ganz langsam ihre graue Stute hinter sich herführte, rannte Egwene beinahe zu ihr, um sie zu umarmen. Allerdings wollte sie damit auch ins Licht der Laterne gelangen, die Nynaeve trug. Der Lichtkreis der Laterne war kleiner als gewohnt. Die Dunkelheit drückte gegen das Licht und versuchte, es in die Laterne zurückzudrängen. Aber Egwene hatte den wachsenden Druck der Dunkelheit auf ihren Körper gespürt, als besitze sie ein Gewicht. Nun begnügte sie sich damit, zu sagen: »Bela ist in Ordnung, und ich habe mir auch nicht den Hals gebrochen, obwohl ich es verdient hätte.«

Einst hatte es in den Wegen Licht gegeben, bevor die Verderbnis der Macht, mit deren Hilfe sie erschaffen worden waren, die Verderbnis des Dunklen Königs, die auf Saidin lastete, begonnen hatte, auch sie zu verderben.

Nynaeve reichte ihr die Laternenstange und wandte sich um, damit sie noch eine unter ihrem Sattelgurt hervorziehen konnte. »Solange du dir darüber im klaren bist, daß du es verdient hast«, murmelte sie, »hast du es nicht verdient.« Plötzlich schmunzelte sie. »Manchmal glaube ich, daß es solche Sprüche waren und nicht alles andere, was uns den Titel ›Seherin‹ oder ›Weise Frau‹ eingebracht hat. Hier ist noch einer von der Sorte: Du brichst dir den Hals, und ich heile ihn wieder, damit ich ihn dir selbst brechen kann.«

Sie sagte das so leichthin, und Egwene lachte auch darüber — bis sie sich darauf besann, wo sie sich befanden. Auch Nynaeves Heiterkeit hielt nicht lange an.

Min und Elayne kamen zögernd durch das Wegetor, führten ihre Pferde und hielten die Laternen, als befürchteten sie, daß hier Monster auf sie warteten. Zuerst machten sie ob der Dunkelheit einen erleichterten Eindruck, aber sie war so erdrückend, daß sie bald nervös von einem Fuß auf den anderen traten. Liandrin drückte das Avendesora-Blatt an seinen Platz zurück und ritt mit dem Packpferd im Schlepptau durch das sich schließende Wegetor.

Liandrin wartete nicht, bis sich das Tor völlig geschlossen hatte. Sie warf Min die Führleine des Packpferdes wortlos zu und ritt entlang einer weißen Linie weiter, die im Licht der Laternen nur trübe zu sehen war und in die Wege hineinführte. Der Boden schien aus Stein zu bestehen, der durch die Einwirkung von Säure zerfressen war. Egwene kletterte hastig auf Belas Rücken, aber sie folgte der Aes Sedai nicht schneller als die anderen. Es schien nichts weiter auf der Welt zu existieren als der rauhe Boden unter den Hufen der Pferde.

Die weiße Linie führte pfeilgerade durch die Dunkelheit zu einer großen Steinplatte, die mit in Silber eingelegter Ogierschrift bedeckt war. An einzelnen Stellen wurde die Schrift von den gleichen Pockennarben unterbrochen, wie sie auf dem Boden zu sehen waren.

»Ein Wegweiser«, murmelte Elayne; sie drehte sich im Sattel um und starrte nervös nach hinten. »Elaida hat mir ein wenig von den Wegen erzählt. Sie hat aber nicht viel gesagt. Nicht genug«, fügte sie trübsinnig hinzu. »Oder vielleicht schon zuviel.«

Gelassen verglich Liandrin den Wegweiser mit einem Pergament, das sie dann wieder in einer Tasche ihres Umhangs verstaute, bevor Egwene einen Blick darauf werfen konnte. Der Schein ihrer Laternen endete schlagartig, ohne die üblichen verschwommenen Ränder, doch es reichte für Egwene, eine breite, an einzelnen Stellen zerfallene Steinbalustrade zu erkennen, als die Aes Sedai sie von dem Wegweiser aus weiterführte. Elayne hatte das eine Insel genannt. In der Dunkelheit ließ sich die Größe der Insel schlecht schätzen, doch Egwene glaubte, sie müsse etwa hundert Schritt Durchmesser haben. Steinbrücken und Rampen unterbrachen die Balustrade. Neben jeder stand ein Steinpfosten mit einer einzigen Linie in der Ogierschrift darauf. Die Brückenbögen schienen sich ins Nichts zu erstrecken. Die Rampen führten entweder nach oben oder nach unten. Es war unmöglich, mehr als ihren Anfang zu überblicken, während sie an ihnen vorbeiritten.

