32 Das erste Schiff

Das Becken des Südhafens selbst, von den Ogiern angelegt, war riesengroß, rund und von einer hohen Mauer aus dem gleichen mit Silber durchsetzten Stein erbaut wie der Rest Tar Valons. Bis auf eine Lücke zog sich der lange, überdachte Kai ganz um das Hafenbecken herum. Die Lücke ergab sich durch das breite Wassertor, das jetzt offenstand, um den Schiffen die Durchfahrt zum Fluß zu gestatten. Schiffe aller Größen lagen am Kai vertäut, meist mit dem Achterschiff voraus. Trotz der frühen Stunde eilten Schauerleute in groben, ärmellosen Hemden geschäftig umher und luden oder entluden Ballen und Kisten, Truhen und Fässer, entweder mit Hilfe von Tauen und Ladebäumen oder auf dem Rücken. Lampen hingen von den Dachbalken, beleuchteten den Kai und bildeten ein Lichtband, das sich um das schwarze Wasser im Becken herumzog. Kleine offene Boote huschten durch die Dunkelheit. Die viereckigen Laternen an den Heckmasten ließen sie wie Glühwürmchen erscheinen, die über den Hafen flogen. Sie waren allerdings nur dann klein, wenn man sie mit den Schiffen verglich; manche verfügten über bis zu sechs Ruderpaare.

Als Mat den immer noch knurrigen Thom durch ein Sandsteintor zur Treppe hinunter an den Kai führte, machten Besatzungsmitglieder gerade die Taue eines Dreimasters los, der keine zwanzig Schritt entfernt lag. Das Schiff war größer als die meisten anderen in Sichtweite. Es maß vielleicht fünfzehn oder zwanzig Spannen vom scharfen Bug bis zum eckigen Heck. Das ebene Deck mit seinem Geländer darum lag beinahe auf gleicher Höhe wie der Kai. Das Wichtige daran war allerdings, daß es ablegte. Das erste Schiff, das lossegelt. Ein grauhaariger Mann kam über den Kai herangeschritten. Auf die Ärmel seines dunklen Mantels waren drei senkrechte Stücke Hanftau aufgenäht. Das wies ihn als Hafenmeister aus. Seine breiten Schultern deuteten an, daß er möglicherweise einst als Schauermann angefangen hatte und die Taue schleppte, die er jetzt am Ärmel trug. Er blickte kurz in Mats Richtung und blieb mit einem Mal stehen. Auf seinem ledrigen Gesicht zeigte sich Überraschung. »An Euren Bündeln sehe ich, was Ihr plant, Junge, doch das vergeßt Ihr besser wieder. Die Schwester zeigte mir eine Zeichnung von Euch. Ihr werdet kein Schiff im Südhafen betreten, Junge. Geht zurück, damit ich keinen Mann von der Wache abziehen muß, um Euch zu überwachen.«

»Was unter dem Licht...?« knurrte Thom.

»Das hat sich geändert«, sagte Mat mit fester Stimme. Die Seeleute lösten gerade das letzte Tau. Die eingerollten dreieckigen Segel hingen wie dicke, blasse Bündel an den langen, geneigten Segelstangen, aber jetzt machten die Männer die Ruder bereit. Er zog das Dokument der Amyrlin aus der Tasche und hielt es dem Hafenmeister vor die Nase. »Wie Ihr seht, bin ich im Auftrag der Amyrlin selbst unterwegs aus der Burg. Und ich muß mit diesem Schiff hier weg.«

Der Hafenmeister las den Text, und dann las er ihn noch mal. »So was habe ich noch nie im Leben gesehen. Warum sagt einem die Burg, Ihr dürftet nicht gehen, und dann gibt man Euch... das?«

»Fragt doch die Amyrlin, wenn Ihr wollt«, riet ihm Mat mit sanfter Stimme, als glaube er nicht, daß irgend jemand so dumm sei, das zu tun, »aber sie zieht mir und Euch das Fell über die Ohren, wenn ich nicht mit diesem Schiff segle.«

»Das schafft Ihr nicht«, sagte der Hafenmeister, aber er bildete doch mit den Händen einen Schalltrichter am Mund: »Ihr an Bord der Grauen Möwe dort! Haltet ein! Licht, seng euch, haltet ein!«

Der Bursche mit nacktem Oberkörper am Ruder blickte zurück und sprach dann mit einem hochgewachsenen Mann in einem dunklen Mantel mit Puffärmeln. Der große Mann blickte unverwandt die Besatzungsmitglieder an, die gerade die Ruder ins Wasser senkten. »Und alle zugleich!« rief er. Die Ruderblätter ließen das Wasser aufschäumen.

»Ich schaffe es«, fauchte Mat. Ich sagte, das erste Schiff, und ich meinte das erste Schiff! »Komm, los, Thom!«

Er wartete nicht darauf, daß der Gaukler ihm folgte, sondern rannte den Kai hinunter, wobei er um Männer und Karren herumkurven mußte, die mit ihrer Fracht dastanden. Die Lücke zwischen dem Heck der Grauen Möwe und dem Kai wurde breiter, als die Ruder fester ins Wasser eintauchten. Mat packte seinen Bauernspieß, schleuderte ihn wie einen Speer auf das Schiff, machte noch einen Schritt, und dann sprang er, so weit er nur konnte.

Das dunkle Wasser unter ihm wirkte eiskalt, aber einen Herzschlag später war er über die Reling des Schiffs und rollte sich auf dem Deck ab. Als er auf die Beine kam, hörte er hinter sich ein Grunzen und einen Fluch.

