16 Im Spiegel der Dunkelheit

»Das hättet Ihr nicht tun sollen, Lord Rand«, sagte Hurin, als Rand die anderen bei Tagesanbruch weckte. Die Sonne versteckte sich noch hinter dem Horizont, aber es gab bereits genug Licht, um alles zu erkennen. Die Nebel hatte sich noch während der Dunkelheit zögernd verzogen. »Wenn Ihr Euch schädigt, um uns zu schonen, wer wird dann dafür sorgen, daß wir wieder nach Hause kommen?«

»Ich mußte nachdenken«, sagte Rand. Nichts deutete darauf hin, daß es je Nebel gegeben hatte und daß Ba'alzamon dagewesen war. Er betastete das Taschentuch, das um seine rechte Hand gewickelt war. Das bewies: Ba'alzamon war wirklich dagewesen. Er wollte weg von diesem Ort. »Zeit zum Aufsitzen, wenn wir Fains Schattenfreunde finden wollen. Höchste Zeit. Wir können unser Fladenbrot beim Reiten essen.«

Loial, der sich gerade streckte, wobei seine Arme so hoch hinaufreichten, wie Hurin groß gewesen wäre, wenn er sich auf Rands Schultern gestellt hätte, hielt inne. »Deine Hand, Rand. Was ist passiert?«

»Ich habe mich verletzt. Es ist weiter nichts.«

»Ich habe eine Salbe in meinen Satteltaschen... «

»Es ist weiter nichts!« Rand wußte, daß es grob klang, aber ein Blick auf seine Hand hätte zu Fragen geführt, die er nicht beantworten wollte. »Wir dürfen keine Zeit verschwenden. Reiten wir los!« Er machte sich daran, den Braunen zu satteln, ungeschickt mit seiner verletzten Hand, und Hurin begab sich zu seinem eigenen Pferd.

»Deswegen mußt du doch nicht so empfindlich sein«, murrte Loial.

Eine Spur, so dachte Rand beim Aufbruch, wäre in dieser Welt doch etwas ganz Natürliches. Es gab schon zu viele unnatürliche Dinge hier. Selbst ein einziger Hufabdruck wäre willkommen gewesen. Fain und die Schattenfreunde und die Trollocs mußten doch irgendeine Spur hinterlassen. Er konzentrierte sich darauf, beim Reiten den Boden genau zu betrachten und nach jeder möglichen Spur zu suchen, die ein anderes lebendes Wesen hinterlassen haben mochte.

Er fand nichts, weder einen weggestoßenen Stein noch einen herausgerissenen Erdklumpen. Einmal betrachtete er den Boden hinter ihnen, nur um sicherzugehen, daß sich Hufabdrücke darauf auch wirklich abzeichneten. Aufgerissene Erde und niedergedrücktes Gras zeigten deutlich, wo sie geritten waren, doch der Boden vor ihnen wies keinerlei Spuren auf. Aber Hurin bestand darauf, er könne die Spur riechen. Sie sei schwach und dünn, aber sie führe immer noch nach Süden.

Erneut konzentrierte sich der Schnüffler ausschließlich darauf, der Spur zu folgen, wie ein Hund der Fährte eines Hirsches, und Loial ritt gedankenverloren dahin, sprach mit sich selbst und streichelte den riesigen Bauernspieß, den er vor sich über den Sattel gelegt hatte.

Sie waren kaum eine Stunde geritten, da sah Rand die Säule. Er war so damit beschäftigt, den Boden nach Spuren abzusuchen, daß die hochaufragende Säule bereits deutlich hinter den Bäumen sichtbar war, als er sie bemerkte. »Ich wüßte gern, was das ist.« Sie lag direkt an ihrem Weg.

»Ich weiß nicht, was es sein kann, Rand«, sagte Loial. »Wenn das hier... Wenn das unsere Welt wäre, Lord Rand... « Hurin rutschte unsicher im Sattel hin und her. »Also, dieses Monument, von dem Lord Ingtar sprach —das man für Artur Falkenflügels Sieg über die Trollocs errichtet hat —, war eine hohe Säule. Aber sie wurde vor tausend Jahren abgerissen. Es ist nichts davon übriggeblieben als eine große Erhebung, ein Hügel. Ich habe ihn gesehen, als ich für Lord Agelmar nach Cairhien ritt.«

»Laut Ingtar«, sagte Loial, »liegt er noch drei oder vier Tagesritte vor uns. Falls er hier überhaupt existiert. Ich sehe keinen Grund, warum es so sein sollte. Ich glaube nicht, daß es hier überhaupt Menschen gibt.«

Der Schnüffler wandte den Blick wieder dem Boden zu. »Das ist es ja gerade, oder, Erbauer? Keine Menschen, und doch befindet es sich dort vor uns. Vielleicht sollten wir uns davon fernhalten, Lord Rand. Man kann nie wissen, was es ist oder wer dort ist, wenn man sich an einem Ort wie diesem befindet.«

Rand trommelte ein Weilchen nachdenklich mit den Fingern auf das Sattelhorn vor ihm. »Wir müssen so nahe bei der Spur bleiben wie möglich«, sagte er schließlich. »Wir scheinen Fain auch so schon kaum näher zu kommen, und ich will nicht noch mehr Zeit verlieren, wenn ich es vermeiden kann. Wenn wir irgendwelche Menschen oder etwas Außergewöhnliches sehen, machen wir einen Bogen darum, bis wir die Spur wiederfinden. Aber bis dahin reiten wir so weiter.«

»Wie Ihr wollt, Lord Rand.« Der Schnüffler klang eigenartig berührt und sah Rand kurz von der Seite her an. »Wie Ihr wollt.«

Rand runzelte die Stirn, doch dann verstand er. Nun war es an ihm, zu seufzen. Ein Lord pflegte seinen Gefolgsleuten nichts zu erklären — nur anderen Lords. Ich habe ihn nicht darum gebeten, mich für einen blutigen Lord zu halten. Aber er hat es getan, schien ihm ein schwaches Stimmchen zu antworten, und du hast es zugelassen. Die Wahl lag bei dir, und nun liegt die Pflicht auch bei dir. »Nimm die Spur auf, Hurin«, bat Rand.

Unter dem Aufblitzen eines erleichterten Lächelns trieb der Schnüffler sein Pferd an.

