25 Cairhien

Die Stadt Cairhien erstreckte sich über mehrere Hügel zum Alguenya-Fluß hin. Rand sah sie zum erstenmal von den Hügeln im Norden aus, im Schein der Mittagssonne. Elricain Tavolin und die fünfzig Soldaten kamen ihm immer noch wie eine Bewachung vor — vor allem seit sie den Gaelin auf der einzigen Brücke überquert hatten. Je weiter nach Süden sie ritten, desto strenger blickten sie drein. Aber Loial und Hurin kümmerten sich nicht darum, also bemühte er sich ebenfalls, sie zu ignorieren. Er betrachtete die Stadt. Sie war ebenso groß wie die größten, die er bisher erblickt hatte. Dickbauchige Schiffe und breite Lastkähne füllten den Fluß, und auf dem gegenüberliegenden Ufer standen viele große Getreidesilos. Cairhien selbst schien hinter seinen hohen, grauen Mauern nach einem präzisen Plan erbaut. Die Mauern bildeten ein genaues Quadrat, dessen eine Seite sich genau am Fluß entlangzog. Nach einem ebenso genauen Muster erhoben sich hinter der Mauer Türme. Sie ragten um mehr als das Zwanzigfache der Mauerhöhe aus der Stadt heraus, und sogar von den fernen Hügeln aus konnte Rand erkennen, daß jeder in einer stumpfen, zinnenbewehrten Spitze auslief.

Außerhalb der Stadtmauer lag ein Gewirr von Straßen, die sich in jedem möglichen Winkel kreuzten und vor Menschen nur so wimmelten. Dieses Viertel erstreckte sich von Flußufer zu Flußufer. Rand wußte von Hurin, daß man es Vortor nannte. Einst hatte man ein Marktdorf vor jedem Stadttor erbaut, doch in so vielen Jahren waren diese Dörfer zusammengewachsen. Das Durcheinander von Straßen und Gassen hatte sich in alle möglichen Richtungen ausgedehnt.

Als Rand und die anderen in diese ungepflasterten Straßen hineinritten, wies Tavolin ein paar seiner Soldaten an, ihnen einen Weg durch das Gewühl zu bahnen. Sie schrien und peitschten ihre Pferde vorwärts, als wollten sie alle niedertrampeln, die nicht rechtzeitig aus dem Weg sprangen. Die Leute wichen ihnen aus, ohne weiter hinzuschauen; es war wohl etwas ganz Alltägliches für sie. Rand mußte aber doch lächeln.

Die Kleidung der Leute von Vortor war meist recht schäbig, aber dafür sehr farbig, und der ganze Ort war von derbem Leben erfüllt. Straßenhändler priesen schreiend ihre Waren an, und Ladenbesitzer riefen den Leuten zu, sie sollten ihre Waren betrachten, die auf Tischen vor den Läden ausgebreitet waren. Barbiere, Obsthändler, Scherenschleifer, Männer und Frauen, die hundert verschiedene Dienste und Hunderte von Waren zum Verkauf anboten, schoben sich durch die Menge. Aus mehr als einem Gebäude erklang Musik durch den Lärm der Menge hindurch. Zuerst glaubte Rand, es seien Schenken, doch die Schilder davor zeigten ausnahmslos Männer mit Flöten oder Harfen, Jongleure oder Akrobaten, und so groß sie auch waren, wiesen sie keinerlei Fenster auf. Die meisten Gebäude in Vortor waren aus Holz gebaut, gleich, wie groß sie waren, und viele wirkten neu, wenn auch hastig zusammengezimmert.

Rand starrte ein paar an, die mehr als sieben Stockwerke hatten. Sie schwankten ein wenig, obwohl die hinein- und hinaushastenden Menschen das offenbar gar nicht bemerkten.

»Bauern«, knurrte Tavolin, der verächtlich geradeaus blickte. »Seht sie an, wie sie von ausländischen Sitten verdorben wurden. Sie sollten nicht hier sein.«

»Wo sollten sie denn sein?« fragte Rand. Der Offizier aus Cairhien funkelte ihn böse an und gab seinem Pferd die Sporen. Er hieb mit seiner Reitpeitsche in die Menge hinein.