Thom Merrilin zog sich mit einem weiteren Fluch an der Reling hoch und kletterte an Deck. »Ich habe meinen Stock verloren«, knurrte er. »Ich werde einen neuen brauchen.« Er rieb sich das rechte Bein und blickte hinunter auf den immer breiter werdenden Wasserstreifen hinter dem Schiff. Er schauderte. »Ich habe doch heute schon gebadet.« Der Rudergänger mit nacktem Oberkörper starrte erst Mat und dann ihn entgeistert an und dann wieder zurück. Er packte das Ruder, als glaube er, sich gegen Verrückte zur Wehr setzen zu müssen.

Der hochgewachsene Mann schien beinahe genauso entgeistert. Seine blaßblauen Augen quollen heraus, und sein Mund bewegte sich, ohne einen Ton hervorzubringen. Sein dunkler Spitzbart zitterte vor Wut und sein schmales Gesicht lief purpurrot an. »Beim Stein!« brüllte er schließlich. »Was soll das denn heißen? Ich habe auf diesem Schiff nicht einmal Platz für eine Katze, und selbst wenn, würde ich noch lange keine Vagabunden mitnehmen, die einfach auf mein Deck springen! Sanor! Vasa! Werft dieses Pack über die Reling!« Zwei erschreckend große Männer, barfuß und mit nacktem Oberkörper, richteten sich von den Taurollen auf und kamen zum Achterdeck herüber. Die Männer an den Rudern taten ihre Arbeit wie vorher, bückten sich, um die Ruderblätter anzuheben, machten drei Schritte auf dem Deck nach vorn, richteten sich auf und gingen wieder zurück. So brachten sie das Schiff langsam in Fahrt.

Mat wedelte dem bärtigen Mann mit dem Dokument der Amyrlin vor der Nase herum. Er nahm an, es müsse der Kapitän sein. Mit der anderen Hand fischte er eine Goldkrone aus seiner Manteltasche. Dabei achtete er trotz seiner Hast darauf, daß der Bursche auch das andere Geld sehen konnte. Er warf dem Mann die schwere Münze zu und sprach schnell, wobei er immer noch mit dem Dokument herumfuchtelte: »Wiedergutmachung für unser seltsames Eindringen, Kapitän. Unsere Passage bezahlen wir außerdem. Wir sind im Auftrag der Weißen Burg unterwegs. Auf persönlichen Befehl des Amyrlin-Sitzes. Es ist wichtig, daß wir sofort lossegeln. Nach Aringill in Andor. Größte Eile ist geboten. Der Segen der Weißen Burg gilt allen, die uns behilflich sind, und der Zorn der Burg allen, die uns hindern.«

Als Mat sicher war, daß der Mann die Flamme von Tar Valon gesehen hatte, aber möglichst nicht viel mehr, faltete er das Blatt wieder und steckte es weg. Er beäugte nervös die beiden Kraftprotze, die sich an die Seite des Kapitäns begaben — Seng mich, die haben beide Arme wie Perrin! —, und wünschte sich, er hätte seinen Bauernspieß in der Hand. Er konnte ihn weiter hinten an Deck liegen sehen. So bemühte er sich, selbstsicher und unbeirrbar zu wirken, wie die Sorte von Mann, der man sich besser nicht in den Weg stellt, ein Mann, hinter dem die Macht der Weißen Burg stand. Ziemlich weit hinter mir, hoffe ich. Der Kapitän blickte Mat zweifelnd und Thom noch finsterer an, wie der so in seinem Gauklerumhang nicht gerade sicheren Fußes dastand, aber er bedeutete Sanor und Vasa, stehenzubleiben. »Ich möchte es mir mit der Burg nicht verderben. Seng meine Seele, in der ganzen Zeit, wo mich der Flußhandel von Tear heraufführte in dieses Nest von... habe ich mir schon zuviel Ärger eingehandelt... « Er lächelte ein wenig angespannt. »Aber ich habe die Wahrheit gesagt. Beim Stein, es ist wirklich so! Ich habe sechs Passagierkabinen, und alle sind besetzt. Für eine weitere Goldkrone von jedem könnt Ihr an Deck schlafen und mit der Besatzung essen.«

»Das ist ja wohl lächerlich!« fauchte Thom. »Es ist mir gleich, was der Krieg flußabwärts angerichtet hat, aber dieser Preis ist lächerlich!« Die beiden klotzigen Seeleute nahmen eine drohende Haltung ein.

»Das ist der Preis«, sagte der Kapitän mit fester Stimme. »Ich will mich mit niemandem anlegen, aber sonst geht eben nichts hier an Bord meines Schiffes. Ihr zahlt den Preis, oder Ihr geht über Bord, und dann kann die Amyrlin Euch ja persönlich abtrocknen. Und das hier behalte ich für die Schwierigkeiten, die Ihr mir gemacht habt. Danke schön.« Er steckte die Goldkrone, die ihm Mat zugeworfen hatte, in eine Tasche unter den Puffärmeln seines Mantels.

»Wieviel wollt Ihr für eine der Kabinen?« fragte Mat. »Allein für uns. Ihr könnt ja den, der sie an sich einnehmen würde, zu jemand anderem mit hineinstecken.« Er wollte nicht draußen in der kalten Nacht schlafen. Wenn man einen solchen Burschen nicht einfach übertölpelt, dann stiehlt er einem die Hosen und behauptet noch, er hätte dir einen Gefallen getan. Sein Magen knurrte wieder vernehmlich. »Und wir essen, was Ihr selbst eßt, und nicht mit der Mannschaft zusammen. Und auch noch reichlich!«

»Mat«, sagte Thom, »ich bin derjenige, der hier betrunken sein sollte.« Er wandte sich dem Kapitän zu, wobei er seinen Flickenumhang genau wie die Instrumentenbehälter deutlich zur Schau stellte. »Wie Ihr schon bemerkt haben dürftet, Kapitän, bin ich ein Gaukler.« Selbst hier draußen an Deck schien seine Stimme plötzlich ein Echo zu werfen. »Als Gegenleistung für unsere Passagen werde ich gern Eure Passagiere und die Besatzung unterhalten... «

