6 Die Jagd beginnt

Perrin erwartete nicht, schlafen zu können, aber ein Magen voll mit kaltem Eintopf — sein Entschluß bezüglich der Wurzeln hatte nur vorgehalten, bis ihm der Duft des übriggebliebenen Essens in die Nase gestiegen war — und seine völlige Erschöpfung ließen ihn dann doch ins Bett fallen. Falls er träumte, erinnerte er sich später nicht daran. Er wachte auf, als Lan ihn an der Schulter rüttelte. Die Morgendämmerung, die durch die offene Tür zu sehen war, verwandelte den Behüter in einen lichtumkränzten Schatten.

»Rand ist weg«, war alles, was Lan sagte, bevor er wegrannte, aber das war mehr als genug.

Perrin rappelte sich gähnend hoch und zog sich in der morgendlichen Kälte schnell an. Draußen sah er nur eine Handvoll Schienarer, die mit ihren Pferden die Leichen von Trollocs in den Wald schleiften. Die meisten von ihnen bewegten sich, als gehörten sie ins Krankenbett. Ein Körper brauchte Zeit, bis er die Kräfte wieder aufgebaut hatte, die Moiraines Heilung ihm abverlangt hatte.

Perrins Magen brummelte, und er streckte die Nase in den Wind, in der Hoffnung, daß jemand begonnen hatte, das Frühstück zu bereiten. Er würde auch diese zwiebelähnlichen Wurzeln essen und sogar roh, wenn nötig, solchen Hunger hatte er. Doch er roch nur den Gestank der toten Myrddraal und Trollocs, dazu Menschen — lebendige und tote, Pferde und Bäume. Und tote Wölfe.

Moiraines Hütte hoch droben auf der anderen Seite der Mulde schien im Mittelpunkt aller Aktivitäten zu stehen. Min eilte hinein und Augenblicke später kam Masema heraus und nach ihm Uno. Der Einäugige verschwand im Laufschritt zwischen den Bäumen in Richtung der Felswand hinter der Hütte, während der andere Schienarer den Hang abwärts humpelte.

Perrin ging auch hinüber. Als er durch den seichten Bach platschte, traf er Masema. Das Gesicht des Schienarers war ausgezehrt, die Narbe auf seiner Wange stand hervor, und seine Augen lagen noch tiefer als sonst. Mitten im Bach hob er plötzlich den Kopf und packte Perrin am Ärmel seines Mantels.

»Ihr seid doch aus seinem Dorf«, sagte Masema heiser. »Ihr müßt es wissen. Warum hat uns der Wiedergeborene Drache verlassen? Welche Sünde haben wir begangen?«

»Sünde? Wovon sprecht Ihr? Warum Rand auch gegangen sein mag, es hat jedenfalls nichts damit zu tun, was Ihr getan oder nicht getan habt.« Masema schien mit der Antwort nicht zufrieden. Er ließ Perrins Ärmel nicht los und betrachtete statt dessen sein Gesicht, als fände er dort eine Antwort. Eiskaltes Wasser begann in Perrins linken Stiefel zu sickern. »Masema«, sagte er geduldig, »was der Drache auch tat, es gehörte zu seinem Plan. Der Drache würde uns nie im Stich lassen.« Oder doch? Wenn ich an seiner Stelle wäre, was würde ich tun?

Masema nickte bedächtig. »Ja. Ja, das sehe ich ein. Er ist allein fortgegangen, um die Kunde von seiner Ankunft zu verbreiten. Auch wir müssen diese Kunde verbreiten. Ja.« Er humpelte, vor sich hin murmelnd, weiter durch den Bach.

Perrins Stiefel gab bei jedem Schritt ein deutliches Quatschen von sich, als er zu Moiraines Hütte hochschritt und anklopfte. Er erhielt keine Antwort. So zögerte er einen Moment und trat dann ein.

Der äußere Raum, in dem Lan schlief, war ebenso kahl und einfach wie Perrins Hütte. An eine Wand war ein rohes Bett angebaut, dazu gab es einige Haken, um Habseligkeiten aufzuhängen, und ein einziges Regalbrett. Durch die offene Tür drang wenig Licht. Die einzige Beleuchtung kam von plumpen Lampen auf dem Brett her. Lan hatte ölige Fettholzstückchen in die Risse einiger Steinbrocken gesteckt. Dünne Rauchfäden stiegen von ihnen auf, so daß unter dem Dach eine Qualmschicht schwebte. Perrin zog ob dieses Geruchs die Nase kraus.

Das niedrige Dach befand sich nur ein kleines Stück über seinem Kopf. Loials Kopf stieß natürlich daran, obwohl er an einem Ende von Lans Bett saß und die Knie hochgezogen hatte, um sich klein zu machen. Die behaarten Ohren des Ogiers zuckten unruhig. Min saß im Schneidersitz auf dem Fußboden neben der Tür zu Moiraines Zimmer, während die Aes Sedai gedankenverloren hin und her marschierte. Es mußten düstere Gedanken sein, die sie bewegten. Drei Schritte nach jeder Richtung hatte sie, aber sie nützte diesen Freiraum weidlich aus. Ihre schnellen Schritte straften den ruhigen Ausdruck ihres Gesichts Lügen.

»Ich glaube, Masema schnappt allmählich über«, sagte Perrin.