Hurin berührte Rand am Arm. »Es war der Aiel-Krieg, Lord Rand.« Er sah sich um, ob einer der Soldaten nahe genug sei, um zu lauschen. »Viele Bauern hatten Angst davor, auf ihr Land am Rückgrat der Welt zurückzukehren, und so kamen sie alle hierher, wo sie wenigstens der Heimat nahe sind. Deshalb läßt Galldrian diese vielen Lastkähne voll Getreide von Andor und Tear den Fluß heraufkommen. Es kommt kein Getreide aus dem Osten, denn dort gibt es keine Bauernhöfe mehr. Aber es ist besser, das jemandem aus Cairhien gegenüber nicht zu erwähnen, Lord Rand. Sie geben gern vor, den Krieg habe es nie gegeben, oder zumindest behaupten sie, sie hätten gewonnen.«

Trotz Tavolins Reitpeitsche wurden sie zum Halten gezwungen, als eine eigenartige Prozession an ihnen vorbeikam. Ein halbes Dutzend tanzender Männer mit Tambourinen führte eine Kette von riesigen Puppen an, von denen jede die Männer, die sie an langen Stangen hielten, noch um die Hälfte überragte. Gigantische gekrönte Gestalten von Männern und Frauen in langen, kunstvoll gewebten Roben verbeugten sich vor der Menge, umringt von phantasievollen Tierfiguren. Ein Löwe mit Schwingen. Ein Bock mit zwei Köpfen, der auf den Hinterbeinen lief. Den roten Bändern nach, die aus beiden Mäulern hingen, sollten sie wohl Feuer spucken. Etwas, das zur Hälfte Katze, zur Hälfte Adler zu sein schien, und eine andere mit dem Kopf eines Bären auf dem Körper eines Mannes. Rand hielt es für einen Trolloc. Die Menge jubelte und lachte, während sie vorbeitänzelten.

»Der Mann, der den gemacht hat, hat noch nie einen Trolloc gesehen«, knurrte Hurin. »Der Kopf ist zu groß und die Gestalt zu dünn. Hat vermutlich nicht an seine Existenz geglaubt, Lord Rand, genausowenig wie bei diesen anderen Ungeheuern. Die einzigen Monster, an die die Leute von Vortor glauben, sind die Aiel.«

»Feiern sie ein Fest?« fragte Rand. Er sah keine weiteren Anzeichen dafür als diese Prozession, aber er dachte, es müsse ja wohl einen Grund dafür geben. Tavolin befahl seinen Soldaten, nun endlich weiter vorzurücken.

»Nicht mehr als jeden Tag, Rand«, sagte Loial. Wie er so neben seinem Pferd einherschritt, auf dessen Sattel die in Decken gehüllte Truhe geschnallt war, zog er die Blicke genauso an wie die Puppen. Einige lachten sogar und klatschten Beifall wie vorher für die riesigen Figuren. »Ich fürchte, Galldrian stellt die Ruhe im Volk dadurch her, daß er sie Feste feiern läßt. Er gibt den Gauklern und Musikern das Königliche Präsent, eine Summe in Silber, um hier in Vortor ihre Kunst zu zeigen, und außerdem veranstaltet er jeden Tag Pferderennen am Fluß. An vielen Abenden gibt es auch Feuerwerk.« Er klang angewidert. »Der Älteste Haman sagt, Galldrian sei eine Schande für Cairhien.« Er blinzelte, als ihm klar wurde, was er da gesagt hatte, und dann sah er sich schnell um, ob einer der Soldaten es gehört hatte. Das war aber wohl nicht der Fall gewesen.

»Feuerwerk«, sagte Hurin und nickte. »Die Feuerwerker haben sich hier ein Gildehaus gebaut wie in Tanchico, habe ich gehört. Ich hätte nichts dagegen, wie damals, als ich hier war, so ein Feuerwerk zu sehen.«

Rand schüttelte den Kopf. Er hatte noch nie ein Feuerwerk gesehen, das prächtig genug gewesen wäre, um auch nur die Anwesenheit eines einzigen richtigen Feuerwerkers zu verlangen. Er hatte gehört, daß sie Tanchico nur verließen, um Veranstaltungen irgendwelcher Herrscher zu beehren. Sie waren schon an einem seltsamen Ort angelangt.

Am hohen, quadratischen Stadttor befahl Tavolin einen Halt, und er stieg vor einem geduckten Steingebäude knapp innerhalb der Stadtmauer ab. Es hatte statt Fenstern Schießscharten und eine schwere Tür mit Eisenstreben.

»Ein Augenblick, Lord Rand«, sagte der Offizier. Er warf seine Zügel einem der Soldaten zu und verschwand im Gebäude.

Rand musterte wachsam die Soldaten, die steif in zwei Reihen auf ihren Pferden saßen. Er fragte sich, was sie wohl tun würden, wenn er, Loial und Hurin nun wegzureiten versuchten. Dann nutzte er die Gelegenheit, die Stadt vor ihnen genauer zu betrachten.

