Die aufgehende Sonne schob sich rot über den Horizont und schickte lange Schatten über die Pflasterstraßen von Falme bis zum Hafen hinab. Ein leichter Wind von der See her trieb den Rauch der Frühstücksfeuer aus den Schornsteinen ins Landesinnere. Nur die Frühaufsteher befanden sich bereits auf den Straßen. Ihr Atem dampfte in der morgendlichen Kälte. Wenn man das Treiben mit der Menschenmenge verglich, die in einer Stunde die Straßen bevölkern würde, kam einem die Stadt beinahe leer vor.
Nynaeve saß auf einem umgedrehten Faß vor einem zu dieser Zeit noch geschlossenen Eisenwarengeschäft, wärmte sich die Hände unter den Achseln und musterte ihre Armee. Min saß gegenüber auf einer Türschwelle, hatte sich in ihren Seanchan-Umhang gehüllt und aß eine verschrumpelte Pflaume. Egwene in ihrem Schafspelz kauerte am Eingang einer Gasse ein Stückchen weiter. Neben Min lag sauber gefaltet ein großer Sack, den sie im Hafen gestohlen hatten. Meine Armee, dachte Nynaeve ironisch. Aber mehr sind es eben nicht. Sie bemerkte eine Sul'dam und eine Damane, die näher kamen. Eine blonde Frau trug das Armband und eine dunkle das dazugehörige Halsband. Beide gähnten. Die wenigen Falmer, die die Straße mit ihnen teilten, wandten die Blicke ab und machten einen Bogen um sie. Soweit sie die Straße zum Hafen hinunter überblicken konnte, waren keine Seanchan in Sicht. Sie sah bewußt nicht in die andere Richtung. Statt dessen reckte sie sich und rollte die Schultern, als wolle sie sich durch die Bewegung erwärmen, und dann ließ sie sich wieder niedersinken.
Min warf ihre halbgegessene Pflaume beiseite, blickte einmal kurz die Straße hinauf und lehnte sich gegen den Türpfosten. Also war alles klar dort oben, denn sonst hätte sie die Hände auf die Knie gelegt. Min rieb sich nun die Hände nervös, und Nynaeve bemerkte, daß Elayne aufgeregt von einem Fuß auf den anderen hüpfte.
Falls sie uns vor lauter Nervosität verraten, bekommt jede eins auf den Schädel von mir. Doch sie wußte, würden sie entdeckt, dann würden die Seanchan darüber entscheiden, was mit ihnen geschehen solle. Sie war sich der Tatsache nur zu bewußt, daß sie keine Ahnung hatte, ob ihr Plan gelingen würde oder nicht. Es könnte auch ihr Fehler sein, wenn sie entdeckt wurden. Noch einmal entschloß sie sich, im Falle ihrer Entdeckung die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, damit Min und Elayne entkommen konnten. Sie hatte ihnen eingeschärft, falls etwas mißlänge, sollten sie sofort wegrennen, und hatte behauptet, daß auch sie wegrennen werde. Was sie in dem Fall tatsächlich tun würde, war ihr auch nicht klar. Aber ich werde mich nicht lebendig fangen lassen. Bitte, Licht, nur das nicht!
Die Sul'dam und die Damane kamen die Straße herauf und befanden sich jetzt in der Mitte zwischen den drei Frauen. Ein Dutzend Falmer machten wie immer einen großen Bogen um das Paar und waren so nicht im Weg.
Nynaeve steigerte sich in Wut hinein. Frauen an der Leine und Frauen, die andere an der Leine führten. Man hatte ein schmutziges Band um Egwenes Hals gelegt, und das würde man auch mit ihr und Elayne tun, wenn sich die Gelegenheit dazu ergäbe. Sie hatte sich von Min erzählen lassen, wie die Sul'dam den Damane ihren Willen aufzwangen. Sie war sicher, daß ihr Min dabei noch das Schlimmste erspart hatte; aber was sie erzählt hatte, war genug, um Nynaeve in heißen Zorn zu versetzen. Einen Augenblick später hatte sich eine weiße Blüte an einem schwarzen Dornenstrauch dem Licht, Saidar, geöffnet, und die Eine Macht erfüllte sie. Sie wußte, daß sie von einem Glühen umgeben wurde, jedenfalls für diejenigen, die es sehen konnten. Die blasse Sul'dam fuhr zusammen, und die dunkelhaarige Damane öffnete überrascht den Mund, aber Nynaeve ließ ihnen keine Atempause. Sie lenkte nur ein wenig der Macht, aber die knallte wie ein Peitschenhieb auf die beiden nieder.
Das silberne Halsband öffnete sich und klapperte auf die Pflastersteine. Nynaeve seufzte vor Erleichterung und sprang auf.
Die Sul'dam starrte das zu Boden gefallene Halsband an wie eine Giftschlange. Die Damane faßte sich zitternd an den Hals, aber bevor die Frau in dem Kleid mit dem Abzeichen der Blitze Gelegenheit hatte, sich nur zu bewegen, wandte sich die Damane ihr zu und schlug ihr voll ins Gesicht. Die Knie der Sul'dam gaben nach, und sie wäre beinahe gestürzt.
»Das hast du verdient!« schrie Elayne. Auch sie und Min rannten jetzt dorthin, wo die beiden standen.
Bevor allerdings eine von ihnen die beiden Frauen erreichte, sah sich die Damane ängstlich um und rannte weg, so schnell sie konnte.
»Wir tun dir nichts!« rief ihr Elayne nach. »Wir sind Freunde!«
»Sei ruhig!« zischte Nynaeve. Sie zog ein paar Lumpen aus der Tasche und stopfte sie rücksichtslos in den aufgerissenen Mund der immer noch taumelnden Sul'dam.
Min schüttelte schnell den Sack aus, was eine Staubwolke erzeugte, und stülpte ihn der Sul'dam über den Kopf. Sie zog ihn ihr bis zur Hüfte hinunter. »Wir erregen schon zuviel Aufmerksamkeit.«
Das stimmte wohl, aber eben doch nicht in vollem Ausmaß. Die vier standen auf einer Straße, die sich rasch entvölkerte. Die Menschen hatten sich entschlossen, daß es ihnen anderswo besser gefiel. Sie vermieden es, die Frauen anzusehen. Nynaeve hatte sich auf diese Wirkung verlassen und gehofft, auf diese Weise Zeit zu gewinnen. Die Menschen taten alles, um Dinge zu übersehen, die mit den Seanchan zu tun hatten. Sie würden schließlich doch darüber sprechen, aber nur insgeheim. Es konnte noch Stunden dauern, bis die Seanchan davon erfuhren, daß etwas geschehen war.
Die Frau unter dem Sack begann sich zu wehren. Knebelgedämpfte Schreie erklangen, so daß Nynaeve und Min den Sack mit seinem kämpfenden Inhalt umklammerten und in eine nahe Gasse zerrten. Leine und Halsband klapperten hinter ihnen her über die Pflastersteine.
»Heb es auf!« fauchte Nynaeve Elayne an. »Es beißt schon nicht.«
Elayne atmete tief durch und hob die silbrigen Metallutensilien widerwillig auf, als könnten sie wirklich beißen. Nynaeve empfand ein wenig Mitgefühl, doch es kam jetzt darauf an, daß jede ihre Aufgabe erfüllte, wie sie es geplant hatten.
Die Sul'dam trat nach ihnen und versuchte sich freizukämpfen, aber Nynaeve und Min schleiften sie gemeinsam weiter, aus der einen Gasse in eine andere etwas breitere hinter den Häusern und dann wieder durch eine neue bis hin zu einem alten Holzschuppen mit zwei Boxen, in denen wohl einst Pferde gestanden hatten. Seit die Seanchan gekommen waren, konnten sich nur wenige Menschen noch Pferde leisten. Nynaeve hatte einen Tag lang aufgepaßt, aber niemand hatte sich dem Schuppen genähert. Im Inneren lag dicker Staub, und es roch muffig, deutliche Anzeichen dafür, daß man den Schuppen aufgegeben hatte. Sobald sie drinnen waren, ließ Elayne die Silberleine fallen und wischte sich die Hände am Stroh ab.
