40 Damane

Egwene stieg vom Pferd, als sich das Wegetor öffnete, und als Liandrin ihnen bedeutete, durchzugehen, da führte sie die zerzauste Stute vorsichtig hinaus. Trotzdem stolperten sowohl sie als auch Bela über das von dem sich öffnenden Tor niedergedrückte Gestrüpp, als sie sich mit einem Mal viel langsamer bewegten. Dichtes Gestrüpp hatte das Wegetor umgeben und verborgen. Nur ein paar Bäume standen in der Nähe, und das Laub, das im Morgenwind flatterte, war ein wenig bunter als das in Tar Valon.

Sie beobachtete ihre Freundinnen beim Herauskommen so konzentriert, daß sie mehr als eine Minute dort gestanden hatte, bevor ihr bewußt wurde, daß sich noch andere hier befanden, lediglich außer Sicht an der Rückseite des Tores. Als sie die anderen schließlich bemerkt hatte, blickte sie nervös hinüber: Es war die eigenartigste Ansammlung von Menschen, die sie je gesehen hatte, und außerdem hatte sie schon zu viele Gerüchte über den Krieg auf der Toman-Halbinsel gehört.

Es waren mindestens fünfzig schwer gerüstete Männer mit Schuppenpanzern und matten schwarzen Helmen in der Form von Insektenköpfen, die da in ihren Sätteln saßen oder neben ihren Pferden standen und sie und die anderen gerade auftauchenden Frauen und das Wegetor anstarrten. Sie unterhielten sich offensichtlich über das, was sie sahen. Der einzige, der seinen vergoldeten und bemalten Helm nicht auf dem Kopf, sondern an der Hüfte trug, ein hochgewachsener, dunkelhäutiger Bursche mit einer Hakennase, staunte unverhohlen.

Neben den Soldaten standen auch Frauen. Zwei davon trugen einfache dunkelgraue Kleider und breite silberne Halsbänder. Sie musterten die Neuankömmlinge besonders intensiv. Direkt hinter jeder stand eine weitere Frau, so, als wolle sie ihr etwas ins Ohr flüstern. Zwei weitere Frauen, die ein kleines Stückchen weiter weg standen, trugen weite, geschlitzte, nicht einmal knöchellange Röcke und auf dem Busen und am Rock jeweils ein Abzeichen mit einem gespaltenen Blitz. Am eigenartigsten jedoch wirkte eine letzte Frau, die auf einer von acht muskulösen Männern mit nackten Oberkörpern und weiten schwarzen Hosen getragenen Sänfte ruhte. Ihr Kopf war auf beiden Seiten kahlrasiert, so daß nur ein einziger Strang schwarzen Haares in der Mitte auf ihre Schultern fiel. Ihre lange, beigefarbene Robe mit Blumen und Vögeln auf blauen Ovalen war so drapiert, daß ihr schimmernd weißer Rock gut sichtbar war. Ihre Fingernägel waren alle enorm lang und die beiden ersten an jeder Hand hatte sie blau gefärbt.

»Liandrin Sedai«, fragte Egwene nervös, »wißt Ihr, wer diese Leute sind?« Ihre Freundinnen hielten die Zügel so verkrampft, als dächten sie daran, auf die Pferde zu springen und wegzugaloppieren. Doch Liandrin steckte nur das Avendesora-Blatt an seinen Platz zurück und trat selbstbewußt vor, während sich das Wegetor langsam schloß. »Hohe Dame Suroth?« sagte Liandrin. Es klang wie ein Mittelding zwischen einer Frage und einer Feststellung.

Die Frau auf der Sänfte neigte den Kopf ein wenig. »Ihr seid Liandrin.« Ihre Aussprache war undeutlich, und Egwene brauchte einen Moment, bis sie die Worte verstand. »Aes Sedai«, fügte Suroth mit spöttisch verzogenem Mund hinzu, und unter den Soldaten machte sich Unruhe breit. »Wir müssen diesen Ort schnell wieder verlassen, Liandrin. Es sind Patrouillen unterwegs, und es wäre nicht gut, wenn wir von ihnen entdeckt würden. Euch würde die liebevolle Behandlung der Wahrheitsfinder genausowenig schmecken wie mir. Ich will wieder in Falme sein, bevor Turak merkt, daß ich weg bin.«

»Wovon sprecht Ihr da?« wollte Nynaeve wissen. »Wovon redet sie, Liandrin?«

Liandrin legte eine Hand auf Nynaeves und eine auf Egwenes Schulter. »Das sind die beiden, von denen Euch berichtet wurde. Und hier ist noch eine.« Sie nickte in Richtung Elayne. »Das ist die Tochter-Erbin von Andor.«

Die beiden Frauen mit den Blitzen am Kleid kamen auf die Gesellschaft vor dem Wegetor zu. Egwene bemerkte, daß sie Leinen aus irgendeinem silbrigen Metall in den Händen hielten. Der barhäuptige Soldat kam auch mit. Seine Hand näherte sich aber nicht dem Schwertgriff, der über seine Schulter hinausragte, und er lächelte dabei unverbindlich. Trotzdem beobachtete Egwene ihn mißtrauisch. Liandrin gab kein Anzeichen der Erregung von sich, sonst wäre Egwene in diesem Augenblick ohne Zögern auf Belas Rücken gesprungen.

»Liandrin Sedai«, sagte sie eindringlich, »wer sind diese Leute? Sind sie auch hier, um Rand und den anderen zu helfen?«

Der Mann mit der Hakennase packte plötzlich Min und Elayne am Hals, und im nächsten Augenblick überstürzten sich die Ereignisse. Der Mann schrie auf und fluchte; eine oder vielleicht auch mehrere Frauen kreischten — Egwene war sich nicht sicher. Plötzlich wurde ein Sturmwind aus der Morgenbrise, und er peitschte Liandrins wütenden Aufschrei in einer Wolke aus Dreck und Laub hinweg, und die Bäume neigten sich ächzend. Pferde bäumten sich auf und wieherten schrill. Und eine von den Frauen streckte die Hand aus und befestigte etwas an Egwenes Hals.

Mit einem Umhang, der wie ein Segel flatterte, stemmte sich Egwene gegen den Wind und riß an etwas, das sich wie ein Kragen aus glattem Metall anfühlte. Es gab nicht nach. Ihre Finger zitterten. Es war wie aus einem Stück, obwohl sie wußte, daß es doch irgendwo einen Verschluß aufweisen mußte. Die silbrige Leine der Frau hing nun Egwene über die Schulter. Ihr anderes Ende war an einem schimmernden Armband am linken Handgelenk der Frau befestigt. Egwene ballte eine Faust so fest sie konnte und schlug sie der Frau aufs Auge — und dann taumelte sie selbst und fiel auf die Knie. Ihr Kopf schmerzte wie von einem Schlag, so, als sei sie von einem kräftigen Mann ins Gesicht geschlagen worden.