Min schniefte. »Wie kann man das bei ihm unterscheiden?«

Moiraine baute sich vor ihm auf. Härte lag um ihren Mund, aber ihre Stimme klang sanft. Verdächtig sanft. »Ist Masema heute morgen für Euch das Wichtigste auf der Welt, Perrin Aybara?«

»Nein. Ich möchte gern wissen, wann Rand wegging und warum. Hat ihn jemand gehen sehen? Weiß jemand, wohin er ging?« Er brachte es fertig, ihr fest und sicher in die Augen zu sehen. Das war nicht leicht. Er überragte sie wohl, aber sie war eine Aes Sedai. »Ist das Euretwegen geschehen, Moiraine? Habt Ihr ihm solch enge Fesseln angelegt, daß er schließlich aus Ungeduld irgendwohin gehen wollte, gleich wohin, und alles tun, nur um nicht mehr stillsitzen zu müssen?« Loials Ohren wurden steif, und er streckte Perrin beruhigend eine Hand mit seinen wurstdicken Fingern entgegen.

Moiraine musterte Perrin mit geneigtem Kopf, und er mußte sich gewaltig anstrengen, den Blick nicht zu senken »Es hat nichts mit mir zu tun«, sagte sie. »Er ist irgendwann in der Nacht verschwunden. Wann und wie und warum — das hoffe ich auch noch herauszufinden.«

Loials Schultern hoben sich, als er vor Erleichterung leise seufzte. Leise für einen Ogier, doch es hörte sich an wie ein Dampfstrahl aus einem heißen Eisenrohr. »Ärgere nie eine Aes Sedai«, flüsterte er, und es war offensichtlich nur für die eigenen Ohren bestimmt, doch jeder konnte es hören. »Besser die Sonne umarmen, als eine Aes Sedai ärgern.«

Min streckte die Hand hoch und gab Perrin ein zusammengefaltetes Stück Papier. »Loial ging ihn besuchen, nachdem wir ihn gestern abend zu Bett brachten, und Rand bat ihn um Papier, eine Feder und Tinte.«

Die Ohren des Ogiers zuckten, und er verzog besorgt das Gesicht, bis ihm die Augenbrauen auf die Wangen hinunterhingen. »Ich wußte nicht, was er vorhatte. Wirklich nicht.«

»Das wissen wir«, sagte Min. »Keiner beschuldigt dich, Loial.«

Moiraine zog die Augenbrauen hoch, aber sie versuchte nicht, Perrin vom Lesen abzuhalten. Es war Rands Handschrift.

Was ich tue, geschieht, weil es keine andere Möglichkeit gibt. Er jagt mich wieder, und ich glaube, diesmal muß einer von uns sterben. Es ist aber nicht nötig, daß noch andere aus meiner Umgebung sterben. Zu viele sind bereits für mich gestorben. Ich will nicht auch sterben, und ich werde auch nicht, falls ich es schaffen kann. In Träumen und im Tod findet man Lügen, aber auch Wahrheiten.

Das war alles. Keine Unterschrift. Perrin mußte sich nicht erst fragen, wen Rand mit ›er‹ meinte. Das konnte bei Rand und ihnen allen nur einer sein: Ba'alzamon.

»Er hat das unter die Tür gesteckt«, sagte Min mit harter Stimme. »Er nahm ein paar alte Kleidungsstücke, die von den Schienarern zum Trocknen aufgehängt worden waren, und seine Flöte und sein Pferd. Sonst nichts, bis auf ein wenig Proviant, soweit wir das feststellen konnten. Keine der Wachen hat ihn gehen sehen, und letzte Nacht hätten sie selbst eine Maus bemerkt.«

»Und hätte es etwas gebracht, wenn sie ihn bemerkt hätten?« fragte Moiraine ruhig. »Hätte einer von ihnen ihren Lord Drachen aufgehalten oder überhaupt angesprochen? Einige von ihnen, wie zum Beispiel Masema, würden sich die Kehle durchschneiden, wenn der Lord Drache es wünscht.«

Nun war es an Perrin, sie zu mustern. »Habt Ihr etwas anderes erwartet? Sie schworen, ihm zu folgen. Licht, Moiraine, er hätte sich niemals zum Wiedergeborenen Drachen erklärt, wenn Ihr nicht gewesen wärt. Was erwartet Ihr dann von ihnen?« Sie sagte nichts und er fuhr etwas ruhiger fort: »Glaubt Ihr es, Moiraine? Daß er wirklich der Wiedergeborene Drache ist? Oder wollt Ihr ihn nur benützen, bis die Eine Macht ihn umbringt oder zum Wahnsinn treibt?«

»Ruhig, Perrin«, sagte Loial. »Nicht so heftig.«

»Ich beruhige mich, wenn sie meine Frage beantwortet. Also, Moiraine?«

»Er ist, was er ist«, antwortete sie in scharfem Tonfall.