Nynaeve benützte erneut ein klein wenig der Macht, und das Armband fiel auf den schmutzigen Boden. Die Sul'dam kreischte und warf sich von einer Seite auf die andere.
»Fertig?« fragte Nynaeve. Die anderen beiden nickten, und dann rissen sie den Sack von der Gefangenen.
Die Sul'dam keuchte. Ihre blauen Augen tränten vor Staub, und ihr Gesicht war rot angelaufen, sowohl des Sackes wegen wie auch vor Wut. Sie wollte sofort zur Tür rennen, doch sie fingen sie schon nach einem Schritt ab. Sie war nicht schwach, aber gegen die drei kam sie nicht an. Als sie mit ihr fertig waren, lag sie bis auf die Unterwäsche ausgezogen in einer Box, Arme und Beine waren mit einem festen Strick gebunden, und ein weiterer Strick hielt den Knebel in ihrem Mund fest. Min tupfte ihre geschwollene Lippe ab und betrachtete das Kleid mit den Blitzabzeichen und die Stiefel, die vor ihr lagen. »Das könnte dir passen, Nynaeve. Elayne oder mir paßt es sicher nicht.« Elayne pflückte sich Stroh aus dem Haar.
»Das sehe ich auch. Es war auch nie die Rede von dir. Dich kennen sie zu gut.« Nynaeve zog sich hastig aus. Sie warf ihre Kleidung beiseite und zog das Kleid der Sul'dam über. Min half ihr beim Zuknöpfen.
Nynaeve bewegte die Zehen in den Stiefeln. Sie waren ein wenig zu eng. Auch das Kleid saß über dem Busen etwas zu straff und anderswo war es zu weit. Der Saum schleifte beinahe am Boden, niedriger als bei der Sul'dam, aber bei den anderen hätte es noch auffälliger gewirkt. Sie hob das Armband auf, atmete tief ein und schloß es um den linken Unterarm. Die Enden verschmolzen miteinander, so daß es wie aus einem einzigen Stück gefertigt schien. Es fühlte sich nur wie ein Armband an —nicht mehr. Das hatte sie befürchtet.
»Hol dir das Kleid, Elayne.« Sie hatten zwei Kleider gefärbt — eines von ihren und eins von Elayne —, und zwar in dem Grau, wie es die Damane trugen. Diese Sachen hatten sie hier versteckt. Elayne rührte sich nicht, starrte nur das offene Halsband an und leckte sich die ausgetrockneten Lippen. »Elayne, du mußt es tragen! Zu viele hier kennen Min bereits, als daß sie es tragen könnte. Ich hätte es getragen, wenn dir dieses Kleid passen würde.« Sie befürchtete, sie wäre wohl verrückt geworden, hätte sie dieses Halsband tragen müssen. Deshalb blieb ihre Stimme sanft, als sie jetzt mit Elayne sprach.
»Ich weiß«, seufzte Elayne. »Doch wüßte ich nur mehr über seine Wirkungen!« Sie schob ihr rotgoldenes Haar weg, um dem Halsband Platz zu machen. »Min, hilf mir bitte.« Min knöpfte Elaynes Kleid hinten auf.
Nynaeve brachte es fertig, das silberne Halsband in die Hand zu nehmen, ohne es fallen zu lassen. »Es gibt eine Möglichkeit, mehr darüber herauszufinden.« Nach nur kurzem Zögern beugte sie sich vor und legte das Halsband um den Hals der Sul'dam. Wenn irgend jemand es verdient, dann sie, sagte sie sich entschlossen. »Sie kann uns vielleicht Nützliches verraten.« Die Frau mit den blauen Augen starrte die Leine an, die sich von ihrem Hals zu Nynaeves Arm schlängelte, und funkelte Nynaeve verächtlich an.
»So gelingt das nicht«, sagte Min, doch Nynaeve hörte kaum hin.
Sie war sich der anderen Frau... bewußt, ihrer Gefühle bewußt. Sie spürte, wie ihr die Schnur in die Beine und Arme schnitt, wie die Lumpen in ihrem Mund nach ranzigem Fisch stanken und schmeckten, wie das Stroh sie durch die dünne Unterwäsche hindurch stach. Es war nicht so, als fühle sie selbst diese Dinge, aber in ihrem Kopf gab es ein Bündel von Gefühlen, die zu der Sul'dam gehörten.
Sie schluckte, versuchte, diese Gefühle beidseitig zu schieben, was ihr nicht gelang, und sagte zu der gefesselten Frau: »Ich werde dir nicht weh tun, wenn du meine Fragen wahrheitsgemäß beantwortest. Wir sind keine Seanchan. Aber solltest du mich anlügen... « Sie hob drohend die Leine.
Die Schultern der Frau zuckten, und ihr Mund verzog sich trotz des Knebels höhnisch. Nynaeve brauchte einen Augenblick, bis ihr klar wurde, daß die Sul'dam lachte.
Sie straffte die Lippen, und ihr kam ein Gedanke. In diesem Bündel von Gefühlen, das sie spürte, war alles konzentriert, was diese Frau fühlte. Probeweise fügte sie dem Bündel etwas Eigenes hinzu.
Plötzlich quollen der Sul'dam beinahe die Augen aus dem Kopf, und sie schrie so laut auf, daß selbst der Knebel den Schrei kaum dämpfte. Sie spreizte die Hände, die hinter ihrem Rücken gefesselt waren, als wolle sie etwas abwehren, und wand sich in dem vergeblichen Versuch zu fliehen.
Nynaeve sah sie verblüfft an und ließ schnell die selbst hinzugefügten Gefühle verschwinden. Die Sul'dam sackte weinend ins Stroh.
»Was... Was hast du... ihr getan?« fragte Elayne schüchtern. Min starrte sie mit offenem Mund an.
Nynaeve antwortete mürrisch: »Das gleiche, was Sheriam mit dir getan hat, als du den Pokal nach Marith geworfen hast.« Licht, das ist ein wahrlich schmutziges Ding.
Elayne schluckte vernehmlich. »Oh.«
»Aber es heißt, daß ein A'dam so herum nicht glückt«, sagte Min. »Sie haben immer behauptet, es wirke nicht bei einer Frau, die die Macht nicht lenken kann.«
»Es ist mir gleich, was man darüber behauptet, solange es nur gelingt.« Nynaeve packte die silberne Leine dort, wo sie an dem Halsband befestigt war, und zog die Frau hoch, um ihr in die Augen zu sehen. Verängstigte Augen waren es nun. »Hör mich an, und hör gut hin. Ich verlange Antworten, und wenn ich die nicht bekomme, wirst du glauben, ich hätte dir die Haut bei lebendigem Leibe heruntergerissen.« Blankes Entsetzen überzog das Gesicht der Frau, und Nynaeve drehte sich beinahe der Magen um, als ihr klar wurde, daß die Sul'dam sie wörtlich genommen hatte. Wenn sie glaubt, ich könne das, dann nur deshalb, weil sie Bescheid weiß. Dazu sind die Leinen da. Sie riß sich entschlossen zusammen, um sich nicht rasch das Armband abzureißen. Statt dessen machte sie eine unnachgiebige Miene. »Bist du soweit, daß du mir Antworten gibst? Oder muß ich dich noch überzeugen?«
Das verzweifelte Kopfschütteln reichte aus. Als Nynaeve den Knebel herausnahm, schwieg die Frau nur einen Moment lang, um Luft zu holen und zu schlucken. Dann plapperte sie los: »Ich werde Euch nicht verraten, das schwöre ich. Nehmt nur bitte das Ding von meinem Hals! Ich habe Gold. Nehmt es. Ich schwöre, ich werde Euch nie verraten!«
»Sei ruhig!« fauchte Nynaeve, und die Frau schloß den Mund augenblicklich. »Wie heißt du?«
»Seta. Bitte. Ich antworte ja, aber bitte, nehmt — es —weg! Wenn mich jemand damit sieht... « Setas Blick fiel hinunter zu der Leine, und sie schloß die Augen. »Bitte!« flüsterte sie.
