41 Meinungsverschiedenheiten

Donner grollte über den schiefergrauen Nachmittagshimmel. Rand zog die Kapuze seines Umhangs ein Stückchen weiter nach vorn und hoffte, so den kalten Regen besser von seinem Gesicht abzuhalten. Sein Brauner stapfte geduldig durch schlammige Pfützen. Die Kapuze hing feucht und klamm auf Rands Kopf, genau wie der übrige Umhang auf seinen Schultern, und sein guter schwarzer Mantel war genauso naß und kalt. Es mußte nicht mehr viel kälter werden, und dann würde statt des Regens Hagel oder Schnee fallen. Es würde auf jeden Fall bald schneien; die Bewohner des letzten Dorfes, durch das sie gekommen waren, hatten ihnen erzählt, es habe dieses Jahr schon zweimal kurz geschneit. Zitternd wünschte sich Rand beinahe schon den Schnee herbei. Dann wäre er wenigstens nicht naß bis auf die Haut.

Die Kolonne bewegte sich langsam vorwärts. Sie behielten mißtrauisch das wellige Land in ihrer Umgebung im Auge. Ingtars Graue Eule hing schlapp und schwer herunter, selbst wenn der Wind böig wurde. Hurin zog manchmal seine Kapuze herunter und hob die Nase in den Wind. Er behauptete, weder Regen noch Kälte hätten irgendeinen Einfluß auf eine Spur, jedenfalls nicht auf eine, wie er sie zu suchen verstand, doch bisher hatte der Schnüffler nichts gefunden. Rand hörte, wie der dahinter reitende Uno fluchte. Loial überprüfte immer wieder seine Satteltaschen. Ihm machte es wohl nichts aus, naß zu werden, aber er sorgte sich ständig um seine Bücher.

Allen ging es schlecht, bis auf Verin, die so gedankenverloren schien, daß sie nicht einmal bemerkte, daß ihre Kapuze nach hinten gerutscht war und ihr Gesicht dem Regen preisgab.

»Kannst du nicht etwas gegen dieses Wetter unternehmen?« wollte Rand von ihr wissen. Eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf sagte ihm, das könne er selbst tun. Alles, was er zu tun hatte, war, Saidin zu gebrauchen. So süß, der Lockruf von Saidin. Sich von der Einen Macht füllen zu lassen, eins mit dem Sturm zu werden. Bring den Sonnenschein an den Himmel zurück, oder reite den wütenden Sturm, peitsche ihn zu immer größerer Wut auf und reinige die Toman-Halbinsel vom Meer bis zu großen Ebene! Gebrauche Saidin. Er unterdrückte entschlossen die Sehnsucht danach.

Die Aes Sedai fuhr hoch. »Was? Ach, ja. Ich denke schon. Ein wenig. Ich kann keinen so starken Sturm unterdrücken, nicht allein jedenfalls, dazu ist er zu ausgedehnt, aber ich könnte ihn schon etwas mildern. Wenigstens dort, wo wir uns aufhalten.« Sie wischte sich die Regentropfen vom Gesicht und schien erst jetzt zu bemerken; daß ihre Kapuze hinuntergerutscht war. Abwesend zog sie sie wieder hoch.

»Warum fängst du nicht damit an?« fragte Mat. Das verfrorene Gesicht, das unter seiner Kapuze hervorlugte, wirkte vom Tod gezeichnet, doch seine Stimme klang lebhaft. »Wenn ich soviel der Einen Macht einsetze, weiß jede Aes Sedai im Umkreis von zehn Meilen, daß hier jemand die Macht gebraucht hat. Wir wollen doch diese Seanchan mit ihren Damane nicht auf uns aufmerksam machen.« Ihr Mund verzog sich zornig.

Sie hatten etwas über die Invasoren in diesem Dorf, das sich Atuansmühle nannte, in Erfahrung gebracht.