Die blasse Sonne stieg empor, während sie weiterritten, und als sie hoch über ihnen stand, befanden sie sich nur noch ungefähr eine Meile von der Säule entfernt. Sie hatten einen der Bäche erreicht, der in einer etwa einen Schritt tiefen Rinne dahinfloß, und es wuchsen nur spärlich Bäume zwischen dem Bach und der Säule. Rand konnte den Hügel erkennen, auf dem sie errichtet worden war. Er war rund, mit einer abgeflachten Spitze. Die graue Säule selbst war mindestens hundert Spannen hoch, und nun konnte er gerade erkennen, daß sich auf der Spitze ein in Stein gehauener Vogel mit ausgebreiteten Schwingen befand. »Ein Falke«, sagte Rand. »Es ist tatsächlich Falkenflügels Siegessäule. Es muß so sein. Es waren einst Menschen hier, gleichgültig, ob es heute noch welche gibt oder nicht. Denk nur, Hurin, wenn wir zurückkommen, kannst du erzählen, wie die Siegessäule wirklich aussah. Es wird nur uns drei Menschen auf der ganzen Welt geben, die sie je gesehen haben.«

Hurin nickte. »Ja, Lord Rand. Meine Kinder würden bestimmt gern die Geschichte hören, wie ihr Vater Falkenflügels Säule gesehen hat.«

»Rand...«, begann Loial besorgt.

»Wir können den Rest des Wegs galoppieren«, sagte Rand. »Kommt schon. Ein Galopp wird uns guttun. Dieser Ort mag tot sein, aber wir leben.«

»Rand«, sagte Loial, »ich glaube nicht, daß dies ein... «

Rand wartete nicht ab, um den Rest des Satzes zu hören, sondern hieb dem Braunen die Fersen in die Flanken, und der Hengst galoppierte los. In zwei Sätzen platschte er durch den seichten Wasserstreifen und erklomm das andere Ufer. Hurin hielt sein Pferd dicht bei ihm. Rand hörte, wie Loial von hinten etwas rief, aber er lachte, winkte dem Ogier zu, er solle folgen, und galoppierte weiter. Wenn er seinen Blick immer auf den gleichen Fleck richtete, schien die Landschaft nicht so schlimm abzukippen und vorbeizugleiten, und es tat gut, den Wind im Gesicht zu fühlen.

Der Basishügel bedeckte eine Fläche von gut zweihundert auf hundert Schritt, aber der grasbewachsene Abhang wies nur eine sanfte Neigung auf. Die graue Säule ragte viereckig und mächtig genug in den Himmel, um einen Eindruck von Erhabenheit zu erwecken. Und doch wirkte sie beinahe gedrungen und zu niedrig. Rands Lachen erstarb, und er brachte den Braunen mit grimmiger Miene zum Stehen.

»Ist das Falkenflügels Siegessäule, Lord Rand?« fragte Hurin unsicher. »Irgendwie wirkt sie nicht so.«

Rand erkannte die harte winklige Schrift, die die Oberfläche des Monuments bedeckte, und er erkannte einige der Symbole, die mannshoch in die Seiten des Sockels eingemeißelt waren. Der gehörnte Schädel der Da'vol-Trollocs. Die eiserne Faust der Dhai'mon. Der Dreizack der Ka'bol und der Wirbelwind der Ahf'frait. Es gab auch einen Falken, ganz unten, gleich über dem Boden. Bei einer Flügelspannweite von zehn Schritt lag er auf dem Rücken, von einem Lichtblitz durchbohrt, und Raben pickten ihm die Augen aus. Die riesenhaften Schwingen oben auf der Säule schienen den Sonnenschein abzuhalten. Er hörte, wie Loial von hinten herangaloppierte. »Ich habe versucht, dir das zu sagen, Rand«, sagte Loial. »Das ist ein Rabe und kein Falke. Ich konnte ihn klar erkennen.« Hurin wandte sein Pferd und weigerte sich, die Säule noch länger anzublicken.

»Aber wieso?« fragte Rand. »Artur Falkenflügel errang hier einen großen Sieg über die Trollocs. Das hat Ingtar gesagt.«

»Hier nicht«, sagte Loial bedächtig. »Offensichtlich hier nicht. ›Von Stein zu Stein verlaufen die Linien des Möglichen zwischen den Welten, die sein könnten.‹ Ich habe darüber nachgedacht und glaube, ich weiß, was ›die Welten, die sein könnten‹ bedeutet. Vielleicht weiß ich es. Welten, zu denen unsere Welt geworden wäre, hätten sich die Dinge nicht anders ergeben. Vielleicht wirkt deshalb hier alles so — ausgebleicht. Weil es ein ›Wenn‹ ist, ein ›Vielleicht‹. Nur der Schatten einer wirklichen Welt. In dieser Welt, glaube ich, haben die Trollocs gewonnen. Möglicherweise haben wir deshalb keine Dörfer und Menschen gesehen.«

Rand lief es kalt über den Rücken. Wenn die Trollocs gewannen, ließen sie keinen Menschen am Leben, außer als Nahrung. Wenn sie auf einer Welt ganz und gar gewonnen hatten... »Wenn die Trollocs gewonnen hätten, wären sie doch überall. Wir hätten jetzt schon tausend von ihnen gesehen. Wir wären bereits seit gestern tot.«

»Ich weiß nicht, Rand. Vielleicht haben sie nach den Menschen sich gegenseitig umgebracht. Trollocs müssen einfach töten. Das ist alles, was sie können, alles, was sie sind. Ich weiß einfach nicht... «

»Lord Rand«, fiel ihm Hurin ins Wort, »dort drunten hat sich etwas bewegt.«

Rand riß sein Pferd herum und war darauf vorbereitet, angreifende Trollocs zu entdecken, aber Hurin deutete nach hinten, den Weg zurück, den sie gekommen waren. Es war nichts zu sehen. »Was hast du gesehen, Hurin?

