30 Daes Dae'mar

Rand stand in Hurins und Loials Zimmer und blickte durch das Fenster auf die wie mit dem Lineal gezogenen Straßen und die Terrassen Cairhiens, auf die Steingebäude und Schieferdächer. Er konnte das Zunfthaus der Feuerwerker von hier aus nicht sehen. Erstens waren riesige Türme und Herrenhäuser im Weg, und zweitens hätte schon allein die Stadtmauer gereicht, um den Blick darauf zu verdecken. Die Feuerwerker waren in aller Munde in der Stadt, selbst jetzt noch, Tage nach jenem Abend, an dem sich nur eine einzige Feuerblume in den Nachthimmel erhoben hatte und sonst nichts, und das noch vorzeitig. Man erzählte sich ein Dutzend verschiedener Versionen dieses Skandals mit noch einigen kleineren Variationen, aber nichts davon kam der Wahrheit nahe.

Rand wandte sich ab. Er hoffte, daß niemand durch den Brand verletzt worden war, aber die Feuerwerker hatten noch nicht einmal offiziell zugegeben, daß es bei ihnen gebrannt hatte. Sie waren äußerst verschwiegen in bezug auf das, was sich innerhalb ihres Zunfthauses abspielte. »Ich werde die nächste Wache übernehmen«, sagte er zu Hurin, »sobald ich zurück bin.«

»Das ist nicht nötig, Lord Rand.« Hurin verbeugte sich genauso tief wie die Leute aus Cairhien es zu tun pflegten. »Ich kann Wache halten. Wirklich! Mein Herr muß sich nicht damit abgeben.«

Rand holte tief Luft und tauschte einen resignierenden Blick mit Loial. Der Ogier zuckte die Achseln. Der Schnüffler benahm sich mit jedem in Cairhien verbrachten Tag förmlicher und steifer. Der Ogier sagte dazu meist nur, daß sich Menschen eben oft sehr eigenartig benähmen.

»Hurin«, sagte Rand, »du hast mich doch sonst auch nur Lord Rand genannt und dich nicht jedesmal verbeugt, wenn ich dich ansah.« Ich will, daß er sich entspannt und mich wieder Lord Rand nennt, dachte er, über sich selbst erstaunt. Lord Rand! Licht, wir müssen hier raus, bevor ich mir wirklich wünsche, daß er sich verbeugt. »Würdest du dich bitte jetzt hinsetzen? Ich werde schon müde davon, dir zuzusehen.«

Hurin stand mit steifem Kreuz da, machte aber dennoch den Eindruck, als sei er sprungbereit, sobald Rand auch nur den kleinsten Wunsch äußerte. Er setzte sich weder hin, noch entspannte er sich. »Das wäre nicht schicklich, Lord Rand. Wir müssen diesen Leuten aus Cairhien beweisen, daß wir uns genauso gut benehmen können wie...«

»Hör endlich auf damit!« schrie Rand. »Wie Ihr wünscht, Lord Rand.«

Es kostete Rand Mühe, nicht wieder zu seufzen. »Hurin, es tut mir leid. Ich hätte dich nicht anschreien sollen.«

»Das ist doch Euer Recht, Lord Rand«, sagte Hurin einfach. »Wenn ich etwas nicht so mache, wie Ihr wünscht, ist es Euer Recht, mich anzuschreien.«

Rand trat vor den Schnüffler hin und wollte ihn am Kragen packen und schütteln.

Ein Klopfen an die Verbindungstür zu Rands Zimmer ließ sie gleichzeitig erstarren, aber Rand war froh, als er sah, daß Hurin nicht auf seine Erlaubnis wartete, das Schwert zu ziehen. Die Reiherklinge hing an Rands Gürtel; im Hingehen berührte er den Knauf. Er wartete, bis Loial sich auf seinem langen Bett zurechtgesetzt und Beine und Mantel so arrangiert hatte, daß die mit Decken bedeckte Truhe unter dem Bett verdeckt war. Dann riß er die Tür auf.

Dahinter stand der Wirt, der vor Aufregung von einem Fuß auf den anderen trat und Rand sein Tablett vor die Nase hielt. »Vergebt mir, Herr«, sagte Cuale atemlos. »Ich konnte nicht warten, bis Ihr herunterkamt, und dann wart Ihr nicht in Eurem Zimmer und — und... Vergebt mir, aber... « Er balancierte das Tablett auf den Händen.

