Die Art, wie die seltsam verblaßt wirkenden fernen Hügel auf Rand zuglitten, wenn er sie direkt anblickte, erzeugte Schwindelgefühle in ihm, außer er hüllte sich in das Nichts ein. Manchmal kam die Leere unversehens über ihn, aber er mied sie wie die Pest. Besser schwindlig zu sein, als das Nichts mit diesem unsteten Licht zu teilen. Viel besser, das verblaßte Land zu beobachten. Trotzdem bemühte er sich, nichts anzusehen, was in größerer Entfernung lag — nur das, was geradeaus vor ihnen lag.
Hurin trug einen erstarrten Gesichtsausdruck zur Schau, während er sich darauf konzentrierte, die Spur zu wittern, als versuche er, das Land zu übersehen, durch das diese Spur verlief. Wenn dem Schnüffler ihre Umgebung doch bewußt wurde, fuhr er zusammen und wischte sich die Hände am Mantel ab. Dann schob er die Nase vor wie ein Jagdhund, seine Augen wurden glasig, und er schloß alles andere aus seiner Wahrnehmung aus. Loial hing müde im Sattel und sah sich mit gerunzelter Stirn um. Seine Ohren zuckten unruhig, und er führte Selbstgespräche.
Wieder überquerten sie ein Stück Land, das geschwärzt und verbrannt aussah. Selbst der Boden knirschte unter den Hufen der Pferde, als habe man ihn versengt. Diese verbrannten Landstreifen waren manchmal eine Meile und manchmal nur ein paar hundert Schritte breit, aber alle erstreckten sich kerzengerade von Osten nach Westen. Zweimal sah Rand das Ende eines solchen Streifens.
Einmal ritten sie direkt darüber und einmal in der Nähe vorbei. Sie liefen am Ende in schmalen Spitzen aus. Jedenfalls dort, wo sie es sehen konnten; er vermutete, es war doch überall das gleiche.
Einmal hatte er zu Hause in Emondsfeld Whatley Eldin zugesehen, wie er einen Festwagen für den Sonnentag vorbereitet hatte. What hatte ihn mit bunten Bildern und kunstvollen Verzierungen geschmückt. An den Rändern hatte What den Wagen lediglich mit der Pinselspitze berührt. Die dünne Linie wurde stärker, als er mehr aufdrückte, und wieder dünner, als der Pinseldruck nachließ. Genauso sah das Land aus: als habe jemand mit einem riesigen Feuerpinsel Linien darüber gezogen.
Nichts wuchs dort, wo das Land verbrannt war. Einige der Brandstreifen zumindest erweckten das Gefühl, schon sehr alt zu sein. Dort konnte man nicht einmal eine Andeutung von Ruß in der Luft riechen, ja, selbst dann nicht, wenn er sich herunterbeugte, ein schwarzes Ästchen abbrach und daran roch. Lange vorbei, und doch gab es nichts, was das Land wieder belebt und zum Blühen gebracht hätte. Schwarz und Grün wechselten sich ab, und die Grenzen verliefen messerscharf.
Der Rest der Landschaft wirkte auf eine andere Art genauso tot wie die Brandstreifen, obwohl der Boden grasbewachsen war und die Bäume Blätter trugen. Alles wirkte so verblaßt — wie Kleider, die man zu oft gewaschen und zu lange in der Sonne getrocknet hatte. Es gab keine Vögel oder andere Tiere; jedenfalls sah und hörte Rand keine. Kein Falke drehte seine Kreise am Himmel, kein jagender Fuchs bellte, kein Vogel sang. Nichts raschelte im Gras oder setzte sich auf einen Ast. Keine Bienen, keine Schmetterlinge. Mehrmals überquerten sie seichte Bäche. Oft hatte sich das Wasser eine tiefe Rinne in das Land gegraben, deren steile Uferböschungen die Pferde hinunterrutschen und auf der anderen Seite wieder besteigen mußten. Das Wasser war klar bis auf den von den Pferdehufen aufgewirbelten Schlamm, doch keine Elritze und keine Kaulquappe schossen aus dem Schlammwirbel heraus. Nicht einmal eine Wasserspinne tanzte über die Oberfläche, und keine Libelle schwebte über dem Wasserspiegel.
Das Wasser war trinkbar, und das war gut so, denn ihre Vorräte reichten nicht ewig. Rand versuchte es zuerst und ließ Loial und Hurin warten, um zu sehen, ob ihm etwas passierte. Dann durften sie trinken. Er hatte sie in diese Lage gebracht und war verantwortlich für sie. Das Wasser war kühl und sauber, und das war auch noch das beste daran. Es schmeckte schal, als sei es abgekocht. Loial verzog das Gesicht, und die Pferde mochten es auch nicht. Sie schüttelten die Köpfe und tranken nur zögernd.