Das eigentliche Cairhien bildete einen scharfen Kontrast zu dem geschäftigen Treiben von Vortor. Breite, gepflasterte Straßen kreuzten sich im rechten Winkel. Nur wenige Leute befanden sich darauf. Genau wie in Tremonsin hatte man die Hügel abgetragen und Terrassen angelegt, so daß die Straßen fast gerade verlaufen konnten. Geschlossene Sänften, manche mit einem kleinen Wimpel versehen, der das Wappen eines Adelshauses zeigte, wurden zielstrebig getragen, und Kutschen rollten langsam durch die Straßen. Die Menschen gingen schweigend in dunkler Kleidung einher. Man sah keine hellen Farben; höchstens hier und da eine Schärpe auf der Brust eines Mantels oder Kleides. Je mehr Schärpen oder Schrägstreifen, desto stolzer bewegte sich der Träger, aber niemand lachte oder lächelte auch nur. Die Gebäude auf den Terrassen waren aus Stein gebaut, und alle Verzierung wies nur Geraden und rechte Winkel auf. Auf den Straßen sah man keine Händler oder Bettler, und selbst die Läden schienen irgendwie dem Hintergrund angepaßt. Vor ihnen waren keine Waren ausgestellt, und die Schilder waren auch nur klein.

Er konnte nun auch die hohen Türme klarer erkennen. Aus zusammengebundenen Stangen gebaute Gerüste zogen sich um sie herum, und auf den Gerüsten wimmelte es von Arbeitern, die neue Steine brachten, um die Türme noch weiter zu erhöhen.

»Die Himmelhohen Türme von Cairhien«, murmelte Loial traurig. »Na ja, einst waren sie hoch genug, um diese Bezeichnung zu verdienen. Als die Aiel Cairhien ungefähr zu der Zeit einnahmen, als du geboren wurdest, da brannten die Türme und zersprangen und stürzten ein. Ich sehe unter den Steinmetzen keine Ogier. Keinem Ogier würde es gefallen, hier zu arbeiten. Die Menschen von Cairhien wollen alles, was sie erbauen, ohne jede Verzierung oder Baukunst errichten. Trotzdem befanden sich Ogier hier, als ich das erste Mal in Cairhien war.«

Tavolin kam heraus, von einem anderen Offizier und zwei Beamten gefolgt, von denen der eine ein großes, in Holz gebundenes Hauptbuch trug und der andere ein Tablett mit Schreibutensilien. Der Vorderteil des Kopfes war auch bei diesem Offizier wie bei Tavolin kahlgeschoren, obwohl eine fortgeschrittene Glatze noch mehr daran schuld sein mochte als das Rasiermesser des Barbiers. Beide Offiziere blickten zuerst Rand an, dann die unter Loials gestreifter Decke verborgene Truhe und dann wieder Rand. Keiner von beiden fragte, was unter der Decke stecke. Tavolin hatte sie auf dem Weg von Tremonsien nach Cairhien oft angesehen, aber auch nicht danach gefragt. Der Mann mit dem lichten Haar sah auch Rands Schwert an und spitzte einen Moment lang die Lippen.

Tavolin stellte den anderen als Asan Sandair vor und verkündete dann laut: »Lord Rand aus dem Hause al'Thor und sein Mann Hurin, zusammen mit Loial, einem Ogier aus dem Stedding Shangtai.« Der Beamte mit dem Hauptbuch öffnete es, wobei er es mit beiden Armen festhalten mußte, und Sandair schrieb die Namen mit einer fein geschwungenen Schrift ein.

»Ihr müßt morgen um dieselbe Zeit zu diesem Wachhaus zurückkehren, Lord Rand«, sagte Sandair, der das Pudern der Schrift dem zweiten Beamten überließ, »und den Namen der Schenke angeben, in der Ihr wohnt.«

Rand blickte auf die ruhigen Straßen von Cairhien und dann zurück zum lebhaften Treiben in Vortor. »Könnt Ihr mir eine gute Schenke dort draußen empfehlen?« Er nickte in Richtung Vortor.

Hurin gab ein entsetztes Ssssst von sich und beugte sich herüber. »Das wäre nicht schicklich, Lord Rand«, flüsterte er. »Wenn Ihr in Vortor bleibt, obwohl Ihr doch ein Lord und so seid, dann werden sie annehmen, Ihr führt etwas im Schilde.«

Rand bemerkte, daß der Schnüffler wohl recht haben mußte. Sandairs Kinnlade hing herunter, und Tavolins Augenbrauen hatten sich bei seiner Frage hochgezogen. Beide beobachteten ihn immer noch eindringlich. Er wollte ihnen gern sagen, daß er keineswegs ihr Großes Spiel spielte, aber statt dessen sagte er: »Wir werden uns Zimmer in der Stadt nehmen. Können wir jetzt gehen?«

»Natürlich, Lord Rand.« Sandair verbeugte sich.