Als sie wieder klar sehen konnte, war der Wind eingeschlafen. Einige Pferde wanderten ziellos herum, darunter auch Bela und Elaynes Stute, und ein paar der Soldaten fluchten und standen mühsam wieder auf. Liandrin wischte sich gelassen Staub und Herbstlaub vom Kleid. Min kniete am Boden, auf die Hände gestützt, und versuchte benommen, sich hochzurappeln. Der Mann mit der Hakennase stand über ihr. Von seiner Hand tropfte Blut. Mins Messer lag ein Stück außerhalb ihrer Reichweite. An der einen Seite war die Klinge blutverschmiert. Nynaeve und Elayne waren nirgendwo zu sehen, und auch Nynaeves Stute war verschwunden, genauso wie einige Soldaten und zwei der Frauen. Die anderen beiden standen noch da, und Egwene konnte nun erkennen, daß auch sie durch eine silberne Leine miteinander verbunden waren, so wie sie mit der Frau, die sich über sie beugte.

Die Frau kauerte nun neben Egwene nieder und rieb sich die Wange. Um ihr linkes Auge herum verfärbte sich bereits die Haut blauschwarz. Sie hatte langes, dunkles Haar und große braune Augen, war hübsch und vielleicht zehn Jahre älter als Nynaeve. »Deine erste Lektion«, sagte sie nachdrücklich. In ihrer Stimme lag keine Feindseligkeit. Sie klang sogar eher freundlich. »Diesmal werde ich dich nicht weiter bestrafen, da ich bei einer gerade gefangenen Damane vorsichtiger hätte sein müssen. Wisse soviel: Du bist eine Damane, eine Gefesselte, und ich bin eine Sul'dam, eine Fesselträgerin. Wenn eine Damane und ihre Sul'dam durch die Fessel vereint sind, dann fühlt die Damane jeden Schmerz, den die Sul'dam empfindet, doppelt so stark. Das geht bis zum Tod. Also wirst du daran denken müssen, daß du niemals eine Sul'dam in irgendeiner Form schlagen darfst und daß du deine Sul'dam noch besser beschützen mußt als dich selbst. Ich heiße Renna. Wie wirst du genannt?«

»Ich bin nicht... nicht, was Ihr sagt«, ächzte Egwene. Sie zog wieder an dem Kragen, doch er gab genausowenig nach wie zuvor. Sie überlegte, ob sie die Frau niederschlagen und versuchen sollte, ihr das Armband vom Handgelenk zu ziehen, doch sie verwarf es wieder. Selbst wenn die Soldaten nichts dagegen unternähmen — im Moment schenkten sie Renna und ihr keinerlei Beachtung —, hatte sie doch das unangenehme Gefühl, die Frau habe die Wahrheit gesagt. Wenn sie ihr linkes Auge berührte, durchfuhr sie der Schmerz, aber es fühlte sich nicht geschwollen an. Also bekam sie wohl nicht solch ein blaues Auge wie Renna. Aber es tat weh. Ihr linkes Auge und Rennas linkes Auge. Sie erhob die Stimme: »Liandrin Sedai? Warum laßt Ihr das zu?« Liandrin klopfte sich den Staub von den Händen und blickte nicht einmal in ihre Richtung.

»Das allererste, was du lernen mußt«, sagte Renna, »ist, genau das zu tun, was man dir sagt, und zwar ohne zu zögern.«

Egwene schnappte nach Luft. Plötzlich brannte und prickelte ihre Haut, als hätte sie sich in Brennesseln gewälzt — von den Fußsohlen bis hinauf zur Kopfhaut. Sie drehte den Kopf hin und her, als sich das Brennen noch verstärkte.

»Viele Sul'dam«, fuhr Renna in diesem beinahe freundlichen Ton fort, »sind nicht der Meinung, daß man einer Damane ihren eigenen Namen lassen sollte; sie wollen ihnen einen neuen Namen geben. Aber da ich es war, die dich gefangen hat, leite ich auch deine Ausbildung, und ich werde dir gestatten, deinen Namen beizubehalten. Wenn du mich nicht zu sehr enttäuscht. Ich ärgere mich gerade ein bißchen über dich. Willst du so weitermachen, bis ich wirklich zornig bin?«

Bebend knirschte Egwene mit den Zähnen. Sie grub die Fingernägel in die Handflächen und mußte sich zurückhalten, damit sie sich nicht auch noch wild kratzte. Idiotin! Es geht doch nur um deinen Namen! »Egwene«, brachte sie schließlich heraus. »Ich heiße Egwene al'Vere.« Sofort war das Brennen und Jucken vorbei. Sie machte einen tiefen, zittrigen Atemzug.

»Egwene«, sagte Renna. »Das ist ein guter Name.« Und zu Egwenes Entsetzen tätschelte sie ihr den Kopf, wie man es bei einem Hund macht.

Und das war es auch gewesen, erkannte sie in diesem Moment, was sie an dem Tonfall der Frau festgestellt hatte: die Freundlichkeit, wie man sie einem Hund gegenüber bei der Dressur aufbringt, aber nicht die Art von Freundlichkeit, die man einem anderen Menschen gegenüber zeigt.

Renna schmunzelte. »Nun bist du noch wütender. Wenn du vorhast, mich noch einmal zu schlagen, dann mach es nur leicht, denn für dich wird es ja der doppelte Schmerz. Versuche nicht, die Macht zu benützen; das wirst du ohne meinen ausdrücklichen Befehl niemals tun!«

Egwenes Auge pulsierte. Sie rappelte sich hoch und bemühte sich, Renna zu ignorieren, jedenfalls, soweit es möglich war, jemanden zu ignorieren, der einen an einer an einem Halsband befestigten Leine hielt. Ihre Wangen glühten, als die Frau wieder leise lachte. Sie wollte hinüber zu Min gehen, doch die von Renna gehaltene Leine ließ das nicht zu — sie war einfach zu kurz. So rief sie leise: »Min, geht es dir besser?«

Min nickte, während sie sich zu einer hockenden Stellung aufrichtete. Dann faßte sie sich an die Stirn, als bereue sie, den Kopf bewegt zu haben.