Allerdings führten die meisten dieser Informationen nur zu immer neuen Fragen. Die Leute hatten zuerst willig geplaudert, aber dann doch wieder den Mund zugemacht und sich zitternd umgeschaut. Alle hatten furchtbare Angst, die Seanchan mit ihren Monstern und ihren Damane könnten zurückkehren. Daß Frauen, die eigentlich Aes Sedai sein sollten, statt dessen wie Tiere an die Leine gelegt wurden, ängstigte die Dorfbewohner mehr als die seltsamen Kreaturen, die den Seanchan zur Verfügung standen und die die Menschen in Atuansmühle nur flüsternd beschreiben konnten, als seien sie ihren Alpträumen entsprungen. Und was am schlimmsten war: Die Exempel, die die Seanchan vor ihrer Abreise noch statuiert hatten, waren den Menschen zutiefst in die Knochen gefahren. Sie hatten ihre Toten anschließend begraben, doch sie wagten nicht, den verbrannten Fleck auf dem Dorfplatz zu säubern. Keiner von ihnen erzählte, was vorgefallen war, doch Hurin hatte sich übergeben müssen, als sie das Dorf betraten. Er weigerte sich, sich dem geschwärzten Fleck am Boden zu nähern.

Atuansmühle war zur Hälfte verlassen, als sie dort eintrafen. Einige waren nach Falme geflohen, weil sie hofften, die Seanchan würden in einer so sicher beherrschten Stadt nicht ganz so hart regieren. Andere waren nach Osten gegangen. Weitere erzählten, daß auch sie daran dächten. Auf der Ebene von Almoth fanden Kampfhandlungen statt. Man behauptete, die Taraboner kämpften gegen die Domani, aber wenigstens kamen die Fackeln, mit denen die Häuser entzündet wurden, aus den Händen von Menschen. Selbst ein Krieg war leichter zu ertragen als das, was die Seanchan angerichtet hatten und noch anrichten könnten.

»Warum hat Fain das Horn nur hierher gebracht?« murmelte Perrin. Jeder von ihnen hatte sich das von Zeit zu Zeit gefragt, aber keiner hatte die Frage beantwortet. »Hier herrscht Krieg, und dann sind diese Seanchan da mit ihren Monstern. Warum also gerade hierher?«

Ingtar drehte sich im Sattel um und sah sie an. Sein Gesicht wirkte beinahe so hager wie das Mats. »Es gibt immer Männer, die in den Wirren des Krieges ihren eigenen Vorteil sehen. Fain ist einer davon. Zweifellos will er das Horn erneut stehlen, und wenn es diesmal vom Dunklen König selbst ist, und es dann zum eigenen Vorteil nützen.«

»Die Pläne des Vaters der Lügen sind niemals einfach und durchschaubar«, sagte Verin. »Es kann sein, daß er Fain das Horn hierher bringen lassen will, und der Grund ist eben nur im Shayol Ghul bekannt.«

»Monster«, schnaubte Mat. Seine Wangen waren eingefallen; die Augen saßen in tiefen Höhlen. Daß er sich so gesund anhörte, machte die Sache nur noch schlimmer. »Sie haben ein paar Trollocs gesehen oder einen Blassen, wenn ihr mich fragt. Und warum auch nicht? Wenn Aes Sedai für die Seanchan kämpfen, warum dann nicht auch Blasse und Trollocs?« Er bemerkte, wie ihn Verin anblickte, und zuckte ein wenig zusammen. »Na ja, es sind wirklich welche, an der Leine oder nicht. Sie können die Macht benützen, und das macht sie zu Aes Sedai.« Er sah Rand an und lachte heiser. »Das macht auch dich zu einem Aes Sedai. Licht, hilf uns allen!«

Masema kam von vorn durch Matsch und Regen angaloppiert. »Vor uns liegt ein weiteres Dorf, Lord Ingtar«, sagte er, als er sein Pferd neben Ingtar zum Stehen brachte. Sein Blick streifte Rand kaum, wurde aber trotzdem sichtlich härter. Danach sah er ihn nicht mehr an. »Es ist verlassen, Lord Ingtar. Keine Dorfbewohner, keine Seanchan, überhaupt niemand. Die Häuser wirken aber alle unbeschädigt, außer, was zwei oder drei betrifft, die... na ja, die einfach nicht mehr da sind, Herr.«

Ingtar hob die Hand und befahl einen schnellen Trab.