Etwas wurde Nynaeve in dem Augenblick klar: Sie konnte Elayne dieses Halsband nicht anlegen.
»Es ist das beste, wenn wir jetzt wie vorgesehen weitermachen«, sagte Elayne mit fester Stimme. Sie stand jetzt ebenfalls in Unterwäsche da. »Gib mir einen Augenblick Zeit, um dieses andere Kleid anzuziehen und... «
»Zieh wieder dein eigenes Kleid an«, sagte Nynaeve.
»Jemand muß doch die Damane spielen«, sagte Elayne, »sonst kommen wir nie bis zu Egwene. Das andere Kleid paßt nur dir, und Min kommt nicht in Frage. Also bleibe nur ich.«
»Ich sagte, du ziehst dich wieder an! Wir haben jemand anders, die unsere Angekoppelte sein wird.« Nynaeve zupfte an der Leine, und Seta schnappte entsetzt nach Luft.
»Nein! Bitte nicht! Falls mich jemand sieht... « Unter Nynaeves kaltem Blick erstarben ihr die Worte auf den Lippen.
»Was mich betrifft, bist du schlimmer als eine Mörderin, schlimmer als jeder Schattenfreund. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen als dich. Die Tatsache, daß ich dieses Ding am Arm tragen muß, selbst wenn es nur für eine Stunde ist, macht mich krank. Wenn du glaubst, es gäbe etwas, das ich dir nicht antun könnte, dann irrst du dich gewaltig. Du willst nicht gesehen werden? Gut. Wir auch nicht. Aber es schaut sowieso keiner eine Damane an. Solange du zu Boden schaust, wie man das von einer Gekoppelten erwartet, wird dich niemand erkennen. Aber du solltest dein Bestes geben, daß auch wir nicht bemerkt werden. Werden wir bemerkt, dann bist auch du fällig, und wenn das als Grund nicht ausreicht, werde ich dafür sorgen, daß du den ersten Kuß verfluchst, den deine Mutter deinem Vater gab. Verstehen wir uns?«
»Ja«, seufzte Seta geschlagen. »Ich schwöre es.«
Nynaeve mußte das Armband entfernen, damit sie Elaynes grau eingefärbtes Kleid die Leine entlang über Setas Kopf streifen konnten. Es paßte der Frau nicht gerade gut. Am Busen saß es zu locker und an den Hüften zu stramm. Aber Nynaeves Kleid hätte noch schlechter gepaßt und wäre außerdem zu kurz gewesen. Nynaeve hoffte, daß die Leute eine Damane wirklich nicht genau musterten. Zögernd legte sie das Armband wieder an.
Elayne hob Nynaeves Kleider auf, wickelte das andere gefärbte Kleid darum und machte ein Bündel daraus, wie es eine Frau in Bauernkleidung sehr wohl einer Sul'dam und ihrer Damane hinterhertragen durfte. »Gawyn wird sich grämen, wenn er davon hört«, lachte sie. Es klang gekünstelt.
Nynaeve musterte sie und Min genau. Es wurde Zeit für den wirklich gefährlichen Teil ihres Unternehmens. »Seid ihr bereit?«
Elaynes Lächeln verschwand aus ihren Zügen. »Ich bin bereit.«
»Fertig«, sagte Min knapp.
»Wo wollt ihr... wir... wohin gehen wir?« fragte Seta schnell und fügte hinzu: »Wenn ich fragen darf.«
»In die Höhle des Löwen«, antwortete Elayne.
»Um mit dem Dunklen König zu tanzen«, sagte Min.
Nynaeve seufzte und schüttelte den Kopf. »Sie wollen damit einfach sagen, daß wir dorthin gehen, wo man die Damane untergebracht hat, und dann werden wir eine von ihnen befreien.«
Seta brachte vor Verblüffung den Mund nicht mehr zu, während sie sie aus dem Schuppen beförderten.
Bayle Domon beobachtete vom Deck seines Schiffes aus die aufgehende Sonne. Der Hafen war bereits sehr belebt, obwohl die Straßen, die von hier aufwärtsführten, noch beinahe leer waren. Eine Möwe hatte sich auf einem Bündel niedergelassen und blickte ihn an. Möwenaugen zeigen kein Mitleid.
»Seid Ihr sicher, daß nichts schiefgeht, Kapitän?« fragte Yarin. »Falls sich die Seanchan fragen, warum wir alle an Bord gehen... «
»Du müssen nur sichergehen, daß neben jedem Haltetau eine Axt liegen«, sagte Domon kurz angebunden. »Und, Yarin, tut irgendein Mann Tau kappen, bevor die Frauen sind an Bord, ich werden spalten seinen Schädel.«
»Was ist, wenn sie nicht kommen, Kapitän? Wenn statt dessen Soldaten der Seanchan auftauchen?«
»Nicht dir machen in Hose, Mann! Wenn Soldaten kommen, ich werden zur Hafenausfahrt segeln, und Licht, schenk uns deine Gnade. Aber bis Soldaten kommen, ich werden warten auf diese Frauen. Jetzt geh und tu so, als ob du nichts zu tun haben.«
Domon wandte sich wieder um und betrachtete die Stadt. Dort oben hielt man die Damane gefangen. Seine Finger trommelten einen nervösen Rhythmus auf die Reling.
Die morgendliche Brise von See her wehte den Geruch der Küchenfeuer bis vor Rands Nase und brachte seinen mottenzerfressenen Umhang zum Flattern. Er hielt ihn mit einer Hand zu, während sich der Braune der Stadt näherte. Unter den aufgefundenen Kleidungsstücken war kein Mantel gewesen, der ihm paßte, und er hatte es für richtig gehalten, die silbernen Stickereien auf den Ärmeln und die Reiher am Kragen seines eigenen Mantels unter diesem Umhang zu verbergen. Die Nachlässigkeit der Seanchan bewaffneten Reisenden gegenüber erstreckte sich möglicherweise doch nicht auf die Träger von Reiherschwertern.
Die ersten Schatten des frühen Morgens fielen über ihn. Er konnte gerade Hurin erkennen, der zwischen den Stellplätzen der Wagen und den Stallungen hindurchritt. Nur ein oder zwei Männer befanden sich bei der langen Wagenreihe der Kaufleute von außerhalb, und diese Männer trugen die langen Schürzen der Wagner und Hufschmiede. Ingtar, der vorangeritten war, war bereits nicht mehr zu sehen. Perrin und Mat folgten Rand in größerem Abstand. Er sah sich nicht nach ihnen um. Es sollte nicht so aussehen, als kannten sie sich. Sie waren einfach fünf Männer, die zu früher Stunde, aber getrennt voneinander, nach Falme kamen.
Er befand sich jetzt zwischen den Pferdekoppeln. Die Pferde standen bereits an den Zäunen und warteten auf ihr Futter. Hurin streckte den Kopf aus der Lücke zwischen zwei Ställen hervor, die noch geschlossen und verrammelt waren, sah Rand und bedeutete ihm, herzukommen. Dann schlich er vorsichtig zurück. Rand lenkte seinen Hengst in diese Richtung.