»Aber... die Schenke?«

»Ich werde Euch wissen lassen, wenn wir eine gefunden haben.« Rand ließ den Braunen wenden, hielt ihn aber noch zurück. In seiner Tasche knisterte der Zettel, den ihm Selene zurückgelassen hatte. »Ich muß eine junge Frau aus Cairhien finden. Lady Selene. Sie ist ungefähr so alt wie ich und sehr schön. Ich weiß nicht, aus welchem Hause sie stammt.«

Sandair und Tavolin sahen sich an, und dann sagte Sandair: »Ich werde mich erkundigen, Lord Rand. Vielleicht bin ich morgen in der Lage, etwas mehr zu sagen, wenn Ihr zu mir kommt.«

Rand nickte und ritt in die Stadt, gefolgt von Hurin und Loial. Sie erregten wenig Aufmerksamkeit, obwohl man nicht viele Reiter sah. Selbst Loial wurde kaum bemerkt. Die Menschen schienen beinahe davon besessen, sich um nichts als sich selbst zu kümmern.

»Werden sie das falsch deuten, daß ich mich nach Selene erkundigt habe?« fragte Rand Hurin.

»Wer weiß das schon in Cairhien, Lord Rand? Sie scheinen zu glauben, das alles irgendwie mit Daes Dae'mar zu tun hat.«

Rand zuckte die Achseln. Er hatte das Gefühl, alle Leute sähen ihn an. Er konnte es nicht erwarten, wieder in einem guten, einfachen Mantel zu stecken und aufhören zu können, etwas vorzuspiegeln, was er nicht war.

Hurin kannte mehrere Schenken in der Stadt, obwohl er die meiste Zeit in Vortor verbracht hatte. Der Schnüffler führte sie zu einer, die sich ›Verteidiger der Drachenmauer‹ nannte. Auf dem Schild sah man einen gekrönten Mann, der seinen Fuß auf die Brust eines anderen stellte und sein Schwert an dessen Kehle hielt. Der Bursche, der auf dem Rücken lag, hatte rotes Haar.

Ein Stallbursche kam heraus und nahm ihnen die Pferde ab. Er musterte heimlich Rand und Loial, als er glaubte, daß es niemand bemerke. Rand sagte sich, er dürfe sich nichts einreden; nicht jeder in dieser Stadt konnte das Große Spiel spielen. Und wenn, dann gehe es ihn nichts an.

Der Schankraum war sauber und ordentlich. Die Tische waren ebenso präzise ausgerichtet und gedeckt wie die ganze Stadt aussah, und es befanden sich nur wenige Leute darin. Sie blickten kurz auf, als die Neuankömmlinge eintraten, aber dann sahen sie sofort wieder auf ihren Wein hinunter. Rand hatte dennoch das Gefühl, sie beobachteten und belauschten ihn immer noch. Im großen Kamin brannte ein kleines Feuer, obwohl der Tag wärmer wurde.

Der Wirt war ein molliger, schmieriger Typ, der einen einzelnen grünen Streifen quer über seinem dunkelgrauen Mantel trug. Er schreckte zuerst auf, als sie eintraten, und das überraschte Rand nicht. Loial, der die Truhe unter der gestreiften Decke auf den Armen trug, mußte sich ducken, um durch die Tür zu kommen, Hurin wankte unter der Last all ihrer Satteltaschen und Bündel, und sein roter Mantel bildete einen scharfen Kontrast zu den nüchternen Farben der Kleidung der anderen Gäste an den Tischen.

Der Wirt nahm Rands Mantel und Schwert wahr, und sein öliges Lächeln kehrte zurück. Er verbeugte sich und rieb sich die glatten Hände. »Vergebt mir, Lord. Ich habe Euch nur einen Moment für einen... vergebt mir. Mein Gehirn ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Ihr wünscht Zimmer, Lord?« Er fügte eine weitere nicht so tiefe Verbeugung für Loial hinzu. »Ich heiße Cuale, Lord.«

Er glaubte, ich sei ein Aielmann, dachte Rand mißvergnügt. Er wünschte sich aus Cairhien weg. Aber es war der einzige Ort, an dem Ingtar sie finden konnte. Und Selene hatte geschrieben, sie würde in Cairhien auf ihn warten.