»Ihr sagtet, das Muster werde ihn schließlich auf den rechten Weg führen. Geht es darum, oder versucht er lediglich, vor Euch zu fliehen?« Einen Augenblick lang glaubte er, zu weit gegangen zu sein, denn ihre dunklen Augen funkelten vor Wut, doch er dachte nicht daran, einen Rückzieher zu machen. »Also?«

Moiraine holte tief Luft. »Das könnte sehr gut der Weg sein, den das Muster für ihn erwählt hat, aber ich wollte nicht, daß er allein geht. Trotz all seiner Macht ist er in mancher Hinsicht hilflos wie ein Kind und kennt die Welt nicht. Er lenkt die Macht, hat aber keine Kontrolle darüber, ob die Eine Macht tatsächlich kommt, wenn er nach ihr greift, und wenn sie da ist, hat er genauso wenig Kontrolle darüber, was er mit ihr tut. Die Macht selbst wird ihn umbringen, bevor er überhaupt eine Möglichkeit hat, verrückt zu werden, wenn er sie nicht unter Kontrolle bringt. Er muß noch so viel lernen. Er will rennen, bevor er überhaupt das Laufen gelernt hat.«

»Ihr betreibt Haarspaltereien und lenkt vom Wesentlichen ab, Moiraine«, schnaubte Perrin. »Wenn er das ist, was Ihr behauptet, ist Euch da nicht auch schon der Gedanke gekommen, daß er vielleicht besser als Ihr weiß, was er zu tun hat?«

»Er ist, was er ist«, entgegnete sie mit fester Stimme, »aber ich muß ihn am Leben halten, wenn er überhaupt etwas erreichen soll. Tot kann er keine Prophezeiungen erfüllen, und selbst wenn er den Schattenfreunden und den Schattenwesen entkommt, gibt es tausend andere Hände, die bereit sind, ihn zu töten. Alles, was dazu nötig ist, wäre ein Hinweis auf nur ein Hundertstel dessen, was er ist. Und doch — wäre das alles, was ihn bedroht, hätte ich nur halb soviel Angst um ihn wie Ihr. Man muß auch die Verlorenen in die Rechnung einbeziehen.«

Perrin fuhr hoch, und Loial stöhnte in seiner Ecke: »Der Dunkle König und alle Verlorenen sind im Shayol Ghul gefangen.« Perrin wollte ganz mechanisch antworten, doch sie ließ ihm gar keine Zeit dazu.

»Die Siegel werden brüchig, Perrin. Einige sind bereits zerbrochen, auch wenn die Welt nichts davon ahnt. Auch nichts davon ahnen darf. Der Vater der Lügen ist deshalb nicht frei. Noch nicht. Aber wenn die Siegel immer brüchiger werden, wer weiß dann, welche der Verlorenen bereits in Freiheit sind? Lanfear? Sammael? Asmodean oder Be'lal oder Ravhin? Ishamael selbst, der Verräter aller Hoffnung? Sie waren insgesamt dreizehn, Perrin, und durch die Siegel gebunden, aber nicht im gleichen Gefängnis mit dem Dunklen König. Dreizehn der mächtigsten Aes Sedai aus dem Zeitalter der Legenden. Der Schwächste von ihnen ist noch stärker als die zehn stärksten Aes Sedai von heute zusammengenommen. Selbst der Dümmste von ihnen besitzt all das Wissen des Zeitalters der Legenden. Und jeder Mann, jede Frau unter ihnen gab das Licht auf und verschrieb seine Seele dem Schatten. Was, wenn sie frei sind und draußen auf ihn warten? Denen werde ich ihn gewiß nicht überlassen!«

Perrin schauderte, teils wegen der Eiseskälte in ihren letzten Worten, teils bei dem Gedanken an die Verlorenen. Er wollte sich nicht vorstellen, was geschähe, wenn auch nur einer davon wieder in Freiheit wäre. Seine Mutter hatte ihm mit ihren Namen Angst eingejagt, als er klein war. Ishamael holt sich die Jungen, die ihrer Mutter nicht die Wahrheit sagen. Lanfear wartet nachts auf Jungen, die nicht zur rechten Zeit ins Bett gehen. Daß er jetzt älter war, half nicht viel, besonders weil er nun wußte, daß sie Wirklichkeit waren. Und es half auch nicht, daß Moiraine behauptete, sie könnten bereits frei sein.

»Im Shayol Ghul gefangen«, flüsterte er und wünschte sich, immer noch daran glauben zu können. Besorgt las er Rands Brief noch einmal. »Träume. Gestern hat er auch von Träumen gesprochen.«

Moiraine trat näher an ihn heran und sah ihm in die Augen. »Träume?« Lan und Uno kamen herein, doch sie bedeutete ihnen zu schweigen. Der kleine Raum war jetzt total überfüllt. Neben dem Ogier befanden sich fünf Menschen darin. »Welche Träume habt Ihr in den letzten Nächten gehabt, Perrin?« Sie überhörte seinen Einwand, es sei nichts Außergewöhnliches daran gewesen. »Sagt es mir«, bohrte sie. »Welcher von Euren Träumen war außergewöhnlich? Berichtet!« Ihr Blick hielt ihn fest wie die Feuerzange eines Schmieds und zwang ihn zum Sprechen.

Er sah sich zu den anderen um. Sie starrten ihn alle unverwandt an — sogar Min. Dann erzählte er zögernd von dem Traum, der ihm ungewöhnlich vorkam und der jede Nacht wiederkehrte. Der Traum von dem Schwert, das er nicht berühren konnte. Er erwähnte den Wolf nicht, der letztes Mal auch darin erschienen war.

»Callandor«, hauchte Lan, als er fertig war. Steinernes Gesicht hin oder her — er wirkte erschlagen.