Ein greller Blitz zuckte über den klaren Himmel und schlug zwischen den Bäumen in einiger Entfernung ein. Egwene fuhr zusammen und lächelte dann plötzlich. Nynaeve und Elayne waren immer noch frei. Wenn irgend jemand sie und Min befreien konnte, dann war es Nynaeve. Ihr Lächeln verflog, und sie blickte Liandrin haßerfüllt an. Was für einen Grund die Aes Sedai auch immer gehabt haben mochte, sie zu verraten, sie würde dafür bezahlen. Eines Tages. Irgendwie. Der Blick bewirkte nichts; Liandrin sah nur die Sänfte an.

Die Männer mit nacktem Oberkörper knieten nieder und senkten die Sänfte langsam zu Boden. Suroth trat heraus, zupfte sorgfältig ihre Robe zurecht und ging auf leisen, von weichen Pantoffeln bedeckten Sohlen zu Liandrin. Die beiden Frauen waren fast gleich groß. Braune Augen blickten gelassen in schwarze. »Ihr hättet mir zwei bringen sollen«, sagte Suroth. »Statt dessen habe ich nur eine, und zwei weitere laufen frei herum. Eine davon ist auch noch viel stärker, als man mich hatte glauben lassen. Sie wird jede unserer Patrouillen im Umkreis von zwei Wegstunden auf sich aufmerksam machen.«

»Ich habe drei mitgebracht«, sagte Liandrin ruhig. »Wenn Ihr es nicht fertigbringt, sie festzuhalten, sollte sich unser Herr vielleicht jemand anderen suchen, um ihm zu dienen. Ihr ängstigt Euch wegen jeder Kleinigkeit. Falls Patrouillen kommen, tötet sie einfach.«

Wieder zuckte ein Blitz in einiger Entfernung auf, und Augenblicke später donnerte es in der Nähe des Einschlagortes. Eine Staubwolke erhob sich in die Luft. Weder Liandrin noch Suroth achteten darauf.

»Ich könnte immer noch mit zwei neuen Damane nach Falme zurückkehren«, sagte Suroth. »Ich lasse nicht gern eine... eine Aes Sedai« — sie spie die Worte wie einen Fluch aus — »frei herumlaufen.«

Liandrins Gesichtsausdruck änderte sich nicht, doch Egwene sah, wie sich um sie herum eine schwach leuchtende Aura aufbaute.

»Nehmt Euch in acht, Hohe Dame«, rief Renna. »Sie ist kampfbereit!«

Die Soldaten rührten sich, griffen nach Schwertern und Lanzen, doch Suroth legte nur die Hände aneinander und lächelte über ihre langen Fingernägel hinweg Liandrin an. »Ihr werdet nichts gegen mich unternehmen, Liandrin. Es würde unserem Herrn nicht gefallen, da ich hier ganz sicher mehr gebraucht werde als Ihr, und außerdem fürchtet Ihr ihn mehr, als zur Damane gemacht zu werden.«

Liandrin lächelte, obwohl auf ihren Wangen weiße Flecke zu sehen waren. »Und Ihr, Suroth, fürchtet ihn mehr, als von mir hier an Ort und Stelle zu Asche verbrannt zu werden.«

»Genau. Wir fürchten ihn beide. Und doch wird sich mit der Zeit auch das ändern, was unser Herr benötigt. Schließlich werden einmal alle MarathDamane an die Leine genommen. Vielleicht werde gerade ich den Kragen um Euren lieblichen Hals legen.«

»Wie Ihr meint, Suroth. Die Bedürfnisse unseres Herrn werden sich ändern. Ich werde Euch daran erinnern, wenn Ihr eines Tages vor mir kniet.«

Ungefähr eine Meile entfernt verwandelte sich ein hoher Lederblattbaum plötzlich in eine hohe Flammensäule.

»Das wird allmählich langweilig«, sagte Suroth. »Elbar, rufe sie zurück!« Der Mann mit der Hakennase zog ein Horn hervor, das kaum so groß war wie seine Faust. Sein Klang war heiser und durchdringend.

»ihr müßt die Frau Nynaeve aufspüren«, sagte Liandrin in scharfem Ton. »Elayne ist unbedeutend, aber sowohl die Frau als auch dieses Mädchen hier müssen auf Euren Schiffen dabei sein, wenn Ihr zurücksegelt.«

»Ich weiß sehr genau, wie unsere Befehle lauten, Marath'Damane, obwohl ich viel dafür gäbe zu wissen, was das alles soll.«

»Wieviel man Euch sagte, Kind«, höhnte Liandrin, »ist genug. Mehr zu wissen, wäre nicht gut für Euch. Denkt daran, Ihr dient und gehorcht. Die beiden müssen zur anderen Seite des Aryth-Meeres gebracht und dort verwahrt werden.«

Suroth schniefte. »Ich werde nicht hierbleiben, um nach dieser Nynaeve zu suchen. Meine Nützlichkeit für unseren Herrn wäre beendet, wenn mich Turak den Wahrheitsfindern zur Folter übergibt.« Liandrin öffnete wütend den Mund, aber Suroth ließ sie gar nicht zu Wort kommen. »Die Frau wird nicht lange auf freiem Fuß bleiben. Keine von ihnen. Wenn wir zurücksegeln, werden wir jede Frau aus diesem armseligen Landzipfel mitnehmen, die auch nur ein wenig mit der Macht umgehen kann, und zwar mit Kragen und an der Leine. Falls Ihr hierbleiben und nach ihr suchen wollt, bitte. Bald werden die Patrouillen hier sein und glauben, sie müßten dieses Pack bekämpfen, das sich noch in den Hügeln verbirgt. Manche Patrouillen nehmen Damane mit, und es wird ihnen gleich sein, welchem Herrn Ihr dient. Solltet Ihr dieses Zusammentreffen überleben, wird Euch mit Hilfe von Halsband und Leine ein neues Leben eröffnet, und ich glaube nicht, daß unser Herr einer in dieser Lage hilft, die sich aus Dummheit fangen lassen hat.«

»Wenn es jemandem gestattet ist, hierzubleiben«, sagte Liandrin mit angespannter Stimme, »dann wird unser Herr Euch erwählen, Suroth. Fangt sie beide oder zahlt den Preis für Eure Nachlässigkeit.« Sie schritt zum Wegetor hinüber, wobei sie ihre Stute am Zügel mitzog. Bald schloß sich das Tor hinter ihr.

