1 Die Flamme von Tar Valon

Das Rad der Zeit dreht sich, und die Zeitalter kommen und gehen, hinterlassen Erinnerungen, die zu Legenden werden, verblassen zu bloßen Mythen und sind längst vergessen, wenn dieses Zeitalter wiederkehrt. In einem Zeitalter, von einigen das Dritte genannt, einem Zeitalter, das noch kommen wird und das schon lange vorbei ist, erhob sich ein Wind in den Bergen des Verderbens. Der Wind stand nicht am Anfang. Es gibt weder Anfang noch Ende, wenn sich das Rad der Zeit dreht. Aber es war ein Beginn.

Er wurde zwischen schwarzen, messerscharfen Felsgipfeln geboren, wo der Tod durch die Pässe wanderte und sich doch vor noch gefährlicheren Dingen verbarg. Von dort wehte der Wind nach Süden über den verworrenen Wald der Großen Fäule, einen Wald, der von der Berührung des Dunklen Königs vergiftet und verzerrt worden war. Der krankhaftsüßliche Gestank nach Fäulnis verflog, als der Wind die unsichtbare Linie überquerte, die von den Menschen die Grenze nach Schienar genannt wurde, wo die Bäume voller Frühlingsblüten hingen. Es hätte eigentlich schon Sommer sein sollen, aber der Frühling war spät eingekehrt, und das Land blühte im Übermaß, um aufzuholen. Auf jedem Busch raschelte neues, grünes Laub, und an jedem Ast der vielen Bäume zeigte sich frisch sprießendes Rot. Der Wind schlug Wellen in der aufgehenden Saat auf den Feldern wie auf tosenden Gewässern. Die Saat wuchs so schnell, daß man es fast mit bloßem Auge beobachten konnte.

Der Geruch nach Tod war schon lange abgeklungen, als der Wind die von Mauern geschützte Stadt Fal Dara auf ihren Hügeln erreichte und den Turm der Festung im Mittelpunkt der Stadt peitschte, einen Turm, auf dem zwei Männer zu tanzen schienen. Von festen Mauern umgeben, waren sowohl die Stadt als auch die Festung von Fal Dara nie eingenommen, nie verraten worden. Der Wind seufzte über Dächer aus Holzschindeln, um hohe steinerne Schornsteine und größere Wachtürme; seufzte sein klagendes Lied.

Mit nacktem Oberkörper zitterte Rand al'Thor unter der kalten Liebkosung des Windes, und seine Finger verkrampften sich um den langen Knauf des Übungsschwertes, das er in der Hand hielt. Die heiße Sonne hatte den Schweiß über seine Brust rinnen lassen, und das rötliche, dunkle Haar klebte ihm am Kopf. Ein schwacher Geruch in der um ihn herum wirbelnden Luft biß ihm in die Nase, doch er verband den Geruch nicht mit dem Bild eines alten Grabes, das man gerade frisch geöffnet hatte, obwohl ihm das für einen Moment durch den Kopf ging. Er war sich des Geruchs und des Bildes kaum bewußt, da er sich bemühte, seinen Geist zu leeren und das Nichts heraufzubeschwören. Doch der andere Mann, der mit ihm auf der Plattform des Turms stand, störte ihn auch ständig in seinem Bemühen. Zehn Schritte breit war diese Fläche auf dem Turm und umgeben von einer brusthohen Zinnenmauer. Wirklich groß genug, um sich nicht beengt zu fühlen, außer wenn man diese Fläche mit einem Behüter teilen mußte.

So jung er war, überragte Rand doch die meisten anderen Männer. Lan aber war genauso groß wie er und hatte stärkere Muskelpakete, auch wenn seine Schultern nicht ganz so breit waren. Ein schmales, geflochtenes Lederband hielt das lange Haar des Behüters aus seinem Gesicht, einem Gesicht, das aus steinigen Flächen und harten Winkeln zu bestehen schien und das keine Falten aufwies, trotz der leicht grau gefärbten Schläfen. Trotz Hitze und Anstrengung glänzte nur eine dünne Schweißschicht auf seiner Brust und den Armen. Rand sah Lan in die eisig blauen Augen und suchte nach einem kleinen Hinweis darauf, was der andere Mann vorhatte. Der Behüter schien nicht einmal die Augenlider zu bewegen, und das Übungsschwert in seinen Händen bewegte sich geschmeidig und sicher, während er sich von einer Stellung in die andere begab.