Das Dorf, das Masema gefunden hatte, lag am Abhang eines Hügels. Obenauf lag ein gepflasterter Dorfplatz, in dessen Innerem sich eine ringförmige Mauer befand. Die Häuser waren aus Stein gebaut, hatten flache Dächer und meist nur ein Stockwerk. Drei davon, die wohl größer gewesen und an einer Seite des Platzes errichtet worden waren, lagen nun in Trümmern. Über den Platz verstreut lagen rußgeschwärzte Mauerbruchstücke und Dachsparren. Ein paar Fensterläden knallten auf und zu, wenn der Wind böig wurde. Ingtar stieg vor dem einzigen großen Gebäude ab, das noch stand. Das knarrende Schild über dem Eingang zeigte eine Frau, die mit Sternen jonglierte. Es stand aber kein Name drauf. Der Regen spritzte in zwei dünnen Fäden von den Ecken des Schilds herunter. Verin eilte hinein, während Ingtar sagte: »Uno, durchsuche alle Häuser. Wenn noch jemand da ist, kann er uns vielleicht sagen, was hier passiert ist, und wir erfahren etwas mehr über die Seanchan. Und wenn du etwas zum Essen findest, bringe es auch mit. Und Decken.« Uno nickte und ließ seine Männer abzählen. Ingtar wandte sich Hurin zu. »Was riechst du? Ist Fain hier durchgekommen?«

Hurin rieb sich die Nase und schüttelte den Kopf. »Er nicht, Lord Ingtar, und auch keine Trollocs. Aber wer auch immer das angerichtet hat, hat einen schlimmen Gestank hinterlassen.« Er deutete auf die Trümmer der Häuser. »Es war Mord, Herr. Dort drinnen befanden sich Menschen.«

»Seanchan«, grollte Ingtar. »Gehen wir rein. Ragan, suche uns einen Stall für die Pferde.«

Verin hatte bereits in den beiden großen Kaminen, die sich an den Kopfseiten des Schankraumes befanden, Feuer gemacht, und nun wärmte sie sich die Hände. Ihren durchnäßten Umhang hatte sie auf einem der Tische ausgebreitet, die auf dem gefliesten Boden standen. Sie hatte auch ein paar Kerzen entdeckt, die auf einem der Tische leuchteten. Sie hatte sie einfach in ihr eigenes Wachs gesteckt, damit sie stehenblieben. Leere und Stille —nur durch ein gelegentliches Donnern von draußen her unterbrochen — und dazu die flackernden Schatten: das alles ließ den Raum wie eine Höhle wirken. Rand warf seinen genauso nassen Umhang und den Mantel ebenfalls auf einen Tisch und gesellte sich zu ihr. Nur Loial fand es wichtiger, nach seinen Büchern zu sehen, als sich aufzuwärmen.

»Auf diese Art finden wir das Horn von Valere nie«, sagte Ingtar. »Drei Tage, seit wir... seit wir hier angekommen sind« — er schauderte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar; Rand fragte sich, was der Schienarer wohl in seinen anderen Leben erlebt hatte — »und noch mindestens zwei weitere bis Falme, und wir haben nicht die geringste Spur von Fain oder den Schattenfreunden entdeckt. Es gibt an der Küste unzählige Dörfer. Er könnte in jedem davon stecken oder sich mittlerweile irgendwohin eingeschifft haben. Falls er überhaupt jemals hier war.«