Es gab kein Anzeichen für Leben hier. Zweimal sah er einen zerfledderten Streifen wie eine von Wolken gezogene Linie über den Himmel kriechen. Die Linien war zu gerade, um natürlichen Ursprungs zu sein, aber er konnte sich nicht vorstellen, was die Ursache war. Er erwähnte diese Streifen den anderen gegenüber nicht. Vielleicht bemerkten sie sie gar nicht. Hurin war ganz auf die Spur konzentriert, und Loial hatte sich in sich selbst zurückgezogen. Jedenfalls sagten sie nichts zu den Streifen.
Als sie bereits den halben Morgen lang geritten waren, schwang sich Loial plötzlich wortlos von seinem riesigen Pferd und lief hinüber zu einer Gruppe Riesenbesenbäume. Ihre Stämme teilten sich zu vielen dicken Ästen, die steif und gerade keinen Schritt weit über dem Boden herausstanden. An den Spitzen teilten sie sich erneut zu einem dicht mit Blättern bewachsenen Gestrüpp, das ihnen den Namen gegeben hatte.
Rand hielt den Braunen an und wollte schon fragen, was er vorhatte, aber etwas am Benehmen des Ogiers, der selbst unsicher schien, ließ Rand schweigen. Nachdem er den Baum angeblickt hatte, legte Loial die Hände auf den Stamm und begann mit tiefer, sanft grollender Stimme zu singen.
Rand hatte schon einmal das Baumlied des Ogiers gehört, damals, als Loial einen sterbenden Baum besungen und wieder zum Leben erweckt hatte, und er hatte auch von besungenem Holz gehört, Kunstgegenständen, deren Material mit Hilfe des Baumlieds von Bäumen gewonnen worden war. Loial sagte, dieses Talent sei allmählich immer seltener geworden. Er war mittlerweile einer der wenigen, die diese Fähigkeit besaßen. Deshalb war besungenes Holz nun um so wertvoller und sehr gesucht. Als Loial damals sang, schien die Erde selbst zu singen. Doch nun sang der Ogier leise und beinahe schüchtern, und das Land warf ein flüsterndes Echo zurück.
Es schien eine reine Melodie zu sein, Musik ohne Worte; jedenfalls besaß sie keinen für Rand erkennbaren Text. Falls es einen Wortlaut gab, ging der so in die Melodie über wie Wasser in einen Bach. Hurin schnappte nach Luft und machte große Augen.
Rand war nicht klar, was Loial da eigentlich tat oder wie er es bewerkstelligte. So leise das Lied auch erklang, so hatte es doch eine beinahe hypnotische Wirkung auf ihn und erfüllte seinen Geist fast so wie das Nichts.
Loial streichelte den Stamm mit seinen großen Händen, sang und liebkoste sowohl mit seiner Stimme als auch mit seinen Fingern. Irgendwie schien der Stamm nun glatter, als ob sein Streicheln ihn veränderte. Rand blinzelte. Er war sicher, daß der Baum, den Loial bearbeitete, vorher genau wie die anderen an der Spitze Äste aufgewiesen hatte, doch nun lief er in einem abgerundeten Ende direkt über Loials Kopf aus. Rand öffnete den Mund, aber das Lied beruhigte ihn wieder. Es kam ihm so bekannt vor, dieses Lied, als sollte er es eigentlich kennen.
Plötzlich schwoll Loials Stimme an, erreichte einen Höhepunkt — es klang wie eine Dankeshymne — und verklang so sanft wie eine Brise.
»Seng mich«, hauchte Hurin. Er wirkte wie betäubt. »Seng mich, ich habe noch nie so etwas gehört... Seng mich.«
In seinen Händen hielt Loial einen Stab, so lang, wie er groß war, und so dick wie Rands Unterarm. Er war glatt und glänzte. Wo sich der Stamm des Riesenbesenbaums befunden hatte, war jetzt ein kleiner neuer Sprößling zu sehen.
Rand atmete tief durch. Immer wieder etwas Neues, etwas Unerwartetes, und manchmal ist es nichts Schlimmes.