Das Übungsschwert hatte statt einer Klinge ein Bündel dünner, lose befestigter Stäbe, die ein lautes Geräusch von sich gaben, wenn sie auf etwas auftrafen, und die eine Schwellung zurückließen, wo sie auf Fleisch geklatscht waren. Rand wußte das nur zu gut. Drei dünne, rote Striemen zogen sich beißend über seine Rippen, und ein weiterer brannte an seiner Schulter. Er hatte es nur mit Mühe vermeiden können, sich noch mehr solcher Verzierungen zuzuziehen. Bei Lan zeigte sich keine Spur irgendeines Striemens.

Wie er es gelernt hatte, formte Rand eine einzelne Flamme in seinem Geist und konzentrierte sich darauf, versuchte, alle Gefühle und alle Leidenschaft hineinzufüllen und in seinem Inneren einen leeren Raum, ein Nichts zu erzeugen. Selbst jeder Gedanke sollte verbannt werden. Die Leere entstand. Wie nur zu oft in letzter Zeit war es keine perfekte Leere; die Flamme zeigte sich immer noch, oder zumindest schickte irgendein Lichtschimmer Wellen durch die Finsternis. Aber es reichte gerade so. Der kühle Friede des Nichts breitete sich über ihn aus, und er wurde eins mit dem Übungsschwert, mit den glatten Steinplatten unter seinen Stiefeln, selbst mit Lan. Alles war eins, und er bewegte sich, ohne nachzudenken, in einem Rhythmus, der Schritt für Schritt und Bewegung auf Bewegung den Behüter kopierte.

Der Wind erhob sich wieder und trug Glockengeläut von der Stadt herauf. Irgend jemand feiert immer noch, daß der Frühling endlich da ist. Der von außen einströmende Gedanke flatterte auf Lichtwellen durch das Nichts, störte die Leere, und als könne der Behüter Rands Gedanken lesen, wirbelte das Übungsschwert in Lans Hand auf Rand zu.

Eine lange Minute über erfüllte das schnelle Klack-Klack-Klack der gebündelten Stäbe die Plattform auf dem Turm. Rand versuchte erst gar nicht, den anderen anzugreifen; er hatte alle Hände voll damit zu tun, die Streiche des Behüters abzufangen. Damit beschäftigt, Lans Streiche im letzten Moment abzuwehren, ließ er sich zurückdrängen. Lans Gesichtsausdruck änderte sich nie. Das Übungsschwert schien in seinen Händen zum Leben zu erwachen. Plötzlich verwandelte sich der weit schwingende Hieb des Behüters mitten in der Bewegung und wurde zu einem Stoß. Überrascht trat Rand zurück, wobei er sich schon bei dem Gedanken an den Schlag duckte, der ihn nun treffen würde. Diesmal konnte er ihn nicht mehr abhalten.

Der Wind heulte über den Turm... und schnappte zu. Es war, als sei die Luft plötzlich zähflüssig geworden. Sie hielt ihn wie in einem Kokon fest. Schob ihn nach vorn. Die Zeit und alle Bewegungen verlangsamten sich. Erschrocken beobachtete er, wie Lans Übungsschwert auf seine Brust zutrieb. Der Aufschlag hatte nichts Langsames oder Sanftes an sich. Seine Rippen wurden wie durch einen Hammerschlag erschüttert. Er keuchte, aber der Wind ließ es nicht zu, daß er nachgab; statt dessen trieb er ihn vorwärts. Die Stäbe von Lans Übungsschwert bebten und bogen sich — ganz langsam, wie es Rand erschien —, und zerbrachen dann. Die scharfen, abgebrochenen Spitzen stießen auf sein Herz zu; unregelmäßige Splitter durchbohrten seine Haut. Schmerz durchfuhr seinen Körper. Seine ganze Haut schien aufgeschlitzt zu sein. Er brannte, als sei die Sonne aufgeflammt, um ihn wie ein Stück Speck in der Pfanne zu braten.

Mit einem Aufschrei warf er sich zurück und stolperte nach hinten gegen die Steinmauer. Mit zitternder Hand berührte er die Schnittwunden auf seiner Brust und hielt sich die blutigen Finger ungläubig vor die grauen Augen.