Rand schnappte sich die Einladungen — er hatte schon so viele erhalten —, ohne sie anzusehen, packte den Wirt am Arm und drehte ihn zur Ausgangstür hin. »Danke, Meister Cuale, daß Ihr Euch die Mühe gemacht habt. Wenn Ihr uns nun bitte verlassen würdet... «

»Aber, Herr«, protestierte Cuale, »die hier sind von... «

»Dankeschön.« Damit schob Rand den Mann in den Flur hinaus und zog die Tür entschlossen zu. Er warf die Briefe auf den Tisch. »Das hat er vorher nicht gemacht. Loial, glaubst du, er hat an der Tür gelauscht, bevor er klopfte?«

»Du fängst schon an, wie jemand aus Cairhien zu denken.« Der Ogier lachte, aber seine Ohren zuckten nachdenklich, und er fügte hinzu: »Aber er ist ja schließlich aus Cairhien und könnte es deshalb durchaus getan haben. Ich glaube jedoch nicht, daß wir etwas gesagt haben, was er nicht hören durfte.«

Rand bemühte sich, alles noch einmal in sein Gedächtnis zurückzurufen. Keiner von ihnen hatte das Horn von Valere erwähnt oder Trollocs oder auch nur Schattenfreunde. Als er sich dann fragte, was Cuale wohl mit dem anfangen könne, was er tatsächlich gehört haben mochte, schüttelte er sich kurz. »Dieser Ort geht einem ganz schön auf die Nerven«, murmelte er vor sich hin.

»Lord Rand?« Hurin hatte die versiegelten Briefe in die Hand genommen und betrachtete mit großen Augen die Wappen auf den Siegeln. »Lord Rand, die hier sind von Lord Barthanes, dem Hochsitz des Hauses Damodred, und von...«, seine Stimme erstarb beinahe vor Ehrfurcht —»König Galldrian.«

Rand winkte ab. »Trotzdem wandern sie ins Feuer wie die anderen. Ungeöffnet!«

»Aber, Lord Rand!«

»Hurin«, sagte Rand geduldig, »du und Loial, ihr habt mir dieses Große Spiel erklärt. Wenn ich irgendwohin gehe, wo sie mich eingeladen haben, werden die Leute aus Cairhien etwas hineinlesen und glauben, ich sei ein Teil irgendeiner Intrige. Wenn ich nicht hingehe, lesen sie daraus auch wieder etwas ab. Wenn ich eine Antwort abschicke, werden sie darin nach einer versteckten Bedeutung suchen, und wenn ich nicht antworte natürlich auch. Und da offensichtlich die Hälfte aller Cairhienianer die andere Hälfte bespitzelt, weiß jeder genau, was ich mache. Ich habe die ersten beiden verbrannt, und ich werde auch die hier verbrennen, so wie all die anderen.« An einem Tag hatten sich zwölf Einladungen gestapelt, die er mit intakten Siegeln in den Kamin im Schankraum geworfen hatte. »Was sie auch daraus wieder herauslesen mögen, zumindest betrifft es sie alle gleichermaßen. Ich bin nicht für irgend jemand hier, und ich bin nicht gegen irgend jemand.«

»Ich habe schon versucht, dir etwas zu sagen«, sagte Loial. »Ich glaube nicht, daß es so geht. Was du auch tust, die Cairhienianer werden darin eine Intrige vermuten. Das hat jedenfalls der Alteste Haman immer gesagt.«

Hurin hielt Rand die versiegelten Einladungen hin, als seien sie aus Gold. »Lord Rand, diese hier trägt das persönliche Siegel Galldrians. Sein persönliches Siegel! Und das hier ist das persönliche Siegel von Lord Barthanes, der gleich nach dem König kommt, was Macht angeht. Lord Rand, verbrennt diese Einladungen, und Ihr habt Feinde, wie es keine mächtigeren gibt. Das Verbrennen hat bisher insofern gewirkt, als die anderen Häuser alle darauf warten, was Ihr wohl vorhaben mögt, und sie glauben, Ihr habt mächtige Verbündete, so daß Ihr riskieren könnt, die anderen alle zu beleidigen. Aber Lord Barthanes — und der König! Beleidigt sie, und sie werden bestimmt handeln.«

Rand fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Und was, wenn ich beide ablehne?«

»Das geht auch nicht, Lord Rand. Mittlerweile hat Euch jedes einzelne Haus eine Einladung geschickt. Wenn Ihr nun auch diese hier ablehnt, wird irgendein Haus daraufkommen, daß man ja nun eigentlich etwas gegen Euch wegen der verbrannten Einladung unternehmen könne, denn Ihr seid ja auch nicht mit dem König oder Barthanes verbündet. Lord Rand, es wird erzählt, daß die Häuser Cairhiens mittlerweile Mörder aussenden. Ein Messer auf irgendeiner Seitenstraße. Ein Pfeil von einem Dach aus. Gift in Eurem Wein.«