Er sah zu, wie Loial sich auf sein Pferd schwang und den Stab vor sich über den Sattel legte. Er fragte sich, warum der Ogier einen Stab wollte, da sie ja schließlich ritten. Doch dann sah er plötzlich den dicken Prügel mit anderen Augen, nicht der Größe wegen, sondern weil ihm bewußt wurde, wie der Ogier ihn führte. »Ein Bauernspieß«, sagte er überrascht. »Ich wußte nicht, daß Ogier auch Waffen tragen, Loial.«
»Normalerweise ist das auch nicht der Fall«, antwortete der Ogier kurz angebunden. »Normalerweise. Der Preis ist immer zu hoch gewesen.« Er schwang den mächtigen Bauernspieß und runzelte angewidert die Nase. »Der Älteste Haman würde bestimmt sagen, daß ich einen langen Schaft an meine Axt stecke, aber ich handle nie übereilt oder unüberlegt, Rand. Dieser Ort hier...« Er schauderte, und seine Ohren zuckten.
»Wir finden bestimmt bald den Weg zurück«, meinte Rand. Er bemühte sich, selbstsicher zu klingen.
Loial sprach, als habe er nichts gehört: »Alles ist... irgendwie miteinander verknüpft, Rand. Ob lebendig oder nicht, ob es denken kann oder nicht, alles was ist, gehört zusammen. Der Baum denkt nicht, ist aber ein Teil des Ganzen, und das Ganze kann man... fühlen. Ich kann es nicht erklären, genausowenig, wie ich dir erklären könnte, was ›glücklich‹ bedeutet, aber... Rand, dieses Land war froh, daß ich eine Waffe daraus fertigte. Froh!«
»Das Licht leuchte uns«, murmelte Hurin nervös, »und die Hand des Schöpfers schütze uns. Und wenn wir uns in die letzte Umarmung der Mutter begeben, dann beleuchte uns den Weg, Licht.« Er wiederholte diese Litanei immer wieder, als sei sie ein schützender Bannspruch.
Rand widerstand dem Impuls, sich umzusehen. Ganz bestimmt blickte er nicht zum Himmel auf. Alles, was noch notwendig war, um sie vollends zu entmutigen, war in diesem Augenblick eine weitere ausgefranste Spur am Himmel. »Hier gibt es nichts, was uns schaden könnte«, sagte er mit fester Stimme. »Und wir werden aufmerksam wachen und aufpassen, daß uns nichts bedrohen kann.«
Er hätte sich gern selbst ausgelacht, so ernsthaft klang das alles. Dabei war er sich in keiner Weise sicher. Aber wenn er die anderen so betrachtete — Loial, dessen behaarte Ohren herunterhingen, und Hurin, der sich bemühte, überhaupt nichts anzusehen —, dann wurde ihm klar, daß wenigstens einer von ihnen selbstsicher erscheinen mußte, sonst würden Angst und Unsicherheit zu ihrem Untergang führen. Das Rad webt, wie das Rad es wünscht. Er verdrängte diesen Gedanken. Hat nichts mit dem Rad zu tun und auch nichts mit ta'veren oder Aes Sedai oder dem, Drachen. Es ist eben einfach so, und das ist alles.
»Loial, bist du hier fertig?« Der Ogier nickte und strich bedauernd über seinen Bauernspieß. Rand wandte sich Hurin zu. »Hast du die Spur noch?«
»Habe ich, Lord Rand. Ich habe sie.«
»Dann also weiter. Wenn wir Fain und die Schattenfreunde finden, dann kehren wir als Helden nach Hause zurück — mit dem Dolch für Mat und mit dem Horn von Valere. Du führst, Hurin.« Helden? Ich begnüge mich damit, daß wir alle heil hier herauskommen.
»Es gefällt mir hier nicht«, verkündete der Ogier platt. Er hielt den Bauernspieß so, als erwarte er, ihn in Kürze verwenden zu müssen.
»Dann ist es ja um so besser, daß wir nicht vorhaben, hier zu bleiben, oder?« sagte Rand. Hurin lachte auf, als hätte er einen Scherz gemacht, aber Loial sah ihn ernst an.
»Um so besser, daß wir das nicht vorhaben, Rand.«
Doch als sie weiter nach Süden ritten, stellte er fest, daß sein leichter Tonfall und seine vorgegebene Sicherheit die anderen ein wenig aufgemuntert hatten. Hurin saß aufrechter im Sattel, und Loials Ohren wirkten nicht mehr ganz so verwelkt. Es war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, um ihnen zu gestehen, daß er ihre Ängste teilte; also behielt er sie für sich und kämpfte einen einsamen inneren Kampf.
Hurin hielt seine Fröhlichkeit den ganzen Vormittag über aufrecht, murmelte »Um so besser, daß wir nicht vorhaben, zu bleiben«, und schmunzelte, bis Rand ihm befahl, still zu sein. Gegen Mittag wurde der Schnüffler dann ruhig, schüttelte gelegentlich nur noch den Kopf und runzelte die Stirn. Schließlich wünschte sich Rand, daß der Mann lieber wieder lachen und seinen Spruch wiederholen möge.