»Und was war das für eine Art von Parade, Schafhirte?« schimpfte Lan. »Du solltest es eigentlich jetzt besser können, es sei denn, du hast alles vergessen, was ich dir beizubringen versucht habe. Wie schlimm bist du...?« Er brach ab, als Rand zu ihm aufblickte.

»Der Wind.« Rands Mund war ausgetrocknet. »Er... er hat mich vorgeschoben! Er... Er war fest wie eine Wand!«

Der Behüter blickte ihn schweigend an und streckte dann die Hand zu ihm aus. Rand nahm sie und ließ sich auf die Beine ziehen.

»Seltsame Dinge geschehen manchmal so nahe an der Fäule«, sagte Lan schließlich, doch so gleichmütig die Worte auch klangen, so besorgt war doch sein Unterton. Und das allein war schon seltsam genug. Behüter, diese halb legendären Kämpfer, die den Aes Sedai dienten, zeigten nur selten Gefühle, und bei Lan geschah das noch seltener, als bei einem Behüter üblich. Er warf das abgebrochene Übungsschwert beiseite und lehnte sich an die Wand, wo ihre richtigen Schwerter lagen, damit sie ihnen beim Üben nicht im Weg waren.

»Das hatte nichts damit zu tun«, protestierte Rand. Er setzte sich neben den anderen Mann und lehnte sich mit dem Rücken an den Stein. So lag die Oberkante der Mauer über Kopfhöhe und schützte ihn ein wenig vor dem Wind. Falls es überhaupt ein Wind war. Kein Wind hatte sich je so... fest... angefühlt wie dieser. »Friede! Vielleicht noch nicht einmal in der Fäule.«

»Für jemanden wie dich... « Lan zuckte die Achseln, als erkläre das alles. »Wie lange noch, bis du aufbrichst, Schafhirte? Es ist einen Monat her, seit du gesagt hast, daß du gehen wirst, und ich glaubte, mittlerweile müßtest du schon drei Wochen lang unterwegs sein.«

Rand blickte überrascht zu ihm auf. Er verhält sich, als sei nichts geschehen! Mit finsterer Miene legte er das Übungsschwert hin und nahm sein richtiges Schwert auf die Knie. Seine Finger glitten an dem langen, lederumhüllten Griff mit dem eingesetzten Bronzereiher entlang. Ein anderer Bronzereiher befand sich auf der Scheide, und noch ein weiterer war auf der verborgenen Klinge eingraviert. Es war immer noch ein eigenartiges Gefühl für ihn, ein Schwert zu besitzen. Ein richtiges Schwert, und dazu noch eines mit dem Zeichen eines Schwertmeisters. Er war ein Bauer von den Zwei Flüssen, die nun so weit entfernt waren. Vielleicht für immer so weit von ihm entfernt. Er war Schäfer wie sein Vater —ich war Schäfer. Was bin ich jetzt? —, und sein Vater hatte ihm ein Schwert mit dem Reiherzeichen gegeben. Tam ist mein Vater, ganz gleich, was jemand anders behauptet. Er wünschte, seine Gedanken beruhten nicht auf dem Wunsch, sich selbst etwas einzureden.

Wieder schien Lan seine Gedanken zu erraten. »In den Grenzlanden, Schafhirte, ist es so: Wenn ein Mann ein Kind aufzieht, dann gehört das Kind ihm, und niemand kann etwas anderes behaupten.«

Mit gerunzelter Stirn ignorierte Rand die Worte des Behüters. Das war einzig und allein seine Angelegenheit. »Ich will lernen, wie man das benützt. Ich muß es.« Es hatte ihm Probleme bereitet, mit einem Reiherschwert herumzulaufen. Nicht jeder wußte, was es bedeutete, und viele bemerkten es gar nicht, aber trotzdem erregte ein Schwert mit Reiherzeichen, besonders in der Hand eines Jungen, der kaum alt genug war, um sich Mann zu nennen, die falsche Art von Aufmerksamkeit.