»Ja«, sagte Moiraine, »aber wir müssen ganz sichergehen. Sprich mit den anderen.« Als Lan hinauseilte, wandte sie sich Uno zu: »Und wie steht es mit Euren Träumen? Habt Ihr auch von einem Schwert geträumt?«

Der Schienarer blickte unruhig auf seine Füße. Dann schließlich sah das aufgemalte Auge auf seiner Augenklappe Moiraine in die Augen, doch sein echtes Auge blinzelte und sein Blick war unstet. »Ich träume die ganze Zeit von flam... oh, von Schwertern, Moiraine Sedai«, sagte er steif. »Ich schätze, ich habe auch in den letzten Nächten von einem Schwert geträumt. Ich erinnere mich nicht so an meine Träume wie Lord Perrin hier.«

Moiraine sagte: »Loial?«

»Ich träume immer das gleiche, Moiraine Sedai. Die Haine und die Großen Bäume und das Stedding. Wir Ogier träumen immer von unserem Stedding, wenn wir weg sind.«

Die Aes Sedai wandte sich wieder Perrin zu. »Es war nur ein Traum«, sagte er. »Nichts als ein Traum.«

»Das bezweifle ich«, sagte sie. »Ihr beschreibt den Saal, den man das Herz des Steins nennt in der Festung ›Stein von Tear‹, als hättet Ihr darin gestanden. Und das leuchtende Schwert ist Callandor, das ›Schwert, das kein Schwert ist‹, das ›Schwert, das nicht berührt werden kann‹.«

Loial fuhr hoch, und prompt stieß er mit dem Kopf gegen das Dach. Er schien es gar nicht zu bemerken. »In den Prophezeiungen des Drachen steht, daß der Stein von Tear niemals fallen wird, bis der Drache Callandor in der Hand hält. Der Fall des Steins von Tear wird eines der bedeutendsten Anzeichen für die Wiedergeburt des Drachen sein. Wenn Rand Callandor hält, muß ihn die ganze Welt als den Drachen anerkennen.«

»Vielleicht.« Das Wort trieb aus dem Mund der Aes Sedai wie eine Eisscholle auf ruhigem Wasser.

»Vielleicht?« fragte Perrin. »Vielleicht? Ich glaubte, dies sei das endgültige Zeichen, was die Prophezeiungen als erfüllt erkennen läßt?«

»Es ist weder das erste, noch das letzte«, sagte Moiraine. »Callandor ist nur ein Teil der Vorzeichen, von denen im Karaethon-Zyklus die Rede ist. Die Geburt am Hang des Drachenbergs war die erste. Er hat aber noch nicht den Widerstand der Staaten gebrochen oder die Welt zerstört. Selbst Gelehrte, die ihr ganzes Leben damit verbrachten, die Prophezeiungen zu studieren, wissen keineswegs alle Einzelheiten zu interpretieren. Was bedeutet zum Beispiel: Er wird sein Volk mit dem Schwert des Friedens töten und sie mit dem Blatt vernichten? Was bedeutet: Er wird die Neun Monde fesseln, so daß sie ihm dienen? Und doch haben diese Prophezeiungen im Zyklus das gleiche Gewicht wie Callandor. Es gibt noch mehr. Welche ›Wunden des Wahnsinns und Enttäuschungen aller Hoffnung‹ hat er geheilt? Welche Ketten hat er zerbrochen, und wen hat er in Ketten gelegt? Und manches ist so verworren, daß er es durchaus bereits erfüllt haben kann, auch wenn ich das nicht weiß. Aber, nein. Callandor ist ganz und gar nicht das Ende.«

Perrin zuckte nervös die Achseln. Er kannte nur kleinere Bruchstücke der Prophezeiungen. Er hatte sie noch weniger hören wollen, nachdem Moiraine Rand dieses Banner in die Hand gedrückt hatte. Nein, sogar schon zuvor. Seit eine Reise mit Hilfe des Portalsteins ihn davon überzeugt hatte, daß sein Leben an das Rands gebunden sei.

Moiraine fuhr fort: »Wenn Ihr glaubt, Loial, Sohn des Arent, Sohn des Halan, daß er nur einfach die Hand danach ausstrecken muß, dann seid Ihr ein ebenso großer Narr wie er, falls er das glaubt. Auch wenn er die Reise nach Tear überlebt, kann es sein, daß er den Stein niemals gewinnt.

Die Tairen lieben die Eine Macht nicht gerade und noch weniger jeden Mann, der behauptet, der Drache zu sein. Das Benützen der Macht ist bei Strafe verboten, und Aes Sedai werden allerhöchstens geduldet, solange sie die Macht nicht gebrauchen. Die Prophezeiungen des Drachen nachzuerzählen oder sogar ein Exemplar davon zu besitzen genügt in Tear, um ins Gefängnis zu kommen. Und niemand betritt den Stein von Tear ohne Erlaubnis der Hochlords. Keiner außer den Hochlords wiederum betritt das Herz des Steins. Darauf ist er noch nicht vorbereitet. Noch nicht.«

Perrin knurrte leise. Der Stein würde nicht fallen, bis der Wiedergeborene Drache Callandor in Händen hielt. Wie beim Licht kann er es erreichen — mitten in einer blutigen Festung? Und bevor die Festung gefallen ist? Das ist doch verrückt!