Es dauerte ein wenig, bis ihre Zimmer gerichtet waren. Cuale erklärte unter übertriebenem Lächeln und vielen Verbeugungen, daß es notwendig sei, ein Bett für Loial aus einem anderen Raum herzuschaffen. Rand wollte, daß sie alle wieder ein Zimmer teilten, doch unter dem entsetzten Blick des Wirts und dem eindringlichen Protest Hurins — »Wir müssen den Leuten von Cairhien beweisen, daß wir genausogut wissen, was sich schickt, wie sie, Lord Rand« — nahmen sie schließlich zwei Zimmer — eines davon für ihn allein — mit einer Verbindungstür.

Die Zimmer ähnelten sich sehr, bis auf die Tatsache, daß in ihrem zwei Betten standen, eines davon groß genug für einen Ogier, während in seinem nur ein Bett stand, das aber beinahe genauso groß war wie die beiden anderen zusammen, mit seinen massiven Bettpfosten, die fast bis an die Decke reichten. Sein hochlehniger Polsterstuhl und das Waschtischchen waren viereckig und ebenfalls massiv gebaut. Der Kleiderschrank an der einen Wand wies schwerfällige, starre Schnitzereien auf, so daß er den Eindruck erweckte, er könne jeden Moment umkippen und auf ihn fallen. Aus einem Doppelfenster neben dem Bett konnte er auf die Straße zwei Stockwerke unter ihm blicken.

Sobald der Wirt gegangen war, öffnete Rand die Tür und ließ Loial und Hurin in sein Zimmer. »Dieser Ort nagt irgendwie an mir«, sagte er ihnen. »Jeder schaut einen an, als glaube er, man führe etwas im Schilde. Ich gehe zurück nach Vortor, jedenfalls zumindest eine Stunde lang. Dort lachen die Leute wenigstens. Wer von euch ist bereit, die erste Wache beim Horn zu übernehmen?«

»Ich werde hierbleiben«, sagte Loial schnell. »Ich würde gern ein wenig lesen. Nur weil ich keine Ogier gesehen habe, heißt das nicht, daß keine Steinmetzen aus dem Stedding Tsofu hier sind. Es liegt ja nicht weit von der Stadt.«

»Ich denke doch, du würdest sie gerne treffen.«

»Äh... nein, Rand. Sie haben mich das letzte Mal genug ausgequetscht, warum ich allein hier sei und so. Falls sie vom Stedding Shangtai gehört haben... Also, ich ruhe mich nur hier aus und lese, ja?«

Rand schüttelte den Kopf. Er vergaß öfters, daß Loial von zu Hause weggelaufen war, um die Welt zu sehen. »Wie steht es mit dir, Hurin? Es gibt Musik in Vortor und lachende Menschen. Ich wette, dort spielt niemand Daes Dae'mar.«

»Da wäre ich gar nicht so sicher, Lord Rand. Auf jeden Fall danke ich Euch für die Einladung, aber ich komme lieber nicht mit. Es gibt in Vortor so viele Raufereien —und auch Morde —, daß es dort stinkt, wenn Ihr versteht, was ich meine. Nicht, daß sie einen Lord angreifen werden, denn natürlich bekämen sie es dann mit den Soldaten zu tun. Aber wenn Ihr gestattet, möchte ich lieber im Schankraum etwas trinken.«

»Hurin, du brauchst doch keine Erlaubnis von mir, wenn du etwas tun willst. Das weißt du doch.«

»Wie Ihr meint, Lord Rand.« Der Schnüffler deutete eine Verbeugung an.

Rand holte tief Luft. Wenn sie Cairhien nicht bald verließen, würde Hurin demnächst wohl noch einen Knicks vor ihm machen. Und falls Mat und Perrin das bemerkten, würden sie es ihn sein Leben lang fühlen lassen. »Ich hoffe, daß sich Ingtar durch nichts aufhalten läßt. Wenn er nicht bald kommt, müssen wir selbst das Horn nach Fal Dara zurückbringen.« Er tastete durch den Mantelstoff hindurch nach Selenes Zettel. »Wir müssen. Loial, ich komme rechtzeitig zurück, daß du auch noch etwas von der Stadt sehen kannst.«

»Das riskiere ich lieber nicht«, sagte Loial.

Hurin begleitete Rand nach unten. Sobald sie den Schankraum betraten, verbeugte sich Cuale tief vor Rand und schob ihm ein Tablett in die Hände. Drei gefaltete und versiegelte Briefe lagen auf dem Tablett. Rand nahm sie an sich, da der Wirt das zu wünschen schien. Sie bestanden aus sehr feinem Pergament, das sich weich und glatt anfühlte. Teuer.

»Was ist das?« fragte er.

Cuale verbeugte sich erneut. »Einladungen natürlich, Lord Rand. Von dreien der Adelshäuser.« Er entfernte sich unter Verbeugungen aus Rands Nähe.