»Du könntest auch beide annehmen« schlug Loial vor. »Ich weiß, daß du nicht willst, Rand, aber es könnte direkt Spaß machen. Ein Abend in einem Herrenhaus oder sogar im Königspalast. Rand, die Schienarer haben an dich geglaubt.«

Rand verzog das Gesicht. Er wußte, es war Zufall gewesen, daß ihn die Schienarer für einen Lord gehalten hatten, eine zufällige Ähnlichkeit der Namen, ein Gerücht unter den Dienern, und Moiraine und die Amyrlin schürten kräftig mit. Aber auch Selene hatte daran geglaubt. Vielleicht könnte ich sie dort irgendwo treffen? Hurin schüttelte allerdings heftig den Kopf. »Erbauer, Ihr kennt Daes Dae'mar nicht so gut, wie Ihr glaubt. Jedenfalls nicht, wie man es jetzt in Cairhien spielt. Bei den meisten Häusern würde es keine Rolle spielen. Selbst wenn sie die anderen bis aufs Messer bekriegen, tun sie so, als sei es nichts, jedenfalls in der Öffentlichkeit. Aber nicht diese beiden. Das Haus Damodred hatte den Thron inne, bis Laman ihn verlor, und sie wollen ihn zurückhaben. Der König würde sie vernichten, wenn sie nicht beinahe genauso mächtig wären wie er selbst. Ihr könnt keine grimmigeren Feinde finden als die Häuser Riatin und Damodred. Wenn mein Herr beide Einladungen annimmt, werden es beide Häuser erfahren, sobald er seine Antworten abschickt, und jeder wird glauben, er sei Teil einer Intrige des anderen Hauses. Ihr werdet blitzschnell ihre Messer oder ihr Gift zu fühlen bekommen.«

»Und wahrscheinlich wird jeder glauben, daß ich mit dem anderen verbündet bin, wenn ich dessen Einladung annehme«, grollte Rand. Hurin nickte. »Und vermutlich werden sie versuchen, mich umzubringen, um zu verhindern, was immer ich auch vorhabe.« Hurin nickte erneut. »Kannst du mir dann sagen, wie ich es vermeiden soll, daß mir irgend jemand hier an den Kragen will?« Hurin schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich hätte die ersten beiden Einladungen nie verbrannt.«

»Ja, Lord Rand. Aber das hätte auch nicht viel geändert, schätze ich. Wen auch immer Ihr ablehnt oder wessen Einladung Ihr auch annehmt, die anderen witterten doch etwas dahinter.«

Rand streckte die Hand aus, und Hurin legte die beiden zusammengefalteten Pergamentblätter hinein. Das eine war nicht mit dem Baum und der Krone des Hauses Damodred gezeichnet, sondern mit dem angreifenden Keiler von Barthanes. Auf dem Siegel des anderen prangte Galldrians Hirsch. Persönliche Siegel. Anscheinend hatte er Interesse an höchster Stelle erweckt, einfach weil er überhaupt nichts getan hatte.

»Diese Leute spinnen«, sagte er und versuchte in Gedanken, einen Ausweg zu finden.

»Ja, Herr.«

»Ich werde mich im Schankraum mit diesen Briefen sehen lassen«, sagte er bedächtig. Was man auch immer mittags im Schankraum sah, hatte sich bis zum Abend in zehn Häusern herumgesprochen, und am nächsten Morgen in allen anderen. »Ich werde die Siegel nicht brechen. Dann wissen sie, daß ich noch keines der beiden Schreiben beantwortet habe. Solange sie darauf warten, wohin ich mich wenden werde, habe ich Ruhe. Vielleicht kann ich auf diese Art noch ein paar Tage herausschinden. Ingtar wird doch wohl bald ankommen. Er muß einfach!«

»Also, jetzt handelt Ihr wie jemand aus Cairhien, Lord Rand«, sagte Hurin grinsend.