»Meine Besatzung ist an Bord, um zu arbeiten, und nicht, um sich unterhalten zu lassen.« Der Kapitän strich sich über seinen Spitzbart. Seine blassen Augen blickten Mat abschätzend an. »Also Ihr hättet gern eine Kabine, wie?« Er lachte laut auf. »Und meine Mahlzeiten? Na ja, Ihr könnt meine eigene Kabine und meine Mahlzeiten dazu haben. Das kostet aber jeden von euch fünf Goldkronen. Andoranisches Gewicht!« Das waren die schwersten. Er begann, so schallend zu lachen, daß er beinahe ins Keuchen kam. Sanor und Vasa an seinen Seiten grinsten breit. »Für zehn Kronen bekommt ihr meine Kabine und mein Essen, und ich ziehe zu den Passagieren und esse mit der Besatzung. Seng meine Seele, das tue ich glatt! Beim Stein, ich schwöre es! Für zehn Goldkronen... « Er konnte vor Lachen nicht mehr weitersprechen.

Er lachte immer noch, schnappte nach Luft und wischte sich Tränen aus den Augen, da zog Mat seine beiden Geldbörsen heraus. Das Lachen hörte auf, als Mat ihm dann fünf Kronen in die Hand abzählte. Der Kapitän blinzelte ungläubig, und die beiden Seeleute wirkten wie vor den Kopf geschlagen.

»Andoranisches Gewicht, habt Ihr gesagt?« fragte Mat. Es war schwer, das ohne eine Waage festzustellen, und so legte er zur Sicherheit sieben weitere Kronen auf den Stapel. Zwei kamen wirklich aus Andor, und er glaubte, daß die anderen insgesamt das richtige Gewicht auf die Waage bringen würden. Jedenfalls ist das genug für diesen Burschen. Einen Augenblick später legte er noch mal zwei Tear-Goldkronen obenauf. »Für denjenigen, den Ihr aus der Kabine werfen müßt, obwohl sie wahrscheinlich schon bezahlt wurde.« Er glaubte nicht daran, daß die Passagiere wirklich auch nur eine Kupfermünze davon in die Finger bekämen, aber manchmal zahlte sich Großzügigkeit aus. »Oder wolltet Ihr sowieso mit ihnen teilen? Nein, natürlich nicht. Sie sollten schon eine Entschädigung dafür bekommen, daß sie sich mit den anderen zusammendrängen müssen. Ihr müßt keineswegs mit Eurer Besatzung speisen, Kapitän. Ihr könnt jederzeit mit Thom und mir gemeinsam in Eurer Kabine essen.« Thom sah ihn genauso entgeistert an wie die anderen.

»Seid Ihr...?« Der Bärtige flüsterte nur noch heiser. »Seid Ihr... zufällig vielleicht... ein junger Lord, der inkognito reist?«

»Ich bin kein Lord«, lachte Mat. Er hatte wirklich Grund genug zu lachen. Die Graue Möwe befand sich jetzt schon weit draußen, mitten in der Dunkelheit des Hafenbeckens. Das Lichtband des Kais deutete auf die schwarze Lücke, die jetzt nicht mehr weit entfernt war, wo das Wassertor den Weg auf den Fluß wies. Die Ruder trieben das Schiff jetzt schnell darauf zu. Die Männer schwenkten bereits die langen, geneigten Segelbäume herum und bereiteten sich darauf vor, die Segel zu entfalten. Und mit Gold in der Hand schien der Kapitän auch nicht mehr gewillt, irgend jemanden über Bord zu werfen. »Falls Ihr nichts dagegen habt, Kapitän, könnten wir dann jetzt unsere Kabine sehen? Eure Kabine, meine ich. Es ist schon spät, und ich würde gern ein paar Stunden schlafen.« Sein Magen beklagte sich. »Und etwas essen!«

Während das Schiff den Bug in die Schwärze hineinschob, führte der Bärtige sie selbst eine Leiter hinunter in einen kurzen, engen Gang, der zu beiden Seiten in geringen Abständen Türen aufwies. Dann entfernte der Kapitän einige seiner Sachen aus der Kabine. Sie war genauso breit wie das Heck des Schiffes. Das Bett und alle Möbel waren an die Wand angebaut, bis auf zwei Stühle und ein paar Truhen. Mat und Thom richteten sich daraufhin ein. Mat merkte denn auch schnell, daß der Mann keineswegs irgendwelche Passagiere ihretwegen aus ihrem Quartier warf. Er hatte zuviel Respekt vor dem Geld, das sie bezahlt hatten, und vielleicht auch vor ihnen selbst, um das zu tun. So nahm der Kapitän die Kabine seines Ersten Offiziers, und der würde das Bett des Zweiten beziehen. Jeder gab es an den Nächstunteren weiter, bis schließlich der Obermaat zum Schlafen mit zur Besatzung ins Mittelschiff mußte.

Mat hielt das, was er so erfahren konnte, nicht unbedingt für wichtig, aber er lauschte trotzdem aufmerksam allem, was der Mann sagte. Es war immer gut, nicht nur zu wissen, wohin man sich begab, sondern auch, mit wem man es zu tun hatte, sonst konnte es passieren, daß man Stiefel und Mantel loswurde und barfuß durch den Regen nach Hause mußte.