»Wer schickt mir denn eine Einladung?« Rand drehte sie in der Hand um. Keiner der Männer an den Tischen blickte auf, doch Rand hatte das Gefühl, sie beobachteten ihn trotzdem. Er erkannte keines der Siegel. Die Mondsichel mit den Sternen, die Selene benutzt hatte, war nicht darunter. »Wer weiß überhaupt, daß ich hier bin?«

»Mittlerweile jeder, Lord Rand«, sagte Hurin ruhig. Auch er fühlte wachsame Blicke auf sich ruhen. »Die Torwachen halten bestimmt nicht den Mund, wenn ein ausländischer Lord nach Cairhien kommt. Der Stallbursche, der Wirt... jeder erzählt bereitwillig, was er weiß, und zwar demjenigen, von dem er sich den meisten Nutzen verspricht, Lord Rand.«

Rand verzog das Gesicht, machte zwei Schritte und warf die Einladungen in den Kamin. Sie fingen sofort Feuer. »Ich spiele kein Daes Dae'mar«, sagte er laut genug, daß es jeder hören konnte. Nicht einmal Cuale sah ihn an. »Ich habe nichts mit Eurem Großen Spiel zu tun. Ich bin nur hier, um auf einige Freunde zu warten.«

Hurin faßte ihn am Arm. »Bitte, Lord Rand«, flüsterte er eindringlich. »Bitte tut so etwas nicht wieder.«

»Wieder? Glaubst du, daß ich noch mehr bekomme?«

»Da bin ich sicher. Licht, Ihr erinnert mich daran, als Teva so wütend wurde, weil ihm eine Hornisse um die Ohren summte, daß er dem Nest einen Tritt gab. Ihr habt wahrscheinlich gerade jeden im Raum davon überzeugt, daß Ihr ganz tief in das Spiel verwickelt seid. Es muß schon sehr tief sein, werden sie denken, wenn Ihr abstreitet, überhaupt zu spielen. Jeder Lord und jede Lady in Cairhien spielen mit.« Der Schnüffler blickte auf die Einladungen hinunter, die sich schwarz im Feuer krümmten, und er stöhnte auf. »Und Ihr habt nun gewiß drei Häuser zum Feind. Keine der großen Häuser, denn die hätten sich nicht so schnell gerührt, aber trotzdem Adelsfamilien. Ihr müßt weitere Einladungen beantworten, wenn Ihr sie erhaltet, Lord Rand. Lehnt sie ab, wenn Ihr wollt — aber sie werden aus den Einladungen, die Ihr abschlagt, ihre Schlüsse ziehen. Und aus denen, die Ihr annehmt. Natürlich, falls Ihr sie alle ablehnt oder alle annehmt... «

»Ich will nichts damit zu tun haben«, sagte Rand ruhig. »Wir verlassen Cairhien, sobald wir können.« Er steckte die geballten Fäuste in die Manteltaschen und fühlte, wie Selenes Zettel verknittert wurde. Also zog er ihn heraus und glättete ihn an der Mantelbrust. »Sobald wir können«, murmelte er und steckte den Zettel zurück in die Tasche. »Trink nur jetzt etwas, Hurin.«

Er stolzierte wütend hinaus, wobei er sich nicht sicher war, ob er auf sich selbst wütend war oder auf Cairhien und das Große Spiel oder auf Selene, weil sie verschwunden war, oder auf Moiraine. Mit ihr hatte alles begonnen, als sie seine Mäntel stehlen und ihm statt dessen die Kleider eines Lords hineinhängen ließ. Selbst jetzt, wo er meinte, sie los zu sein, brachte es eine Aes Sedai fertig, sich in ein Leben einzumischen, und das, ohne überhaupt anwesend zu sein.

Er ging durch das gleiche Tor zurück, durch das sie die Stadt betreten hatten, denn den Weg kannte er wenigstens. Ein Mann, der vor dem Wachhaus stand, bemerkte ihn —mit seinem leuchtenden Mantel und seiner Größe hob er sich von den Leuten aus Cairhien ab — und eilte hinein, doch Rand merkte nichts davon. Das Gelächter und die Musik von Vortor zogen ihn an.

Innerhalb der Mauer war er durch seinen goldbestickten roten Mantel aufgefallen, aber zu Vortor paßte er genau. Viele der Männer, die sich durch die belebten Straßen schoben, trugen die gleiche dunkle Kleidung wie in der Stadt, aber mindestens ebensoviele hatten rote, blaue, grüne oder goldfarbene Mäntel an, manchmal bunt genug, um zu einem Kesselflicker zu passen, und ein noch höherer Anteil der Frauen trug bestickte Kleider und bunte Schals oder Schultertücher. Die meisten dieser Festtagskleider waren allerdings zerknittert und saßen schlecht, als seien sie für jemand anderes angefertigt worden, aber falls einige Träger solcher Kleider seinen feinen Mantel bemerkten, so nahmen sie es gleichmütig hin.