»Stimmt etwas mit der Spur nicht, Hurin?« fragte er.
Der Schnüffler zuckte die Achseln, wirkte aber beunruhigt. »Ja, Lord Rand, und auch wieder nein, könnte man sagen.«
»Es muß doch entweder so oder so sein. Hast du die Spur verloren? Es ist keine Schande, wenn das der Fall sein sollte. Du sagtest doch von Anfang an, sie sei nur schwach ausgeprägt. Wenn wir die Schattenfreunde nicht finden können, suchen wir uns einen anderen Stein und kehren auf diesem Weg zurück.« Licht, alles, bloß das nicht! Rand verzog das Gesicht nicht. »Wenn Schattenfreunde kommen und wieder verschwinden können, können wir das auch.«
»Ach, ich habe sie nicht verloren, Lord Rand. Ich kann den Gestank von denen immer noch riechen. Das ist es nicht. Es ist nur... Es ist...« Er verzog das Gesicht, und dann brach es aus ihm heraus: »Es ist, als erinnerte ich mich nur daran, Lord Rand, und röche es nicht wirklich. Aber das stimmt nicht. Die Spur wird ständig von Dutzenden anderer Spuren gekreuzt, von Dutzenden und Aberdutzenden, und es gibt alle Arten von Spuren der Gewalttätigkeit. Einige Spuren sind beinahe frisch, nur verblaßt wie alles andere hier. Heute morgen, gleich nachdem wir die Mulde verlassen hatten, hätte ich schwören können, daß nur Minuten zuvor Hunderte vor meinen Füßen dahingeschlachtet worden waren, aber es gab keine Leichen, und keine Spur war im Gras zu entdecken, außer unseren Hufabdrücken. So etwas kann nicht geschehen, ohne daß der Boden aufgerissen wird und überall Blutspuren zu sehen sind, aber es war nichts zu sehen! Und so geht das die ganze Zeit, Lord Rand. Doch ich folge weiter der Spur. Wirklich. Dieser Ort macht mich nur nervös. Das ist der Grund. Das muß es sein.«
Rand sah zu Loial hinüber — manchmal wußte der Ogier die eigenartigsten Dinge zu erzählen —, aber der sah genauso erstaunt aus wie Hurin. Rand ließ seine Stimme viel sicherer klingen, als er sich fühlte. »Ich weiß, du gibst dein Bestes, Hurin. Wir sind alle ziemlich nervös. Folge der Spur nur, so gut es eben geht, dann finden wir sie auch.«
»Wie Ihr wünscht, Lord Rand.« Hurin trieb sein Pferd an. »Wie Ihr wünscht.«
Aber bei Einbruch der Nacht hatten sie immer noch keine Schattenfreunde zu Gesicht bekommen, und Hurin meinte, die Spur sei noch schwächer ausgeprägt als zuvor. Der Schnüffler murmelte immer etwas von ›Erinnerung‹ vor sich hin.
Es war keine Spur zu sehen gewesen, wirklich nicht die geringste. Rand war kein so guter Spurensucher wie Uno, aber man erwartete von jedem Jungen der Zwei Flüsse, daß er gut genug Fährten lesen konnte, um ein verlaufenes Schaf aufzuspüren oder ein Kaninchen zu erwischen. Er hatte nichts gesehen. Es schien, als habe kein Lebewesen dieses Land je betreten, bevor sie kamen. Es hätte doch wenigstens etwas da sein müssen, wenn die Schattenfreunde vor ihnen waren. Und Hurin folgte der Spur, die er roch.
Als die Sonne den Horizont berührte, schlugen sie ihr Lager in einem kleinen Gehölz auf, das der Brand nicht erfaßt hatte. Sie aßen direkt aus ihren Satteltaschen: Fladenbrot und Trockenfleisch, mit schalem Wasser hinuntergespült — kaum ein richtiges Essen zu nennen, zäh und ohne jeden Geschmack. Rand hoffte, daß sie genug Proviant für eine Woche dabei hatten. Danach... Hurin aß langsam und bewußt, während Loial sein Essen mit verächtlich verzogenem Gesicht hinunterwürgte. Dann setzte er sich zurecht und zog seine Pfeife heraus. Den Bauernspieß hatte er neben sich gelegt, um ihn gleich zur Hand zu haben. Rand hielt das Feuer klein und gut hinter den Bäumen versteckt. Fain und seine Schattenfreunde und die Trollocs konnten nahe genug sein, um ein Feuer zu erspähen. Man konnte so etwas nie wissen, auch wenn Hurin sich ständig über die Eigenart der Spur Gedanken machte. Es erschien Rand selbst eigenartig, daß es für ihn Fains Schattenfreunde und Fains Trollocs waren. Fain war nur ein Verrückter. Warum haben sie ihn dann gerettet? Fain war Teil des Planes des Dunklen Königs gewesen, um ihn zu finden. Vielleicht hatte es damit zu tun. Warum läuft er dann davon, anstatt mich zu verfolgen? Was ist in diesem Zimmer voller Fliegen geschehen? Und wer hat den Blassen umgebracht? Und diese Augen, die mich in Fal Dara beobachteten. Und dieser Wind, der mich so unversehens erwischt hat? Nein. Nein, Ba'alzamon muß tot sein. Die Aes Sedai glaubten das keineswegs. Moiraine glaubte es nicht, und die Amyrlin war der gleichen Meinung. Hartnäckig weigerte er sich, weiter daran zu denken. Im Augenblick dachte er lediglich daran, den Dolch für Mat aufzuspüren und Fain und das Horn zu finden.