»Er war hier«, sagte Verin ruhig, »und er ist nach Falme gegangen.«

»Und da ist er immer noch«, fügte Rand hinzu. Er wartet auf mich. Bitte, Licht, laß ihn immer noch warten. »Hurin hat nach wie vor keine Spur von ihm gefunden«, sagte Ingtar. Der Schnüffler zuckte die Achseln schuldbewußt, als habe es an ihm gelegen. »Warum sollte er ausgerechnet nach Falme gehen? Wenn man diesen Dorfbewohnern Glauben schenkt, befindet sich Falme in der Hand der Seanchan. Ich würde meinen besten Jagdhund opfern, wenn ich erführe, wer sie sind und woher sie kamen.«

»Wer sie sind, ist für uns nicht wichtig«, sagte Verin, die am Boden kniete, ihre Satteltaschen geöffnet hatte und nun trockene Kleidung daraus hervorholte. »Wenigstens haben wir jetzt Zimmer, wo wir uns umziehen können, obwohl uns das nicht viel hilft, wenn sich das Wetter nicht ändert. Ingtar, es könnte sehr wohl stimmen, was uns die Dorfbewohner sagten, daß sie nämlich die Nachkommen des Heeres von Artur Falkenflügel sind, die zurückkehrten. Wichtig ist nur, daß Padan Fain in Falme ist. Die Inschrift im Kerker von Fal Dara... «

»... hat Fain nicht erwähnt. Vergebt mir, Aes Sedai, aber das kann genausogut eine Finte gewesen sein wie eine düstere Prophezeiung. Ich kann nicht glauben, daß selbst Trollocs so dumm sind, uns alles, was sie tun werden, genau aufzuschreiben, noch bevor sie es getan haben.«

Sie drehte sich, um zu ihm hochblicken zu können. »Und was hast du vor, wenn du meinem Rat nicht folgen willst?«

»Ich will das Horn von Valere finden«, sagte Ingtar mit fester Stimme. »Vergib mir, aber ich muß meinen fünf Sinnen trauen und nicht ein paar Worten, die von Trollocs hingeschmiert wurden... «

»Eher von einem Myrddraal«, murmelte Verin, aber er ließ sich nicht unterbrechen.

»... oder von einem Schattenfreund, der sich selbst zu verraten schien. Ich werde weiter suchen, bis Hurin eine Spur findet oder wir Fain persönlich treffen. Ich muß das Horn haben, Verin Sedai. Ich muß!«

»Das ist nicht richtig«, sagte Hurin leise. »Nicht: Ich muß. Was geschieht, geschieht.« Niemand achtete auf ihn.

»Wir alle müssen das«, murmelte Verin und spähte dabei in ihre Satteltaschen. »Aber es gibt vielleicht noch wichtigere Dinge als das.«

Sie sagte nicht mehr, doch Rand verzog das Gesicht. Er wäre ihr und ihren Sticheleien und Andeutungen so gern entkommen. Ich bin nicht der Wiedergeborene Drache. Licht, könnte ich nur sämtlichen Aes Sedai endgültig entkommen! »Ingtar, ich denke, ich werde nach Falme weiterreiten. Fain ist dort, da bin ich sicher, und wenn ich nicht bald komme, dann wird er — er wird Emondsfeld etwas antun.« Das hatte er zuvor noch nie erwähnt.

Sie sahen ihn alle an. Mat und Perrin hatten die Stirn besorgt gerunzelt und überlegten angestrengt. Verin wirkte, als habe sie gerade ein neues Teil eines Puzzles entdeckt. Loial blickte erstaunt drein, und Hurin schien verwirrt. Ingtars Miene zeigte deutlich, daß er ihm nicht glaubte.

»Warum sollte er wohl?« fragte der Schienarer.