Die Soldaten, die Nynaeve und Elayne verfolgt hatten, kamen nun zusammen mit den beiden Frauen zurückgaloppiert, der Damane und der Sul'dam, die, durch Armband, Leine und Halsband verbunden, nebeneinander reiten mußten. Drei Männer führten Pferde am Zügel, über deren Sättel man Leichen gelegt hatte. In Egwene keimte wieder mehr Hoffnung auf, als sie erkannte, daß all diese Leichen Rüstungen trugen. Sie hatten also weder Nynaeve noch Elayne gefangen.

Min richtete sich nun endgültig auf, doch der Mann mit der Hakennase trat ihr mit dem Stiefel in den Rücken, so daß sie wieder zu Boden gedrückt wurde. Nach Luft schnappend zuckte sie dort schwach. »Ich bitte um Erlaubnis, zu sprechen, Hohe Dame«, sagte er. Suroth machte eine leichte Handbewegung, und er fuhr fort: »Diese Bäuerin hat mich verletzt, Hohe Dame. Falls die Hohe Dame sie nicht brauchen sollte...?« Wieder machte Suroth eine leichte Handbewegung und wandte sich ab. Er griff über seine Schulter nach dem Schwert.

»Nein!« schrie Egwene. Sie hörte Renna leise fluchen, und plötzlich war das Brennen und Jucken ihrer Haut wieder da, schlimmer als zuvor. Doch diesmal hörte sie nicht auf. »Bitte! Hohe Dame, bitte! Sie ist meine Freundin!« Schmerzen, wie sie sie noch nie erlebt hatte, schüttelten sie selbst durch das Brennen hindurch. Jeder Muskel in ihrem Körper verkrampfte und verknotete sich. Sie fiel aufs Gesicht und lag winselnd im Staub, aber sie konnte trotzdem noch beobachten, wie Elbars schweres, gekrümmtes Schwert aus der Scheide fuhr und wie er es mit beiden Händen hob. »Bitte! O Min!«

Mit einem Schlag war der Schmerz verschwunden, als habe es ihn nie gegeben — nur die Erinnerung daran blieb. Suroths blaue Samtpantoffeln, die jetzt mit Schmutz bedeckt waren, erschienen vor ihrem Gesicht, aber sie blickte unverwandt auf Elbar. Er stand da, hatte mit dem Schwert zum Schlag ausgeholt und immer noch einen Fuß auf Mins Rücken... und er rührte sich nicht.

»Ist diese Bäuerin deine Freundin?« fragte Suroth.

Egwene wollte aufstehen, doch nachdem Suroth überrascht eine Augenbraue hochgezogen hatte, blieb sie liegen, wo sie war, und hob nur den Kopf. Sie mußte Min retten. Und wenn ich dafür auch kriechen muß... Sie verzog die Lippen und hoffte, daß ihre Grimasse als Lächeln erkennbar sei. »Ja, Hohe Dame.«

»Und wenn ich sie verschone und ihr gelegentlich erlaube, dich zu besuchen, wirst du hart arbeiten und alles lernen, was man dir beibringt?«

»Das werde ich, Hohe Dame.« Sie hätte noch viel mehr versprochen, um dieses Schwert davon abzuhalten, Mins Schädel zu spalten. Ich werde mein Versprechen sogar halten, dachte sie betrübt, solange ich muß. »Lege das Mädchen über ihr Pferd, Elbar«, sagte Suroth. »Binde sie fest, wenn sie nicht im Sattel sitzen kann. Falls diese Damane uns enttäuscht, schenke ich dir vielleicht doch noch ihren Kopf.« Sie ging bereits wieder zu ihrer Sänfte hinüber.

Renna zog Egwene grob hoch und schob sie in Richtung Bela, doch Egwene hatte nur Augen für Min. Elbar behandelte Min nicht sanfter, als sie von Renna behandelt wurde, aber sie glaubte doch, daß es Min wieder besser ging. Jedenfalls entzog sich Min Elbars Versuch, sie festzubinden, und kletterte statt dessen ohne viel Hilfe auf ihren Wallach.

Die zusammengewürfelte Gesellschaft brach gen Westen auf. Suroth befand sich an der Spitze, und Elbar ritt ein Stückchen hinter ihrer Sänfte, aber nahe genug, um jedem Wunsch sofort Folge leisten zu können. Renna und Egwene, Min und die andere Sul'dam mit ihrer Damane ritten am Ende, noch hinter den Soldaten. Die Frau, die offensichtlich Nynaeve hatte einfangen wollen, nestelte an ihrer eingerollten Silberleine herum und wirkte ziemlich wütend. Das hügelige Land war von dünnem Waldwuchs bedeckt. Bald war die Rauchwolke von dem brennenden Lederblattbaum nur noch ein entfernter Schmierer am Himmel hinter ihnen.

»Du hast die Ehre empfangen«, sagte Renna nach einer Weile, »von der Hohen Dame angesprochen zu werden.

Zu einem anderen Zeitpunkt hätte ich dich ein Band tragen lassen, um diese Ehre zu feiern. Aber da du es warst, die ihre Aufmerksamkeit auf dich lenkte... «

Egwene schrie auf, als ein Rutenschlag ihren Rücken traf, dann ihr Bein und ihren Arm. Aus allen Richtungen kamen die Schläge. Sie wußte, daß es kein Mittel dagegen gab, und doch streckte sie die Arme aus, als ob sie die Schläge abfangen könne. Sie biß sich auf die Lippe, um ihr Stöhnen zu unterdrücken, aber ihr rollten dabei Tränen über die Wangen. Bela wieherte und tänzelte, doch Renna hielt die Silberleine fest und verhinderte, daß sie Egwene forttragen konnte. Keiner der Soldaten blickte sich um.

»Was macht Ihr mit ihr?« schrie Min. »Egwene? Hört auf!«

»Du schuldest dein Leben... Min, so heißt du doch?« sagte Renna sanft. »Laß dies auch dir eine Lehre sein. Solange du dich einzumischen versuchst, wird es nicht aufhören.«

Min hob die Faust, ließ sie aber wieder fallen. »Ich werde mich nicht einmischen. Nur hört bitte auf! Egwene, es tut mir so leid.«

Die unsichtbaren Schläge gingen noch ein paar Augenblicke weiter, als sollte das Min zeigen, daß ihr Eingreifen nichts bewirkt hatte, und dann hörten sie auf. Doch Egwene konnte ihr Zittern nicht beherrschen. Der Schmerz verflog diesmal nicht so einfach. Sie schob ihren Ärmel zurück, um nachzusehen, ob sich Striemen zeigten, doch da war nichts außer dem Gefühl. Sie schluckte. »Es war nicht deine Schuld, Min.« Bela warf den Kopf hoch und rollte die Augen. Egwene streichelte den Hals der zerzausten Stute. »Deine Schuld war es auch nicht.«