Hurin stand da und hielt sein Pferd am Zügel. Er trug statt seines Mantels nur eine lange Weste unter dem schweren Umhang, der sein Schwert und den Schwertbrecher verbarg, und er zitterte vor Kälte. »Lord Ingtar ist dort hinten«, sagte er und deutete mit einer Kopfbewegung in den engen Durchgang hinein. »Er sagt, wir lassen die Pferde jetzt hier und gehen zu Fuß weiter.« Rand stieg ab, und der Schnüffler fügte hinzu: »Fain ist diese Straße hinuntergegangen, Lord Rand. Ich rieche es fast von hier aus.«
Rand führte den Braunen hinter den Stall, wo auch Ingtar schon sein Pferd angebunden hatte. Der Schienarer wirkte in seinem schmutzigen Schafsledermantel, der an mehreren Stellen Löcher aufwies, nicht gerade wie ein Lord. Sein Schwert hatte er über den Mantel geschnallt, was ebenfalls eigenartig wirkte. In seinem Blick lag eine fieberhafte Eindringlichkeit.
Rand band den Braunen neben Ingtars Hengst an. Er zögerte der Satteltaschen wegen. Er hatte die Flagge nicht zurücklassen wollen. Er glaubte nicht, daß einer der Soldaten darin herumstöbern würde, aber bei Verin war er da nicht so sicher und konnte auch nicht vorhersagen, was sie täte, wenn sie die Flagge fände. Aber es machte ihn auch nervös, sie dabei zu haben. Er entschloß sich, die Satteltaschen auf dem Pferd zu belassen.
Mat schloß sich ihnen an, und ein paar Augenblicke später kam auch Hurin zusammen mit Perrin. Mat trug Pumphosen, die er sich in die Stiefelschäfte gestopft hatte, und Perrin trug seinen viel zu kurzen Umhang. Rand fand, daß sie alle wie schurkische Bettler wirken mußten, doch in den Dörfern waren sie so weitgehend unbemerkt geblieben.
»Also«, meinte Ingtar, »dann gehen wir mal los.«
Sie schlenderten hinaus auf die ungepflasterte Straße. Es wirkte ziellos; sie unterhielten sich ein wenig und ließen bald die Wagenstellplätze hinter sich. Dann erreichten sie die gepflasterten Straßen der Stadt selbst. Rand registrierte gar nicht, was er so alles sagte oder was die anderen sagten. Ingtar hatte geplant, sie wie jede andere Gruppe von Männern aussehen zu lassen, die zum Hafen hinunterging, doch es befanden sich einfach noch zu wenige Menschen außerhalb der Häuser. Der Morgen war kalt, und die fünf Männer wirkten wie eine Menschenmenge.
Sie gingen zusammen, aber angeführt von Hurin, der die Nase in die Luft streckte und manchmal diese Straße wählte, manchmal jene. Die anderen hielten sich an seinen Kurs, als sei das alles so beabsichtigt gewesen. »Er ist im Zickzack durch diese Stadt gewandert«, murmelte Hurin und verzog das Gesicht dabei. »Überall liegt sein Geruch, und es stinkt so schlimm, daß ich kaum die älteren Spuren von den neueren unterscheiden kann. Zumindest wissen wir aber, daß er sich noch hier aufhält. Einige Spuren können nicht älter als ein oder zwei Tage sein. Da bin ich sicher, ganz sicher«, fügte er mit fester Stimme hinzu.
Nun erschienen langsam immer mehr Leute auf der Straße. Hier legte ein Obsthändler seine Ware auf dem Tisch aus, dort eilte ein Bursche mit einem großen Bündel Schriftrollen unter dem Arm und einem Schreibbrett auf dem Rücken dahin. Anderswo wieder ölte ein Scherenschleifer die Achse seines Schleifsteins auf dem kleinen Karren. Zwei Frauen schritten in der anderen Richtung vorbei, die eine mit gesenktem Blick und einem silbernen Halsband, während die andere — in einem Kleid, das mit Blitzen gekennzeichnet war — eine zusammengerollte Silberleine in der Hand hielt.
Rand stockte der Atem. Es kostete ihn Mühe, die beiden nicht anzustarren.
»Waren das...?« Mat hatte die Augen aufgerissen. Sie lagen tief in den dunklen Augenhöhlen. »War das eine Damane?«
»So hat man sie beschrieben«, sagte Ingtar knapp. »Hurin, müssen wir jede Straße in dieser vom Schatten verfluchten Stadt durchschreiten?«
»Er war einfach überall, Lord Ingtar«, sagte Hurin. »Sein Gestank ist überall.« Sie waren in einen Stadtbezirk gekommen, wo die Steinhäuser drei oder vier Stockwerke hoch waren, so wie große Schenken.
Sie bogen um eine Ecke, und Rand schreckte auf, als er der Gruppe von Seanchan-Soldaten ansichtig wurde, die vor einem großen Gebäude Wache stand. Und gegenüber standen zwei Frauen in Kleidern mit Blitzabzeichen am Eingang eines Nebengebäudes und unterhielten sich. Über dem von den Soldaten bewachten Haus flatterte eine Flagge im Wind. Sie zeigte einen goldenen Falken, der Blitze in den Krallen trug. Das Haus, vor dem die beiden Frauen klatschten, war nicht weiter gekennzeichnet. Die Rüstung des Offiziers sah prachtvoll aus. Sie war in Rot, Schwarz und Gold gehalten; dazu war der Helm vergoldet und sah aus wie der Kopf einer Spinne. Und dann bemerkte Rand die beiden Gestalten mit ledriger Haut, die zwischen den Soldaten kauerten. Er wäre beinahe gestolpert.
Grolm. Diese keilförmigen Köpfe mit den drei Augen waren unverwechselbar. Das kann doch nicht wahr sein! Vielleicht schlief er noch und hatte einen Alptraum? Vielleicht sind wir noch nicht nach Falme aufgebrochen? Die anderen betrachteten die Kreaturen, während sie an dem bewachten Gebäude vorbeigingen.
»Was im Namen des Lichts ist denn das?« fragte Mat.
Hurin hatte die Augen weit aufgerissen. »Lord Rand, das sind... Das sind... «
»Es spielt keine Rolle«, sagte Rand. Einen Augenblick später nickte Hurin verständnisvoll.
»Wir sind des Hornes wegen hier«, sagte Ingtar, »und nicht um irgendwelche Monster der Seanchan anzugaffen. Beschränk dich darauf, Fain aufzuspüren, Hurin.«
Von den Soldaten wurden sie kaum beachtet. Die Straße führte direkt hinunter zu dem kreisförmig angelegten Hafen. Rand erkannte dort unten Schiffe, die vor Anker lagen: große, eckig wirkende Schiffe mit hohen Masten, die auf diese Entfernung wie Spielzeuge wirkten.
»Er war oft hier.« Hurin rieb sich mit dem Handrücken über die Nase. »Die Straße stinkt — da liegt eine Schicht von Gestank über der anderen. Es kann sein, daß er gestern hier war, Lord Ingtar. Vielleicht sogar gestern abend.«
Plötzlich verkrampfte Mat die Hände in das Vorderteil seines Mantels. »Er ist dort drinnen«, flüsterte er. Er wandte sich um und lief ein paar Schritte zurück. Es war das große Gebäude mit der Flagge. »Dort drinnen ist der Dolch. Ich habe ihn zuvor nicht bemerkt — wegen dieser —dieser Biester, aber ich spüre ihn.«
Perrin stieß ihn mit dem Finger in die Rippen. »Hör auf, sonst fragen die sich noch, warum du sie wie ein Blöder anstarrst.«
Rand sah sich um. Der Offizier blickte zu ihnen herüber. Mat wandte sich mürrisch wieder den Gefährten zu. »Sollen wir einfach weitermarschieren? Er ist dort drinnen, sage ich euch!«
»Wir sind hinter dem Horn her«, grollte Ingtar. »Ich muß Fain finden und ihn zwingen, mir zu verraten, wo es ist.« Er verlangsamte seinen Schritt nicht.