Einmal mußte er stehenbleiben und eine weitere Prozession riesiger Puppen an sich vorbei ziehen lassen. Während die Trommler ihre Tambourine schlugen und tanzten, kämpfte ein schweinsgesichtiger Trolloc gegen einen Mann mit Krone. Nach ein paar planlosen Schwerthieben brach der Trolloc zusammen, und die Zuschauer lachten und jubelten.

Rand knurrte. Sie sterben nicht ganz so leicht. Er blieb stehen, um durch die Tür eines dieser großen, fensterlosen Gebäude zu spähen. Zu seiner Überraschung schien sich darin nur ein einziger, riesiger Saal zu befinden, der in der Mitte kein Dach hatte und von Balkonen umgeben war. An einem Ende befand sich ein großer Podest. Er hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen oder auch nur davon gehört. Auf den Balkonen und unten im Saal drängten sich die Menschen, um die Vorführungen auf dem Podest zu verfolgen. Als er an anderen gleichartigen Gebäuden vorbeikam, warf er ebenfalls einen Blick hinein und sah Jongleure und Musikanten, unzählige Akrobaten und sogar einen Gaukler mit seinem Flickenumhang, der eine Geschichte aus der Wilden Jagd nach dem Horn in volltönendem Hochgesang deklamierte.

Dabei mußte er an Thom Merrilin denken, und er eilte weiter. Die Erinnerungen an Thom waren immer traurig. Thom war ein Freund gewesen. Ein Freund, der für ihn gestorben war. Und ich rannte weg und ließ ihn sterben. In einem anderen der großen Bauten ließ eine Frau in wallenden weißen Gewändern Dinge aus einem Korb verschwinden, und die tauchten dann in einem anderen Korb wieder auf und verschwanden schließlich in einer Rauchwolke aus ihren Händen. Die Zuschauermenge gab laute Aaaahs und Oooohs von sich.

»Zwei Kupferpfennige, guter Herr«, sagte eine kleine Ratte von Mann am Eingang. »Nur zwei Kupferpfennige, und Ihr könnt die Aes Sedai sehen.«

»Das glaube ich nicht.« Rand blickte die Frau dort hinten an. Eine weiße Taube war in ihrer Hand erschienen. Aes Sedai? Er verbeugte sich kurz vor dem kleinen Mann und ging.

Er schob sich durch die Menge und fragte sich, was er wohl als nächstes sehen würde, da hörte er von einem Eingang her, über dem das Abzeichen eines Jongleurs angebracht war, eine tiefe Stimme, begleitet von den Tönen einer Harfe: »... kalt weht der Wind den Paß von Shara herunter, und kalt liegt das vergessene Grab. Doch jedes Jahr zum Sonnentag erscheint über diesen aufgehäuften Steinen eine einzelne Rose mit einer Kristallträne wie Tau auf den Blütenblättern. Sie wird von der schönen Hand Dunsinins dorthin gelegt denn sie hält sich an das Versprechen, das sie Rogosh Adlerauge gab.«

Die Stimme zerrte an Rand wie ein Seil. Er drängte sich durch die Tür, als gerade Applaus aufbrauste.

»Zwei Kupferpfennige, guter Herr«, sagte ein Mann mit dem Gesicht einer Ratte. Er hätte ein Zwilling des anderen sein können. »Zwei Kupferpfennige, um den... «

Rand kramte ein paar Münzen hervor und drückte sie dem Mann in die Hand. Wie betäubt ging er weiter und starrte den Mann an, der sich auf dem Podest vor dem Beifall seiner Zuhörer verbeugte, in einem Arm die Harfe hielt und mit der anderen Hand seinen Flickenumhang ausbreitete, als wolle er alle Geräusche damit auffangen. Es war ein hochgewachsener Mann, schlacksig und nicht mehr jung, mit einem Schnurrbart, der ebenso weiß war wie das Haar auf seinem Haupt. Und als er sich aufrichtete und Rand erblickte, da waren die aufgerissenen Augen blau und sahen ihn scharf an.

»Thom.« Rands Flüstern verlor sich im Lärm der Menge.

Den Blick auf Rand gerichtet, nickte Thom Merrilin leicht in Richtung auf eine kleine Tür neben der Bühne. Dann verbeugte er sich wieder, lächelte und badete im Applaus.