»Warum sitzen wir hier nur herum?« platzte Min heraus. »Wenn Rand nach Tear geht, warum folgen wir ihm dann nicht? Er könnte getötet werden, oder... oder... Warum sitzen wir hier herum?«

Moiraine legte eine Hand auf Mins Kopf. »Weil ich sichergehen muß«, sagte sie sanft. »Es ist nichts Einfaches, vom Rad dazu ausgewählt zu werden, ein großer oder nahezu großer Mensch zu sein. Die Auserwählten des Rads können nur auf sich nehmen, was auf sie zukommt.«

»Ich habe es satt, auf mich zu nehmen, was auf mich zukommt.« Min rieb sich die Augen. Perrin glaubte, darin Tränen zu erkennen. »Rand könnte sterben, während wir warten.« Moiraine streichelte Min über das Haar. Auf dem Gesicht der Aes Sedai war beinahe so etwas wie Mitgefühl zu erkennen.

Perrin setzte sich ans Ende von Lans Bett Loial gegenüber. Im Raum lag ein starker Geruch nach Menschen — Menschen und Sorgen und Angst. Loial roch nach Büchern und Bäumen und Kummer. Es war wie eine Falle: Wände um sie herum und alle so nahe. Die brennenden Holzspäne stanken. »Wie kann mein Traum uns sagen, wohin Rand geht?« fragte er. »Es war doch mein Traum.«

»Diejenigen, die mit der Einen Macht umgehen«, sagte Moiraine leise, »und die besonders stark sind, können manchmal ihre Träume anderen aufzwingen.« Sie hörte nicht auf, Min zu streicheln. »Besonders denjenigen, die... empfänglich dafür sind. Ich glaube nicht, daß Rand dies mit Absicht getan hat, aber die Träume der Menschen, die die Wahre Quelle berühren, können mächtig sein. Einer von seiner Stärke könnte möglicherweise ein ganzes Dorf beeinflussen oder sogar eine Stadt. Er weiß wenig von dem, was er tut, und noch weniger darüber, wie er es kontrollieren kann.«

»Warum habt Ihr den Traum dann nicht auch gehabt?« fragte er. »Oder Lan?« Uno blickte stur geradeaus, als wolle er lieber woanders sein, und Loials Ohren welkten. Perrin war zu müde und zu hungrig, um darauf zu achten, ob er einer Aes Sedai den nötigen Respekt entgegenbrachte. Und auch zu zornig; das wurde ihm klar. »Warum?«

Moiraine antwortete gelassen: »Aes Sedai lernen, ihre Träume abzuschirmen. Ich mache das längst unbewußt, wenn ich schlafe. Den Behütern gibt man etwas ganz Ähnliches mit, wenn sie ihren Eid leisten. Die Gaidin könnten nicht tun, was sie müssen, wenn sich der Schatten in ihre Träume einschleichen würde. Wir sind alle verwundbar im Schlaf, und der Schatten ist in der Nacht besonders stark.«

»Von Euch erfahren wir immer etwas Neues«, grollte Perrin. »Könnt Ihr uns nicht gelegentlich einmal sagen, was uns erwartet, statt es erst hinterher zu erklären?« Uno wirkte, als suche er nach einer Ausrede, um gehen zu können.

Moiraine warf Perrin einen ausdruckslosen Blick zu. »Wollt Ihr, daß ich Euch das Wissen eines ganzen Lebens an einem einzigen Nachmittag weitergebe? Oder auch nur in einem einzigen Jahr? Ich sage Euch soviel: Nehmt Euch vor Euren Träumen in acht, Perrin Aybara. Nehmt Euch sehr in acht vor ihnen.«

Er riß seinen Blick von ihr los. »Mache ich«, murmelte er. »Mache ich.«

Danach herrschte Schweigen, und keiner schien es brechen zu wollen. Min saß da und blickte ihre übergeschlagenen Beine an, hatte sich aber durch Moiraine offensichtlich beruhigen lassen. Uno stand an der Wand und sah niemanden direkt an. Loial brachte es fertig, ein Buch aus der Tasche zu ziehen und zu versuchen, in diesem dürftigen Licht zu lesen. Es war ein langes Warten, und das fiel Perrin äußerst schwer. Ich habe keine Angst vor dem Schatten in meinen Träumen. Es sind die Wölfe. Ich lasse sie nicht ein. Ich will nicht!

Lan kam zurück und Moiraine richtete sich gespannt auf. Der Behüter beantwortete die stumme Frage ihrer Augen: »Die Hälfte von ihnen erinnert sich daran, die letzten vier Nächte in Folge von Schwertern geträumt zu haben. Ein paar erinnern sich auch noch an einen Ort mit großen Säulen, und fünf behaupten, das Schwert sei aus Kristall gewesen oder aus Glas. Masema sagt, letzte Nacht habe er gesehen, wie Rand es in der Hand hielt.«

»Der würde alles sagen«, meinte Moiraine. Sie rieb sich lebhaft die Hände und schien mit einem Mal energiegeladen. »Jetzt bin ich sicher. Obwohl ich immer noch wissen möchte, warum er uns heimlich verließ. Falls er irgendein Talent aus dem Zeitalter der Legenden wiederentdeckt hat... «

Lan sah Uno an, und der Einäugige zuckte zerknirscht die Achseln. »Ich habe das zum Teufel vergessen über all diesem lichtverdammten Geschwätz...« Er räusperte sich nach einem hastigen Blick zu Moiraine hinüber. Sie sah ihn erwartungsvoll an und er fuhr fort: »Ich meine... äh... also, ich bin den Spuren des Lord Drachen gefolgt. Es gibt jetzt einen anderen, neuen Weg in diese kleine Schlucht. In dem... dem Beben stürzte die hintere Felswand ein. Es ist ver... ziemlich steil, aber man kommt mit dem Pferd hinauf. Oben habe ich ver... äh... weitere Spuren gefunden, und von dort führt ein bequemer Weg um den Berg herum.« Er atmete erleichtert auf, als er fertig war.