Mat sagte nichts darauf, aber sein Gesicht war eine einzige Bitte.
Ich muß Fain auch finden, dachte Rand. Ich muß. Aber nach einem Blick auf Mats Gesicht sagte er: »Ingtar, wenn sich der Dolch dort drinnen befindet, ist wahrscheinlich auch Fain dort. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er sich weit entfernt von Dolch und Horn aufhält.«
Ingtar blieb stehen. Einen Augenblick später sagte er: »Kann sein, aber von hier draußen können wir das nicht feststellen.«
»Wir sollten das Haus beobachten, um zu sehen, ob er herauskommt«, sagte Rand. »Falls er heute früh noch herauskommt, hat er auch dort geschlafen. Und ich wette, dort, wo er schläft, befindet sich auch das Horn. Falls er kommt, können wir um die Mittagszeit wieder bei Verin sein und vor Einbruch der Dunkelheit einen Plan vorbereitet haben.«
»Ich warte nicht auf Verin«, meinte Ingtar. »Und ich warte auch nicht auf die Nacht. Ich will das Horn in Händen halten, bevor die Sonne sinkt.«
»Aber wir wissen doch nichts Genaues, Ingtar.«
»Ich weiß, daß der Dolch hier ist«, sagte Mat.
»Und Hurin sagt, daß Fain gestern abend hier war.« Ingtar winkte Hurins Versuche beiseite, noch etwas dazu zu sagen. »Dies ist das erste Mal, daß du bereit warst, einen näheren Zeitpunkt zu nennen als nur ein oder zwei Tage. Wir werden uns das Horn augenblicklich holen. Jetzt gleich!«
»Wie denn?« fragte Rand. Der Offizier beobachtete sie nicht mehr, aber es standen mindestens zwanzig Soldaten vor dem Gebäude. Und ein Grolm-Paar. Das ist Wahnsinn. Es kann doch hier keine Grolme geben. Aber der Gedanke allein ließ die Biester nicht verschwinden.
»Hinter diesen Häusern scheint es Gärten zu geben«, sagte Ingtar. Er sah sich nachdenklich um. »Falls eine dieser Gassen an einer Gartenmauer entlang verläuft... Manchmal sind die Leute so damit beschäftigt, den Vordereingang zu bewachen, daß sie die Rückseite vernachlässigen. Kommt!« Er ging geradewegs auf die nächste enge Gasse zwischen zwei Häusern zu. Hurin und Mat liefen hinter ihm her.
Rand und Perrin sahen sich in die Augen. Rands breitschultriger Freund zuckte die Achseln, und so folgten sie ebenfalls.
Die Gasse war nicht viel breiter als ihre Schultern, aber sie verlief tatsächlich zwischen hohen Gartenmauern, bis sie eine weitere Gasse kreuzte, die breit genug für eine Schubkarre oder einen Handwagen war. Auch sie war gepflastert, doch ihre Seiten wurden lediglich von den Rückseiten einiger Gebäude gebildet — hohe Steinwände mit lädenverschlossenen Fenstern. Wo sich noch Gartenmauern zeigten, ragten sie hoch auf und wurden nur durch kahle Bäume überragt. Ingtar führte sie durch diese Gasse, bis sie sich der flatternden Fahne gegenüber befanden. Er holte unter seinem Mantel die stahlbewehrten Handschuhe hervor, zog sie an und sprang hinauf. Er konnte sich gerade noch an der Mauerkrone festklammern und zog sich dann hoch, um darüber hinweg zu spähen. Er berichtete mit leiser gleichförmiger Stimme: »Bäume. Blumenbeete. Pfade. Keine Menschenseele zu... Halt! Ein Wächter. Nur ein Mann. Er trägt nicht einmal seinen Helm. Zählt bis fünfzig, und folgt mir dann.« Er schob einen Stiefel über die Mauerkrone und rollte sich hinüber. Er verschwand, bevor Rand nur ein Wort sagen konnte.
Mat zählte langsam. Rand hielt die Luft an. Perrin fühlte nach seiner Axt, und Hurin packte die Griffe seiner Waffen.
»... fünfzig.« Hurin kletterte die Mauer hinauf und verschwand, bevor Mat ausgesprochen hatte. Perrin folgte fast gleichzeitig.
Rand glaubte, daß Mat möglicherweise Hilfe benötigen werde, da er so blaß und angespannt wirkte, doch er zeigte keine Schwäche beim Hinaufklettern. Die Mauer bot genügend Vorsprünge und Grifflöcher, so daß Rand nur wenige Augenblicke später neben Mat, Perrin und Hurin im Garten kauerte.
Der Herbst hatte den Garten fest im Griff. Die Blumenbeete waren bis auf ein paar immergrüne Sträucher leer und die Bäume beinahe kahl. Der Wind, in dem die Fahne flatterte, wirbelte Staub über die geplättelten Gartenwege. Erst konnte Rand Ingtar nicht entdecken. Dann sah er den Schienarer, der sich an die Rückwand des Hauses drückte und ihnen mit dem Schwert in der Hand zuwinkte.
Rand rannte gebückt hinüber. Er nahm eher die Fenster wahr, die ihn vom Haus herunter mit leeren Augen anzustarren schienen, als die Freunde, die neben ihm herrannten. Er war erleichtert, als er sich neben Ingtar an die Hauswand drücken konnte. Mat murmelte in sich hinein: »Er ist da drinnen. Ich fühle ihn.«
»Wo ist der Wächter?« flüsterte Rand. »Tot«, antwortete Ingtar. »Der Mann fühlte sich zu sicher. Er versuchte nicht einmal, um Hilfe zu schreien. Ich habe seine Leiche unter den Büschen versteckt.«
Rand sah ihn mit großen Augen an. Der Seanchan fühlte sich zu sicher? Das einzige, was ihn in diesem Moment vom Zurücklaufen abhielt, war Mats Not.
»Wir sind fast da.« Auch bei Ingtar klang es, als führe er Selbstgespräche. »Beinahe da. Kommt!«
Rand zog sein Schwert, als sie die Hintertreppe hinaufschlichen. Er spürte mehr, als er sah, wie Hurin sein Kurzschwert und den eingedellten Schwertbrecher herauszog und wie Perrin zögernd die Axt aus der Schlinge am Gürtel holte.
Der Flur drinnen war eng. Aus einer halbgeöffneten Tür rechts roch es nach Küche. Mehrere Leute rührten sich dort. Man hörte Stimmengewirr und gelegentlich das leise Klappern eines Deckels. Ingtar bedeutete Mat, die Führung zu übernehmen, und sie schlichen an dieser Tür vorbei. Rand behielt die enge Öffnung im Auge, bis sie um die nächste Ecke waren.
Eine schlanke junge Frau mit dunklem Haar trat aus einer Tür vor ihnen. Sie trug ein Tablett mit einer Tasse. Sie erstarrten alle. Die Frau wandte sich in die andere Richtung, ohne nach hinten zu blicken. Rand riß die Augen auf. Ihr langes weißes Gewand war fast durchsichtig. Sie verschwand um die nächste Ecke.
»Habt ihr das gesehen?« fragte Mat heiser. »Man konnte richtig durch... «
Ingtar legte Mat eine Hand über den Mund und flüsterte: »Haltet Eure Gedanken im Zaum und vergeßt nicht, weswegen wir hier sind. Jetzt sucht es. Sucht das Horn für mich.«
Mat deutete auf eine enge Wendeltreppe. Sie stiegen bis zum nächsten Absatz hinauf, und dann führte er sie in den vorderen Teil des Hauses. In den Fluren standen nur wenige Möbel, und die waren alle abgerundet. Hier und da hing ein Gobelin an der Wand, oder eine Stellwand stand davor, beides meist mit Vögeln auf Ästen oder mit Blumen bemalt. Über eine Stellwand floß ein Strom, aber abgesehen von dem leicht gekräuselten Wasser und engen Uferstreifen war der Hintergrund leer.