Wo?«

Der Schnüffler ließ den Arm fallen. »Ganz am Ende dieser Baumgruppe dort, ungefähr eine Meile entfernt. Ich glaubte, es ist — eine Frau... und noch etwas, das ich nicht erkennen konnte, aber... « Er schauderte. »Es ist so schwer, hier Dinge zu erkennen, die man nicht gerade vor der Nase hat. Aaah, dieser Ort verschafft mir eine Darmverschlingung. Vielleicht bilde ich mir nur alles ein, Lord Rand. Hier kann man wirklich Wahnvorstellungen bekommen.« Er saß da mit eingezogenen Schultern, als stemme er sich gegen das Gewicht der Säule. »Kein Zweifel, es war nur der Wind, Lord Rand.«

Loial sagte: »Ich fürchte, wir sollten außerdem noch etwas anderes beachten.« Er klang wieder besorgt. Er deutete nach Süden. »Was seht Ihr dort hinten?«

Rand sah mit zusammengekniffenen Augen hinüber, denn entfernte Dinge schienen schon wieder auf ihn zuzugleiten. »Eine Landschaft wie die, die wir gerade durchquert haben. Bäume. Dann ein paar Hügel und Berge. Sonst nichts. Worauf willst du hinaus?«

»Die Berge«, seufzte Loial. Die Haarbüschel an seinen Ohren hingen herunter, und die Enden seiner Augenbrauen befanden sich auf seinen Wangen. »Das muß Brudermörders Dolch sein, Rand. Es gibt keinen anderen Berg, der hier stehen könnte, sonst wäre diese Welt grundlegend verschieden von unserer. Aber Brudermörders Dolch liegt mehr als zweihundert Meilen südlich des Erinin. Sogar noch um einiges mehr. Man kann Entfernungen hier nur schwer einschätzen, aber... Ich glaube, wir können vor Anbruch der Dunkelheit dort sein.« Er mußte nicht mehr sagen. Sie hätten in weniger als drei Tagen wohl kaum mehr als zweihundert Meilen zurücklegen können.

Ohne nachzudenken, murmelte Rand: »Vielleicht ist dieser Ort wie die Kurzen Wege.« Er hörte Hurin stöhnen und bedauerte sofort, seine Zunge nicht im Zaum gehalten zu haben.

Es war kein angenehmer Gedanke. Betritt eines der Wegetore — man konnte sie gleich außerhalb von Ogier-Steddings und in den Hainen der Ogier finden —, und du kannst die Wege wieder durch ein anderes Tor verlassen und bist zweihundert Meilen von deinem Ausgangspunkt entfernt. Heutzutage waren die Wege düster und schlimm, und sie zu durchqueren bedeutete, daß man sein Leben und seinen Verstand riskierte. Selbst die Blassen fürchteten sich davor, die Kurzen Wege zu benützen.

»Falls es so ist, Rand«, fragte Loial nachdenklich, »kann dann auch hier ein falscher Schritt zum Verhängnis werden? Gibt es Dinge, die wir noch nicht gesehen haben, die mehr können, als uns nur zu töten?« Hurin stöhnte wieder auf.

Sie hatten das fade Wasser getrunken und waren dahingeritten, als hätten sie keinerlei Sorgen. Sorglosigkeit konnte einen auf den Kurzen Wegen ganz schnell töten. Rand schluckte und hoffte, sein Magen werde sich rasch wieder beruhigen.

»Es ist zu spät, sich darüber Gedanken zu machen, was hinter uns liegt«, sagte er. »Allerdings werden wir von nun an besser achtgeben.« Er sah Hurin an. Der Schnüffler hatte den Kopf eingezogen, und sein Blick huschte unstet umher, als fürchte er, daß sich von irgendwoher etwas auf ihn stürzen könne. Der Mann hatte Mörder verfolgt, aber das hier war mehr, als er ertragen konnte. »Nimm dich zusammen, Hurin. Wir sind noch nicht tot, und wir werden auch nicht sterben. Wir müssen nur etwas vorsichtiger sein. Das ist alles.«

Genau in diesem Augenblick hörten sie den dünnen, weit entfernten Schrei.

»Eine Frau!« sagte Hurin. Selbst diese Art von Normalität schien seine Lebensgeister wieder ein wenig zu wecken. »Ich wußte doch, daß ich... «

Ein weiterer Schrei ertönte, diesmal noch verzweifelter als der erste.

»Nur wenn sie fliegen kann«, sagte Rand. »Sie befindet sich südlich von uns.« Er trat den Braunen und jagte ihn mit zwei Sätzen in den gestreckten Galopp.

»Du hast gesagt, wir müßten vorsichtig sein!« rief Loial ihm nach. »Licht, Rand, denk daran! Sei vorsichtig!«

Rand lag nun auf dem Rücken des Braunen und ließ den Hengst laufen. Die Schreie zogen ihn an. Es war einfach, ihm zu raten, er solle vorsichtig sein, aber in dieser Frauenstimme lag blankes Entsetzen. Sie klang nicht so, als hätte er Zeit, sich vorsichtig zu verhalten. Am Rand eines Bachbettes, das tiefer eingeschnitten war als die anderen, hielt er sein Pferd an. Es kam in einem Schauer von Steinchen und Schmutz zum Stehen. Die Schreie kamen — von dort.

Mit einem Blick erfaßte er die Situation. Vielleicht zweihundert Schritt entfernt stand die Frau neben ihrem Pferd im Bachbett, den Rücken der gegenüberliegenden Uferböschung zugewandt. Mit einem abgebrochenen Ast wehrte sie sich gegen ein knurrendes — Etwas. Rand schluckte. Einen Moment lang war er völlig überrascht. Falls ein Frosch die Größe eines Bären oder ein Bär die graugrüne Haut eines Frosches haben könnte, hätte er in etwa so ausgesehen. Ein großer Bär.

Er zwang sich, nicht an dieses Geschöpf zu denken, sprang vom Pferd und spannte seinen Bogen. Wenn er sich die Zeit nähme, näher heranzureiten, wäre es vielleicht zu spät. Die Frau konnte sich kaum noch das —Ding mit dem Ast vom Leibe halten. Die Entfernung war beträchtlich; er blinzelte immer wieder, während er versuchte, das Ziel richtig einzuschätzen; mit jeder Bewegung des Dinges schien sich die Entfernung allerdings gleich um Spannen zu verändern — aber es war ja eine große Zielscheibe. Es war schwierig, mit der bandagierten Hand an der Sehne zu ziehen, aber der erste Pfeil flog schon, als er noch kaum die Füße auf dem Boden hatte.