»Gut«, sagte Moiraine. »Wenigstens hat er nicht wiederentdeckt, wie man fliegt oder sich unsichtbar macht oder irgendeine andere der legendären Fähigkeiten. Wir müssen ihm nun ohne weiteres Zögern folgen. Uno, ich werde Euch genug Gold mitgeben, damit Ihr bis Jehannah kommt, und einen Namen dort. Der wird dafür sorgen, daß Ihr noch mehr bekommt. Die Leute aus Ghealdan mißtrauen Fremden, aber wenn Ihr für Euch bleibt, werden sie Euch nicht behelligen. Wartet dort, bis ich Euch eine Nachricht zukommen lasse.«

»Aber wir kommen doch mit Euch«, protestierte er. »Wir haben geschworen, dem Wiedergeborenen Drachen zu folgen. Ich weiß wohl nicht, wie wir paar Leute eine Festung einnehmen sollen, die noch nie erobert wurde, aber mit Hilfe des Lord Drachen werden wir tun, was getan werden muß.«

»Also sind wir jetzt das ›Volk des Drachen‹.« Perrin lachte, doch es klang nicht belustigt. »Der Stein von Tear wird nicht fallen, bis das Volk des Drachen kommt. Habt Ihr uns einen neuen Namen verliehen, Moiraine?«

»Hüte deine Zunge, Schmied«, grollte Lan, der nun ganz aus Eis und Stein zu bestehen schien.

Moiraine sah beide scharf an, und sie gaben Ruhe. »Vergebt mir, Uno«, sagte sie, »aber wir müssen schnell vorwärtskommen, wenn wir es schaffen wollen, ihn einzuholen. Ihr seid der einzige Schienarer, der noch gesund und kräftig genug ist für einen wirklich harten Ritt, und wir können uns keinen Aufschub leisten, bis die anderen wieder kräftig genug sind. Ich schicke nach Euch, sobald es mir möglich ist.«

Uno verzog das Gesicht, verbeugte sich aber dann. Sie entließ ihn mit einer Geste, und er atmete tief durch und ging, um es den anderen mitzuteilen.

»Also, ich komme mit, was Ihr auch sagen mögt«, stellte Min entschlossen fest.

»Ihr geht nach Tar Valon«, sagte Moiraine.

»Ich denke nicht daran!«

Die Aes Sedai fuhr fort, als habe die andere Frau überhaupt nichts gesagt. »Die Amyrlin muß erfahren, was geschehen ist, und ich kann mich nicht darauf verlassen, jemanden zu finden, der Brieftauben aus Tar Valon hat. Und auch nicht darauf, daß die Amyrlin eine Botschaft per Taube überhaupt in die Finger bekommt. Es ist eine lange und schwere Reise. Ich würde Euch nicht allein losschicken, wenn ich jemanden hätte, den ich Euch mitgeben könnte, aber ich sorge dafür, daß Ihr Geld bekommt und Briefe an solche, die Euch weiterhelfen können. Ihr müßt aber schnell losreiten. Wenn Euer Pferd müde ist, kauft Euch ein anderes oder stehlt es, wenn es sein muß, nur reitet schnell!«

»Laßt doch Eure Botschaft von Uno überbringen. Er ist gesund und kräftig genug, das habt Ihr selbst gesagt. Ich reite Rand hinterher.«

»Uno hat seine Pflichten, Min. Und glaubt Ihr, ein Mann könnte so einfach zum Tor der Weißen Burg hinaufgehen und eine Audienz beim Amyrlin-Sitz verlangen? Selbst ein König müßte tagelang warten, wenn er unangemeldet käme, und ich fürchte, jeder der Schienarer müßte wochenlang Däumchen drehen, wenn er denn überhaupt vorgelassen würde. Ganz abgesehen davon, daß etwas so Ungewöhnliches noch vor dem ersten Sonnenuntergang in ganz Tar Valon herum wäre. Nur wenige Frauen bemühen sich um eine Audienz mit der Amyrlin selbst, aber es kommt gelegentlich vor und ist nicht unbedingt außergewöhnlich. Niemand darf auch nur soviel erfahren, daß die Amyrlin eine Botschaft von mir erhalten hat. Ihr Leben — und unsere — könnte davon abhängen. Ihr seid diejenige, die gehen muß.«

Min saß da, öffnete und schloß ihren Mund wieder und suchte offenbar nach Einwänden, doch Moiraine ging bereits darüber hinweg, als sei alles erledigt. »Lan, ich fürchte, wir werden mehr Spuren von ihm finden, als mir lieb ist, aber ich verlasse mich auf deinen Instinkt.« Der Behüter nickte. »Perrin? Loial? Kommt Ihr mit mir, Rand zu suchen?« Von ihrem Platz an der Wand her quiekte Min trotzig auf, aber die Aes Sedai ignorierte sie.