Liandrin blieb immer wieder stehen, um die Steinpfosten zu mustern. Dann wählte sie eine nach unten führende Rampe und bald existierte nichts mehr als diese Rampe, und die Dunkelheit. Eine geräuschdämpfende Stille hing über allem. Egwene hatte das Gefühl, daß selbst das laute Klappern der Pferdehufe auf den rauhen Steinen nicht weit über den Lichtschein hinaus trug.

Immer tiefer hinunter führte die Rampe. Sie beschrieb eine enge Windung und dann befanden sie sich auf einer neuen Insel mit ihrer halb zerfallenen Balustrade zwischen Brücken und Rampen und mit ihrem Wegweiser, dessen Aufschrift Liandrin mit ihrem Pergament verglich. Die Insel bestand aus festem Gestein, genau wie die erste. Egwene hatte das beunruhigende Gefühl, daß sich die erste Insel genau über ihren Köpfen befand.

Plötzlich sprach Nynaeve Egwenes Gedanken laut aus. Ihre Stimme klang fest, doch mittendrin unterbrach sie sich und schluckte.

»Es — es könnte doch sein«, sagte Elayne mit schwacher Stimme. Ihr Blick ging ganz kurz nach oben. »Elaida sagt, in den Wegen gelten die Naturgesetze nicht. Zumindest nicht so, wie draußen.«

»Licht!« knurrte Min und erhob dann ihre Stimme:

»Wie lange sollen wir hier drinnen verbleiben?«

Die honigfarbenen Zöpfe der Aes Sedai schwangen herum, als sie sich zu ihnen umwandte. »Bis ich euch hinausbringe«, sagte sie kurz angebunden. »Je mehr ihr mich stört, desto länger wird es dauern.« Damit beugte sie sich wieder über ihr Pergament und verglich es weiter mit dem Wegweiser.

Egwene und die anderen schwiegen.

So ritt Liandrin mit ihnen von Wegweiser zu Wegweiser, über Rampen und Brücken, die sich ohne Stützen durch die endlose Dunkelheit schwangen. Die Aes Sedai achtete kaum auf die anderen, und Egwene fragte sich, ob sie zurückreiten und suchen würde, falls eine von ihnen zurückbleiben sollte. Den anderen ging möglicherweise der gleiche Gedanken durch den Kopf, denn sie hielten sich alle dicht beieinander, gleich hinter der dunklen Stute.

Egwene war überrascht, als sie an sich bemerkte, daß Saidar sie immer noch und auch hier lockte. Sie fühlte sowohl die Gegenwart der weiblichen Hälfte der Wahren Quelle als auch den Wunsch, sie zu berühren und den Fluß der Macht zu lenken. Irgendwie hatte sie sich eingebildet, daß der verderbliche Einfluß des Schattens auf die Wege Saidar vor ihr verbergen werde. Sie konnte auf gewisse Weise diese Verderbtheit spüren. Es war ein schwaches Gefühl und hatte nichts mit Saidar zu tun, aber sie war sicher, wenn sie hier versuchen würde, die Wahre Quelle zu berühren, wäre das, als strecke sie ihren nackten Arm durch übelriechenden, schmierigen Qualm, um eine saubere Tasse zu ergreifen. Was auch immer sie tat, würde etwas von dieser Verderbnis berühren. Zum ersten Mal seit Wochen hatte sie überhaupt keine Schwierigkeiten, der Verlockung von Saidar zu widerstehen.

Es mußte draußen, auf der Welt außerhalb der Kurzen Wege, schon längst Nacht sein, als Liandrin auf einer Insel plötzlich vom Pferd stieg und verkündete, daß sie hier ihr Essen einnehmen und schlafen würden und daß sich unter den Lasten auf dem Packpferd auch Lebensmittel fänden.

»Teilt es euch auf«, sagte sie, ohne jemanden Bestimmtes damit zu beauftragen. »Wir werden gute zwei Tage bis zur Toman-Halbinsel benötigen. Ich will nicht, daß ihr hungrig ankommt, falls ihr selbst nicht an Essen gedacht haben solltet.« Mit sparsamen Bewegungen nahm sie ihrer Stute den Sattel ab und legte ihr Beinfesseln an. Dann setzte sie sich auf ihren Sattel und wartete darauf, daß ihr jemand etwas zu essen brachte.