In allen Zimmern hörte Rand die Geräusche, die Menschen machen, wenn sie aufwachen, wenn sie auf Hausschuhen durch den Raum schlurfen und leise miteinander sprechen. Er sah niemanden, konnte sich aber alles gut vorstellen. Wenn jemand auf den Flur hinaustrat und fünf schleichende Männer mit Waffen in der Hand entdeckte und Alarm gab...
»Hier drinnen«, flüsterte Mat. Er deutete auf eine große Schiebetür vor ihnen. Geschnitzte Handgriffe waren ihre einzige Zier. »Zumindest ist der Dolch dort.«
Ingtar sah Hurin an. Der Schnüffler schob die Tür auf, und Ingtar sprang mit blankem Schwert hinein. Es war niemand drinnen. Rand und die anderen eilten hinein, und Hurin schloß schnell die Tür hinter ihnen.
Bemalte Stellwände verbargen sämtliche Wände des Raumes und eventuell vorhandene weitere Türen. Sie dämpften auch das Licht, das durch Fenster fiel, die sich wohl zur Straße hin öffneten. An einer Wand stand eine hohe runde Kommode. An einer anderen standen ein kleiner Tisch und ein einzelner Stuhl, der zum Tisch hin gerückt war. Rand hörte, wie Ingtar überrascht keuchte, aber er selbst seufzte lediglich erleichtert. Das gekrümmte goldene Horn von Valere lag in einem Ständer auf dem Tisch. Darunter funkelte der Rubin am Griff des verzierten Dolches im Licht.
Mat eilte zum Tisch und hob Dolch und Horn auf. »Wir haben ihn«, krächzte er und schüttelte die Faust mit dem Dolch. »Wir haben beides.«
»Nicht so laut!« mahnte Perrin und verzog das Gesicht in übertriebenem Schmerz. »Wir haben sie noch nicht nach draußen gebracht.« Seine Hände fingerten unablässig am Griff seiner Axt herum, als hielten sie viel lieber etwas anderes.
»Das Horn von Valere.« Ehrfurcht lag in Ingtars Stimme. Er berührte zögernd das Horn und fuhr mit einem Finger die silberne Schrift um die Öffnung des Horns nach, wobei er lautlos den Text nachsprach. Dann zog er seine vor Erregung zitternde Hand zurück. »Es ist wahr. Beim Licht, endlich! Ich bin gerettet!«
Hurin schob die Stellwände beiseite, die vor den Fenstern standen. Nach einem letzten Ruck spähte er endlich hinunter auf die Straße. »Diese Soldaten sind noch alle da, als hätten sie Wurzeln geschlagen.« Er schauderte. »Diese... Dinger auch.«
Rand trat zu ihm hinüber. Die beiden Kreaturen waren Grolme, daran gab es keinen Zweifel. »Wie haben sie bloß... «
Als er den Blick von der Straße hob, erstarben ihm die Worte im Mund. Er sah geradewegs über die Gartenmauer des großen Gebäudes gegenüber hinweg. Man hatte weitere Mauern abgerissen und so den Garten erweitert. Dort saßen Frauen auf Bänken oder schlenderten die Gartenwege entlang, und zwar immer paarweise. Frauen, die durch silberne Leinen verbunden waren — vom Handgelenk der einen zum Hals der anderen. Eine der Frauen mit einem Halsband blickte auf. Er war zu weit weg, um ihr Gesicht klar erkennen zu können, doch einen Augenblick lang trafen sich ihre Blicke, und er wußte, wer sie war. Er wurde leichenblaß. »Egwene«, hauchte er.
»Was redest du da?« fragte Mat. »Egwene ist in Sicherheit in Tar Valon. Ich wünschte, wir wären auch dort.«
»Sie ist hier«, sagte Rand. Die beiden Frauen drehten sich um und gingen zu einem Gebäude am hinteren Ende der Gärten. »Sie ist hier, gleich gegenüber. O Licht, sie trägt eines dieser Halsbänder!«
»Bist du sicher?« fragte Perrin. Er kam nach vorn und spähte ebenfalls durch das Fenster. »Ich sehe sie nicht, Rand. Und — ich könnte sie erkennen, wenn sie da wäre, selbst auf diese Entfernung.«
»Ich bin sicher«, sagte Rand. Die beiden Frauen verschwanden in einem Haus auf der anderen Straßenseite. Sein Magen verkrampfte sich. Sie müßte doch in Sicherheit sein. Sie müßte in der Weißen Burg sein. »Ich muß sie herausholen. Ihr anderen... «
»Aha!« Die näselnde Stimme war genauso leise wie das Geräusch der zur Seite geschobenen Tür. »Euch habe ich nicht erwartet.«
Für einen kurzen Moment stand Rand wie erstarrt da. Der hochgewachsene Mann mit dem rasierten Schädel, der in den Raum getreten war, trug ein langes blaues Gewand, das auf dem Boden schleifte, und seine Fingernägel waren so lang, daß Rand sich fragte, ob er überhaupt irgend etwas ergreifen könne. Die beiden Männer, die unauffällig hinter ihm standen, hatten nur die Hälfte des Schädels rasiert. Auf der anderen Seite hing das dunkle Haar in einem Zopf jeweils auf die rechte Wange herunter. Einer von ihnen trug ein Schwert in der Scheide auf den Armen.
Er hatte nur einen Moment Zeit, und dann fielen die Stellwände an beiden Enden des Raumes um und enthüllten jeweils eine Tür, in der sich vier oder fünf Soldaten der Seanchan drängten, zwar ohne Helm, doch gerüstet und mit Schwertern in den Händen.
»Ihr befindet Euch in der Gegenwart des Hochlords Turak«, begann der Mann, der das Schwert trug. Er sah Rand und die anderen wütend an, doch eine knappe Bewegung eines Fingers mit blaulackiertem Nagel brachte ihn zum Schweigen. Der andere Diener trat vor, verbeugte sich und knöpfte Turaks Gewand auf.
»Als einer meiner Wächter tot aufgefunden wurde«, sagte der Mann mit dem kahlen Schädel gelassen, »hatte ich den Mann in Verdacht, der sich Fain nennt. Ich mißtraue ihm schon, seit Huon auf so geheimnisvolle Weise starb, und diesen Dolch wollte er immer schon haben.« Er streckte die Arme vor, damit der Diener ihm das Gewand ausziehen konnte. Trotz seiner sanften, näselnden Stimme waren seine Arme und sein Oberkörper mit Muskeln bepackt. Der Oberkörper war nackt. Darunter trug er eine blaue Schärpe und eine weite weiße Hose, die aus Hunderten von Pailletten bestand. Sein Tonfall wirkte gelangweilt, und er beachtete die Schwerter in den Händen der Freunde kaum. »Und nun finde ich Fremde vor, die nicht nur den Dolch, sondern auch das Horn stehlen. Es wird mir eine Freude sein, einen oder zwei von Euch zu töten, weil Ihr meine morgendliche Ruhe gestört habt. Die Überlebenden sagen mir dann, wer Ihr seid und warum Ihr kamt.« Er streckte eine Hand aus, ohne hinzusehen, der Mann mit dem in der Scheide steckenden Schwert legte ihm den Griff in die Hand, und dann zog er die schwere gekrümmte Klinge heraus. »Ich will nicht, daß das Horn beschädigt wird.«
Turak gab keinen Befehl, doch einer der Soldaten stolzierte in den Raum und faßte nach dem Horn. Rand wußte nicht, ob er lachen sollte oder nicht. Der Mann trug eine Rüstung, aber mit seinem hochmütigen Gesicht sah er wie Turak einfach über ihre Waffen hinweg.