»Es war allein deine Schuld, Egwene«, sagte Renna. Es klang so geduldig, als spreche sie freundlich mit jemandem, der zu dumm war, um die Wahrheit zu erkennen. Egwene hätte am liebsten geschrien. »Wenn eine Damane bestraft wird, ist es immer ihre Schuld, auch wenn sie nicht weiß, warum. Eine Damane muß voraussehen, was ihre Sul'dam wünscht. Aber diesmal kennst du den Grund. Damane sind wie Möbelstücke oder Werkzeuge, immer da, um benutzt zu werden, aber sie schieben sich nie in den Vordergrund, um Aufmerksamkeit zu erregen. Besonders nicht, um die Aufmerksamkeit einer von adligem Blut zu erregen.«

Egwene biß sich auf die Lippe, bis sie Blut schmeckte. Das ist ein Alptraum. Es kann doch nicht wahr sein. Warum hat Liandrin das angerichtet? Warum das alles? »Darf... darf ich eine Frage stellen?«

»Mir darfst du Fragen stellen.« Renna lächelte. »Im Laufe der Jahre werden viele Sul'dam dein Armband tragen — es gibt immer viel mehr Sul'dam als Damane —, und manche würden dir das Fell über die Ohren ziehen, sobald du auch nur den Blick vom Boden hebst oder deinen Mund ohne Erlaubnis öffnest, aber ich sehe keine Notwendigkeit, dir das Sprechen zu untersagen, solange du dich in acht nimmst, was du sagst.« Eine der anderen Sul'dam schnaubte laut. Sie war mit einer hübschen, dunkelhaarigen Frau von mittleren Jahren verbunden, die immer nur auf ihre Hände blickte.

»Liandrin« — Egwene würde nie wieder die Ehrenbezeichnung für sie benutzen — »und die Hohe Dame sprachen von einem Herrn, dem sie beide dienten.« In ihr keimte die Erinnerung an einen Mann mit kaum verheilten Brandwunden im Gesicht auf, dessen Augen und Mund manchmal zu Feueröfen wurden, doch selbst wenn er nur eine Traumgestalt war, wollte sie doch nicht an ihn denken, so schrecklich war er. »Wer ist das? Was will er von mir und — und Min?« Sie wußte, es war überflüssig, Nynaeves Namen zu verschweigen. Keiner von diesen Leuten würde sie vergessen, nur weil ihr Name nicht erwähnt wurde. Besonders diese blauäugige Sul'dam, die ihre unbefestigte Leine streichelte, würde sich an sie erinnern. Aber es war für sie im Moment die einzige Möglichkeit, ihren Kampfgeist unter Beweis zu stellen.

»Die Angelegenheiten derer von adligem Blut«, sagte Renna, »gehen mich nichts an, und dich schon gar nicht. Die Hohe Dame wird mir sagen, was ich wissen soll, und ich werde dir wiederum sagen, was du wissen mußt. Alles andere, was du hörst oder siehst, muß für dich sein, als habe es nie stattgefunden, als sei es ungesagt geblieben. So ist man sicherer, ganz besonders als Damane. Damane sind zu wertvoll, um sie so einfach zu töten, aber du könntest nicht nur streng bestraft werden, sondern möglicherweise auch deine Zunge oder deine Hände einbüßen. Damane können auch ohne diese Dinge arbeiten.«

Egwene schauderte, obwohl es nicht sehr kalt war. Sie zog ihren Umhang höher hinauf und berührte dabei die Leine. Sie zog ein wenig daran. »Das ist ein furchtbares Ding. Wie könnt Ihr jemandem so etwas antun? Welcher kranke Geist hat das erfunden?«

Die blauäugige Sul'dam mit der losen Leine grollte: »Die könnte bereits sehr wohl ohne Zunge auskommen, Renna.«

Renna lächelte nur geduldig. »Warum ist das furchtbar? Wie könnten wir jemanden in Freiheit herumlaufen lassen, der fertigbringt, was eine Damane alles kann? Manchmal werden auch Männer geboren, die eine Marath'Damane wären, falls sie als Frauen geboren wären — ich habe gehört, daß das hier auch der Fall ist —, und sie müssen natürlich getötet werden. Aber die Frauen verfallen nicht dem Wahnsinn. Es ist besser für sie, zur Damane gemacht zu werden, als ständig Schwierigkeiten zu bereiten, wenn sie in Machtkämpfe verwickelt werden. Und was den Geist betrifft, der sich zuerst die Adam einfallen ließ, so war das der Geist einer Frau, die sich Aes Sedai nannte.«

Egwene wußte, daß ihr Gesicht von Ungläubigkeit gekennzeichnet sein mußte, denn Renna lachte nun offen. »Als Luthair Paedrag Mondwin, der Sohn Falkenflügels, zum ersten Mal dem Heer der Nacht gegenüberstand, fand er unter seinen Gegnern viele, die sich Aes Sedai nannten. Sie stritten untereinander um die Macht und benützten die Eine Macht auf dem Schlachtfeld. Eine davon, eine Frau namens Deain, die glaubte, sie sei besser dran, wenn sie dem Kaiser diente — damals war er natürlich noch nicht Kaiser —, kam, da er in seinem Heer keine Aes Sedai hatte, mit einer von ihr angefertigten Vorrichtung zu ihm, dem ersten Adam, den sie am Hals einer ihrer Schwestern befestigt hatte. Obwohl diese Frau Luthair nicht dienen wollte, zwang der A'dam sie doch dazu. Also fertigte Deain weitere A'dam an, die ersten Sul'dam wurden auserwählt, und gefangene Frauen, die sich Aes Sedai nannten, erfuhren, daß sie in Wirklichkeit nur MarathDamane waren, Jene, die Gekoppelt Werden Mußten. Man erzählt, als Deain selbst an die Leine gelegt wurde, hätten ihre Schreie die Mitternachtstürme erschüttert. Aber natürlich war auch sie eine Marath'Damane, und denen kann man nicht gestatten, frei herumzulaufen. Vielleicht wirst du einmal zu jenen gehören, die die Fähigkeit besitzen, A'dam anzufertigen. Sollte das der Fall sein, wird man dich verwöhnen, da kannst du sicher sein.«

Egwene blickte sehnsüchtig in das Land hinaus, durch das sie ritten. Niedrige Hügel erhoben sich um sie, und die dünne Bewaldung war jetzt vereinzelten Sträuchern gewichen, doch sie war sicher, sich darin verstecken zu können. »Erwartet man von mir, daß ich mich darauf freue, wie ein Schoßhund verwöhnt zu werden?« fragte sie bitter. »Ein Leben lang an Frauen und Männer gefesselt sein, die mich für eine Art von Haustier halten?«