Der Pfeil bohrte sich tief in die ledrige Haut; die Kreatur fuhr herum und blickte Rand an. Rand trat trotz der Entfernung einen Schritt zurück. Dieser riesige keilförmige Kopf gehörte zu keinem Tier, das er je gesehen hatte, genausowenig wie das breite schnabelförmige Maul mit den Hornlippen, an denen sich Widerhaken befanden, mit denen ohne weiteres Fleischstücke weggerissen werden konnten. Und das Ungeheuer hatte drei Augen, klein und wild, die von harten Wülsten umgeben waren. Der Körper spannte sich, sprang den Bach hinunter und mit großen, platschenden Sätzen auf ihn zu. Für Rands gestörtes Wahrnehmungsvermögen wirkte es, als seien manche dieser Sprünge doppelt so weit wie die anderen; dabei war er sicher, daß sie alle gleich lang waren.

»Ein Auge!« rief die Frau. Sie klang überraschend ruhig, wenn man an ihre vorherigen Schreie dachte. »Ihr müßt ein Auge treffen, um das Biest zu töten!«

Er zog die Sehne mit einem weiteren Pfeil bis ans Ohr zurück. Zögernd suchte er das Nichts; er wollte eigentlich nicht, aber schließlich hatte es Tam ihm gerade für diesen Zweck beigebracht, und er wußte, daß der Schuß ohne die Hilfe des Nichts fehlgehen würde. Mein Vater, dachte er mit einem Gefühl des Bedauerns, und dann erfüllte ihn die Leere. Der flackernde Lichtschein von Saidin war auch da, aber er beachtete ihn nicht. Er war eins mit dem Bogen, mit dem Pfeil, mit der monströsen Gestalt, die auf ihn zujagte. Eins mit dem winzigen Auge. Er fühlte nicht einmal, wie der Pfeil die Sehne verließ.

Die Kreatur richtete sich zu einem weiteren Satz auf, und in diesem Augenblick traf der Pfeil das mittlere Auge. Das Ding landete auf allen vieren. Wasser und Schlamm spritzten auf. Wellen breiteten sich um die Kreatur aus, aber sie bewegte sich nicht mehr.

»Ein guter und mutiger Schuß!« rief die Frau. Sie saß auf ihrem Pferd und ritt auf ihn zu. Rand war überrascht, daß sie nicht davongerannt war, als die Aufmerksamkeit des Dinges von ihr abgelenkt wurde. Sie ritt an dem Ungeheuer vorbei, das im Todeskampf zuckte, ohne auch nur hinunterzublicken, ließ ihr Pferd die Böschung erklimmen und stieg ab. »Nur wenige Männer hätten den Mut, sich dem Angriff eines Grolms zu stellen, Herr.«

Sie war weiß gekleidet. Ihr Kleid war zum Reiten geschlitzt, von einem silbernen Gürtel zusammengehalten, und die Stiefel, die unter dem Saum hervorlugten, waren mit Silber verziert. Sogar der Sattel war weiß mit Silberknöpfen. Ihre Schimmelstute mit dem edel gekrümmten Hals und dem spielerischen Schritt war beinahe so hochrahmig wie Rands Hengst. Aber alles, was er in diesem Moment sah, war die Frau selbst. Sie war etwa so alt wie Nynaeve, vermutete er. Zum einen war sie groß — noch eine Handspanne mehr, und sie hätte ihm direkt in die Augen sehen können. Zum anderen war sie schön. Ihre elfenbeinblasse Haut bildete einen scharfen Kontrast zu dem nachtdunklen langen Haar und den schwarzen Augen. Er hatte andere schöne Frauen gesehen. Moiraine war schön, wenn auch auf eine kühle Art, und auch Nynaeve sah schön aus, wenn sie nicht gerade einen Wutausbruch erlitt. Egwene und Elayne, die TochterErbin von Andor, waren beide schön genug, um einem Mann den Atem stocken zu lassen. Doch diese Frau... Die Zunge klebte ihm am Gaumen, und er fühlte, wie sein Herz zu klopfen begann. »Euer Gefolge, Herr?«

Überrascht blickte er sich um. Hurin und Loial waren angekommen. Hurin sah sie genauso an, wie Rand es von sich selbst vermutete, und sogar der Ogier schien fasziniert. »Meine Freunde«, sagte er. »Loial und Hurin. Ich heiße Rand. Rand al'Thor.«

»Ich habe noch niemals darüber nachgedacht«, sagte Loial, und es klang, als spräche er zu sich selbst, »aber wenn es etwas wie die vollkommene menschliche Schönheit gibt, Gesicht und Gestalt, dann seid Ihr... «

»Loial!« rief Rand. Die Ohren des Ogier versteiften sich vor Verlegenheit. Rands Ohren waren rot angelaufen. Loials Worte hatten zu genau dem entsprochen, was er selbst empfand.

Die Frau lachte melodiös, doch im nächsten Augenblick hatte sie ihre edle Haltung wiedergewonnen und wirkte wie eine Königin auf ihrem Thron. »Man nennt mich Selene«, sagte sie. »Ihr habt Euer Leben riskiert und meines gerettet. Ich gehöre Euch, Lord Rand al'Thor.« Und zu Rands Entsetzen kniete sie vor ihm nieder.

Er sah Hurin und Loial nicht an und zog sie hastig wieder auf die Beine. »Ein Mann, der nicht bereit ist, für eine Frau zu sterben, ist kein Mann.« Sofort beschämte er sich selbst, indem er rot wurde. Es war eine Redensart der Schienarer, und er wußte schon, daß sie allzu pompös klang, bevor die Worte noch seinen Mund verlassen hatten, aber ihr Gebaren hatte ihn angesteckt, und er konnte sich nicht zurückhalten. »Ich meine... Das heißt, es war...« Narr, du kannst doch einer Frau nicht sagen, es sei nichts, ihr Leben gerettet zu haben. »Es war mir eine Ehre.« Das klang in etwa schienarisch und auch höflich. Er hoffte, dies sei die richtige Antwort gewesen. Ansonsten war sein Verstand wie leergefegt, als befände er sich noch im Nichts.

Plötzlich wurde er sich ihres Blickes bewußt, der auf ihm ruhte. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert, aber unter ihren dunklen Augen fühlte er sich nackt. Unbewußt stellte er sich Selene ebenfalls nackt vor. Wieder errötete er. »Äh! Äh, wo kommt Ihr her, Selene? Seit wir hier sind, haben wir noch kein menschliches Wesen getroffen. Wohnt Ihr in einer nahen Stadt?« Sie sah ihn nachdenklich an, und er trat einen Schritt zurück. Ihr Blick machte ihm ihre körperliche Nähe zu deutlich bewußt.