Der Kapitän kam aus Tear und hieß Huan Mallia. Als er Mat und Thom schließlich verdaut hatte, sprach er lang anhaltend auf sie ein. Er sei nicht von adliger Abstammung, sagte er, nein, er nicht, aber er wolle deshalb noch lange nicht, daß man ihn für einen Narren hielt. Ein junger Mann mit mehr Gold in der Tasche, als ein junger Mann eben rechtmäßig besitzen sollte, könnte ja auch ein Dieb sein. Aber andererseits wußte ja jeder, daß Diebe niemals mit ihrer Beute aus Tar Valon entkamen. Ein junger Mann, der wohl wie ein Bauernjunge angezogen war, sich aber mit der Selbstsicherheit eines Lords bewegte, was er jedoch zu sein abstritt... »Beim Stein, ich behaupte ja nicht, Ihr seid einer, wenn Ihr mir das Gegenteil versichert.« Mallia blinzelte und schmunzelte und zupfte sich an der Bartspitze. Ein junger Mann mit einem Dokument, das das Siegel des Amyrlin-Sitzes trug, und der nach Andor unterwegs war. Es war kein Geheimnis, daß Königin Morgase Tar Valon besucht hatte, auch wenn ihre Gründe dafür nicht bekannt waren. Für Mallia stand es fest, daß etwas zwischen Caemlyn und Tar Valon im Gange war. Und Mat und Thom waren Kuriere — für Morgase, wie er Mats Akzent nach glaubte. Alles, was er tun konnte, um bei einer so großen Sache behilflich zu sein, würde er mit Vergnügen tun; nicht, daß er aber seine Nase in Dinge stecken wolle, die ihn nichts angingen.

Mat tauschte überraschte Blicke mit Thom, der seine Instrumentenbehälter gerade unter einem an die Wand angebauten Tisch verstaute. Der Raum wies an beiden Seiten zwei kleine Fenster auf, und ein Lampenpaar auf einem zweiarmigen Leuchter sorgte für Beleuchtung. »Das ist Unsinn«, sagte Mat.

»Natürlich«, bekräftigte Mallia. Er richtete sich auf, nachdem er Kleidungsstücke aus einer Truhe am Fuß des Bettes geholt hatte, und lächelte: »Natürlich.« In einem Hängeschrank schienen sich Flußkarten zu befinden, die er benötigte. »Ich sage ja schon nichts mehr.«

Aber er war schon neugierig, auch wenn er es zu verbergen versuchte, und er plauderte weiter und bohrte dabei ganz schön hartnäckig. Mat hörte zu und beantwortete die Fragen mit einem Grunzen oder Achselzucken oder ein oder zwei Worten, während Thom noch weniger sagte. Der Gaukler schüttelte nur immer wieder den Kopf und verstaute seine Habseligkeiten.

Mallia war sein Leben lang Flußschiffer gewesen, obwohl er immer davon träumte, zur See zu fahren. Er sprach von fast allen Ländern außer Tear recht abwertend; nur Andor kam dabei noch besser weg, aber auch das Lob, das er schließlich herausbrachte, klang unwillig, obwohl er sich alle Mühe gab. »Gute Pferde in Andor, wie ich gehört habe. Nicht schlecht. Nicht so gut wie die in Tear, aber gut genug. Ihr macht guten Stahl und gute Eisenwaren, auch aus Bronze und Kupfer — ich habe das oft genug befördert, auch wenn eure Preise gesalzen sind —, aber ihr habt ja auch diese Bergwerke in den Verschleierten Bergen. Auch Goldminen. Wir in Tear müssen uns unser Gold verdienen.«

Am schlechtesten kam bei ihm Mayene weg. »Noch weniger ein Land zu nennen als Murandy. Eine Stadt und ein paar Meilen Land. Sie unterbieten den Ölpreis unserer guten Oliven, nur weil ihre Schiffer wissen, wie man die Ölfischschwärme aufspürt. Sie haben kein Recht, sich überhaupt eine Nation zu schimpfen.«

Er haßte Illian. »Eines Tages brandschatzen wir Illian und schleifen jede Stadt und jedes Dorf und säen Salz auf ihrem schmutzigen Boden.« Mallias Bart hätte wohl beinahe Funken gesprüht, so wütend war er auf dieses angeblich so schmutzige Land Illian. »Selbst ihre Oliven sind ranzig! Eines Tages legen wir jedes einzelne dieser illianischen Schweine in Ketten! Das sagt der Hochlord Samon auch!«

Mat fragte sich, ob der Mann darüber nachgedacht hatte, was Tear mit all diesen Gefangenen anfangen würde, sollte das einmal Wahrheit werden. Man würde den Illianern zu essen geben müssen, und in Ketten konnten sie nicht einmal arbeiten. Das ergab für ihn keinen Sinn, doch Mallias Augen glänzten, als er davon sprach.

Nur Narren ließen sich von einem König oder einer Königin regieren, also von einem einzigen Mann oder einer einzigen Frau. »Außer im Fall von Königin Morgase natürlich«, warf er hastig ein. »Wie ich gehört habe, ist sie eine gute Frau. Auch noch schön, wie man mir sagte.« Lauter Narren, die sich vor einem Narren verneigten. Die Hochlords regierten Tear gemeinsam, faßten gemeinsam ihre Entschlüsse, und so sollte es auch sein. Die Hochlords wußten schon, was richtig und gut und wahr sei. Besonders Hochlord Samon. Niemand handelte falsch, wenn er den Hochlords gehorchte. Besonders Hochlord Samon.

Doch von Königen und Königinnen und sogar von Illian abgesehen, haßte Mallia etwas noch mehr, auch wenn er das zu verbergen versuchte. Aber er redete soviel, um herauszufinden, was sie vorhätten, und der Klang seiner eigenen Stimme brachte ihn so auf Touren, daß er mehr herausließ, als er eigentlich wollte.

Sie mußten bestimmt viel herumreisen, wenn sie einer großen Königin wie Morgase dienten. Sie mußten auch schon viele Länder gesehen haben. Er träumte von der Seefahrt, denn so konnte er Länder sehen, von denen er vorher nur gehört hatte, und dann konnte er vielleicht die Ölfischschwärme der Mayener finden und das Meervolk und die dreckigen Illianer im Ölhandel ausstechen. Und das Meer war weit von Tar Valon entfernt. Das müßten sie doch verstehen, denn sie kamen doch auch auf ihren Reisen an Orte und zu Leuten, mit denen sie nichts zu tun haben wollten, außer halt auf Befehl von Königin Morgase.