»Keine Männer«, schmunzelte Renna. »Alle Sul'dam sind Frauen. Falls ein Mann ein solches Armband anlegt, könnte es genausogut die meiste Zeit über an einem Haken an der Wand hängen.«

»Und manchmal«, fügte die blauäugige Sul'dam gefühllos hinzu, »würdet ihr beide gemeinsam schreiend sterben.« Die Frau hatte harte Züge und dünne Lippen, und Egwene wurde klar, daß sie ihren zornigen Gesichtsausdruck wohl ständig trug. »Von Zeit zu Zeit spielt die Kaiserin mit Lords, indem sie sie mit einer Damane zusammenkoppelt. Die Lords kommen ins Schwitzen, und der Hof der Neun Monde wird gut unterhalten. Bis zum Ende weiß der betreffende Lord nicht, ob er es überleben wird oder nicht, und die Damane weiß es natürlich genausowenig.« Ihr Lachen klang boshaft.

»Nur die Kaiserin kann es sich erlauben, auf diese Art und Weise Damane zu verschwenden, Alwhin«, fauchte Renna, »und ich werde diese Damane nicht schulen, nur damit sie hinterher so weggeworfen wird.«

»Ich habe bisher nichts von einer Schulung bemerkt, Renna. Nur einen Haufen Geschwätz, als ob Ihr und diese Damane Schulfreundinnen wärt.«

»Vielleicht wird es Zeit festzustellen, was sie alles kann«, sagte Renna, wobei sie Egwene musterte. »Beherrschst du die Macht schon gut genug, um über diese Entfernung hinweg zu arbeiten?« Sie deutete auf eine hohe Eiche, die einsam auf einer Hügelspitze stand.

Egwene betrachtete den Baum stirnrunzelnd. Er stand vielleicht eine halbe Meile von dem Weg entfernt, den die Soldaten mit Suroths Sänfte eingeschlagen hatten. Sie hatte noch nie etwas zu bewirken versucht, was über ihre Armlänge hinausgereicht hätte. Aber sie hielt es nicht für unmöglich. »Ich weiß nicht«, sagte sie.

»Versuch es«, meinte Renna. »Fühle den Baum. Fühle den Saft im Baum. Ich will, daß du ihn erhitzt, und zwar derart stark, daß jeder Tropfen Saft in jedem Ast innerhalb eines Augenblicks verdampft. Tu es!«

Egwene war entsetzt über sich selbst, denn sie fühlte den Drang, Rennas Befehl auszuführen. Sie hatte zwei Tage lang nicht mehr die Macht gelenkt, nicht einmal Saidar berührt. Der Wunsch, sich mit der Einen Macht vollzusaugen, ließ sie beben. »Ich« — nach einem halben Herzschlag hatte sie die Worte »werde das nicht« beiseitegeschoben; die unsichtbaren Striemen brannten noch zu sehr, um eine solche Idiotie zuzulassen — »kann nicht«, beendete sie ihren Satz deshalb. »Er ist zu weit weg, und ich habe so etwas noch nie gemacht.«

Eine der Sul'dam lachte ungläubig, und Alwhin sagte: »Sie hat es noch nicht einmal versucht.«

Renna schüttelte beinahe traurig den Kopf. »Wenn eine lange genug Sul'dam gewesen ist, kann sie vieles an ihrer Damane selbst ohne das Armband feststellen, aber mit dem Armband kann sie unfehlbar feststellen, ob die Damane versucht hat, die Macht zu benützen. Du darfst mich niemals anlügen, oder auch eine andere Sul'dam; noch nicht einmal ein bißchen.«

Plötzlich waren die unsichtbaren Hiebe wieder da und trafen sie am ganzen Körper. Schreiend schlug sie nach Renna, aber die Sul'dam wischte problemlos ihre Faust zur Seite, während Egwene das Gefühl hatte, Renna hätte ihr mit einem Stock über den Arm geschlagen. Sie grub die Fersen in Belas Flanken, aber die Sul'dam hatte die Leine so fest in der Hand, daß es sie beinahe aus dem Sattel gezogen hätte. Verzweifelt suchte sie nach Saidar, um Renna so weh zu tun, daß sie aufhörte. Sie wollte ihr genauso weh tun, wie Renna ihr. Die Sul'dam schüttelte unbeeindruckt den Kopf, und Egwene heulte auf, als ihre Haut plötzlich verbrüht wurde. Das Brennen milderte sich erst, als sie Saidar ganz fahren ließ, doch die unsichtbaren Schläge hörten nicht auf und wurden auch nicht schwächer. Sie versuchte, Renna zuzurufen, daß sie sich bemühen werde, wenn sie nur aufhörte, aber sie brachte nur ein Gurgeln heraus und wand sich vor Schmerzen.

Dumpf wurde ihr bewußt, daß Min zornig schrie und an ihre Seite reiten wollte, daß Alwhin Min die Zügel aus der Hand riß und daß eine andere Sul'dam ihrer Damane etwas befahl. Diese blickte Min an. Und dann schrie auch Min vor Schmerz auf und schlug um sich, als wolle sie Schläge abwehren oder stechende Insekten von sich fernhalten. Ihr eigener Schmerz ließ den Mins sehr fern erscheinen.

Ihre vereinten Schreie machten nun sogar einige der Soldaten aufmerksam. Doch nach einem Blick lachten sie und wandten sich wieder ab. Wie Sul'dam mit ihren Damane umgingen, ging sie nichts an.

Egwene erschien es wie eine Ewigkeit, doch schließlich war die Qual zu Ende. Sie hing erschöpft an der Rücklehne ihres Sattels, hatte Tränen auf den Wangen und schluchzte in Belas Mähne hinein. Die Stute wieherte nervös.

»Es ist gut, daß du Kampfgeist hast«, sagte Renna gelassen. »Die besten Damane sind aus diesem Holz geschnitzt. Diesen Kampfgeist kann man formen und in die richtigen Bahnen lenken.«

Egwene schloß die Augen. Sie wünschte, sie hätte auch die Ohren schließen und Rennas Stimme vergessen können. Ich muß entkommen. Ich muß, aber wie? Nynaeve, hilf mir! Licht, jemand muß mir helfen.

»Du wirst eine der besten«, sagte Renna in zufriedenem Tonfall. Sie streichelte Egwene über das Haar — ganz das Frauchen, das ihren Hund beruhigend streichelt.