»Ich komme nicht von dieser Welt, Herr«, sagte sie. »Hier gibt es keine Menschen. Nichts lebt hier außer den Grolm und ähnlichen Kreaturen. Ich komme aus Cairhien. Und wie ich hierherkam, weiß ich nicht genau. Ich war ausgeritten und hielt an, um ein wenig zu schlafen. Als ich aufwachte, befanden sich mein Pferd und ich hier. Ich kann nur hoffen, Herr, daß Ihr mich erneut rettet und mir helft, wieder nach Hause zu kommen.«

»Selene, ich bin kein... Das heißt, nennt mich doch bitte Rand.« Seine Ohren waren schon wieder heiß. Licht, es schadet niemandem, wenn sie mich für einen Lord hält. Seng mich, das schadet doch nicht!

»Wenn Ihr wünscht... Rand.« Ihr Lächeln schnürte ihm den Hals zusammen. »Ihr werdet mir helfen?«

»Natürlich werde ich das.« Seng mich, sie ist so schön. Und sie sieht mich an wie einen Helden aus einer Sage. Er schüttelte den Kopf, um ihn von solch närrischen Gedanken zu befreien. »Aber zuerst müssen wir die Männer finden, denen wir folgen. Ich werde mich bemühen, Euch vor aller Gefahr zu bewahren, aber wir müssen sie finden. Mit uns zu kommen ist besser für Euch, als allein hierzubleiben.«

Einen Augenblick lang schwieg sie. Ihr Gesicht wirkte ausdruckslos, die Züge waren glatt. Rand hatte keine Ahnung, was sie überlegte, außer daß sie ihn erneut genau zu mustern schien. »Ein pflichtbewußter Mann«, sagte sie schließlich. Ein leichtes Lächeln verzog ihre Lippen. »Das mag ich. Ja. Wer sind diese Übeltäter, denen Ihr folgt?«

»Schattenfreunde und Trollocs, Lady«, platzte Hurin heraus. Er verbeugte sich ungeschickt im Sattel. »Sie begingen Morde in der Festung von Fal Dara und stahlen das Horn von Valere, Lady, aber Lord Rand wird es wieder zurückholen.«

Rand sah den Schnüffler vorwurfsvoll an. Hurin grinste schwach. Alle Geheimhaltung dahin! Hier spielte das vielleicht keine große Rolle, dachte er sich, aber wenn sie wieder in ihrer eigenen Welt wären... »Selene, Ihr dürft niemandem von dem Horn erzählen. Wenn es herauskommt, haben wir hundert Leute auf den Fersen, die das Horn auch suchen, aber für sich selbst.«

»Nein, das darf niemals sein«, sagte Selene. »Das darf nicht in die falschen Hände fallen. Das Horn von Valere. Ich kann Euch gar nicht sagen, wie oft ich davon geträumt habe, es zu berühren, es in Händen zu halten. Ihr müßt mir versprechen, daß ich es berühren darf, wenn Ihr es habt.«

»Bevor ich dazu in der Lage bin, müssen wir es erst finden. Wir sollten jetzt besser aufbrechen.« Rand bot ihr die Hand zum Aufsteigen, und Hurin kletterte herab, um ihr den Steigbügel zu halten. »Was das auch für ein Ding gewesen sein mag, das ich tötete — ein Grolm? —, es könnten noch mehr davon in der Gegend sein.« Ihr Griff war fest und überraschend kräftig, und ihre Haut war —Seide? Etwas noch Weicheres, Glatteres. Rand überlief es kalt.

»Mit einem Grolm ist immer zu rechnen«, sagte Selene. Die große weiße Stute scheute und bleckte die Zähne zu Rands Braunem hin, aber Selenes Griff an den Zügeln beruhigte sie.

Rand hing sich den Bogen über und stieg auf den Braunen. Licht, wie kann denn Haut so zart sein? »Hurin, wo ist die Spur? Hurin? Hurin!« Der Schnüffler fuhr zusammen und hörte auf, Selene anzugaffen. »Ja, Lord Rand. Äh... die Spur. Nach Süden, Lord Rand. Immer noch nach Süden.«

»Dann also los.« Rand sah unsicher hinüber zu dem graugrünen mächtigen Körper des Grolms, der im Bachbett lag. Es war schöner gewesen, sich vorzustellen, sie wären die einzigen Lebewesen auf dieser Welt. »Nimm die Spur auf, Hurin!«

Zuerst ritt Selene neben Rand und plauderte mit ihm über dies und das, stellte ihm Fragen und nannte ihn Lord. Mehrmals wollte er ihr sagen, er sei kein Lord, nur ein Schäfer, aber jedesmal, wenn er sie ansah, blieben ihm die Worte im Hals stecken. Eine Lady wie sie spräche nicht mit einem Schäfer, da war er sicher, nicht einmal mit einem Schäfer, der ihr Leben gerettet hatte.

»Ihr werdet ein großer Mann sein, wenn Ihr das Horn von Valere gewonnen habt«, sagte sie zu ihm. »Ein Mann, aus dem eine Legende wird. Der Mann, der das Horn bläst, wird seine eigenen Legenden erschaffen.«

»Ich will es nicht blasen, und ich will auch kein Teil irgendeiner Legende sein.« Er wußte nicht, ob sie ein Parfüm benutzte, aber sie schien von einem Duft umgeben, der seine Sinne verwirrte und ihm den Kopf mit eigenartigen Gedanken erfüllte. Gewürze, gleichzeitig scharf und süß, kitzelten ihn in der Nase, und er schluckte.

»Jeder will ein großer Mann sein. Ihr könntet der größte Mann aller Zeitalter werden.«

Das klang zu sehr nach Moiraines Worten. Der Wiedergeborene Drache würde aus den Zeitaltern herausragen. »Ich doch nicht!« rief er leidenschaftlich. »Ich bin nur dabei, das Horn zu suchen. Und einem Freund zu helfen.«

Sie schwieg für einen Moment und sagte dann: »Ihr habt Euch die Hand verletzt.«

»Es ist nichts.« Er wollte schon die verwundete Hand in die Manteltasche stecken — sie schmerzte stark, weil er die Zügel zu fest gehalten hatte —, da griff sie herüber und nahm seine Hand in die ihre.