»Ich komme mit«, sagte Loial schnell. »Rand ist mein Freund. Und ich gebe zu: Ich will nichts verpassen. Wegen meines Buchs natürlich.«

Perrin überdachte sich seine Antwort erst einmal. Rand war sein Freund, was auch immer mit ihm bisher geschehen sein mochte. Und es war beinahe sicher, daß ihre Schicksale miteinander verknüpft waren, obwohl er das am liebsten vermieden hätte. »Es muß unternommen werden, nicht wahr?« fragte er schließlich. »Also komme ich mit.«

»Gut.« Moiraine rieb sich wieder die Hände. Sie wirkte wie ein Handwerker, der seine Arbeit beginnen wollte. »Ihr müßt Euch alle sofort vorbereiten. Rand hat Stunden Vorsprung auf uns. Ich will bis zum Mittag noch ein ganzes Stück vorwärtskommen.«

So zierlich sie auch war: ihre energische Persönlichkeit trieb sie an, und alle außer Lan gingen zur Tür. Loial mußte gebückt laufen, bis er aus der Tür war. Perrin mußte bei Moiraine unwillkürlich an eine Frau denken, die Gänse hütet und vor sich her treibt.

Als die anderen draußen waren, zögerte Min noch ein wenig und sprach Lan mit etwas zu süßem Lächeln an: »Wollt Ihr auch noch eine Botschaft überbringen lassen? Vielleicht an Nynaeve?«

Der Behüter wirkte so überrascht wie ein Pferd, das auf drei Beinen stehenbleibt. »Weiß denn etwa jeder...?« Dann hatte er sein Gleichgewicht wiedergefunden. »Wenn es etwas gibt, was sie von mir erfahren muß, werde ich es ihr selbst sagen.« Er schloß die Tür vor ihrer Nase.

»Männer!« knurrte Min in Richtung Tür. »Zu blind, um zu sehen, was selbst einem Stein klar ist, und zu stur, als daß man ihnen erlauben könnte, selbst zu denken.«

Perrin atmete tief ein. In der Luft der Talmulde hing immer noch ein schwacher Geruch nach Tod, aber es war besser, als drinnen eingesperrt zu sein. Um vieles besser.

»Saubere Luft«, seufzte Loial. »Der Rauch hat mich allmählich ein wenig gestört.«

Sie gingen nebeneinander den Hang hinunter. Unten am Bach standen alle Schienarer, die im Moment überhaupt stehen konnten, und lauschten Uno. Seinen ausladenden Gesten nach zu schließen, holte der Einäugige bestimmt in bezug auf seine vorher unterdrückten Flüche wieder auf. »Wie kommt es, daß ihr zwei so vorgezogen werdet?« fragte Min plötzlich. »Sie bat euch darum. Mir hat sie diese Höflichkeit nicht erwiesen.«

Loial schüttelte den Kopf. »Ich glaube, sie hat nur gefragt, weil sie sowieso wußte, was wir antworten würden, Min. Moiraine scheint Perrin und mich völlig zu durchschauen; sie weiß, was wir vorhaben. Aber du bist für sie ein Buch mit sieben Siegeln.«

Min schien nur wenig versöhnt. Sie blickte zu ihnen auf. Perrin auf der einen Seite war mehr als einen Kopf größer als sie, und Loial überragte Perrin um noch vieles mehr. »Das bringt mir auch nicht viel ein. Ich gehe trotzdem, wie ein Lamm zur Schlachtbank, hin, wo sie mich hinhaben will. Du hast dich eine Weile lang gut gehalten, Perrin. Du hast dich behauptet, als habe sie dir einen Mantel verkauft, der schon aus allen Nähten platzt.«

»Ich habe mich nicht unterkriegen lassen, wie?« sagte Perrin erstaunt. Es war ihm eigentlich erst jetzt klar geworden. »Es war nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte.«

»Du hast Glück gehabt«, brummelte Loial. »Eine Aes Sedai zu ärgern ist genauso, als stecke man seinen Kopf in ein Hornissennest.«

»Loial«, sagte Min, »ich möchte mit Perrin sprechen. Allein. Hättest du etwas dagegen?«

»Oh, natürlich nicht.« Er schritt schneller voran, so, wie er als Ogier normalerweise lief, und ließ sie schnell hinter sich. Dann zog er Pfeife und Tabaksbeutel aus einer Manteltasche.

Perrin sah sie mißtrauisch an. Sie biß sich auf die Unterlippe, als überlege sie, wie sie ihm etwas beibringen könne. »Siehst du jemals bei ihm etwas voraus?« fragte er und nickte in Richtung des Ogiers.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das geht nur bei Menschen. Aber ich habe bei dir Dinge gesehen, die du wissen solltest.«

»Ich habe dir gesagt... «

»Sei kein größerer Dickschädel als notwendig, Perrin. Dort drinnen, gleich nachdem du gesagt hattest, daß du mitkommst. Die Bilder waren vorher nicht da. Sie müssen etwas mit dieser Reise zu tun haben. Oder zumindest mit deiner Entscheidung, mitzukommen.«

Nach einem Augenblick sagte er zögernd: »Was hast du gesehen?«

»Einen Aiel in einem Käfig«, sagte sie prompt. »Einen Tuatha'an mit einem Schwert. Einen Falken und einen Habicht, die auf deinen Schultern saßen. Beides Weibchen, glaube ich. Und den ganzen Rest natürlich. Was immer zu sehen ist. Dunkelheit um dich herum und... «