Rand warf ihm einen säuerlichen Blick zu und steckte dann die Briefe zu Selenes Zettel in die Tasche. »Gehen wir, Loial. Vielleicht ist Ingtar angekommen.«

Als er mit Loial den Schankraum betrat, sah sich kein einziger Mann und keine einzige Frau dort nach ihnen um. Cuale polierte ein Silbertablett, als hinge sein Leben von dessen Glanz ab. Die Serviererinnen eilten von Tisch zu Tisch, als existierten Rand und der Ogier gar nicht. Jede der an den Tischen sitzenden Personen blickte in das Glas vor sich, als lägen alle Geheimnisse der Macht in dessen Inhalt vergraben. Keiner sagte etwas.

Nach einem Augenblick zog er die beiden Einladungen aus der Tasche und betrachtete die Siegel. Dann steckte er sie zurück. Cuale fuhr ein wenig zusammen, als Rand zur Tür ging. Bevor sie sich hinter ihnen schloß, begann wieder eine lebhafte Unterhaltung im Schankraum.

Rand ging so schnell die Straße hinunter, daß Loial gar keine kürzeren Schritte machen mußte, um neben ihm zu bleiben. »Wir müssen einen Weg aus der Stadt hinaus ausfindig machen, Loial. Dieser Trick mit den Einladungen kann nicht mehr als zwei oder drei Tage vorhalten. Wenn Ingtar bis dahin nicht angekommen ist, müssen wir weg.«

»Einverstanden«, sagte Loial.

»Aber wie?«

Loial zählte die Voraussetzungen an seinen dicken Fingern ab. »Fain befindet sich dort draußen, sonst wären keine Trollocs in Vortor gewesen. Wenn wir hinausreiten, werden sie über uns herfallen, kaum daß wir außer Sichtweite der Stadt sind. Falls wir mit dem Wagenzug eines Händlers fahren, werden sie diesen sicherlich überfallen.« Kein Händler hatte mehr als fünf oder sechs Leibwächter, und die würden wahrscheinlich wegrennen, sobald sie einen Trolloc sahen. »Wenn wir nur wüßten, wie viele Trollocs und wie viele Schattenfreunde Fain hat. Du hast ihre Zahl ja bereits verringert.« Er erwähnte den Trolloc nicht, den er selbst getötet hatte, aber seiner finsteren Miene und den auf seine Wangen herunterhängenden Augenbrauen nach dachte er daran.

»Es spielt keine Rolle, wie viele er hat«, sagte Rand. »Zehn sind genauso schlimm wie hundert. Wenn uns zehn Trollocs angreifen, glaube ich nicht, daß wir ihnen wieder entkommen können.« Er vermied es, daran zu denken, daß es für ihn ja vielleicht — vielleicht — einen Weg gab, mit zehn Trollocs fertigzuwerden. Es hatte schließlich auch nicht geklappt, als er Loial helfen wollte.

»Das glaube ich auch nicht. Ich schätze, wir haben auch nicht genug Geld, um uns sehr weit weg befördern zu lassen, aber selbst wenn wir es hätten und versuchten, den Hafen von Vortor zu erreichen — na ja, Fain hat bestimmt Schattenfreunde dorthin geschickt, um aufzupassen. Falls er glaubt, wir wollten per Schiff entkommen, würde er wahrscheinlich keine Rücksicht mehr darauf nehmen, wer die Trollocs sehen könnte. Und auch wenn wir uns irgendwie von ihnen befreien könnten, müßten wir alles den Stadtwachen erklären, und die würden vermutlich nicht glauben, daß wir die Truhe nicht öffnen können, also... «

»Wir lassen doch niemand aus Cairhien die Truhe überhaupt sehen, Loial!«

Der Ogier nickte. »Und die Hafenanlagen der Stadt selbst nützen uns auch nichts.« Der Stadthafen war für die Getreideschiffe und die Jachten der Lords und Ladies reserviert. Niemand kam ohne Erlaubnis dort hinein. Man konnte von der Stadtmauer aus hinunterblicken, aber ein Sprung von dort oben wäre selbst für Loial tödlich. »Ich denke, es ist einfach zu schade, daß wir nicht nach Stedding Tsofu können. Die Trollocs betreten niemals ein Stedding. Aber sie würden uns wohl gar nicht erst soweit kommen lassen, ohne anzugreifen.«

Rand antwortete nicht. Sie hatten das große Wachgebäude innerhalb der Stadtmauer erreicht, durch das sie zuerst Cairhien betreten hatten. Draußen wimmelte es in den Straßen von Vortor, von den aufmerksamen Blicken zweier Wachsoldaten beobachtet. Rand glaubte einen Mann in einst gepflegter schienarischer Kleidung gesehen zu haben, der sich bei ihrem Anblick rückwärts in die Menge hinein verzogen hatte, doch sicher war er sich nicht. Es gab einfach zu viele Leute in Kleidern aus aller Herren Länder, und alle hatten es eilig. Er ging die Stufen zum Wachgebäude hinauf, vorbei an den Soldaten mit ihren Brustpanzern, die zu beiden Seiten des Eingangs standen.