»Ich habe manchmal einfach Stärke vorgetäuscht, wenn ich nicht wegrennen konnte, und außerdem habe ich Glück gehabt. Aber was passiert, wenn ich nicht wegrennen und niemanden ins Bockshorn jagen kann und mein Glück versagt?«

»Du könntest es verkaufen«, sagte Lan vorsichtig. »Diese Klinge ist eine Seltenheit, selbst unter den Schwertern mit Reiherzeichen. Es würde dir einen guten Preis bringen.«

»Nein!« Er hatte auch schon mehr als einmal daran gedacht, aber er lehnte es jetzt aus dem gleichen Grund ab wie immer, und zwar noch entschiedener, da der Vorschlag von einem anderen gekommen war. So lange ich es habe, habe ich auch ein Recht darauf, Tam Vater zu nennen. Er vermachte es mir, und es gibt mir das Recht dazu. »Ich dachte, jede Klinge mit Reiherzeichen sei eine Seltenheit?«

Lan sah ihn schräg von der Seite her an. »Tam hat es dir nicht erzählt? Er muß es wissen. Vielleicht hat er es nicht geglaubt. Viele glauben es nicht.« Er nahm sein eigenes Schwert in die Hand, das beinahe ein Zwilling von Rands Schwert hätte sein können, wenn nicht der Reiher gefehlt hätte, und zog mit einer schnellen Bewegung die Scheide weg. Die Klinge, leicht gekrümmt und mit einer einzigen Schneide versehen, glitzerte silbern im Sonnenschein.

Es war das Schwert der Könige von Malkier. Lan sprach nicht darüber — er hatte es auch nicht gern, wenn andere darüber sprachen —, aber al'Lan Mandragoran war der Herr der Sieben Türme, Herr der Seen und ungekrönter König von Malkier. Die Sieben Türme waren nun zerstört, und die Tausend Seen ein Hort unreiner Kreaturen. Malkier war von der Großen Fäule geschluckt worden, und von allen Lords der Malkieri lebte nur noch dieser eine.

Einige behaupteten, Lan sei ein an eine Aes Sedai durch Eid gebundener Behüter geworden, damit er den Tod in der Fäule suchen und sich dem Rest seiner Familie anschließen konnte. Rand hatte Lan tatsächlich dabei beobachtet, wie er sich in die Gefahr gestürzt hatte, ohne auf seine eigene Sicherheit zu achten, aber er stellte das Leben Moiraines, der Aes Sedai, an die er gebunden war, über sein eigenes. Rand glaubte nicht, daß Lan wirklich den Tod suchen werde, solange Moiraine lebte.

Lan drehte seine Klinge im Lichtschein hin und her und sagte: »Im Schattenkrieg benützte man die Eine Macht selbst als Waffe, und man stellte Waffen mit Hilfe der Einen Macht her. Einige Waffen bezogen Energie aus der Einen Macht, Dinge, die eine ganze Stadt mit einem einzigen Schlag zerstören und das Land meilenweit verwüsten konnten. Es ist gut, daß sie alle während der Zerstörung der Welt verlorengingen, und es ist gut, daß sich niemand daran erinnert, wie man sie herstellt. Aber es gab auch einfachere Waffen für diejenigen, die sich den Myrddraal und schlimmeren Kreaturen der Schattenlords Klinge an Klinge entgegenstellten.

Mit Hilfe der Einen Macht zogen Aes Sedai Eisen und andere Metalle aus dem Boden, schmolzen, formten und schmiedeten sie. Alles unter Einsatz der Macht. Auch Schwerter und andere Waffen. Viele, die die Zerstörung der Welt überstanden, wurden von Männern vernichtet, die alle Werke der Aes Sedai fürchteten und haßten, und andere sind mit der Zeit verschwunden. Nur wenige existieren noch, und nur wenige Menschen wissen überhaupt, was sie sind. Es hat Legenden von ihnen gegeben, aufgebauschte Geschichten über Schwerter, die eine eigene Macht zu haben schienen. Du hast die Geschichten der Gaukler ja auch gehört. Die Wirklichkeit ist eindrucksvoll genug. Klingen, die nicht splittern oder brechen und die nie stumpf werden. Ich habe Männer beobachtet, die sie schärften — oder so taten, als schärften sie sie —, aber nur, weil sie nicht glauben konnten, daß ein Schwert das nach dem Gebrauch nicht nötig hätte. Alles, was sie damit erreichten, war, ihre geölten Wetzsteine abzunützen.