»Es hat mir nie gepaßt, in Tar Valon anlegen zu müssen und nie zu wissen, wer vielleicht die Macht benützt.« Das Wort ›Macht‹ spie er beinahe aus. Aber seit er gehört hatte, was Hochlord Samon sagte... »Seng meine Seele, ich habe ein Gefühl, als hätte ich Würmer im Bauch, wenn ich nur ihre Weiße Burg sehe und weiß, was sie planen.«

Hochlord Samon hatte gesagt, die Aes Sedai planten, die ganze Welt zu erobern. Sie wollten alle Nationen vernichten und ihren Fuß an den Hals jedes braven Mannes setzen. Samon hatte gesagt, Tear könne nicht einfach nur die Macht vom eigenen Land fernhalten und ansonsten glauben, das reiche. Samon hatte gesagt, der Tag des Ruhms für Tear nähere sich, und Tar Valon stehe zwischen Tear und seinem ihm zustehenden Ruhm.

»Da gibt es keinen anderen Weg. Früher oder später muß jede Aes Sedai, bis hin zur letzten, gejagt und getötet werden. Hochlord Samon meint, die anderen könne man retten — die jungen, die Novizinnen, die Aufgenommenen —, wenn man sie in den Stein bringt, doch die anderen müssen ausgelöscht werden. Das sagt Hochlord Samon. Die Weiße Burg muß zerstört werden.«

Einen Augenblick lang stand Mallia mitten in der Kabine, die Arme voll mit Kleidungsstücken, Büchern und zusammengerollten Karten, sein Haar berührte beinahe die Deckenbalken, und so starrte er mit seinen blaßblauen Augen ins Leere, während die Weiße Burg zusammenstürzte. Dann fuhr er jedoch zusammen, da ihm wohl klar wurde, was er da gesagt hatte. Sein Spitzbart wackelte nervös.

»Das... das sagt er. Ich... ich für meinen Teil glaube, das geht vielleicht ein bißchen zu weit. Hochlord Samon... Er redet so, daß ein Mann manchmal übers Ziel hinausschießt. Wenn Caemlyn ein Bündnis mit der Burg abschließen kann, dann wohl auch Tear.« Er schauderte offensichtlich unbewußt. »Das meine ich jedenfalls.«

»Wie Ihr meint«, sagte Mat, und in ihm brodelte es. Er hätte den Mann am liebsten kräftig auf den Arm genommen. »Ich glaube, Kapitän, Euer Vorschlag trifft den Nagel auf den Kopf. Aber holt Euch nicht nur ein paar Aufgenommene. Bittet ein oder zwei Dutzend Aes Sedai, nach Tear zu kommen. Überlegt doch mal, wie mächtig der Stein von Tear wäre, wenn ihm zwei Dutzend Aes Sedai zur Verfügung stünden!«

Mallia schauderte erneut. »Ich schicke einen Mann nach meiner Geldtruhe«, sagte er steif und stolzierte hinaus.

Mat blickte finster auf die sich schließende Tür. »Ich glaube, das hätte ich nicht sagen sollen.«

»Ich weiß gar nicht, wie du darauf kommst«, meinte Thom trocken. »Als nächstes erzählst du sicher dem kommandierenden Lordhauptmann der Weißmäntel, daß er die Amyrlin heiraten soll.« Seine Augenbrauen sanken wie zwei weiße Raupen herunter. »Hochlord Samon. Ich habe noch nie von einem Hochlord Samon gehört.«

Nun war Mat mit dem gleichen trockenen Sarkasmus an der Reihe. »Na ja, selbst du kannst nicht alles darüber wissen, welche Könige und Königinnen und Adlige es gibt, Thom. Ein oder zwei könnten deiner Aufmerksamkeit entgangen sein.«

»Ich kenne die Namen aller Könige und Königinnen, Junge, und auch die sämtlicher Hochlords von Tear. Ich schätze, sie haben vielleicht einen der kleineren Lords vom Land erhoben, aber andererseits hätte ich davon gehört, wenn ein alter Hochlord gestorben wäre. Wenn du lieber ein paar arme Burschen aus ihrer Kabine geworfen hättest und nicht gerade den Kapitän, hätten wir jeder ein eigenes Bett, wenn auch vielleicht ein wenig eng und hart. Jetzt müssen wir uns Mallias Bett teilen. Ich hoffe, du schnarchst nicht, Junge. Ich kann Schnarchen nicht ausstehen.«

Mat knirschte mit den Zähnen. Wie er sich erinnerte, schnarchte Thom derart, daß es klang wie die Sägearbeit einer Kompanie Schreiner. Das hatte er vergessen.

Es war dann einer der beiden ungeschlachten Männer — entweder Sanor oder Vasa; seinen Namen nannte er nicht —, der kam und die eisenbeschlagene Geldtruhe des Kapitäns unter dem Bett hervorzog. Er sagte kein Wort, verbeugte sich nur knapp, blickte finster zu ihnen herüber, als er glaubte, sie bemerkten es nicht, und ging wieder.

Mat fragte sich langsam, ob das Glück, das ihm die ganze Nacht über hold gewesen war, ihn nun verlassen habe. Er mußte Thoms Schnarchen ertragen, und um die Wahrheit zu sagen, es war vielleicht doch nicht die allerbeste Wahl gewesen, ausgerechnet auf dieses Schiff zu springen und ein Dokument vorzuzeigen, das von der Amyrlin unterschrieben und mit der Flamme von Tar Valon gesiegelt war. Ohne weiteres Nachdenken zog er einen der zylindrischen Würfelbecher heraus, öffnete die Deckelklappe und kippte den Becher über dem Tisch aus.