»Nichts mehr!« sagte er schnell. Als er sicher war, daß sie aufgehört hatte, kratzte er sich nachdenklich am Kopf. Nichts von alledem ergab einen Sinn. »Hast du eine Ahnung, was das bedeuten soll? Diese neuen Sachen, meine ich?«

»Nein, aber sie sind wichtig. Die Sachen, die ich sehe, sind immer wichtig. Wendepunkte im Leben eines Menschen. Ihr Schicksal. Es ist immer wichtig.« Sie zögerte einen Moment und sah ihn an. »Noch etwas«, sagte sie bedächtig. »Wenn du eine Frau triffst — die schönste Frau, die du jemals gesehen hast —, dann renn weg!«

Perrin riß die Augen auf. »Du hast eine schöne Frau gesehen? Warum sollte ich vor einer schönen Frau weglaufen?«

»Kannst du nicht einfach mal einen Ratschlag annehmen?« fragte sie gereizt. Sie trat gegen einen Stein und beobachtete, wie er den Hang hinunterrollte.

Perrin urteilte niemals vorschnell. Deshalb hielten ihn manche Leute auch für dumm. Aber er zählte nun einige Dinge zusammen, die Min in den letzten Tagen gesagt hatte, und kam zu einer überraschenden Schlußfolgerung. Er blieb plötzlich stehen und suchte nach Worten. »Äh... Min, du weißt, daß ich dich mag. Ich mag dich, aber... äh... ich hatte nie eine Schwester, aber wenn ich eine hätte, dann... Ich meine, du... « Sein Redefluß wurde abrupt unterbrochen, als sie den Kopf hob und ihn mit hochgezogenen Augenbrauen anblickte. Sie lächelte ein wenig dabei.

»Aber Perrin, du mußt doch wissen, daß ich dich liebhabe.« Sie stand da, sah, wie seine Kinnpartie heruntersackte, und dann sagte sie langsam und rücksichtsvoll: »Wie einen Bruder, du großer, holzköpfiger Trottel! Die Arroganz der Männer erstaunt mich immer wieder. Jeder glaubt, daß sich alles auf ihn bezieht, und jede Frau muß ihn natürlich begehren.«

Perrin fühlte, wie sein Gesicht vor Verlegenheit brannte. »Ich habe nicht ge... ich... « Er räusperte sich. »Was hast du da mit einer Frau gesehen?«

»Beherzige nur meinen Rat«, sagte sie und ging wieder, diesmal schneller, in Richtung des Baches weiter. »Und wenn du alles andere vergißt«, rief sie ihm zurückgewandt zu, »beachte wenigstens das!«

Er runzelte die Stirn, diesmal aber schaltete er schneller. Mit zwei langen Schritten hatte er sie eingeholt. »Es ist Rand, nicht wahr?«

Sie brachte einen undefinierbaren Laut hervor und sah ihn von der Seite her an. Allerdings verlangsamte sie ihren Schritt nicht. »Manchmal bist du gar nicht so schwer von Begriff«, murmelte sie. Einen Moment später fügte sie — mehr zu sich selbst gewandt — hinzu: »Ich bin an ihn gebunden wie eine Daube ans Faß. Aber ich kann nicht vorhersehen, ob er jemals meine Liebe erwidern wird. Und ich bin auch nicht einmal die einzige.«

»Weiß Egwene davon?« fragte er. Rand und Egwene waren seit ihrer Kindheit praktisch miteinander verlobt gewesen. Es hatte eigentlich nur der förmliche Eid vor dem Frauenzirkel des Dorfs gefehlt. Er war nicht sicher, wie weit sie sich inzwischen voneinander entfernt hatten, falls überhaupt.

»Sie weiß Bescheid«, sagte Min knapp. »Und beide haben wir nichts davon.«

»Wie steht es mit Rand? Weiß er es?«

»Oh, natürlich«, sagte sie bitter. »Ich habe es ihm doch bestimmt gesagt, oder? ›Rand, ich habe deine Aura gelesen, und es scheint, ich werde mich in dich verlieben. Ich muß dich außerdem teilen, und das gefällt mir wohl nicht, aber es ist halt so.‹ Du bist wirklich ein Holzkopf, Perrin Aybara.« Sie wischte sich ärgerlich mit einer Hand über die Augen. »Wenn ich bei ihm sein könnte, dann könnte ich ihm auch helfen. Irgendwie. Lichts ich weiß nicht, ob ich es überstehe, wenn er stirbt.«

Perrin zuckte nervös die Achseln. »Hör mal, Min. Ich tue, was ich kann, um ihm zu helfen.« Wieviel das auch sein mochte. »Das verspreche ich. Es ist wirklich das beste für dich, wenn du nach Tar Valon gehst. Dort bist du in Sicherheit.«

»Sicherheit?« Sie prüfte das Wort mit der Zunge auf seinen Geschmack hin. »Glaubst du, in Tar Valon sei man sicher?«

»Wenn man in Tar Valon keine Sicherheit findet, dann nirgends.«

Sie schniefte vernehmlich, und dann machten sie sich schweigend zu denen auf, die ihren Aufbruch vorbereiteten.


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