Die Aes Sedai stellten diese Waffen her, und es wird niemals mehr neue geben. Als sie fertig waren, endeten Krieg und Zeitalter gemeinsam, die Welt war zerstört, mehr Tote lagen unbegraben als es noch Lebende gab, und diese Lebenden flohen, versuchten, eine sichere Zuflucht zu finden, irgendeinen Ort... Jede zweite Frau weinte, weil sie ihren Mann oder ihre Söhne nie wiedersehen würde. Als es vorbei war, schworen die überlebenden Aes Sedai, daß sie niemals mehr eine Waffe herstellen würden, die es den Menschen gestattete, sich gegenseitig zu töten.

Jede Aes Sedai leistete diesen Eid, und alle diese Frauen haben sich seither daran gehalten. Sogar die Roten Ajah, und die interessiert es wenig, was mit irgendeinem Mann passiert.

»Eines dieser Schwerter, das Schwert eines einfachen Soldaten« — mit leicht verzogenem Gesicht, das beinahe traurig wirkte, falls man dem Behüter überhaupt irgendein Gefühl nachsagen konnte, schob er die Klinge in ihre Scheide zurück — »gewann eine Bedeutung. Andererseits waren die Schwerter, die man für die LordGeneräle gemacht hatte, mit Klingen, so hart, daß kein Schmied eine Scharte darauf machen konnte, und die bereits mit einem Reiher gekennzeichnet waren, besonders gesucht.«

Rands Hände zuckten von dem über seine Knie gelegten Schwert zurück. Es rutschte, und instinktiv packte er es wieder, bevor es zu Boden fiel. »Ihr wollt damit sagen, daß das von Aes Sedai gemacht wurde? Ich dachte, Ihr sprecht von Eurem eigenen Schwert.«

»Nicht alle Reiherschwerter sind Werke der Aes Sedai. Nur wenige Männer können so mit einem Schwert umgehen, daß sie zum Schwertmeister ernannt werden und man ihnen eine Klinge mit Reiherzeichen verleiht, aber ohnehin sind nur noch ganz wenige Aes-Sedai-Klingen verblieben. Wenig mehr als eine Handvoll Männer besitzen eine davon. Die meisten kommen von Meisterschmieden; der feinste Stahl, den Männer anfertigen können, aber eben immer noch von Menschenhand geschaffen. Aber das da, Schafhirte... das könnte eine dreitausendjährige oder noch längere Geschichte erzählen.«

»Ich kann ihnen nicht entkommen«, sagte Rand, »oder?« Er balancierte das Schwert vor sich auf der Spitze der Scheide; es sah nicht anders aus als vorher, bevor er das wußte. »Ein Werk der Aes Sedai.« Aber Tam hat es mir gegeben. Mein Vater gab es mir. Er weigerte sich, den Gedanken weiter zu verfolgen, wie ein Zwei-Flüsse-Schäfer in den Besitz einer Klinge mit Reiherzeichen gekommen war. In solchen Gedankengängen lagen gefährliche Unterströmungen, Tiefen, die er nicht weiter erforschen wollte.

»Willst du wirklich weglaufen, Schafhirte? Ich frage dich wieder. Warum bist du dann nicht längst weg? Das Schwert? In fünf Jahren könnte ich dich soweit haben, daß du seiner würdig bist, könnte dich zum Schwertmeister ausbilden. Du hast flinke Handgelenke, ein gutes Gleichgewichtsgefühl, und du machst den gleichen Fehler nie zweimal. Aber ich habe keine fünf Jahre Zeit, um dich auszubilden, und du hast keine fünf Jahre Zeit zum Lernen. Du hast nicht einmal ein Jahr, und das weißt du auch. Wie es jetzt aussieht, wirst du dich wenigstens nicht in den eigenen Fuß stechen. Du hast eine Haltung, als gehöre das Schwert einfach an deine Hüfte, Schafhirte, und die meisten Dorfschläger werden das fühlen. Aber das war schon so, beinahe von dem Tag an, als du es bekamst. Also, warum bist du immer noch hier?«