Das große Foyer war von harten Holzbänken eingerahmt, auf denen die Leute saßen, die dort zu tun hatten. Die meisten waren einfach und dunkel gekleidet und warteten voll demütiger Geduld. Es waren auch ein paar aus Vortor darunter, die durch die Schäbigkeit und Farbenfreude ihrer Kleidung auffielen. Sie hofften offensichtlich darauf, sich in der Stadt eine Arbeit suchen zu dürfen.

Rand ging geradewegs zu dem langen Tisch im hinteren Teil des Raums. Dahinter saß nur ein einzelner Mann, kein Soldat, mit einem grünen Streifen auf dem Mantel. Er war ein molliger Bursche mit zu straff gespannter Haut. Er sortierte die Papiere auf dem Tisch und schob sein Tintenfaß zweimal hin und her, bevor er aufblickte und Rand und Loial mit einem aufgesetzten Lächeln begrüßte.

»Wie kann ich Euch helfen, Herr?«

»Genauso, wie Ihr gestern hofftet, mir helfen zu können«, sagte Rand geduldiger, als es seinen Gefühlen entsprach, »und vorgestern und am Tag zuvor. Ist Lord Ingtar gekommen?«

»Lord Ingtar, Herr?«

Rand atmete tief ein und ließ die Luft langsam wieder heraus. »Lord Ingtar aus dem Haus Schinowa aus Schienar. Der gleiche, nach dem ich mich jeden Tag erkundigt habe, seit ich hier ankam.«

»Niemand, der diesen Namen führt, hat die Stadt betreten, Herr.«

»Seid Ihr sicher? Müßt Ihr nicht wenigstens in Eure Liste sehen?«

»Herr, die Liste der Ausländer, die nach Cairhien kommen, wird zwischen den Wachhäusern jeden Tag bei Sonnenaufgang und bei Sonnenuntergang ausgetauscht, und ich sehe sie durch, sobald ich sie hier habe. Kein Lord aus Schienar hat in letzter Zeit die Stadt betreten.«

»Und Lady Selene? Bevor Ihr wieder nachfragt, nein, ich weiß nicht, aus welchem Haus sie stammt. Aber ich habe Euch ihren Namen genannt, und ich habe sie Euch bereits dreimal beschrieben. Reicht das noch nicht?«

Der Mann spreizte die Hände. »Es tut mir leid, Herr. Es ist sehr schwer, da ich ihr Haus nicht kenne.« Sein Gesichtsausdruck war absolut nichtssagend. Rand fragte sich, ob er es ihm sagen würde, wenn er etwas wüßte.

Eine Bewegung an einer der Türen hinter dem Schreibtisch erregte Rands Aufmerksamkeit. Ein Mann wollte den Vorraum betreten, wandte sich jedoch hastig wieder zum Gehen. »Vielleicht kann mir Hauptmann Caldevwin helfen«, sagte Rand zu dem Beamten.

»Hauptmann Caldevwin, Herr?«

»Ich habe ihn gerade hinter Euch gesehen.«

»Es tut mir leid, Herr. Wenn sich ein Hauptmann Caldevwin im Wachhaus befände, müßte ich es eigentlich wissen.«

Rand starrte ihn zornerfüllt an, bis Loial seine Schulter berührte. »Rand, ich glaube, wir können wohl gehen.«

»Danke für Eure Hilfe«, sagte Rand mit angespannter Stimme. »Ich komme morgen wieder.«

»Es wird mir ein Vergnügen sein, Euch zu helfen«, sagte der Mann mit seinem falschen Lächeln.