Es waren Punktwürfel, und fünf einzelne Punkte blickten ihn nun an. Bei einigen Spielen nannte man das die Augen des Dunklen Königs. In denen verlor man mit dieser Konstellation, während man bei anderen Spielen damit gewann. Aber welches Spiel spiele ich eigentlich? Er hob die Würfel auf, schüttelte den Becher wieder und ließ sie erneut rollen. Wieder fünf einzelne Punkte. Ein weiterer Wurf, und zum drittenmal blinzelten ihn die Augen des Dunklen Königs an.

»Wenn du diese Würfel dazu benützt hast, all das Gold zu gewinnen«, sagte Thom ruhig, »dann wundert es mich nicht im geringsten, daß du mit dem ersten möglichen Schiff abhauen mußtest.« Er zog das Hemd gerade aus und hatte es halb über dem Kopf, als er das sagte. Seine Knie waren knochig, und seine Beine schienen nur aus Muskeln und Sehnen zu bestehen. Das rechte war ein wenig geschrumpft. »Junge, ein zwölfjähriges Mädchen würde mit dem Messer auf dich losgehen, wenn sie ahnte, daß du solche gezinkten Würfel im Spiel mit ihr verwendest.«

»Es liegt nicht an den Würfeln«, knurrte Mat. »Es ist mein Glück.« Das Glück der Aes Sedai? Oder das Glück des Dunklen Königs? Er schob die Würfel in den Becher zurück und schloß ihn.

»Ich glaube«, sagte Thom, der nun ins Bett kletterte, »du wirst mir wohl nicht erzählen, wo du das ganze Gold her hast, oder?«

»Ich habe es gewonnen. Heute nacht. Mit ihren eigenen Würfeln.«

»Oho! Und ich schätze, du wirst mir auch nichts über dieses Papier erzählen, das du überall herumzeigst? Ich habe das Siegel gesehen, Junge! Oder was das ganze Geschwätz von einem Auftrag der Weißen Burg bedeutet und wieso der Hafenmeister eine Beschreibung der Aes Sedai von dir hatte?«

»Ich bringe einen Brief von Elayne zu Morgase, Thom.« Mat sagte das viel geduldiger, als es seiner Laune entsprach. »Nynaeve hat mir das Dokument gegeben. Ich weiß nicht, woher sie es hatte.«

»Also, wenn du mir sonst nichts erzählst, werde ich jetzt schlafen. Blas die Lampen aus, ja?« Thom rollte sich zur Seite und zog sich ein Kissen über den Kopf.

Auch nachdem Mat sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen hatte und unter die Decken gekrochen war — die Lampen hatte er zuvor ausgeblasen —, fand er keinen Schlaf. Dabei hatte Mallia immerhin eine gute Federmatratze zurückgelassen. In bezug auf Thoms Schnarchen hatte er recht gehabt, und das Kissen dämpfte die Geräusche nicht. Es klang, als säge Thom Holz gegen die Faser und noch dazu mit einer rostigen Säge. Außerdem konnte er nicht mit dem Grübeln aufhören. Wie hatten Nynaeve und Egwene nur dieses Dokument von der Amyrlin bekommen können? Sie mußten direkt mit ihr zu tun haben, vielleicht in irgendeine dieser Intrigen der Weißen Burg verwickelt sein, aber wenn er es recht bedachte, mußten sie wohl auch selbst vor der Amyrlin Geheimnisse haben.

»›Bitte, Mat, bring meiner Mutter einen Brief‹«, sagte er leise mit hoher, spöttischer Stimme. »Narr! Die Amyrlin hätte doch einen Behüter geschickt, um einen Brief der Tochter-Erbin an die Königin zu überbringen. Blinder Narr! Ich war so darauf versessen, aus der Burg rauszukommen, daß ich das übersehen habe.« Thoms Schnarchen schien Zustimmung auszudrücken.

Aber am meisten grübelte er über das Glück nach und über Straßenräuber.

Als etwas dumpf gegen das Heck prallte, registrierte er das zunächst gar nicht. Er achtete auch nicht auf ein Plumpsen und Herumtapsen auf dem Deck über ihnen und auf die folgenden Stiefelschritte. Es gab auf einem Schiff immer genug Geräusche, und es mußte sich ja wohl jemand an Deck befinden, um das Schiff flußabwärts zu steuern. Aber dann vermischten sich leise Schritte im Gang nahe ihrer Kabinentür mit dem Gedanken an Straßenräuber, und er begann zu lauschen.

Er stieß Thom mit dem Ellbogen in die Rippen. »Wach auf«, sagte er leise. »Es ist jemand draußen im Gang.« Er glitt bereits vom Bett und hoffte, daß der Fußboden — Deck, Boden oder was auch zum Teufel sonst! — nicht unter seinem Gewicht knarren werde. Thom grunzte, schmatzte mit den Lippen und fing wieder zu schnarchen an.

Er hatte keine Zeit mehr, sich um Thom zu kümmern. Die Schritte ertönten bereits direkt vor ihrer Tür. Mat nahm seinen Bauernspieß in die Hand, stellte sich vor die Tür und wartete.

Die Tür schwang langsam auf, und er konnte im schwachen Mondschein, der durch die offene Luke von oben hereindrang, zwei vermummte Männer erkennen, einer hinter dem anderen stehend. Der Mondschein schimmerte auf nackten Messerklingen. Beide Männer schnappten überrascht nach Luft, denn sie hatten offensichtlich nicht erwartet, daß jemand auf sie wartete.