Es ist niemals vorbei, al'Thor.
Die Stimme wisperte ihm diese Worte in den Hinterkopf — ein dünnes, eisiges Geflüster, das bis in die hintersten Windungen seines Verstands vordrang. Beinahe hätte er das Nichts gesucht, um ihr zu entkommen, aber er erinnerte sich noch zu gut daran, was dort auf ihn wartete, und er zügelte seinen Wunsch.
Im Zwielicht der Dämmerung übte er die Attacken und Paraden mit dem Schwert, so wie Lan es ihm beigebracht hatte. Aber er beschwor das Nichts dabei nicht herauf. ›Die Seide zur Seite schieben‹, ›Die Hummel küßt eine Rose‹, ›Der Reiher watet durchs Schilf‹. Er brauchte das, um das richtige Gleichgewichtsgefühl nicht zu verlieren. Er verlor sich in diesen schnellen, sicheren Bewegungen, vergaß für eine Weile, wo er sich befand, und arbeitete, bis er ganz von Schweiß bedeckt war. Doch als er aufhörte, kehrte alles wieder, und nichts hatte sich geändert. Das Wetter war nicht kalt, aber er schauderte und zog seinen Umhang fest um sich, während er am Feuer kauerte. Die anderen bemerkten seine Stimmung, und so aßen sie schnell und schweigend. Niemand beklagte sich, als er lockere Erde auf die letzten aufzuckenden Flammen trat.
Rand übernahm die erste Wache selbst. Er ging am Rand des Gehölzes mit seinem Bogen in der Hand auf und ab. Gelegentlich lockerte er das Schwert in der Scheide. Der kalte Mond war beinahe eine volle Scheibe. Er stand hoch droben in der Schwärze, und die Nacht war genauso still, wie es der Tag gewesen war, und genauso leer. Leer war der richtige Ausdruck dafür. Das Land war leer wie eine staubige Milchkanne. Es fiel schwer, daran zu glauben, daß es überhaupt jemanden auf der ganzen Welt gab, auf dieser Welt, außer ihnen dreien. Es fiel sogar schwer, daran zu glauben, daß sich die Schattenfreunde irgendwo vor ihnen befinden sollten.
Um sich die Zeit zu vertreiben, wickelte er Thom Merrilins Umhang auf und legte die Harfe und die Flöte in ihren Lederbehältern frei, die auf den vielfarbigen Flicken lagen. Er nahm die Gold-und-Silber-Flöte aus ihrem Behälter und dachte daran, als er sie befühlte, wie ihn der Gaukler das Spielen gelehrt hatte. Er spielte ein paar Takte von ›Der Wind, der die Weide beugt‹, aber leise, damit er die anderen nicht weckte. Aber sogar so leise gespielt, klang der klagende Ton an diesem Ort noch zu laut, zu real. Seufzend legte er die Flöte zurück und packte das Bündel wieder zusammen.
Er hielt bis weit in die Nacht hinein Wache, damit die anderen schlafen konnten. Er wußte nicht, wie spät es war, als er plötzlich bemerkte, daß Nebel aufgekommen war. Er lag dicht über dem Boden und machte Hurin und Loial zu undeutlichen Erhebungen, die aus Wolken hervorstanden. Weiter oben war er feiner, doch verbarg er das sie umgebende Land bis auf die nächsten Bäume. Es schien so, als betrachte er den Mond durch feuchte Seide hindurch. Alles konnte sich ungesehen an sie heranschleichen. Er berührte sein Schwert.