Rand stolzierte so schnell aus dem Wachhaus, daß Loial sich beeilen mußte, um ihn auf der Straße wieder einzuholen. »Du weißt, daß er gelogen hat, Loial.« Er verlangsamte seinen Schritt keineswegs, sondern eilte davon, als wolle er seine Wut durch die Anstrengung dämpfen. »Caldevwin war da. Er hat vielleicht auch in anderer Hinsicht gelogen. Ingtar ist möglicherweise schon längst da und sucht uns. Ich wette, er weiß auch, wer Selene ist.«

»Vielleicht, Rand. Daes Dae'mar... «

»Licht, ich habe es satt, immer nur von dem Großen Spiel zu hören. Ich will es nicht spielen. Ich will mich nicht hineinverwickeln lassen.« Loial ging neben ihm her und sagte nichts. »Ich weiß«, sagte Rand schließlich. »Sie glauben, ich sei ein Lord, und in Cairhien werden sogar ausländische Herren in das Spiel mit einbezogen. Ich wünschte, ich hätte diesen Mantel niemals angezogen.«

Moiraine, dachte er mit aufsteigender Bitterkeit. Sie macht mir nach wie vor Kummer. Aber sofort gab er, wenn auch zögernd, zu, daß sie an seiner jetzigen Lage wohl kaum eine Schuld trug. Es hatte immer irgendeinen Grund gegeben, anderen vorzuspielen, was er gar nicht war. Zuerst mußte er Hurin bei Laune halten und dann Selene beeindrucken. Danach schien es gar keine andere Möglichkeit mehr gegeben zu haben. Seine Schritte wurden langsamer, bis er schließlich ganz stehenblieb. »Als Moiraine mich gehen ließ, glaubte ich, nun wäre alles wieder ganz einfach. Sogar die Suche nach dem Horn, auch mit... mit allem eben... na ja, ich stellte mir das halt alles einfach vor.« Selbst mit Saidin im Kopf? »Licht, was gäbe ich nicht darum, wenn alles wieder einfach und unkompliziert wäre!«

»Ta'veren«, begann Loial.

»Davon will ich auch nichts mehr hören.« Rand lief wieder genauso schnell wie vorher weiter. »Alles, was ich will, ist Mat den Dolch geben und Ingtar das Horn.« Und dann? Verrückt werden? Sterben? Wenn ich sterbe, bevor ich dem Wahnsinn verfalle, tue ich wenigstens niemandem weh. Aber sterben will ich auch wieder nicht. Lan kann ja ›Schwert in die Scheide‹ erwähnen, aber ich bin Schäfer und kein Behüter. »Wenn ich es nicht mehr berühren kann«, murmelte er, »vielleicht kann ich dann... Owyn hätte es beinahe geschafft.«

»Was, Rand? Ich habe dich nicht verstanden.«

»Ach, nichts«, sagte Rand müde. »Ich wünschte, Ingtar käme endlich. Und Mat und Perrin.«

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Rand war tief in Gedanken versunken. Thoms Neffe hatte es drei Jahre lang durchgehalten, weil er die Macht nur dann benutzte, wenn er es für unbedingt nötig hielt. Wenn Owyn es fertiggebracht hatte, das so einzuschränken, müßte es doch auch möglich sein, ganz ohne die Macht auszukommen, gleich, wie verführerisch Saidin auch sein mochte.

»Rand«, sagte Loial, »dort vorne brennt es.«

Rand schob seine unerfreulichen Grübeleien beiseite und blickte mit finsterer Miene nach vorn in die Stadt hinein. Eine dicke, schwarze Rauchsäule erhob sich über den Dächern. Er konnte nicht erkennen, aus welchem Gebäude sie quoll, aber es war auf jeden Fall in der Nähe ihrer Schenke.

»Schattenfreunde«, sagte er beim Betrachten der Rauchwolke. »Trollocs können nicht ungesehen die Stadt betreten, aber Schattenfreunde... Hurin!« Er rannte los, und Loial hielt leicht Schritt mit ihm.

Je näher sie kamen, desto klarer wurde ihnen, welches Gebäude da brannte. Sie umrundeten die letzte steingefaßte Kurve, und da war der ›Verteidiger der Drachenmauer‹. Rauch quoll aus den oberen Fenstern, und Flammen schlugen aus dem Dach. Vor der Schenke hatten sich viele neugierige Zuschauer versammelt. Cuale schrie und hüpfte wild herum. Er wies Männer an, die Möbel hinaus auf die Straße trugen. Eine Doppelkette von Männern gab auf der einen Seite wassergefüllte Eimer weiter ins Haus hinein, und auf der anderen Seite kamen die leeren Eimer zurück und wurden bis zum weiter unten an der Straße befindlichen Brunnen weitergereicht. Die meisten Leute standen aber nur herum und sahen zu. Eine grelle Flamme schlug durch das Ziegeldach in den Himmel, und sie gaben ein lautes ›Aaaaah‹ von sich.