Mat machte dem ein Ende. Als der Seanchan die Hand ausstreckte, schlitzte Mat sie mit dem Rubindolch auf. Fluchend sprang der Soldat zurück. Er wirkte völlig überrascht. Dann schrie er auf. Der Schrei ließ den Raum in Eiseskälte erstarren. Alle blieben wie angewurzelt stehen. Die bebende Hand, die der Mann sich vor das Gesicht hielt, färbte sich schwarz. Die Dunkelheit verbreitete sich langsam von dem blutenden Schnitt auf seiner Handfläche nach außen. Er öffnete den Mund und heulte laut, wobei er nach seinem Arm und seiner Schulter griff. Mit zuckenden Armen und Beinen stürzte er zu Boden, wand sich auf dem Seidenteppich, kreischte, als sich sein Gesicht schwarz verfärbte und seine dunklen Augen wie überreife Pflaumen herausquollen, bis die Schreie von der angeschwollenen dunklen Zunge erstickt wurden. Er zuckte noch einmal, röchelte schwer, seine Fersen trommelten auf den Boden, dann lag er still. Wo immer seine Haut zu sehen war, war sie schwarz wie von der Pest und schien bei der geringsten Berührung aufbrechen zu wollen.
Mat leckte sich die Lippen und schluckte. Seine Hand am Dolchgriff bewegte sich unruhig. Selbst Turak starrte den Toten mit offenem Mund an.
»Wie Ihr seht«, sagte Ingtar leise, »sind wir keine leichte Beute.« Plötzlich sprang er über die Leiche hinweg auf die Soldaten zu, die noch immer erschrocken auf die Reste blickten, die noch vor Augenblicken ihr Kamerad gewesen waren. »Schinowa!« schrie er. »Folgt mir!« Hurin sprang ihm nach, und die Soldaten wichen vor ihnen zurück. Das Geräusch von Stahl auf Stahl erhob sich.
Die Seanchan am anderen Ende des Raumes rannten schon los, als sich Ingtar bewegte, doch dann wichen sie ebenfalls wieder zurück, mehr noch vor dem Dolch in Mats ausgestreckter Hand als vor Perrins in wortlosem Knurren geschwungener Axt. Innerhalb weniger Herzschläge stand Rand allein Turak gegenüber, der sein Schwert senkrecht vor sich hielt. Sein momentaner Schreck war verflogen. Sein scharfer Blick ruhte auf Rands Gesicht; der aufgequollene schwarze Körper eines seiner Soldaten schien nicht für ihn zu existieren. Für die beiden Diener schien er genausowenig vorhanden zu sein. Sie beachteten auch Rand und sein Schwert nicht, ebensowenig wie die Kampfgeräusche, die sich langsam ins Innere des Hauses entfernten. Die Diener hatten seelenruhig begonnen, Turaks Gewand zu falten, nachdem dieser das Schwert in die Hand genommen hatte. Sie hatten nicht einmal bei den Todesschreien des Soldaten aufgeblickt. Nun knieten sie neben der Tür und beobachteten Rand und Turak mit teilnahmslosen Blicken.
»Ich dachte mir, daß es auf uns beide hinausläuft.« Turak wirbelte seine Klinge mit Leichtigkeit herum, einen Kreis in der einen Richtung, dann in der anderen. Seine Finger hielten trotz der langen Nägel sicher den Knauf. Die Nägel schienen ihn nicht zu behindern. »Ihr seid jung. Laßt uns sehen, was auf dieser Seite des Ozeans verlangt wird, wenn man sich den Reiher verdienen will.«
Plötzlich bemerkte Rand, daß auf Turaks Schwert ein großer Reiher eingraviert war. Nach den wenigen Lektionen, die er erhalten hatte, stand er nun einem echten Schwertmeister gegenüber. Hastig warf er den schafsledernen Umhang beiseite, damit er ihn nicht belastete und behinderte. Turak wartete.
Rand suchte verzweifelt nach dem Nichts. Es war klar, daß er jedes bißchen seiner Fähigkeiten aktivieren mußte, und selbst dann waren seine Aussichten gering, den Raum lebend zu verlassen. Aber er mußte. Egwene war beinahe nur auf Rufweite von ihm entfernt, und er mußte sie irgendwie befreien. Doch im Nichts wartete Saidin. Bei dem Gedanken daran tat sein Herz einen Sprung vor Freude, während sich ihm der Magen umdrehte. Aber genauso nahe wie Egwene waren diese anderen Frauen: Damane. Wenn er Saidin berührte, wenn er sich nicht zurückhalten konnte und die Macht benützte, würden sie es wissen. Das hatte Verin gesagt. Wissen und sich fragen, was da los sei. So viele von ihnen und so nahe. Vielleicht überlebte er Turaks Fechtkunst und würde dann von diesen Damane getötet. Doch er konnte nicht sterben, bevor er nicht Egwene befreit hatte. Rand hob sein Schwert.
Turak glitt auf leisen Sohlen auf ihn zu. Klinge schlug gegen Klinge wie der Hammer auf den Amboß.
Gleich zu Beginn wurde Rand klar, daß ihn der Mann auslotete, daß er nur gerade so weit forcierte, damit er sah, was Rand konnte. Danach würde er wieder ein wenig forcieren und dann wieder. Seine starken Gelenke und seine Leichtfüßigkeit hielten Rand genauso am Leben wie sein Können. Ohne das Nichts war er immer einen halben Herzschlag zu langsam. Die Spitze von Turaks schwerem Schwert ritzte ihn unter dem linken Auge. Der Schmerz biß. Ein Fetzen des Mantelärmels hing ihm von der Schulter, dunkel und naß. Aus einem sauberen Schnitt, mit der Genauigkeit eines Schneiders angebracht, fühlte er warme Feuchtigkeit über den Brustkorb rinnen. Auf dem Gesicht des Hochlords stand Enttäuschung geschrieben. Er trat mit einer verächtlichen Geste zurück. »Wo hast du diese Klinge gefunden, Junge? Oder verleihen sie hier etwa jemandem den Reiher, der nicht mehr kann als du? Spielt keine Rolle. Schließ mit dem Leben ab. Es ist Zeit zu sterben.« Er griff wieder an.
Das Nichts hüllte Rand ein. Saidin strömte auf ihn zu und erglühte mit dem Versprechen der Einen Macht, doch er achtete nicht darauf. Es war auch nicht schwieriger, als eine Pfeilspitze mit Widerhaken zu übersehen, die sich in sein Fleisch bohrte. Er weigerte sich, die Macht durch seinen Körper strömen zu lassen, eins zu werden mit der männlichen Hälfte der Wahren Quelle. Er war eins mit dem Schwert in seiner Hand, eins mit dem Boden unter seinen Füßen, eins mit den Wänden. Eins mit Turak.
Er erkannte die Fechtfiguren, die der Hochlord anwandte. Sie unterschieden sich ein wenig von denen, die er gelernt hatte, aber es reichte. Die Schwalbe fliegt auf traf auf Die Seide zur Seite schieben. Mond auf den Wassern traf auf Das Moorhuhn tanzt. Das Band flattert im Wind traf auf Steine fallen von der Klippe. Sie bewegten sich wie im Tanz durch den Raum, und ihre Musik war der Klang von Stahl auf Stahl.
Enttäuschung und Verachtung verschwanden aus Turaks Blick, wurden von Überraschung abgelöst — und dann durch Konzentration. Schweiß rann dem Hochlord über das Gesicht, als er Rand noch entschlossener angriff. Der dreizackige Blitz traf auf Blatt im Wind.
Rands Gedanken schwebten außerhalb des Nichts, von ihm losgelöst und kaum bemerkt. Es reichte nicht. Er stand einem Schwertmeister gegenüber, und trotz des Nichts und aller seiner Fähigkeiten brachte er es kaum fertig, sich der Angriffe Turaks zu erwehren. Kaum. Er mußte den Kampf beenden, bevor Turak es tat. Saidin? Nein! Manchmal ist es notwendig, das Schwert im eigenen Fleisch zu bergen. Aber das half Egwene auch nicht. Er mußte dem ein Ende bereiten. Jetzt.