Er war so überrascht, daß er es zuließ, und dann hatte er nur die Wahl, sie ihr entweder grob zu entreißen oder zuzulassen, daß sie das Taschentuch entfernte. Ihre Berührung wirkte kühl und sicher. Seine Handfläche war in einem bösartigen Rotton angelaufen und geschwollen, aber der Reiher zeichnete sich klar und deutlich ab.

Sie berührte das eingebrannte Zeichen mit einem Finger, sagte aber nichts und fragte nicht einmal, wie er dazu gekommen war. »Ihr könntet eine steife Hand davontragen, falls sich niemand darum kümmert. Ich habe eine Salbe, die helfen wird.« Sie nahm eine kleine Steinflasche aus einer Innentasche ihres Umhangs, zog den Stöpsel heraus und rieb ihm sanft eine weiße Flüssigkeit auf die Handfläche und die Brandwunde, während sie weiterritten.

Die Salbe fühlte sich erst kühl an, schien sich dann aber zu erwärmen und in sein Fleisch einzudringen. Und sie wirkte genausogut, wie Nynaeves Salben es manchmal taten. Er blickte erstaunt auf seine Hand, als die Röte verflog und die Schwellung unter ihren sanft massierenden Fingern zurückging.

»Einige Männer«, sagte sie, ohne den Blick von seiner Hand zu wenden, »entscheiden sich dafür, den Ruhm zu suchen, während er anderen aufgezwungen wird. Es ist immer besser, freiwillig diesen Weg zu gehen als gezwungenermaßen. Ein Mann, der in diese Rolle gezwungen wird, ist niemals ganz sein eigener Herr. Er wird von denen, die ihn hineinzwingen, als Marionette benutzt.«

Rand entzog ihr seine Hand. Die Brandwunde sah aus, als sei sie mindestens eine Woche alt, und war schon fast verheilt. »Was meint Ihr damit?« wollte er wissen.

Sie lächelte ihn an, und er schämte sich ob seines Ausbruchs. »Na, das Horn natürlich«, sagte sie ruhig. Dann steckte sie die Salbe weg. Ihre Stute, die neben Rands Braunem herschritt, war so groß, daß sich Selenes Augen nur wenig unter Rands Augenhöhe befanden. »Wenn Ihr das Horn von Valere findet, könnt Ihr dem Ruhm nicht entrinnen. Wird er Euch dann aufgezwungen oder werdet Ihr Euch ihm freiwillig hingeben? Das ist die Frage.«

Er öffnete und schloß die Hand probeweise. Sie klang sosehr wie Moiraine. »Seid Ihr eine Aes Sedai?«

Selenes Augenbrauen hoben sich. Ihre dunklen Augen funkelten ihn an, aber ihre Stimme klang sanft. »Aes Sedai? Ich? Nein.«

»Ich wollte Euch nicht kränken. Es tut mir leid.«

»Mich kränken? Ich bin nicht gekränkt, aber ich bin keine Aes Sedai.« Ihre Lippen verzogen sich spöttisch, und selbst das sah schön aus. »Sie hocken in ihrer vermeintlichen Sicherheit, obwohl sie soviel tun könnten. Sie dienen, obwohl sie herrschen könnten, und sie lassen die Männer Kriege ausfechten, während sie Ruhe und Ordnung in die Welt bringen könnten. Nein, nennt mich niemals Aes Sedai!« Sie lächelte und legte die Hand auf seinen Arm, um ihm zu zeigen, daß sie sich nicht geärgert hatte. Bei ihrer Berührung mußte er schlucken. Er war erleichtert, als sie ihre Stute verhielt und dann neben Loial weiterritt. Hurin nickte ihr untertänig zu wie ein alter Diener der Familie.

Rand war erleichtert, aber er vermißte auch gleichzeitig ihre Gegenwart. Sie befand sich nur zwei Spannen entfernt, aber das war eben nicht das gleiche, wie wenn er sie direkt neben sich gehabt hätte, nahe genug, um ihren Duft zu spüren, nahe genug, sie zu berühren. Er drehte sich im Sattel um und sah nach ihr. Sie ritt neben Loial, und der Ogier hatte sich weit heruntergebeugt, um mit ihr zu sprechen. Rand setzte sich ärgerlich im Sattel zurecht. Es war ja nicht so, daß er sie unbedingt berühren wollte — er erinnerte sich an seine Liebe zu Egwene und hatte Schuldgefühle, weil er erst bewußt daran denken mußte — aber sie war so schön, und sie hielt ihn für einen Lord, und sie behauptete, er könne ein großer Mann werden. Er kämpfte in Gedanken mit sich selbst. Moiraine sagt auch, du kannst groß werden — der Wiedergeborene Drache. Selene ist keine Aes Sedai. Das stimmt; sie ist eine Adlige aus Cairhien, und du bist ein Schäfer. Das weiß sie doch nicht. Wie lange willst du sie noch mit einer Lüge täuschen? Nur so lange, bis wir von hier weg sind. Falls wir wegkommen. Falls. Damit beruhigten sich seine Gedanken und verfielen in mürrisches Schweigen.

Er bemühte sich, die Landschaft im Auge zu behalten. Wenn Selene behauptete, es gäbe mehr von diesen Dingern... diesen Grolmen... in der Gegend, dann glaubte er ihr. Hurin war zu sehr darauf konzentriert, die Spur zu wittern, um irgendeine Gefahr zu bemerken, und Loial war ganz in seine Unterhaltung mit Selene versunken, so daß er nichts sehen würde, bis es ihn in die Ferse bisse. Aber es war schwer, die Landschaft zu betrachten. Wenn er den Kopf zu schnell drehte, traten ihm die Tränen in die Augen. Ein Hügel oder ein Gehölz konnten, aus einem Winkel gesehen, eine Meile entfernt erscheinen, und aus einem anderen Blickwinkel waren sie nur ein paar hundert Spannen entfernt.

Die Berge kamen näher, das war sicher. Brudermörders Dolch, der nun hoch in den Himmel ragte, zeigte eine gezackte Reihe schneebedeckter Gipfel. Das Land rundum stieg bereits zu einer Hügelkette an, die die nahen Berge ankündigte. Sie würden den Saum der eigentlichen Berge noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen, vielleicht in einer Stunde. Mehr als dreihundert Meilen in weniger als drei Tagen. Noch schlimmer: Wir haben den größten Teil eines Tages südlich des Erinin noch in unserer eigenen Welt verbracht. Mehr als dreihundert Meilen also in weniger als zwei Tagen.