»Ich weiß nicht«, log Rand, »aber das war ein Teil seiner Botschaft, die mir Barthanes übermittelte.«

»Und hat Barthanes gesagt, daß Fain nach Falme geht?« wollte Ingtar wissen. »Nein. Es hätte ohnehin keine Rolle gespielt.« Er lachte bitter. »Schattenfreunde lügen mit jedem Atemzug.«

»Rand«, sagte Mat, »wenn ich wüßte, wie ich Fain davon abhalten könnte, Emondsfeld zu schaden, würde ich es tun. Wenn ich ganz sicher wäre, daß er das vorhat. Aber ich brauche diesen Dolch, Rand, und mit Hurins Hilfe haben wir die besten Möglichkeiten, ihn zu finden.«

»Ich gehe auf jeden Fall mit dir, Rand«, sagte Loial. Er hatte seine Bücher durchgesehen und sich vergewissert, daß keine Feuchtigkeit eingedrungen war, und nun zog er seinen nassen Mantel aus. »Aber ich weiß nicht, ob ein paar Tage mehr oder weniger viel ausmachen. Versuche doch, ein bißchen weniger voreilig zu handeln.«

»Mir ist es völlig egal, ob wir jetzt oder später oder niemals nach Falme reiten«, sagte Perrin achselzuckend, »aber wenn Fain wirklich Emondsfeld bedroht... na ja, Mat hat recht. Hurin ist unsere größte Chance, ihn zu finden.«

»Ich kann ihn aufspüren, Rand«, warf Hurin ein. »Laßt mich einmal seine Spur riechen, und ich bringe euch geradewegs zu ihm. Niemals hat jemand eine so typische Spur hinterlassen wie er.«

»Du mußt deine eigene Wahl treffen, Rand«, sagte Verin zurückhaltend. »Aber denk daran, daß Falme eine Stadt in der Hand von Invasoren ist, über die wir immer noch fast nichts wissen. Wenn du allein nach Falme gehst, wirst du vielleicht gefangengenommen oder noch Schlimmeres, und das hilft dann niemandem. Ich bin aber sicher, du wirst die richtige Wahl treffen.«

»Ta'veren«, grollte Loial.

Rand hob abwehrend beide Hände.

Uno kam vom Dorfplatz herein und schüttelte das Regenwasser aus seinem Umhang. »Keine einzige flammende Seele zu finden, Ingtar. Auf mich wirkt das, als seien sie alle gleichzeitig weggerannt. Das Vieh fehlt ebenfalls, und es ist auch kein verdammter Karren oder Wagen mehr da. Die Hälfte der Häuser ist total ausgeräumt und leer. Ich wette meinen nächsten Monatslohn darauf, daß man ihnen folgen kann, wenn man den verfluchten Möbelstücken folgt, die sie in den Straßengraben geworfen haben, weil sie verdammt noch mal merkten, daß sie damit nicht vorwärtskamen.«

»Wie steht es denn mit Kleidungsstücken?« fragte Ingtar.

Uno blinzelte überrascht mit seinem einen Auge. »Sie haben nur ein paar einzelne Stücke dagelassen. Vor allem, was sie nicht für wert hielten, mitgenommen zu werden.«

»Das muß ausreichen. Hurin, ich will, daß du dich zusammen mit ein paar anderen Männern als Einheimische verkleidest; so gut wie möglich, damit ihr nicht auffallt. Dann reitet ihr in weiten Schleifen nach Norden und nach Süden los, bis ihr die Spur kreuzt.« Weitere Soldaten traten ein und versammelten sich um Ingtar und Hurin, um zuzuhören.

Rand legte die Hände auf den Sims über dem Kamin und starrte in die Flammen. Sie erinnerten ihn an Ba'alzamons Augen. »Es ist nicht mehr viel Zeit«, sagte er. »Ich fühle, wie mich... etwas... nach Falme zieht, und es bleibt nicht mehr viel Zeit.« Er bemerkte, daß Verin ihn beobachtete, und fügte heiser hinzu: »Nicht das, was du meinst. Ich muß Fain finden. Es hat nichts mit... dem anderen zu tun.«

Verin nickte. »Das Rad webt, wie es will, und wir werden alle in das Muster eingewoben. Fain ist bereits Wochen, vielleicht sogar Monate vor uns hier angekommen. Ein paar Tage mehr werden wohl kaum einen Unterschied machen, was auch geschehen könnte.«