Mat stieß mit dem Bauernspieß zu und erwischte den vorderen Mann hart unterhalb des Rippenbogens. Beim Zustoßen hörte er im Innern die Stimme seines Vaters. Das ist ein Todesstoß, Mat. Benütze ihn nur, wenn dein Leben in Gefahr ist! Aber diese Messer sprachen eine deutliche Sprache, und in der Kabine war nicht genug Platz, um mit dem Stock auszuholen und ihn zu schwingen.

Im gleichen Moment, als der Mann erstickt gurgelte und zu Boden sank, wo er vergeblich nach Luft rang, trat Mat vor und trieb das Ende des Bauernspießes mit voller Wucht dem zweiten Mann in die Kehle. Es knirschte vernehmlich. Der Bursche ließ das Messer fallen, griff nach seinem Hals und stürzte neben seinem Begleiter zu Boden, wo beide mit den Beinen zuckten. Todesröcheln erklang aus zwei Kehlen.

Mat stand da und blickte auf sie herab. Zwei Männer. Nein, seng mich, jetzt sind es schon drei! Ich glaube nicht, daß ich vorher schon jemandem ernstlich weh getan habe, und nun habe ich in einer Nacht drei Männer getötet. Licht! Der dunkle Gang lag wieder still da, aber vom Deck her hörte er das Tapsen von Stiefeln. Die Besatzungsmitglieder liefen alle barfuß herum.

Er bemühte sich, gar nicht erst nachzudenken, sondern zog dem einen toten Mann den Umhang aus und legte ihn sich um die Schultern. Das helle Leinen seiner Unterwäsche war so verborgen. Barfuß schlich er durch den Gang und kletterte die Leiter hoch. Vorsichtig spähte er über den Rand der Luke.

Fahles Mondlicht wurde von den straffen Segeln reflektiert, doch die Schatten der Nacht lagen noch dicht auf dem Deck. Er hörte keinen Laut, abgesehen vom Rauschen des Wassers an den Seiten des Schiffs. Nur ein Mann schien sich an Deck zu befinden. Er stand am Ruder und hatte seine Kapuze der Kühle wegen über den Kopf gezogen. Der Mann wechselte die Stellung, und die Ledersohlen von Stiefeln knirschten leise auf den Planken.

Er hielt den Bauernspieß ganz tief unten und hoffte, der Mann werde ihn nicht bemerken. Dann kletterte Mat hinauf. »Er ist tot«, flüsterte er leise und heiser.

»Ich hoffe, er hat gequiekt, als du ihm die Kehle durchgeschnitten hast.« Mat erinnerte sich an die Stimme mit ihrem starken Akzent. Er hatte sie auf dieser gewundenen Seitenstraße in Tar Valon gehört. »Dieser Junge, er macht uns einfach zu viele Schwierigkeiten. Wartet! Wer seid Ihr?«

Mat schwang den Stock mit aller Kraft. Das schwere Holz krachte auf den Kopf des Mannes nieder. Die Kapuze dämpfte nur teilweise einen Laut, als fiele eine Melone auf den Boden.

Der Mann fiel auf das Ruder und schob es mit seinem Gewicht zur Seite. Das Schiff schwankte, und Mat kam ins Taumeln. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich eine Gestalt im Schatten an der Reling aufrichtete, und das Schimmern einer Klinge. Er wußte, daß er seinen Stock nicht mehr rechtzeitig herumreißen konnte, bevor ihn diese Klinge durchbohrte. Etwas Blinkendes flirrte durch die Nacht und schlug mit einem dumpfen Aufschlag in der schwarzen Gestalt ein. Die Aufwärtsbewegung ging in einen Sturz über, und der Mann lag fast vor Mats Füßen.

Unter Deck erhob sich Stimmengewirr, als das Schiff erneut herumschwang. Das Ruder verschob sich wieder unter dem Gewicht des ersten Mannes.

Thom hinkte in Umhang und Unterwäsche gekleidet von der Luke her und schob die Klappe von der Öffnung einer Schiffslaterne. »Du hast Glück gehabt, Junge. Einer von denen unten hatte diese Laterne dabei. Hätte das ganze Schiff in Brand setzen können, wie sie so dalag.« Im Laternenschein sah Mat, daß in der Brust des Mannes vor ihm ein Messer steckte. Die Augen des Mannes waren weit aufgerissen und blickten starr. Mat hatte ihn nie zuvor gesehen, denn er war sicher, er hätte sich an einen Mann mit so vielen Narben im Gesicht erinnert. Thom stieß einen Dolch von der ausgestreckten Hand des Mannes weg, beugte sich nieder, zog sein eigenes Messer aus der Brust des Mannes und wischte es am Umhang des Toten ab. »Sehr viel Glück, Junge. Wirklich sehr viel Glück.«

An der Reling am Heck war ein Seil angebunden. Thom ging hinüber und leuchtete mit der Laterne am Heck hinunter. Am anderen Ende des Seils schwankte eines der kleinen Boote aus dem Südhafen. Seine eckige Laterne hatte man gelöscht. Zwei Männer standen neben den eingezogenen Rudern.

»Der Große Lord soll mich holen, das ist er!« keuchte einer davon. Der andere begann hastig, den Knoten des Seils zu lösen.

»Willst du die beiden auch noch töten?« fragte Thom mit hallender Stimme, als trete er gerade in irgendeinem Saal auf.

»Nein, Thom«, sagte Mat ruhig. »Nein.«

Die Männer im Boot mußten wohl die Frage gehört haben, aber nicht die Antwort. Sie ließen das Boot Boot sein und sprangen unter großem Getöse ins Wasser. Mat und Thom hörten sie geräuschvoll über den Fluß davonschwimmen.