»Schwerter helfen nicht gegen mich, Lews Therin. Das solltest du doch wissen.«
Der Nebel wirbelte um Rands Füße, als er herumfuhr. Das Schwert sprang in seine Hand; die Klinge mit dem Reiherzeichen stand senkrecht vor ihm. In ihm blähte sich das Nichts auf. Zum ersten Mal bemerkte er das kränkliche Licht von Saidin kaum.
Eine schattenhafte Gestalt kam durch den Nebel näher heran. Sie ging an einem hohen Stock. Dahinter, so, als werfe die Gestalt einen riesigen Schatten, verdunkelte sich der Nebel, bis er schwärzer als die Nacht erschien. Rand überlief es kalt. Die Gestalt kam näher und entpuppte sich als ein ganz in Schwarz gekleideter Mann mit schwarzen Handschuhen, dessen Gesicht von einer schwarzen Seidenmaske bedeckt war. Mit ihm näherte sich auch der Schatten. Auch der Stock war schwarz, als sei das Holz verkohlt, aber es war glatt und glänzte wie Wasser im Mondschein. Einen Augenblick lang glühte es in den Augenlöchern der Maske, als befänden sich statt Augen Feuer dahinter, aber Rand benötigte dieses Zeichen nicht, um zu erkennen, mit wem er es zu tun hatte.
»Ba'alzamon«, hauchte er. »Das ist ein Traum. Es muß so sein. Ich bin eingeschlafen und... «
Ba'alzamons Lachen klang wie das Aufbrüllen der Flammen in einem geöffneten Hochofen. »Du versuchst doch immer abzuleugnen, was wirklich ist, Lews Therin. Wenn ich die Hand ausstrecke, kann ich dich berühren, Brudermörder. Ich kann dich immer berühren. Immer und überall.«
»Ich bin nicht der Drache! Mein Name ist Rand al'...!« Rand biß sich auf die Lippen, um sich vom Weitersprechen abzuhalten.
»Oh, ich kenne den Namen, den du jetzt benutzt, Lews Therin. Ich kenne jeden Namen, den du Zeitalter um Zeitalter benutzt hast, sogar schon lange bevor du zum Brudermörder wurdest.« Ba'alzamons Stimme wurde lauter und eindringlicher. Manchmal flammten die Feuer seiner Augen so stark auf, daß Rand sie durch die Öffnungen in der Seidenmaske sah. Er sah sie als endloses Flammenmeer. »Ich kenne dich, kenne dein Geschlecht und deine Abstammung bis zurück zum ersten Lebensfunken, zum ersten Augenblick. Du kannst dich niemals vor mir verbergen. Nie! Wir sind aneinandergefesselt wie die beiden Seiten einer Münze. Gewöhnliche Männer können sich in den Falten des Musters verbergen, aber ta'veren heben sich davon ab wie Leuchtfeuer auf einem Hügel, und du, du hebst dich von alledem ab, als stünden zehntausend leuchtende Pfeile am Himmel, die auf dich deuten! Du bist mein und immer in Reichweite meiner Hand!«
»Vater der Lügen!« brachte Rand heraus. Trotz des Nichts in seinem Inneren klebte ihm die Zunge am Gaumen. Licht, laß es ein Traum sein. Der Gedanke rutschte über die Oberfläche der Leere. Selbst einen dieser Träume, die keine echten Träume sind. Er kann doch nicht wirklich vor mir stehen. Der Dunkle König ist im Shayol Ghul gefangen, wo ihn der Schöpfer im Augenblick der Schöpfung... Er kannte die Wahrheit zu gut, als daß die Litanei ihm geholfen hätte. »Der Name paßt gut zu dir. Wenn du mich einfach in Besitz nehmen könntest, warum hast du es dann nicht getan? Weil du nicht kannst! Ich wandle im Licht, und du kannst mich nicht berühren.«
Ba'alzamon stützte sich auf seinen Stock und sah Rand einen Augenblick lang an. Dann ging er hinüber zu Hurin und Loial und sah auf sie hinunter. Der riesenhafte Schatten kam mit ihm. Er bewegte die Nebelschwaden nicht, wie Rand bemerkte — er ging vorwärts, der Stock schwang sich zu seinen Schritten, aber der graue Nebel wirbelte und floß nicht um seine Füße herum wie bei Rand. Das machte ihm Mut. Vielleicht war Ba'alzamon nicht wirklich hier. Vielleicht war es ein Traum.