»Ich werde eine Runde schlafen«, murmelte er und hob seine Satteltaschen auf. »Sie können ja wohl nicht sämtliche Betten mitgeschleppt haben.«

Oben fand er Betten, aber nur in wenigen lagen noch die Matratzen, und die waren in einem Zustand, daß er sich überlegte, doch lieber auf dem Fußboden zu schlafen. Schließlich entschied er sich aber doch für ein Bett, bei dem die Matratze lediglich in der Mitte durchhing. Im Zimmer befand sich außer einem Holzstuhl und einem Tisch mit einem wackligen Bein nichts weiter.

Er zog die nassen Sachen aus und ein trockenes Hemd und trockene Hosen an, bevor er sich hinlegte. Es gab keine Laken und Decken hier. Sein Schwert lehnte er an das Kopfteil des Bettes. Schmunzelnd dachte er daran, daß die einzige trockene Decke, die er benützen konnte, die Flagge des Drachen war. Er ließ sie aber sicher verpackt in der Satteltasche stecken.

Der Regen trommelte auf das Dach, und der Donner grollte. Von Zeit zu Zeit erhellte ein Blitz die Fenster. Vor Kälte zitternd wälzte er sich auf der Matratze hin und her, versuchte, eine bequemere Stellung zu finden, und fragte sich, ob er nicht doch lieber die Flagge zum Zudecken benützen sollte. Vor allem aber überlegte er, ob er wirklich nach Falme reiten sollte.

Er wälzte sich wieder herum, und da stand Ba'alzamon mit der reinweißen Stoffbahn des Drachenbanners in der Hand neben dem Stuhl. Dort erschien ihm das Zimmer dunkler, als stünde Ba'alzamon am Rand einer Wolke öligschwarzen Qualms. Beinahe verheilte Brandnarben überzogen sein Gesicht, und während Rand ihn beobachtete, verschwanden einen Augenblick lang seine Augen. Sie wurden durch endlose Feuerhöhlen ersetzt. Rands Satteltaschen lagen am Fußende des Bettes, die Schnallen geöffnet und die Laschen aufgeklappt, wo das Banner verborgen gewesen war.

»Der Zeitpunkt nähert sich, Lews Therin. Tausend Fäden spannen sich, und bald bist du gebunden und dazu verurteilt, einen Weg zu gehen, den du nicht ändern kannst. Wahnsinn. Tod. Wirst du noch einmal, bevor du stirbst, alles töten, was du liebst?«

Rand blickte zur Tür, aber dann setzte er sich lediglich im Bett auf. Was würde es schon bringen, vor dem Dunklen König wegzulaufen? Seine Kehle war rauh wie Sandpapier. »Ich bin nicht der Drache, Vater der Lügen!« sagte er heiser.

Die Dunkelheit hinter Ba'alzamon quoll hoch, und Feueröfen tosten auf, als Ba'alzamon lachte. »Du ehrst mich. Und spielst dich selbst in meinen Augen herunter. Ich habe dir tausend Mal gegenübergestanden. Tausend mal tausend Mal. Ich kenne dich bis auf den tiefsten Grund deiner erbärmlichen Seele, Lews Therin Brudermörder.« Er lachte wieder. Rand hielt sich eine Hand vor das Gesicht, um von der Hitze aus diesem feurigen Mund nicht versengt zu werden.