»Mat und Perrin sind auch hier«, murmelte Rand verlegen. »Ich möchte nicht vor ihnen weg. Ich werde sie vielleicht — es könnte sein, daß ich sie — jahrelang nicht mehr wiedersehe.« Er lehnte den Kopf gegen die Mauer zurück. »Blut und Asche! Zumindest halten sie mich für verrückt, wenn ich nicht mit ihnen nach Hause komme. Die meiste Zeit über sieht mich Nynaeve an, als wäre ich sechs Jahre alt und hätte mir das Knie aufgeschürft und sie wird es heilen, und dann wieder betrachtet sie mich wie einen Fremden. Einen, den sie belästigen könne, indem sie ihn zu scharf anblickt. Sie ist doch Seherin, und außerdem glaube ich nicht, daß sie vor irgendwas Angst hat, aber sie...« Er schüttelte den Kopf. »Und Egwene. Licht noch mal! Sie weiß, warum ich weg muß, aber jedesmal, wenn ich es ihr gegenüber erwähne, sieht sie mich so seltsam an, und ich habe einen Kloß im Magen und... « Er schloß die Augen und preßte den Schwertknauf gegen seine Stirn, als könne er seine Gedanken damit wegdrücken. »Ich wünschte... ich wünschte... «

»Du wünschst dir, alles könne so sein wie zuvor, Schafhirte? Oder wünschst du dir, das Mädchen käme mit dir, anstatt nach Tar Valon zu gehen? Glaubst du, sie würde es aufgeben, Aes Sedai werden zu wollen, und ein Leben auf der Wanderschaft vorziehen? Mit dir? Wenn du es ihr auf die richtige Art beibringst, macht sie das vielleicht. Liebe ist schon eine seltsame Sache.« Lan hörte sich plötzlich müde an. »Es gibt kaum etwas Seltsameres.«

»Nein.« Natürlich hatte er sich das gewünscht, daß sie mit ihm gehen würde. Er öffnete die Augen, drückte den Rücken durch und bemühte sich, seine Stimme entschlossen klingen zu lassen. »Nein, ich würde sie nicht mitkommen lassen, auch wenn sie mich darum bäte.« Das konnte er ihr nicht antun. Aber Licht noch mal, wäre das nicht wundervoll, wenn sie sagte, sie wolle mitkommen, auch wenn der Traum nach einer Minute vorbei wäre? »Sie wird stur wie ein Maulesel, wenn sie glaubt, ich wolle ihr vorschreiben, was sie tun soll, doch davor kann ich sie nun wirklich bewahren.« Er wünschte sich, sie sei wieder in Emondsfeld, aber die Hoffnung darauf war sinnlos geworden, seit Moiraine ins Gebiet der Zwei Flüsse gekommen war. »Selbst wenn das bedeutet, daß sie eine Aes Sedai wird!« Aus dem Augenwinkel erkannte er, wie Lan die Stirn kräuselte, und er lief rot an.

»Und das ist der ganze Grund? Du möchtest soviel Zeit wie möglich mit deinen Freunden von zu Hause verbringen, bevor sie gehen? Deshalb trödelst du herum? Du weißt doch genau, wen du auf den Fersen hast!«

Rand sprang verärgert auf. »Na gut, es ist wegen Moiraine! Ohne sie wäre ich gar nicht hier, und nun spricht sie nicht einmal mit mir.«

»Ohne sie wärst du tot, Schafhirte«, sagte Lan schlicht, aber Rand sprudelte weiter: »Sie erzählte mir... erzählte mir schreckliche Sachen über mich« — seine Knöchel am Griff des Schwerts wurden weiß. Daß ich verrückt werde und sterben! —, »und dann plötzlich spricht sie keine zwei Worte mehr mit mir. Sie benimmt sich, als sei ich noch derselbe wie am Tag, als sie mich fand, und auch das paßt mir nicht.«

»Du möchtest, daß sie dich als das behandelt, was du bist?«

»Nein! Das meine ich nicht. Licht noch mal, die meiste Zeit über weiß ich nicht einmal selbst, was ich will. Das eine will ich nicht, und vor dem anderen habe ich Angst. Jetzt ist sie irgendwohin verschwunden... «

»Ich habe dir gesagt, daß sie manchmal allein sein muß. Weder du noch sonst jemand hat das Recht, in Frage zu stellen, was sie tut.«