»Du hast eigenartige Anhänger«, überlegte Ba'alzamon laut. »Das war aber schon immer so. Das Mädchen, das versucht, dich zu bewachen. Ein schlechter und schwacher Wächter, Brudermörder. Und wenn sie ein ganzes Leben lang Zeit hätte, zu wachsen, würde sie doch niemals groß genug, daß du dich hinter ihr verstecken könntest.«
Mädchen? Wer? Moiraine ist ja wohl kein Mädchen mehr. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Vater der Lügen. Du lügst und lügst, und selbst wenn du die Wahrheit sagst, verdrehst du sie zu einer Lüge.«
»Tatsächlich, Lews Therin? Du weißt, was du bist und wer du bist. Ich habe es dir gesagt. Und diese Frauen aus Tar Valon haben es dir auch gesagt.« Rand verlagerte sein Gewicht, und Ba'alzamon lachte auf wie ein leichter Donnerschlag. »Sie glauben sich in ihrer Weißen Burg sicher, aber unter meinen Anhängern befinden sich sogar einige von ihnen. Die Aes Sedai namens Moiraine sagte dir, wer du bist, nicht wahr? Log sie? Oder gehört sie zu meinen Anhängern? Die Weiße Burg will dich benutzen wie einen Hund an der Leine. Lüge ich? Lüge ich, wenn ich behaupte, daß du das Horn von Valere suchst?« Er lachte erneut. So sehr ihn das Nichts auch beruhigte, so konnte sich Rand doch kaum zurückhalten, die Ohren zu bedecken. »Manchmal bekämpfen sich alte Feinde so lange, daß sie zu Verbündeten werden, ohne es zu bemerken. Sie glauben, einen Schlag gegen dich zu führen, aber die Verbindung ist so eng geworden, daß es ist, als führest du den Schlag selbst.«
»Du führst mich nicht«, sagte Rand. »Ich verleugne dich.«
»Ich habe dich an tausend Fäden gebunden, Brudermörder, jeder feiner als Seide und stärker als Stahl. Die Zeit hat tausend Fäden zwischen uns geknüpft. Die Schlacht, die wir beide geschlagen haben — erinnerst du dich eigentlich noch an irgendeinen Teil davon? Hast du eine Ahnung davon, daß wir zuvor gekämpft, unzählige Schlachten geschlagen haben seit dem Beginn der Zeit? Ich weiß viel, was du vergessen hast. Der Kampf wird bald beendet sein. Die Letzte Schlacht kommt. Die letzte, Lews Therin. Glaubst du wirklich, du könntest sie meiden? Du armer zitternder Wurm. Du wirst mir dienen oder sterben. Und diesmal beginnt der Zyklus mit deinem Tod nicht wieder aufs neue. Das Grab gehört dem Großen Herrn der Dunkelheit. Diesmal wirst du mit deinem Tod gänzlich vernichtet werden. Diesmal wird das Rad gebrochen, gleichgültig, was du anstellst, und die Welt wird neu geformt werden. Diene mir! Diene Shai'tan, oder du wirst für immer vernichtet!«
Bei der Erwähnung dieses Namens schien sich die Luft zu verdichten. Die Dunkelheit hinter Ba'alzamon schwoll an und wuchs und drohte, alles zu verschlingen. Rand fühlte, wie sie ihn einschloß. Kälter war sie als Eis und gleichzeitig heißer als glühende Kohlen, schwärzer als der Tod, und sie zog ihn in ihre Tiefen, verschlang die Welt um ihn herum.
Er packte den Griff seines Schwertes, bis ihm die Knöchel schmerzten. »Ich verleugne dich und verleugne deine Macht! Ich wandle im Licht. Das Licht bewahrt uns, und wir sind sicher in der Hand des Schöpfers.« Er blinzelte. Ba'alzamon stand noch immer da, und die große Dunkelheit hing noch immer hinter ihm, doch es schien, als sei alles andere eine Sinnestäuschung gewesen.
»Willst du mein Gesicht sehen?« Es kam als Flüstern.
Rand schluckte. »Nein.«
»Du solltest aber.« Eine im Handschuh steckende Hand griff an die schwarze Maske. »Nein!«
Die Maske wurde entfernt. Es erschien das schrecklich verbrannte Gesicht eines Mannes. Aber zwischen den schwarzgeränderten roten Rissen in diesen Zügen sah die Haut gesund und glatt aus. Dunkle Augen blickten Rand an; grausame Lippen lächelten unter dem Aufblitzen weißer Zähne. »Sieh mich an, Brudermörder, und betrachte den hundertsten Teil deines Schicksals.« Einen Augenblick lang wurden Augen und Mund zu Toren in endlose Flammenhöhlen. »Das kann die unkontrollierte Macht fertigbringen und selbst mir antun. Aber ich heile, Lews Therin. Ich kenne den Weg zu noch größerer Macht. Ich werde dich verbrennen wie einen Falter, der in einen Brennofen fliegt.«
»Ich werde es nicht berühren!« Rand fühlte, wie ihn das Nichts umgab, fühlte Saidin. »Das werde ich nicht.«
»Du kannst dich nicht selbst aufhalten.«
»Laß-mich-in-RUHE!«
»Macht.« Ba'alzamons Stimme wurde leise und lockend. »Du kannst endlich wieder Macht haben, Lews Therin. Du bist jetzt, in diesem Moment, mit ihr verbunden. Ich weiß es. Ich kann es sehen. Fühle sie, Lews Therin. Fühle das Glühen in deinem Inneren. Fühle die Macht, die du beherrschen kannst. Du mußt sie nur ergreifen. Aber der Schatten liegt zwischen dir und ihr. Wahnsinn und Tod. Du mußt nicht sterben, Lews Therin, niemals mehr.«
»Nein«, sagte Rand, aber die Stimme fuhr fort und bohrte sich in ihn hinein.