»Was willst du? Ich werde dir nicht dienen. Ich werde nichts tun, was du willst. Ich würde lieber vorher sterben!«

»Du wirst sterben, Wurm! Wie viele Male bist du im Laufe der Zeitalter gestorben, Narr, und was hat dir das gebracht? Das Grab ist kalt und einsam, bis auf die Würmer. Das Grab gehört mir. Diesmal wird es für dich keine Wiedergeburt geben. Diesmal wird das Rad der Zeit zerbrochen und die Welt im Schatten neu geschaffen. Diesmal stirbst du für immer! Was wählst du? Den ewigen Tod? Oder das ewige Leben — und die Macht?«

Rand bemerkte kaum, daß er aufgesprungen war. Das Nichts hatte sich um ihn gehüllt, Saidin war da, und die Eine Macht durchströmte ihn. Diese Tatsache ließ die Leere beinahe wieder zerplatzen. War das alles wirklich? War es ein Traum? Konnte er im Traum die Macht benützen? Aber der Strom, der ihn durchfloß, schwemmte seine Zweifel hinweg. Er schleuderte sie Ba'alzamon entgegen, die reine, unverwässerte Eine Macht, die Kraft, von der das Rad der Zeit angetrieben wurde, eine Kraft, die den Ozean dazu bringen konnte, zu verbrennen und die Berge dabei zu verschlingen.

Ba'alzamon trat einen halben Schritt zurück und hielt die Flagge schützend vor sich. Flammen sprangen in seine weit aufgerissenen Augen und seinen Mund, und die Dunkelheit schien ihn in Schatten zu hüllen. In den einen Schatten. Die Macht sank in diesen schwarzen Dunst ein und versickerte wie Wasser in ausgetrocknetem Sand.

Rand saugte Saidin auf, zog mehr Macht an sich und immer noch mehr. Sein Fleisch schien so kalt, daß es bei einer Berührung zersplittern mußte, und es brannte, als wolle es verkochen. Seine Knochen mußten jeden Moment zu klirrend kalter Kristallasche zerfallen. Es war ihm gleich; er fühlte sich, als trinke er das Leben selbst.

»Narr!« brüllte Ba'alzamon. »Du wirst dich selbst zerstören!«

Mat. Der Gedanke schwamm irgendwo jenseits der alles verschlingenden Flut herum. Der Dolch. Das Horn. Fain. Emondsfeld. Ich kann noch nicht sterben. Er war sich nicht sicher, wie er es schaffte, doch plötzlich war die Macht verschwunden, ebenso wie Saidin und das Nichts. Er zitterte heftig und fiel neben dem Bett auf die Knie. Er umschlang sich mit den Armen, um das Zucken zu unterdrücken. Umsonst.

»So ist es besser, Lews Therin.« Ba'alzamon warf die Flagge zu Boden und packte die Stuhllehne mit beiden Händen. Zwischen seinen Fingern quollen Rauchfäden empor. Der Schatten schien ihn nicht mehr zu umgeben. »Hier ist dein Banner, Brudermörder. Es wird dir nicht helfen. Tausend Fäden, durch tausend Jahre hindurch ausgelegt, haben dich hierher gezogen. Zehntausend, die im Laufe der Zeitalter gewoben wurden, binden dich wie ein Schaf, das geschlachtet werden soll. Das Rad selbst hält dich Zeitalter auf Zeitalter in deinem Schicksal gefangen. Aber ich kann dich befreien. Du kriechende Kreatur, ich allein auf der ganzen Welt kann dich lehren, die Macht richtig anzuwenden. Nur ich kann sie davon abhalten, dich zu töten, noch bevor du dem Wahnsinn verfällst. Nur ich kann den Wahnsinn aufhalten. Du hast mir früher schon gedient. Diene mir wieder, Lews Therin, oder du wirst für immer vernichtet!«

»Ich heiße«, brachte Rand mit klappernden Zähnen mühsam heraus, »Rand al'Thor.« Sein Zittern war so stark, daß er die Augen schloß, und als er sie wieder öffnete, war er allein.

Ba'alzamon war weg. Der Schatten hatte sich aufgelöst. Seine Satteltaschen lehnten mit geschlossenen Schnallen am Stuhl, und eine beulte sich aus, wo das Drachenbanner steckte, genauso, wie er alles zurückgelassen hatte. Nur von der Lehne des Stuhls erhob sich noch immer Rauch, und auf dem Holz waren die Spuren eingebrannter Finger zu sehen.

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