Elayne brachte ihr Fladenbrot und Käse. An der Haltung der Aes Sedai war klar zu erkennen, daß sie keinen Wert auf ihre Gegenwart legte, also aßen die anderen ihr Brot und ihren Käse ein Stück weiter weg. Sie hatten ihre Sättel zusammengeschoben und sich ebenfalls draufgesetzt. Die Dunkelheit jenseits der Lichtkreise ihrer Laternen hob ihre Stimmung auch nicht gerade.

Nach einer Weile sagte Egwene: »Liandrin Sedai, was passiert, wenn wir dem Schwarzen Wind begegnen?« Min formte fragend das Wort mit dem Mund, aber Elayne quiekte erschreckt. »Moiraine Sedai hat gesagt, man könne ihn nicht töten und ihm nicht einmal besonders weh tun, und ich spüre hier deutlich die Verderbnis dieses Orts, die nur darauf wartet, alles zu verdrehen, was wir mit Hilfe der Macht tun.«

»Du wirst noch nicht einmal an die Wahre Quelle denken, bis ich es dir befehle«, sagte Liandrin in scharfem Ton. »Ach, wenn eine wie du hier die Macht zu lenken versuchte, könnte sie genau wie ein Mann dem Wahnsinn verfallen. Du hast noch nicht die nötige Übung, um der Verderbnis dieser Männer zu widerstehen, die dies angelegt haben. Falls der Schwarze Wind auftaucht, werde ich mich mit ihm befassen.« Sie spitzte die Lippen und betrachtete einen Brocken Käse. »Moiraine weiß nicht soviel, wie sie sich einbildet.« Lächelnd schob sie den Käse in den Mund.

»Ich kann sie nicht leiden«, murmelte Egwene so leise, daß die Aes Sedai es nicht hören konnte. »Wenn Moiraine mit ihr zusammenarbeiten kann, können wir es auch«, sagte Nynaeve ruhig. »Nicht, daß mir Moiraine lieber wäre als Liandrin, aber wenn sie sich wieder in die Angelegenheiten Rands und der anderen einmischen... « Sie schwieg und zog ihren Umhang hoch. Die Dunkelheit strömte keine Kälte aus, doch irgendwie erschien es ihnen kalt.

»Was ist der Schwarze Wind?« fragte Min. Als Elayne es ihr unter vielen Versicherungen, Elaida habe das behauptet und ihre Mutter hätte dies gesagt, erklärt hatte, seufzte Min. »Das Muster ist uns eine ganze Menge schuldig. Ich weiß nicht, ob irgendein Mann das Risiko wert ist.«

»Du hättest ja nicht mitzukommen brauchen«, machte ihr Egwene klar. »Du hättest zu jeder Zeit gehen können. Keiner hätte dich aufgehalten, wenn du die Burg verlassen hättest.«

»Ja, ich hätte durchaus weglaufen können«, sagte Min trocken. »Genauso einfach wie du oder Elayne. Das Muster kümmert sich nicht um unsere Wünsche. Egwene, was ist, wenn Rand dich trotz allem, was du seinetwegen durchmachst, nicht heiratet? Was, wenn er eine Frau heiratet, die du noch gar nicht kennst, oder Elayne, oder mich? Was dann?«

Elayne schnaubte: »Mutter hätte etwas dagegen.«

Egwene schwieg eine Weile. Rand lebte vielleicht nicht lange genug, um irgend jemanden zu heiraten. Und falls doch... Sie konnte sich nicht vorstellen, daß Rand jemandem weh tun würde. Nicht einmal, wenn er wahnsinnig wird? Es mußte einen Weg geben, das aufzuhalten oder zu ändern; Aes Sedai wußten so viel und konnten so viel tun. Wenn sie es verhindern könnten, warum tun sie es dann nicht? Die einzige Antwort war, daß sie es nicht konnten, und die Antwort wollte sie nicht hören.

Sie bemühte sich, heiter zu klingen: »Ich glaube nicht, daß ich ihn heiraten werde. Aes Sedai heiraten nur selten, das wißt ihr doch. Aber ich würde mich an eurer Stelle auch nicht auf ihn versteifen. Auch du nicht, Elayne. Ich glaube nicht... « Ihre Stimme brach, und sie hustete schnell, damit es die anderen nicht merkten. »Ich glaube nicht, daß er jemals heiraten wird. Aber wenn doch, dann wünsche ich derjenigen viel Glück, auch wenn es eine von euch sein sollte.« Sie glaubte, daß es überzeugend geklungen hatte. »Er ist stur wie ein Maulesel und hat so manchen Fehler, aber er ist auch lieb.« Ihre Stimme schwankte, doch sie brachte es gerade noch fertig, das Schwanken in ein Auflachen zu verwandeln.