»Ich kann dich lehren, die Macht zu beherrschen, damit sie dich nicht vernichtet. Es existiert sonst niemand, der dich das lehren könnte. Der Große Herr der Dunkelheit kann dich vor dem Wahnsinn behüten. Die Macht kann dein sein, und du kannst ewig leben. Ewig! Du mußt mir nur dienen. Nur dienen. Einfache Worte — ›Ich bin dein, Großer Herr!‹ —, und die Macht wird dir gehören. Eine Macht jenseits dessen, wovon diese Frauen von Tar Valon träumen, und dazu ewiges Leben, wenn du dich nur mir ergibst und mir dienst.«
Rand leckte sich über die Lippen. Nicht wahnsinnig werden! Nicht sterben! »Niemals! Ich wandle im Licht«, krächzte er heiser, »und du kannst mich niemals berühren!«
»Dich berühren, Lews Therin? Dich berühren? Ich kann dich verschlingen. Probier sie aus und wisse, was ich weiß!«
Die dunklen Augen wurden wieder zu Flammen und der Mund ebenfalls, Flammen, die aufblühten und wuchsen, bis sie heller als die Sommersonne schienen. Sie wuchsen, und plötzlich glühte Rands Schwert, als sei es gerade erst aus dem Schmiedfeuer gezogen worden. Er schrie auf, als der Griff ihm die Hand verbrannte, schrie und ließ das Schwert fallen. Und der Nebel fing Feuer, Feuer, das sich ausbreitete und alles verbrannte.
Schreiend schlug Rand auf seine Kleidung ein, die rauchte und rußte und zu Asche zerfiel. Er schlug mit Händen, die sich schwärzten und die schrumpften, als sich das nackte Fleisch in den Flammen abschälte. Er schrie. Schmerz schlug auf das Nichts in seinem Inneren ein, und er bemühte sich, tiefer in die Leere hineinzukriechen. Das Glühen war da, das befleckte Licht gerade außerhalb seiner Sicht. Halb verrückt und nicht mehr daran interessiert, was es eigentlich war, griff er nach Saidin, versuchte, sich darin einzuhüllen, versuchte sich darin vor dem Brennen und dem Schmerz zu verstecken.
So plötzlich, wie das Feuer aufgeflammt war, verschwand es wieder. Rand blickte erstaunt auf die Hand, die aus dem roten Ärmel seines Mantels ragte. Auf der Wolle war keine auch nur angesengte Stelle zu entdecken. Ich habe mir alles nur eingebildet. Verzweifelt sah er sich um. Ba'alzamon war weg. Hurin wälzte sich im Schlaf herum; der Schnüffler und Loial waren immer noch zwei aus dem Bodennebel herausragende Erhebungen. Ich habe es mir tatsächlich nur eingebildet.
Bevor die Erleichterung in ihm aufsteigen konnte, stach ihm der Schmerz in die rechte Hand, und er drehte sie um und betrachtete sie. Über die ganze Handfläche war ein Reiher eingebrannt, der Reiher vom Griff seines Schwertes, zornig und rot, so sauber eingebrannt, als habe ein Künstler das Werk vollbracht.
Er zog ungeschickt ein Taschentuch aus der Manteltasche und wickelte es um die Hand. Die Hand pulsierte nun. Da konnte das Nichts ihm helfen — er war sich im Nichts des Schmerzes bewußt, fühlte ihn aber nicht —, aber er schlug sich das aus dem Kopf. Zweimal hatte er nun, ohne es zu wollen — und dazu einmal ganz bewußt; das konnte er nicht vergessen —, versucht, die Macht zu lenken, während er sich im Nichts befand. Dazu wollte ihn Ba'alzamon verlocken. Das war es, was Moiraine und die Amyrlin von ihm wollten. Er würde ihnen den Gefallen nicht tun.