Rand drängte sich durch die Menge zum Wirt. »Wo ist Hurin?«

»Vorsichtig mit diesem Tisch umgehen!« schrie Cuale. »Verkratzt ihn nicht!« Er sah Rand an und blinzelte. Sein Gesicht war von Rauch geschwärzt. »Lord Rand? Wer? Euer Diener? Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn gesehen zu haben, Herr. Bestimmt ist er draußen. Laß die Kerzenhalter nicht fallen, du Narr! Sie sind aus Silber!« Cuale tanzte weg, um die Männer anzuschreien, die alle seine Besitztümer aus der Schenke schleppten.

»Hurin ist doch nicht hinausgegangen«, sagte Loial. »Er hätte niemals die... « Er sah sich um und ließ den Rest ungesagt. Einige der Zuschauer schienen den Ogier ebenso interessant zu finden wie das Feuer.

»Ich weiß«, sagte Rand und stürzte in die Schenke hinein.

Dem Schankraum sah man kaum an, daß das Gebäude in Flammen stand. Die Doppelkette von Männern zog sich die Treppe hinauf und gab die Eimer weiter, während andere herumeilten und hinaustrugen, was noch an Möbeln übrig war. Aber hier sah man nicht mehr Rauch, als sonst aus der Küche quoll. Erst als Rand sich an den Männern vorbei die Treppe hochquetschte, wurde er dichter. Hustend rannte er hoch.

Die Kette endete kurz vor der Treppe zum zweiten Stock. Männer standen auf halber Höhe und schleuderten Wasser in einen von Rauch erfüllten Gang. Flammen züngelten an den Wänden hoch und flackerten rot durch den schwarzen Qualm.

Einer der Männer packte Rand am Arm. »Ihr könnt da nicht hinaufgehen, Lord! Dort oben ist alles verloren. Ogier, sagt es ihm doch!«

Erst jetzt bemerkte Rand, daß Loial ihm gefolgt war. »Geh zurück, Loial. Ich bringe ihn heraus.«

»Du kannst nicht gleichzeitig Hurin und die Truhe tragen, Rand.« Der Ogier zuckte die Achseln. »Außerdem überlasse ich meine Bücher nicht dem Feuer.«

»Dann duck dich unter den Rauch.« Rand ließ sich auf alle viere nieder und krabbelte weiter hinauf. Unten, nahe dem Boden, war die Luft sauberer; immer noch so qualmerfüllt, daß er husten mußte, aber er konnte sie wenigstens atmen. Doch selbst die Luft schien unerträglich heiß zu sein. Er bekam durch die Nase nicht genug Luft, also atmete er durch den Mund und fühlte, wie seine Kehle austrocknete.

Wasser, das die Männer in die Flammen schleudern wollten, erwischte ihn voll und durchnäßte ihn bis auf die Haut. Die Kühle brachte aber nur für einen Augenblick Erleichterung, dann schlug die Hitze wieder zurück. Entschlossen kroch er weiter. Er hörte am Husten des Ogiers, daß dieser sich gleich hinter ihm befand.

Eine Wand des Flurs stand lichterloh in Flammen, und aus dem Boden an dieser Seite stiegen bereits die ersten Rauchfäden zu der Wolke über ihren Köpfen auf. Er war froh, daß er nicht erkennen konnte, wie es über dem Rauch aussah. Das unheilvolle Krachen im Gebälk sagte ihm einiges.

Die Tür zu Hurins Zimmer brannte noch nicht, aber sie war bereits so heiß, daß er zwei Versuche benötigte, um sie aufzustoßen. Das erste, was er sah, war Hurin, der am Boden lag. Rand kroch zu dem Schnüffler hin und nahm ihn in die Arme. An der Seite seines Kopfes sah er eine pflaumengroße Beule. Hurin öffnete die Augen und blickte ihn verschwommenen an. »Lord Rand?« murmelte er schwach. »... an die Tür geklopft... dachte, es sei wieder eine Einl... « Seine Pupillen rollten weg. Rand fühlte nach dem Herzschlag und entspannte sich vor Erleichterung, als er ihn gefunden hatte.

»Rand...«, hustete Loial. Er war beim Bett und hatte die Laken hochgeschlagen. Darunter befanden sich lediglich die kahlen Bodenbretter. Die Truhe war weg.

Über dem Rauch krachte es in der Decke, und brennende Holzstücke fielen zu Boden.