»Du magst ja behaupten, daß es dich nicht interessiert«, sagte Elayne, »aber du hättest noch mehr dagegen als Mutter. Er ist wirklich interessant, Egwene. Interessanter als jeder andere Mann, den ich je kennengelernt habe, auch wenn er nur Schafhirte ist. Wenn du dumm genug bist, ihn dir durch die Lappen gehen zu lassen, hast du es dir seihst zuzuschreiben, wenn ich ihn dir und Mutter zum Trotz heirate. Es wäre nicht das erste Mal, daß ein Prinz von Andor vor seiner Heirat keinen Titel besitzt. Aber so dumm bist du nicht, also höre auf, dich dumm zu stellen. Zweifellos wirst du eine der Grünen Ajah und machst einen deiner Behüter aus ihm. Die einzigen Grünen, von denen ich weiß, daß sie nur einen Behüter haben, sind auch mit ihm verheiratet.«

Egwene zwang sich zum Mitspielen und meinte, wenn sie zu den Grünen gehöre, werde sie zehn Behüter haben.

Min beobachtete sie mit gerunzelter Stirn, und Nynaeve wiederum beobachtete Min nachdenklich. Als sie dann bequemere Reisekleider aus ihren Satteltaschen holten und anlegten, breitete sich Schweigen aus. Es war schwer, sich in dieser Umgebung gute Laune zu erhalten.

Egwene schlief erst spät ein, und dann war es ein unruhiger Schlaf mit vielen Alpträumen. Sie träumte nicht von Rand, sondern von dem Mann mit den Augen aus Feuer. Diesmal war sein Gesicht nicht maskiert, und es sah mit seinen kaum verheilten Verbrennungen furchtbar aus. Er sah sie nur an und lachte, aber das war schlimmer als die folgenden Träume, in denen sie sich in den Kurzen Wegen verirrte und vom Schwarzen Wind verfolgt wurde. Sie war dankbar, als Liandrins Stiefelspitze sich in ihre Rippen bohrte, um sie aufzuwecken. Sie fühlte sich, als habe sie kein Auge zugemacht.

Liandrin trieb sie den ganzen nächsten Tag hart an —oder was man hier als Tag bezeichnen mochte. Ihre Laternen mußten die Sonne ersetzen. Sie ließ sie nicht rasten, bis sie müde im Sattel schwankten. Der Steinboden war ein hartes Bett, doch nach nur wenigen Stunden trieb Liandrin sie bereits wieder hoch. Sie wartete kaum, bis sie aufgesessen waren. Rampen und Brücken, Inseln und Wegweiser. Egwene sah so viele in dieser Pechschwärze, daß sie sie nicht mehr zählen konnte. Auch die Stunden und Tage konnte sie nicht mehr zählen — ihr Zeitgefühl funktionierte hier einfach nicht mehr. Liandrin gestattete ihnen nur kurze Pausen zum Essen und um die Pferde ausruhen zu lassen, und die Dunkelheit drückte auf ihre Schultern. Sie hingen alle außer Liandrin wie Mehlsäcke in ihren Sätteln. Die Aes Sedai schien von der Anstrengung und der Dunkelheit unbeeindruckt. Sie wirkte so frisch wie in der Weißen Burg und genauso kalt. Sie ließ niemanden einen Blick auf das Pergament erhaschen, das sie immer mit den Wegweisern verglich, und steckte es jedesmal mit einem kurzen »Ihr versteht das sowieso nicht« weg, wenn Nynaeve sie danach fragte.

Und dann, während Egwene noch müde in die Dunkelheit blinzelte, ritt Liandrin von einem Wegweiser weg — nicht eine weitere Rampe hinunter oder auf eine Brücke, sondern entlang einer zerfransten weißen Linie, die in die Dunkelheit hineinführte. Egwene blickte sich nach ihren Freundinnen um, und dann beeilten sich alle, Liandrin zu folgen. Vor ihnen entfernte die Aes Sedai bereits im Lichtschein ihrer Laternen das Avendesora-Blatt aus dem Fries eines Wegetors.

»Wir sind da«, erklärte Liandrin lächelnd. »Ich habe euch nun endlich an euren Bestimmungsort gebracht.«

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