Turaks Augen weiteten sich, als nun Rand seinerseits vorwärtsglitt. Bisher hatte er sich nur verteidigt; jetzt griff er mit aller Kraft an. Der Keiler stürmt bergab. Jede Bewegung der Klinge war ein Versuch, den Körper des Hochlords zu erreichen. Nun konnte sich Turak nur noch zurückziehen und parieren, durch den ganzen Raum, fast bis zur Tür.
In einem winzigen Sekundenbruchteil, als Turak noch den Keiler parierte, wechselte Rand zu einer anderen Figur. Der Fluß unterspült das Ufer. Er fiel auf ein Knie nieder, und die Klinge schnitt quer von unten her. Er mußte Turaks Keuchen nicht hören oder den Widerstand an der Klinge spüren, um es zu wissen. Er hörte zwei dumpfe Schläge und wandte den Kopf, wohl wissend, was er sehen würde. Er blickte an seiner Klinge entlang, die rot und feucht vor ihm erglänzte, dorthin, wo der Hochlord lag. Das Schwert war ihm aus der schlaffen Hand gefallen, und dunkelrote Feuchtigkeit befleckte die gewebten Vögel auf dem Teppich unter seinem Körper. Turaks Augen waren noch offen, doch bereits vom milchigen Schimmer des Todes überzogen.
Das Nichts bebte. Er hatte zuvor schon Trollocs gegenübergestanden und die Abkömmlinge des Schattens besiegt. Doch noch nie hatte er gegen einen Mann mit einem Schwert kämpfen müssen, außer beim Üben oder im Scheinkampf. Ich habe soeben einen Mann getötet. Das Nichts bebte, und Saidin versuchte, ihn zu erfüllen.
Verzweifelt riß er sich los und atmete schwer. Er sah sich um. Überrascht bemerkte er, daß die beiden Diener immer noch neben der Tür knieten. Er hatte sie vergessen, und nun wußte er nicht, was er mit ihnen anfangen sollte. Beide schienen unbewaffnet, und doch brauchten sie nur zu schreien...
Sie sahen ihn nicht an und sich auch nicht gegenseitig. Statt dessen betrachteten sie still den Körper des Hochlords. Dann zogen sie aus ihrer Kleidung Dolche hervor, und er packte den Schwertgriff fester, doch jeder Mann richtete die Spitze seines Dolches gegen sich selbst. »Von Geburt bis zum Tod«, zitierten sie gemeinsam, »diene ich dem Blute.« Damit stießen sie sich die Dolche ins eigene Herz. Beinahe friedlich vereint fielen sie nach vorn. Die Köpfe lagen am Boden, wie in einer letzten Verbeugung ihrem Lord gegenüber.
Rand sah sie ungläubig an. Wahnsinnig, dachte er. Ich werde vielleicht wahnsinnig, aber sie waren es schon. Er stand etwas zittrig auf, als Ingtar und die anderen zurückgerannt kamen. Sie wiesen alle Kratzer und Schnittwunden auf. Das Leder von Ingtars Mantel war an mehreren Stellen befleckt. Mat hielt immer noch Horn und Dolch in den Händen. Die Klinge des Dolchs war mittlerweile dunkler als der Rubin an seinem Griff. Auch Perrins Axt war rot, und er sah aus, als wolle er sich jeden Moment übergeben.
»Ihr habt sie erledigt?« fragte Ingtar nach einem Blick auf die Leichen. »Dann sind wir hier fertig, falls kein Alarm ausgelöst wurde. Diese Narren haben nicht einmal um Hilfe gerufen — keiner von ihnen.«
»Ich sehe nach, ob die Wächter etwas gehört haben«, sagte Hurin. Er eilte ans Fenster.
Mat schüttelte den Kopf. »Rand, diese Leute spinnen. Ich weiß, das habe ich früher schon gesagt, aber bei denen hier stimmt es tatsächlich. Diese Diener...« Rand hielt die Luft an und fragte sich, ob sie wohl alle Selbstmord begangen hatten. Mat fuhr fort: »Als sie uns kämpfen sahen, fielen sie auf die Knie nieder, die Gesichter am Boden und die Arme um die Köpfe gelegt. Sie bewegten sich nicht und schrien nicht, sie versuchten nicht, den Soldaten zu helfen oder Alarm auszulösen. Soweit ich weiß, liegen sie vielleicht immer noch so da.«
»Ich würde nicht damit rechnen, daß sie auf den Knien liegenbleiben«, bemerkte Ingtar trocken. »Wir machen uns jetzt aus dem Staub, so schnell wir können.«
»Geht nur«, sagte Rand. »Egwene... «
»Ihr Narr!« schimpfte Ingtar. »Wir haben erbeutet, weswegen wir gekommen sind. Das Horn von Valere. Die Hoffnung auf eine Rettung. Welche Rolle spielt dagegen ein Mädchen, selbst wenn Ihr sie liebt? Gegen das Horn und alles, wofür es steht?«
»Es ist mir gleich, und wenn der Dunkle König das Horn bekommt! Was zählt das alles, wenn ich Egwene in dieser Lage im Stich lasse? Wenn ich das fertigbringe, kann mich auch das Horn nicht mehr retten. Der Schöpfer selbst könnte mich nicht retten. Ich würde mich selbst verdammen.«
Ingtar sah ihn mit undurchschaubarer Miene an. »Das meint Ihr wirklich so, nicht wahr?«
»Irgend etwas ist da draußen los«, sagte Hurin eindringlich. »Ein Mann ist gerade hergerannt gekommen, und sie drängen sich alle herum wie die Fische im Eimer. Wartet. Der Offizier kommt ins Haus herein!«
»Geht!« befahl Ingtar. Er versuchte, nach dem Horn zu greifen, doch Mat rannte bereits los. Rand zögerte, aber Ingtar packte ihn am Arm und zog ihn in den Flur. Die anderen rannten Mat hinterher. Perrin warf Rand nur einen kurzen schmerzerfüllten Blick zu, bevor auch er wegrannte. »Ihr könnt das Mädchen auch nicht retten, wenn Ihr hier wie angewurzelt steht und Euch umbringen laßt!«
Also rannte er mit. Er verachtete sich selbst, weil er wegrannte, aber in ihm flüsterte es: Ich komme zurück. Irgendwie befreie ich sie. Als sie den untersten Absatz der engen Wendeltreppe erreicht hatten, hörten sie die tiefe Stimme eines Mannes im Vorderteil des Hauses, die verlangte, daß jemand aufstehe und sage, was los sei. Ein Mädchen in beinahe durchsichtigem Kleid und eine grauhaarige Frau in weißem Wollkleid mit einer langen mehlbestaubten Schürze knieten am Fuß der Treppe neben der Küchentür. Sie lagen genauso da, wie Mat es beschrieben hatte: die Gesichter zu Boden gewandt und die Arme schützend um den Kopf gelegt, und sie rührten sich nicht, als Rand und die anderen vorbeihasteten. Er war erleichtert, als er ihre Atembewegungen wahrnahm.
Sie durchquerten den Garten, so schnell sie nur rennen konnten, und kletterten dann eilends über die rückwärtige Mauer. Ingtar fluchte, als Mat das Horn von Valere zuerst hinüberwarf, und er versuchte, es aufzuheben, als es draußen lag, doch Mat schnappte es sich wieder mit einem schnell hingeworfenen: »Es hat keinen Kratzer abbekommen«, und hastete die Gasse hinauf.
Weitere Rufe erklangen aus dem Haus, das sie gerade verlassen hatten. Eine Frau schrie, und jemand schlug einen Gong.
Ich komme zurück und hole sie. Irgendwie. Rand eilte den anderen nach, so schnell er konnte.