Rand sagte: »Nimm deine Bücher. Ich trage Hurin. Mach schnell!« Er versuchte, sich den schlaffen Körper des Schnüfflers über die Schultern zu legen, aber Loial nahm ihm Hurin ab. »Die Bücher müssen eben verbrennen, Rand. Du kannst ihn nicht tragen und dabei wegkriechen, und wenn du aufstehst, wirst du nicht einmal mehr die Treppe erreichen.« Der Ogier zerrte sich Hurin auf den breiten Rucken. Die Arme und Beine des Schnüfflers hingen zu beiden Seiten herunter. Von der Decke her ertönte ein weiteres lautes Knacken. »Mach schnell, Rand.«

»Geh, Loial! Geh, ich komme nach.«

Der Ogier kroch mit seiner Last in den Flur hinaus, und Rand wollte ihm schon folgen. Dann hielt er aber inne, als er die Verbindungstür zu seinem Zimmer sah. Die Flagge war immer noch dort drinnen. Das Drachenbanner. Laß sie doch verbrennen, dachte er, und der antwortende Gedanke kam prompt, als höre er ihn von Moiraine: Dein Leben könnte davon abhängen. Sie will mich immer noch benützen. Dein Leben könnte davon abhängen. Aes Sedai lügen nie.

Ächzend rollte er sich über den Boden und trat die Tür zu seinem Zimmer auf. Der andere Raum war von Flammen erfüllt. Das Bett wirkte wie ein Sonnwendfeuer. Rote Zungen leckten bereits über den Boden. Dort konnte er nicht weiterkriechen. Er stand auf und rannte geduckt in das Zimmer. Er zuckte vor der Hitze zurück, keuchte und erstickte fast. Sein nasser Mantel dampfte. Eine Seitenwand des Kleiderschranks brannte schon. Er riß die Tür auf. Drinnen lagen seine Satteltaschen, bisher noch vom Feuer verschont. Die eine war ausgebeult, wo die Flagge Lews Therin Telamons steckte, und der hölzerne Flötenkasten lag daneben. Einen Moment lang zögerte er. Ich kann sie immer noch verbrennen lassen. Die Decke über ihm ächzte. Er packte die Satteltaschen und den Flötenkasten und warf sich durch die Tür zurück. Er landete auf den Knien, während brennende Dachbalken auf die Stelle herunterkrachten, an der er eben noch gestanden hatte. Er schleifte seine Last hinter sich her und kroch in den Flur. Der Fußboden wurde vom Aufprall weiterer herunterstürzender Balken erschüttert.

Die Männer mit den Eimern waren weg, als er die Treppe erreichte. Er rutschte vor Hast beinahe bis zum nächsten Absatz hinunter, rappelte sich hoch und rannte durch das mittlerweile leere Gebäude auf die Straße hinaus. Die Zuschauer starrten ihn neugierig an. Sein Gesicht war schwarz und der Mantel rußbedeckt, aber er taumelte hinüber zu Loial, der Hurin an die Mauer des gegenüberliegenden Hauses gelehnt hatte. Eine Frau aus der Menge wischte Hurins Gesicht mit einem feuchten Tuch ab, doch seine Augen waren noch geschlossen, und der Atem kam unregelmäßig.

»Gibt es hier keine Seherin?« wollte Rand wissen. »Er braucht Hilfe.« Die Frau sah ihn verständnislos an, und er bemühte sich, sich an die anderen Bezeichnungen zu erinnern, mit denen die Menschen solche Frauen bezeichneten, die in den Zwei Flüssen Seherinnen gewesen wären. »Eine Weise Frau? Eine Frau, die ihr Mutter soundso nennt? Eine Frau, die sich mit Kräutern und Heilkunst auskennt?«

»Ich bin Leserin, falls Ihr das meint«, sagte die Frau, »aber alles, was ich für den hier tun kann, ist, ihm Linderung zu verschaffen. Ich fürchte, in seinem Kopf ist etwas gebrochen.«

»Rand! Du bist es tatsächlich!«

Rand fuhr herum. Es war Mat, der mit dem Bogen auf dem Rücken sein Pferd durch die Menge führte. Ein Mat mit blassem und eingefallenem Gesicht, aber immer noch Mat, und er grinste sogar schwach. Hinter ihm kam Perrin. Seine gelben Augen leuchteten im Feuerschein und zogen genausoviele Blicke an wie die Flammen. Und Ingtar, der einen Mantel mit steifem Kragen statt der Rüstung trug, stieg nun ebenfalls vom Pferd. Der Griff seines Schwertes ragte aber wie immer über seinen Schultern hervor.

Rand fühlte, wie ihn ein Schauer überlief. »Es ist zu spät«, sagte er zu ihnen. »Ihr seid zu spät gekommen.« Und dann setzte er sich auf die Straße und fing an zu lachen.

Загрузка...