»... ohne jemandem zu sagen, wohin oder wann sie zurückkommt oder ob sie überhaupt zurückkommt. Sie muß doch in der Lage sein, mir irgend etwas zu sagen, das mir hilft, Lan. Irgend etwas. Sie muß einfach. Falls sie je zurückkommt.«

»Sie ist zurückgekommen, Schafhirte — letzte Nacht. Aber ich glaube, sie hat dir schon alles gesagt, was sie kann. Sei zufrieden. Du hast von ihr alles erfahren, was möglich ist.« Nach einem Kopfschütteln wurde Lans Tonfall knapp und nüchtern. »Du kannst auch sicher nichts lernen, wenn du hier herumstehst. Es ist Zeit, ein bißchen was für dein Gleichgewichtsgefühl zu tun. Also zuerst mal ›Die Seide zur Seite schieben‹. Beginne mit ›Der Reiher watet durch das Schilf‹. Denk aber daran daß der Reiher nur eine Übungsform ist und sich nicht für den Ernstfall eignet. Abgesehen von der Bewegungsübung bist du dabei vollkommen ungedeckt. Du kannst zwar aus dieser Haltung zustoßen, wenn du wartest, bis sich der andere Mann zuerst bewegt, aber du kannst aus dieser Position seinem Stoß niemals ausweichen.«

»Sie muß einfach in der Lage sein, mir etwas zu sagen, Lan. Dieser Wind. Der war unnatürlich, und es ist mir ganz gleich, wie nahe wir an der Fäule sind.«

»›Der Reiher watet durch das Schilf‹, Schafhirte! Und beachte deine Handgelenke.«

Aus dem Süden erklang das ferne Schmettern von Trompeten, eine rollende Fanfare, die langsam stärker und von stetigem Trommelklang begleitet wurde. Einen Augenblick lang sahen Lan und Rand sich nur an, doch dann lockte der Trommelklang sie an die Umfassungsmauer. Sie hielten nach Süden Ausschau.

Die Stadt lag auf einigen hohen Hügeln. Die Flächen vor den Stadtmauern waren eine ganze Meile weit nach allen Seiten zu bis auf Knöchelhöhe von allem Bewuchs befreit worden, und auf dem höchsten Hügel im Zentrum stand die Festung. Von der Turmspitze hatte Rand eine gute Aussicht über die Dächer und Schornsteine hinweg bis zum Wald. Die Trommler erschienen als erste zwischen den Bäumen. Es war ein Dutzend, und sie hoben ihre Trommeln an, während sie im Rhythmus marschierten und die Schlegel durch die Luft wirbelten. Als nächste kamen die Trompeter. Sie hielten die langen, glänzenden Fanfaren hoch und spielten immer noch denselben Tusch. Auf diese Entfernung konnte Rand nicht ausmachen, was auf dem riesigen quadratischen Banner zu sehen war, das hinter ihnen im Wind flatterte. Lan knurrte jedoch — der Behüter hatte die Augen eines Schneeadlers.

Rand sah ihn an, doch der Behüter sagte nichts. Er blickte konzentriert auf die Kolonne, die sich aus dem Wald herausschob. Gerüstete Männer ritten voran, und ihnen folgten berittene Frauen. Dann erschien eine von Pferden getragene Sänfte — ein Pferd davor und eines dahinter — mit heruntergezogenen Vorhängen, und schließlich folgten weitere Reiter. Hinter ihnen kamen Soldaten zu Fuß, deren Piken wie ein Dornengestrüpp aufragten, und Bogenschützen, die ihre Bögen quer vor der Brust hielten. Alle schritten im Rhythmus der Trommeln. Die Trompeten erklangen wieder. Wie eine singende Schlange wand sich die Kolonne Fal Dara entgegen.

Der Wind ließ die Flagge, die größer als ein Mann war, nach einer Seite hin flattern. Sie war so groß, daß Rand sie aus dieser Nähe nun klar erkennen konnte. Ein Farbendurcheinander, das Rand nichts sagte, aber im Mittelfeld der Flagge befand sich eine Form wie eine einzelne weiße Träne. Ihm stockte der Atem. Die Flamme von Tar Valon.