Nynaeve beugte sich aus dem Sattel und spähte vorsichtig um das schützende Gesträuch herum. Sie sah vereinzelte Bäume, von denen sich einige bereits bunt färbten. Die ausgedehnten gras- oder kräuterbewachsenen Flächen dazwischen schienen ihr leer. Sie entdeckte keine Bewegung außer der immer dünner werdenden Rauchwolke von dem Lederblattbaum, die vom Wind verweht wurde. Dieser Baum war ihr Werk gewesen, genauso wie Blitze aus heiterem Himmel und ein paar weitere Sachen, die sie noch nie ausprobiert hatte, bevor diese beiden Frauen sie dazu zwangen. Sie glaubte, daß die beiden auf irgendeine Weise zusammenarbeiteten, aber sie durchschaute ihre Verbindung nicht ganz. Offensichtlich waren sie durch eine Leine miteinander verbunden. Die eine trug ein Halsband, aber die andere war genauso sicher angekettet wie diese. Über etwas war sich Nynaeve allerdings klar: Eine oder beide waren Aes Sedai. Sie hatte sie nie genau genug sehen können, um das Glühen beim Lenken der Macht zu bemerken, aber es mußte einfach so sein.

Es wird mir richtig Spaß machen, Sheriam von ihnen zu berichten, dachte sie trocken. Aes Sedai benützen die

Macht nicht als Waffe, oder? Sie hatte das aber getan. Mit diesem Blitzschlag hatte sie die beiden Frauen zumindest zu Boden geschleudert, und sie hatte gesehen, wie einer der Soldaten von dem Feuerball, den sie geschleudert hatte, lichterloh brannte. Aber nun hatte sie schon eine Weile lang keinen der Fremden mehr gesehen.

Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn, und das rührte nicht nur von der Anstrengung her. Ihr Kontakt zu Saidar war abgerissen, und sie konnte ihn nicht wieder herstellen. In der ersten Wut über Liandrins Verrat war Saidar ihr zugeflogen, bevor es ihr überhaupt bewußt wurde, und sie wurde von der Einen Macht durchströmt. Es war ein Gefühl gewesen, als könne sie schlechthin alles bewältigen. Und solange sie verfolgt worden war, hatte der Zorn darüber, wie ein Tier gejagt zu werden, den nötigen Antrieb geliefert. Doch nun war von einer Jagd nichts mehr zu spüren. Je länger sie weitergeritten war, ohne einen Gegner zu entdecken, auf den sie mit Hilfe von Saidar einschlagen konnte, desto größer war ihre Furcht geworden, sie könnten sich heimlich anschleichen, und außerdem hatte sie zuviel Zeit gehabt, darüber nachzugrübeln, was wohl mit Egwene und Elayne und Min geschehen sein könne. Nun mußte sie sich selbst eingestehen daß sie vor allem Angst hatte. Angst um die anderen, Angst um ihrer selbst willen. Sie brauchte aber den Zorn.

Etwas rührte sich hinter einem Baum.

Ihr stockte der Atem und sie suchte automatisch nach Saidar, doch all die Übungen unter der Leitung Sheriams und der anderen, all die Blüten, die sich in ihrem Geist öffneten, die Vorstellung all der Ströme halfen nichts. Sie konnte die Quelle fühlen, wußte, daß sie da war, aber berühren konnte sie sie nicht.

Elayne trat vorsichtig geduckt hinter dem Baum vor, und Nynaeve sackte vor Erleichterung in sich zusammen. Das Kleid der Tochter-Erbin war schmutzig und zerrissen, ihr goldenes Haar war mit Kletten und Blättern verfilzt, und ihre suchenden Augen wirkten wie die eines erschreckten Rehs, aber sie hielt ihren Kurzdolch fest in der Hand. Nynaeve nahm die Zügel auf und ritt aus der Deckung.

Elayne fuhr erschrocken zusammen, doch dann faßte sie sich an die Kehle und atmete tief durch. Nynaeve stieg ab und die beiden Frauen umarmten sich. Sie waren glücklich, sich gefunden zu haben.

»Einen Augenblick lang«, sagte Elayne, als sie sich wieder losließen, »habe ich geglaubt, du wärst... Weißt du, wo sie sind? Zwei Männer haben mich verfolgt. Noch ein paar Minuten, und sie hätten mich gehabt, aber dann erklang ein Horn, und sie wendeten ihre Pferde und galoppierten fort. Sie konnten mich bereits sehen, Nynaeve, aber sie ritten einfach weg.«

»Ich habe es auch gehört und seither nichts mehr von ihnen gesehen. Hast du Egwene oder Min gesehen?«

Elayne schüttelte den Kopf. Sie ließ sich auf den Boden plumpsen und saß erschöpft da. »Nicht mehr, seit... Dieser Mann hat Min niedergeschlagen. Und eine dieser Frauen versuchte, Egwene etwas um den Hals zu legen. Soviel habe ich gesehen, und dann bin ich geflohen. Ich glaube nicht, daß sie entkommen konnten, Nynaeve. Ich hätte etwas unternehmen sollen. Min hat die Hand geschnitten, die mich festhielt, und Egwene... Ich bin einfach nur geflohen, Nynaeve. Mir wurde klar, daß ich einen Moment lang frei war, und schon bin ich losgerannt. Mutter sollte am besten Gareth Bryne heiraten und noch eine Tochter haben, sobald sie nur kann. Ich bin nicht wert, den Thron zu erhalten.«

»Benimm dich nicht wie eine dumme Gans«, sagte Nynaeve in scharfem Ton. »Denk daran, daß ich im Gepäck ein Päckchen Schafszungenwurzeln habe.« Elayne hielt den Kopf in beiden Händen. Nynaeves Schimpfen rief keine Reaktion hervor. »Hör mal, Mädchen! Hast du gesehen, daß ich dort geblieben bin und zwanzig oder dreißig Männer auf einmal bekämpft habe, ganz zu schweigen von den Aes Sedai? Hättest du gewartet, wärst du jetzt höchstwahrscheinlich auch eine Gefangene. Wenn sie dich nicht sogar umgebracht hätten. Aus irgendeinem Grund hatten sie nur an mir und Egwene Interesse. Vielleicht wäre es ihnen gleich gewesen, ob du am Leben bleibst oder nicht.« Warum wollten sie gerade Egwene und mich? Warum gerade uns? Warum hat Liandrin so etwas getan? Warum? Sie konnte diese Fragen auch jetzt noch nicht beantworten.

»Wenn ich bei dem Versuch, ihnen zu helfen, gestorben wäre...«, begann Elayne.