Rand kämpfte sich zu der Tür durch und ging hinein. Er befand sich in einem engen Flur, von dem aus drei Stufen zum Podest hinaufführten. In der entgegengesetzten Richtung sah Rand einen Jongleur beim Üben mit bunten Bällen und sechs Akrobaten, die sich aufwärmten.

Thom erschien auf den Stufen und hinkte herunter, als sei sein rechtes Bein ein wenig steif geworden. Er betrachtete den Jongleur und die Akrobaten, pustete verächtlich in seinen Schnurrbart und wandte sich Rand zu. »Alles, was sie hören wollen, ist Die Wilde Jagd nach dem Horn. Man sollte denken, bei den Neuigkeiten aus den Haddon-Sümpfen und aus Saldaea würde wenigstens einer nach dem Karaethon-Zyklus verlangen. Na ja, und wenn es nicht das ist, würde ich mich trotzdem selbst bezahlen, wenn ich etwas anderes erzählen könnte.« Er musterte Rand von oben nach unten. »Du siehst aus, als ginge es dir gut, Junge.« Er befühlte Rands Kragen und spitzte die Lippen. »Ziemlich gut.«

Rand mußte einfach lachen. »Ich verließ Weißbrücke in dem sicheren Glauben, Ihr wärt tot. Moiraine behauptete, daß Ihr noch lebt, aber ich... Licht, Thom, es ist gut, Euch wiederzusehen! Ich hätte zurückgehen sollen, um Euch zu helfen.«

»Du wärst ein großer Narr gewesen, wenn du das getan hättest, Junge. Dieser Blasse...«, er sah sich um. Niemand war nah genug, um zu lauschen, aber er senkte die Stimme trotzdem. »... interessierte sich gar nicht für mich. Er hinterließ mir als kleines Geschenk ein steifes Bein und rannte dann weg, hinter dir und Mat her. Du hättest nichts tun können außer sterben.« Er schwieg und blickte ihn nachdenklich an. »Moiraine hat also behauptet, daß ich noch lebe? Ist sie denn bei dir?«

Rand schüttelte den Kopf. Zu seiner Überraschung schien Thom enttäuscht.

»Das ist auf gewisse Art schade. Sie ist eine prachtvolle Frau, obwohl sie...« Er sprach es nicht aus. »Also war sie hinter Mat oder Perrin her. Ich werde dich nicht fragen, hinter wem. Sie waren gute Jungen, und ich will es gar nicht wissen.« Rand trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Er erschrak, als Thom ihn mit einem knochigen Finger fixierte. »Was ich wissen will: Hast du noch meine Harfe und die Flöte? Ich will sie zurückhaben, Junge. Die ich jetzt habe, sind nicht mal gut genug für ein Schwein.«

»Ich habe sie, Thom. Ich werde sie Euch bringen, das verspreche ich. Ich kann nicht glauben, daß Ihr noch lebt. Und ich kann kaum glauben, daß Ihr nicht in Illian seid. Die Wilde Jagd bricht auf. Der Preis für die beste Erzählung der Wilden Jagd nach dem Horn! Ihr wolltet doch unbedingt hin.«

Thom schnaubte. »Nach Weißbrücke? Wahrscheinlich würde ich sterben, wenn ich dorthin ginge. Und hätte ich auch das Schiff erreicht, bevor es weitersegelte, würden Domon und seine Besatzung doch in ganz Illian herumerzählen, wie ich von Trollocs gejagt wurde. Falls sie den Blassen gesehen oder von ihm gehört haben, bevor Domon ablegen ließ... Die meisten Leute in Illian glauben, daß Trollocs und Blasse Märchen seien, aber genug andere wollen vielleicht wissen, warum ein Mann von ihnen verfolgt wird, na ja, und dann wäre Illian kein sicheres Pflaster mehr für mich.«

»Thom, ich könnte Euch soviel erzählen!«

Der Gaukler schnitt ihm das Wort ab. »Später, Junge.« Er und der schmalgesichtige Mann vom Eingang blickten sich über den Flur hinweg böse an. »Wenn ich nicht hinausgehe und eine weitere Geschichte erzähle, wird er zweifellos den Jongleur hinausschicken, und die Menge wird vor Wut den Saal auseinandernehmen. Komm in die ›Traube‹ — jenseits des Jangai Tors. Dort habe ich ein Zimmer. Jeder kann dir sagen, wo es ist. Ich bin in einer Stunde oder so dort. Sie werden sich mit einer zusätzlichen Geschichte zufriedengeben müssen.« Er ging zur Treppe zurück und rief noch einmal nach hinten: »Und bringe meine Harfe und Flöte mit!«

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