»Ingtar ist bei ihnen.« Lan hörte sich abwesend an. »Endlich zurück von der Jagd. War auch lange genug weg. Ich frage mich, ob er diesmal Glück hatte.«

»Aes Sedai«, flüsterte Rand, als er die Stimme wiederfand. All diese Frauen dort draußen... Moiraine war auch eine Aes Sedai, klar, aber er war mit ihr durchs Land gezogen, und wenn er ihr auch nicht ganz traute, so kannte er sie doch zumindest. Oder glaubte, sie zu kennen. Aber sie war nur eine von ihnen. So viele Aes Sedai auf einem Haufen, die auch noch so pompös anrückten, das war etwas ganz anderes. Er räusperte sich, doch als er sprach, war seine Stimme noch rauh. »Warum so viele, Lan? Warum kommen sie überhaupt? Und mit Trommeln und Trompeten und einem Banner, um ihre Ankunft anzukündigen?«

Die Aes Sedai wurden in Schienar anerkannt, jedenfalls von vielen Menschen, und der Rest hatte Respekt und Angst vor ihnen, doch Rand war an Orten gewesen, wo das anders ausgesehen hatte, wo nur Angst und oft auch Haß vorgeherrscht hatten. Wo er aufgewachsen war, sprachen zumindest einige Männer von ›den Hexen aus Tar Valon‹ so, als ob sie vom Dunklen König sprächen. Er versuchte, die Frauen zu zählen, aber sie hielten sich nicht an eine feste Marschordnung, ritten kreuz und quer zu anderen, um sich zu unterhalten, oder sprachen mit wem auch immer in der Sänfte. Er hatte eine Gänsehaut. Er war mit Moiraine umhergezogen, hatte auch eine andere Aes Sedai kennengelernt und hatte sich allmählich für weltgewandt gehalten. Keiner verließ je die Zwei Flüsse, oder fast keiner, doch er war in die Welt gezogen. Er hatte Dinge gesehen, auf die noch nie jemand von den Zwei Flüssen einen Blick geworfen hatte, Dinge getan, von denen sie dort nur geträumt hatten, wenn ihre Träume überhaupt so weit gegangen waren. Er hatte eine Königin gesehen und die Tochter-Erbin von Andor kennengelernt, einem Myrddraal gegenübergestanden und war durch die Kurzen Wege gereist, aber nichts davon hatte ihn auf diesen Augenblick vorbereitet.

»Warum so viele?« flüsterte er wieder.

»Die Amyrlin ist persönlich gekommen.« Lan sah ihn mit steinernem Gesichtsausdruck an. »Deine Lektionen sind vorbei, Schafhirte.« Er legte eine Pause ein, und Rand glaubte beinahe, auf seinem Gesicht Mitleid entdecken zu können. Aber natürlich mußte das eine Täuschung sein. »Es wäre besser für dich, wenn du schon eine Woche weit weg wärst.« Damit schnappte sich der Behüter sein Hemd und verschwand über die Leiter in den Turm hinunter.

Rand bewegte den Mund, um etwas Speichel zu erzeugen. Er starrte die sich Fal Dara nähernde Kolonne an wie eine Schlange, eine tödliche Viper. Die Trommeln und Trompeten schallten laut in seinen Ohren. Die Amyrlin, das Oberhaupt der Aes Sedai. Sie kommt meinetwegen. Er konnte sich keinen anderen Grund denken.

Sie wußten eine Menge, besaßen Kenntnisse, die ihm helfen konnten, dessen war er sicher. Und er wagte nicht, sie danach zu fragen. Er fürchtete, sie seien gekommen, um ihn im Zaum zu halten. Und ich habe auch noch Angst, sie könnten aus einem anderen Grund da sein, gab er zögernd zu. Licht, ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst hatte.

»Ich wollte doch die Macht nicht lenken«, flüsterte er. »Es war nur Zufall! Licht, ich will doch gar nichts damit zu tun haben. Ich schwöre, daß ich es nie mehr tun werde! Ich schwöre!«

Aufschreckend wurde ihm bewußt, daß der Zug der Aes Sedai gerade durch die Stadttore kam. Der Wind frischte stark auf und verwandelte seinen Schweiß in Eistropfen. Die Trompeten klangen ihm wie hinterhältiges Gelächter. Er glaubte, er könne den kräftigen Geruch eines geöffneten Grabes in der Luft spüren. Mein eigenes Grab, wenn ich hier stehenbleibe.

Er nahm sein Hemd, kletterte die Leiter hinunter und rannte los.

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