»Sie sagt, du hattest recht mit deinen Ansichten in bezug auf diesen Ort, Rand.«

Rand fuhr zusammen, denn er hatte nicht bemerkt, daß Loial zu ihm nach vorn aufgeschlossen hatte. Er sah sich nach Selene um und stellte fest, daß sie neben Hurin einherritt. Der Schnüffler grinste, nickte und legte beinahe bei jedem Wort die Faust vor die Stirn. Rand warf dem Ogier einen Seitenblick zu. »Ich bin überrascht, daß du nicht mehr an ihrer Seite bist, so wie ihr die Köpfe zusammengesteckt habt. Was meinst du damit: daß ich recht hatte?«

»Sie ist eine faszinierende Frau, nicht wahr? Einige der Ältesten wissen nicht so viel über Geschichte wie sie —besonders, was das Zeitalter der Legenden anbetrifft —und auch über... Ach, ja. Sie sagt, du hättest recht in bezug auf die Kurzen Wege, Rand. Die Aes Sedai, jedenfalls einige von ihnen, untersuchten Welten wie diese, und diese Untersuchung war die Grundlage für die Erschaffung der Wege. Sie sagt, es gebe Welten, wo die Zeit sich ändert und nicht die Entfernung. Verbring einen Tag in einer dieser Welten, und wenn du zurückkommst, ist in der wirklichen Welt möglicherweise ein Jahr vergangen oder vielleicht sogar zwanzig Jahre. Oder es könnte auch andersherum kommen. Diese Welten, diese und die anderen, sind Spiegelbilder der wirklichen Welt, sagte sie. Diese hier kommt uns blaß vor, weil sie nur ein schwaches Abbild darstellt, das kaum eine Gelegenheit hatte, jemals wahr zu werden. Andere sehen beinahe wie unsere eigene aus. Sie sind genauso greifbar wie unsere Welt, und es gibt dort auch Menschen. Dieselben Menschen, sagt sie, Rand. Stell dir das vor! Du könntest auf eine dieser Welten kommen und dir selbst begegnen! Das Muster hat unendliche viele Spielmöglichkeiten, und jede davon, die existieren kann, wird auch existieren.«

Rand schüttelte den Kopf und bereute es sofort, denn die Landschaft rückte vor und zurück, und es drehte ihm den Magen um. Er atmete tief durch. »Woher weiß sie das alles? Du weißt mehr als jeder, den ich zuvor kennengelernt habe, Loial, und alles, was du über diese Welt wußtest, war letztlich nicht mehr als ein Gerücht.«

»Sie kommt aus Cairhien, Rand. Die Königliche Bibliothek in Cairhien ist eine der größten der Welt, vielleicht die größte außerhalb von Tar Valon. Die Aiel haben sie mit Absicht verschont, als sie Cairhien niederbrannten. Sie würden kein Buch zerstören. Wußtest du, daß sie... «

»Die Aielmänner interessieren mich nicht«, sagte Rand hitzig. »Wenn Selene soviel weiß, dann hoffe ich, sie hat etwas darüber gelesen, wie wir von hier wieder weg und nach Hause kommen. Ich wünschte, Selene...«

»Was wünscht Ihr von Selene?« Die Frau lachte, als sie zu ihnen aufschloß.

Rand sah sie an, als sei sie monatelang weggewesen; jedenfalls empfand er es so. »Ich wünschte, Selene würde wieder eine Weile neben mir reiten«, sagte er. Loial schmunzelte, und Rand fühlte, wie sein Gesicht brannte. Selene lächelte und sah Loial an. »Entschuldigt Ihr uns, Alantin? «

Der Ogier verbeugte sich im Sattel und hielt sein großes Pferd zurück. Zögernd sanken die Haarbüschel an seinen Ohren herunter.

Eine Weile ritt Rand schweigend weiter und genoß einfach Selenes Gegenwart. Von Zeit zu Zeit warf er ihr einen verstohlenen Blick zu. Er hätte gern seine Gefühle ihr gegenüber etwas geordnet. Konnte sie, obwohl sie es abstritt, eine Aes Sedai sein? Vielleicht von Moiraine ausgeschickt, um ihn zu lenken, damit er das tat, was die Aes Sedai für ihn geplant hatten? Aber Moiraine hatte nicht wissen können, daß er in diese fremde Welt geraten würde, und keine Aes Sedai hätte versucht, sich dieses Ungeheuer mit einem Stock vom Leibe zu halten, während sie es doch mit Hilfe der Macht hätte töten oder in die Flucht schlagen können. Da sie ihn für einen Lord hielt und in Cairhien wohl niemand wußte, wer er wirklich war, hätte er sie ja weiterhin in dem Glauben lassen können. Sie war ganz sicher die schönste Frau, die er je gesehen hatte, intelligent und gebildet, und sie hielt ihn für tapfer. Noch mehr konnte ein Mann ja wohl kaum von einer Frau verlangen. Das ist doch verrückt! Wenn ich jemanden heirate, dann nur Egwene, aber ich kann eine Frau doch nicht bitten, einen Mann zu heiraten, der wahnsinnig wird und sie dann vielleicht in Gefahr bringt. Aber Selene war so schön!

Er bemerkte, daß sie sein Schwert betrachtete. Er legte sich daraufhin seine Worte im Kopf zurecht. Nein, er sei kein Schwertmeister, aber sein Vater habe ihm das Schwert verliehen. Tam. Licht, warum kannst du nicht wirklich mein Vater sein? Er verdrängte diesen Gedanken ganz schnell. »Das war ein großartiger Schuß«, sagte Selene.