»... dann wärst du tot. Dann könntest du auch niemandem mehr helfen, weder dir noch anderen. Jetzt steh endlich auf und klopf dir den Dreck vom Kleid.« Nynaeve kramte in ihrer Satteltasche nach einer Haarbürste. »Und bring dein Haar in Ordnung.«

Elayne stand langsam auf und nahm die Bürste mit einem kleinen Lächeln entgegen. »Du hörst dich an wie Lini, meine alte Kinderfrau.« Sie begann, ihr Haar auszubürsten, wobei sie das Gesicht der verfilzten Stellen und der Kletten wegen schmerzhaft verzog. »Aber wie können wir ihnen helfen, Nynaeve? Wenn du zornig bist, dann bist du vielleicht genauso stark wie eine der ausgebildeten Schwestern, aber die haben eben auch Frauen, die die Macht einsetzen können. Ich kann nicht glauben, daß es Aes Sedai sind, doch sie könnten es sehr wohl sein. Wir wissen nicht einmal, in welche Richtung sie abgezogen sind.«

»Nach Westen«, sagte Nynaeve. »Dieses Biest Suroth hat Falme erwähnt, und das ist der westlichste Punkt der Toman-Halbinsel. Wir reiten also nach Falme. Ich hoffe, Liandrin ist auch dort. Ich werde sie den Tag verfluchen lassen, an dem ihre Mutter ein Auge auf ihren Vater warf. Aber zuerst müssen wir uns wohl einheimische Kleidung besorgen. Ich habe Frauen aus Tarabon und Doman in der Burg gesehen, und was sie tragen, sieht ganz anders aus als unsere Mode. In Falme würden wir sofort als Fremde auffallen.«

»Ich hätte nichts gegen ein Domanikleid einzuwenden. Klar, Mutter würde einen Wutanfall bekommen, wenn sie wüßte, daß ich eines getragen habe, und Lini würde mich schon vorher in die Mangel nehmen. Aber selbst wenn wir ein Dorf erreichen: Wie könnten wir uns neue Kleider leisten? Ich habe keine Ahnung, wieviel Geld du dabei hast, aber ich habe nur zehn Goldmark und vielleicht das Doppelte in Silber. Das reicht für zwei oder drei Wochen, aber was danach kommt, weiß ich nicht.«

»Auch nach ein paar Monaten als Novizin in Tar Valon hast du noch nicht aufgehört, wie die Erbin eines Thrones zu denken«, lachte Nynaeve. »Ich habe nicht den zehnten Teil von dem, was du hast, aber zusammen kommen wir damit zwei oder drei Monate lang bequem aus. Wenn wir sparsam sind, reicht es länger. Ich habe nicht die Absicht, Kleider für uns zu kaufen, und schon gar keine neuen. Mein graues Seidenkleid wird uns behilflich sein — bei all den aufgestickten Perlen und den Goldfäden. Wenn ich keine Frau finden kann, die uns dafür zwei oder drei gute, haltbare Kleider gibt, dann schenke ich dir diesen Ring und spiele künftig die Novizin.« Sie schwang sich in den Sattel und streckte die Hand aus, um Elayne hinter sich auf das Pferd zu ziehen.

»Was machen wir, wenn wir in Falme sind?« fragte Elayne, als sie sich hinter Nynaeve zurechtsetzte.

»Das weiß ich erst, wenn wir dort sind.« Nynaeve hielt ihr Pferd kurz an. »Bist du sicher, daß du mitkommen willst? Es wird gefährlich.«

»Gefährlicher als für Egwene und Min? Sie würden unter den umgekehrten Umständen auf jeden Fall kommen, um uns zu helfen — das weiß ich. Sollen wir hier den ganzen Tag lang rumstehen?« Elayne hieb die Fersen dem Pferd in die Flanken, und die Stute trottete los.

Nynaeve ließ das Pferd so laufen, daß sie die Vormittagssonne im Rücken hatten. »Wir müssen vorsichtig sein. Die Aes Sedai, die wir kennen, wissen genau, wenn eine Frau in ihrer Nähe ist, die die Macht benützen kann. Diese Aes Sedai können uns auch in einer Menschenmenge finden, falls sie nach uns suchen, und das nehmen wir wohl besser einmal an.« Sie haben auf jeden Fall nach Egwene und mir gesucht. Aber warum nur? »Ja, wir müssen auf der Hut sein. Du hattest auch vorhin recht. Wir nützen ihnen nichts, wenn wir uns selbst einfangen lassen.« Elayne schwieg einen Augenblick lang. »Glaubst du, es war alles gelogen, was uns Liandrin über Rand und irgendeine Gefahr erzählt hat, Nynaeve? Und über die anderen? Aes Sedai lügen nicht.«

Nun war es an Nynaeve, zu schweigen. Sie dachte an Sheriam und die Eide, die jede Frau leisten mußte, bevor sie zur Schwester erhoben wurde, Eide, die man innerhalb eines TerAngreal schwören mußte und die absolut bindend waren. Kein unwahres Wort auszusprechen. Das gehörte dazu, doch jedermann wußte, daß die Wahrheit, von einer Aes Sedai ausgesprochen, nicht unbedingt der Wahrheit entsprach, die man zu hören glaubte. »Ich schätze, daß sich Rand wohl gerade die Füße an Lord Agelmars Kamin in Fal Dara wärmt«, sagte sie. Ich kann mir jetzt nicht auch noch um ihn Sorgen machen. Ich muß an Egwene und Min denken. »Na ja, wahrscheinlich«, seufzte Elayne. Sie rutschte hinter dem Sattel herum. »Nach Falme ist es sehr weit, Nynaeve. Ich möchte wenigstens die Hälfte der Zeit im Sattel reiten. Hier hinten ist es nicht gerade bequem. Und wir werden Falme überhaupt nicht erreichen, wenn du das Pferd die ganze Zeit so gemütlich einherschreiten läßt.«

Nynaeve spornte das Pferd zu einer schnelleren Gangart an, und Elayne quiekte und griff nach Nynaeves Umhang. Nynaeve sagte sich, sie werde sich mit Elayne im Sattel abwechseln und sich auch nicht beklagen, falls Elayne das Pferd galoppieren ließ, und ansonsten achtete sie nicht auf das Keuchen der Frau, die hinter ihr auf und ab hüpfte. Sie hoffte nur, daß sie bis zu ihrem Eintreffen in Falme die Angst los sein würde und wieder die Energie ihres Zornes benützen könnte.

Der Wind frischte auf. Er war kühl und ließ die nahe Herbstkälte ahnen.

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