»Nein, ich bin kein...«, begann Rand und blinzelte. »Ein Schuß?«

»Ja. Dieses Auge war ein winziges Ziel und bewegte sich auch noch. Dazu auf hundert Schritt Entfernung! Ihr seid ein einmaliger Bogenschütze.«

Rand rutschte nervös im Sattel umher. »Äh... danke. Das ist ein Trick, den mir mein Vater beigebracht hat.« Er erzählte ihr von dem Nichts und wie Tam ihn gelehrt hatte, es auf das Bogenschießen anzuwenden. Nach einer Weile wurde ihm bewußt, daß er sogar von Lan und seinen Übungsstunden mit dem Schwert erzählt hatte. »Das Einssein«, sagte sie, und es klang befriedigt. Sie bemerkte seinen fragenden Blick und fügte hinzu: »So wird es... an einigen Orten genannt. Das Einssein. Um es wirklich anwenden zu können, ist es am besten, Ihr hüllt Euch ständig darin ein und lebt praktisch darin, habe ich gehört.«

Er mußte nicht erst darüber nachdenken, was im Nichts auf ihn wartete, um seine Antwort zu kennen, aber er sagte trotzdem: »Ich werde darüber nachdenken.«

»Hüllt Euch die ganze Zeit über in Euer Nichts ein, Rand al'Thor, und Ihr werdet lernen, es noch auf ganz andere, nicht geahnte Weise anzuwenden.«

»Ich sagte, ich werde darüber nachdenken.« Sie öffnete erneut den Mund, aber er schnitt ihr das Wort ab: »Ihr wißt über das alles so gut Bescheid. Über das Nichts — das Einssein, wie Ihr es nennt. Über diese Welt. Loial liest die ganze Zeit Bücher; er hat mehr Bücher gelesen, als ich je gesehen habe. Aber er hat niemals mehr als nur das Fragment eines Textes über die Steinsäulen entdecken können.«

Selene richtete sich kerzengerade im Sattel auf. Plötzlich erinnerte sie ihn sehr an Moiraine und an Königin Morgase, wenn sie zornig waren.

»Es gab ein Buch über diese Welten«, sagte sie mit angespannter Stimme. »Spiegel des Rads. Wie Ihr seht, hat der Alantin nicht alle Bücher gesehen, die darüber existieren.«

»Was bedeutet diese Bezeichnung Alantin, die Ihr immer benutzt? Ich habe noch nie... «

»Der Portalstein, neben dem ich erwachte, liegt dort drüben«, sagte Selene. Sie deutete auf die Berge östlich des Weges. Rand ertappte sich dabei, daß er sich nach ihrer Wärme und ihrem Lächeln sehnte. »Wenn Ihr mich dorthin bringt, wie Ihr versprochen habt, kann ich nach Hause zurückkehren. Wir könnten in einer Stunde dort sein.«

Rand achtete kaum darauf, wohin sie deutete. Den Stein benutzen — den Portalstein, wie sie ihn genannt hatte —, bedeutete, die Macht anzuwenden, damit er sie zurück in die wirkliche Welt transportierte. »Hurin, wie verläuft die Spur?«

»Schwächer als je zuvor, Lord Rand, aber sie ist noch da.« Der Schnüffler bedachte Selene mit einem flüchtigen Grinsen und einem Kopfnicken. »Ich glaube, sie biegt langsam nach Westen ab. Dort gibt es ein paar leichtere Pässe nahe der Spitze des Dolchs, wenn ich mich richtig an meine Reise nach Cairhien erinnere.«

Rand seufzte. Fain oder einer seiner Schattenfreunde muß einen anderen Weg kennen, die Steine zu benutzen. Ein Schattenfreund kann die Macht nicht gebrauchen. »Ich muß dem Horn folgen, Selene.«

»Woher wißt Ihr, daß Euer begehrtes Horn sich überhaupt auf dieser Welt befindet? Kommt mit mir, Rand. Ihr werdet Eure Legende finden, das verspreche ich Euch. Kommt mit mir.«

»Ihr könnt den Stein, diesen Portalstein, selbst benutzen«, sagte er hitzig. Bevor er die Worte noch ganz ausgesprochen hatte, bereute er sie bereits. Warum muß sie ständig von Legenden reden? Stur zwang er sich zum Weiterreiten. »Der Portalstein hat Euch nicht von allein hergebracht. Ihr habt das getan, Selene. Wenn Ihr den Stein dazu gebracht habt, Euch hierherzubringen, könnt Ihr ihn auch dazu benutzen, daß er Euch zurückbringt. Ich bringe Euch hin, aber dann reite ich weiter dem Horn nach.«

»Ich weiß nichts über die Benutzung der Portalsteine, Rand. Falls ich etwas getan habe, weiß ich selbst nichts davon.«

Rand betrachtete sie. Sie saß hochgewachsen und mit geradem Rücken in ihrem Sattel und wirkte so edel wie zuvor, wenn auch vielleicht etwas weicher. Stolz und doch verwundbar, und sie brauchte ihn. Er hatte sie für etwa gleichalt wie Nynaeve gehalten — ein paar Jahre älter als er selbst — doch das war falsch gewesen, erkannte er jetzt. Sie war eher in seinem Alter und schön und sie brauchte ihn. Der Gedanke, der bloße Gedanke an das Nichts ging ihm durch den Kopf. Und natürlich an das Licht. Saidin. Um den Portalstein zu benutzen, müßte er wieder in dessen Verderbtheit eintauchen.

»Bleibt bei mir, Selene«, bat er. »Wir werden das Horn, Mats Dolch und einen Weg zurück finden. Das verspreche ich Euch. Bleibt nur bei mir.«

»Ihr seid immer...« Selene holte tief Luft, wahrscheinlich um sich zu beruhigen. »Ihr seid immer so unnachgiebig. Na ja, ich kann Unnachgiebigkeit an einem Mann nur bewundern. An einem Mann der immer gleich alles tut, was man von ihm will, ist nicht viel dran.«

Rand errötete. Das klang sehr nach den Dingen, die ihm Egwene gelegentlich sagte, und sie waren sich ja seit ihrer Kindheit sozusagen als Eheleute versprochen. Diese Worte von Selene zu hören und den Blick zu bemerken, den sie ihm dabei zuwarf, das erschreckte ihn. Er wandte sich hastig Hurin zu, um ihm zu sagen, er solle sich beeilen.

Hinten ihnen ertönte aus einiger Entfernung plötzlich ein Grunzen. Bevor Rand den Braunen herumreißen konnte, um sich umzusehen, erklang erneut ein Grunzen wie das zuvor, und dann noch dreimal etwas weiter zurück. Zuerst konnte er nichts außer der Landschaft erkennen, die vor seinen Augen verschwamm, doch dann entdeckte er sie zwischen den weit auseinanderstehenden Bäumen eines Gehölzes, wie sie gerade einen Hügel überquerten. Fünf Gestalten, schien es ihm, nur eine halbe Meile entfernt, höchstens tausend Schritte, und sie näherten sich in Riesensätzen von mindestens dreißig Fuß.

»Grolme«, sagte Selene gelassen. »Ein kleines Rudel, aber es scheint, sie haben unsere Witterung aufgenommen.«

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