»Narren«, knurrte Thom. »Der Fluß wird hinter Tar Valon wohl etwas schmaler, aber er muß hier bestimmt noch eine halbe Meile breit sein oder mehr. Das schaffen sie in der Dunkelheit nie.«

»Beim Stein!« erscholl es von der Luke her. »Was ist hier los? Im Gang liegen tote Männer! Wieso liegt Vasa auf dem Ruder? Er wird uns noch auf eine Schlammbank setzen!« Mallia rannte, nackt bis auf eine leinene Unterhose, hinüber zum Ruder und hievte die lange Ruderstange herum, damit das Schiff wieder auf Kurs lief. Dabei rutschte der tote Mann endgültig herunter. »Das ist nicht Vasa! Seng meine Seele, wer sind all diese toten Männer?« Nun kletterten auch andere an Deck, barfüßige Besatzungsmitglieder und aufgescheuchte Passagiere, die sich in Umhänge oder Decken gehüllt hatten.

Thom schirmte mit seinem Körper die Sicht ab und schnitt mit seinem Messer von unten her das Seil mit einer schnellen Bewegung durch. Das Boot blieb in der Dunkelheit rasch zurück. »Flußpiraten, Kapitän«, sagte er. »Der junge Mat und ich haben Euer Schiff vor Flußpiraten gerettet. Wenn wir nicht gewesen wären, hätten sie vielleicht allen die Kehlen durchgeschnitten. Vielleicht solltet Ihr euch den Preis für unsere Passagen noch mal durch den Kopf gehen lassen.«

»Piraten!« rief Mallia. »Es gibt viele davon unten in der Gegend von Cairhien, aber ich habe noch nie von welchen so weit hier oben im Norden gehört!« Die eng zusammenstehenden Passagiere begannen, über Piraten und durchgeschnittene Kehlen zu diskutieren.

Mat schritt steif hinüber zur Luke. Hinter sich hörte er, wie Mallia sagte: »Das ist vielleicht ein kaltschnäuziger Bursche. Ich habe noch nie davon gehört, daß Andor Attentäter einsetzt, aber seng meine Seele, er ist wirklich kaltschnäuzig.«

Mat stolperte die Leiter hinunter, stieg über die beiden Leichen im Gang hinweg und knallte die Tür zur Kapitänskajüte hinter sich zu. Er schaffte es beinahe bis zum Bett, bevor ihn das große Zittern überfiel, und dann konnte er nur noch auf die Knie sinken. Licht, in welches Spiel bin ich da verwickelt worden? Ich muß das Spiel kennen, wenn ich gewinnen will. Licht, welches Spiel ist das?

Rand blickte in sein Lagerfeuer und spielte leise ›Rose des Morgens‹ auf seiner Flöte. Über dem Feuer schmorte ein Kaninchen an einem Stock. Der Nachtwind ließ die Flammen flackern. Er bemerkte den Duft des Kaninchens kaum, obwohl ihm kurz durch den Kopf ging, daß er sich im nächsten Dorf oder der nächsten Stadt Salz besorgen mußte. ›Rose des Morgens‹ war eine der Melodien, die er bei den Hochzeiten gespielt hatte.

Wie viele Tage ist das nun her? Waren es wirklich so viele, oder bilde ich mir das nur ein? Daß sich jede Frau im Dorf gleichzeitig entschloß, sofort zu heiraten? Wie hieß das Dorf wieder? Bin ich schon dabei, dem Wahn zu verfallen?

Schweiß rann ihm über das Gesicht, aber er spielte weiter, wenn auch so leise, daß er es gerade noch hören konnte, und er starrte weiter ins Feuer. Moiraine hatte ihm gesagt, er sei ta'veren. Alle sagten, er sei ta'veren. Vielleicht war er es wirklich. Solche Menschen... veränderten... die Dinge in ihrer Umgebung. Ein Ta'veren konnte all diese Hochzeiten verursacht haben. Aber das war schon zu nahe an einem anderen Gedanken, den er aus seinem Kopf verbannen wollte.

Sie sagen auch, ich sei der Wiedergeborene Drache. Alle behaupten es. Die Lebenden wie die Toten. Deshalb muß es noch nicht stimmen. Ich mußte mich von ihnen zum Wiedergeborenen Drachen ausrufen lassen. Pflicht. Ich hatte keine andere Wahl, aber deshalb muß es doch nicht stimmen.

Er schien einfach nicht aufhören zu können, immer wieder diese eine Melodie zu spielen. Sie erinnerte ihn an Egwene. Einst hatte er geglaubt, er werde Egwene heiraten. Es schien lange Zeit her gewesen zu sein. Das war jetzt sowieso vorbei. Aber sie war in seinen Träumen zu ihm gekommen. Vielleicht war sie es wirklich. Ihr Gesicht. Es war ihr Gesicht.

Aber es waren so viele Gesichter gewesen, Gesichter, die er kannte: Tam und seine Mutter und Mat und Perrin. Alle versuchten, ihn zu töten. Natürlich waren es nicht wirklich sie alle gewesen. Nur ihre Gesichter auf Kreaturen des Schattens. Er glaubte jedenfalls, daß sie es nicht gewesen waren. Es schien, daß sogar in seinen Träumen diese Kreaturen des Schattens bereits ihr Unwesen trieben. Waren das nur Träume? Manche Träume waren Wirklichkeit, das wußte er. Und andere wieder waren nur Träume, Alpträume oder Hoffnungen. Doch wie sollte man sie voneinander unterscheiden? In einer Nacht war Min durch seine Träume gegangen und hatte versucht, ihm ein Messer in den Rücken zu jagen. Er war noch immer überrascht davon, wie sehr ihn das getroffen hatte. Er war unvorsichtig gewesen, hatte sie zu nahe an sich herangelassen. Seine Wachsamkeit hatte nachgelassen. Aber bei Min hatte er das Gefühl, er müsse nicht wachsam und mißtrauisch sein, trotz der Dinge, die sie voraussah, wenn sie ihn lange anblickte. Bei ihr zu sein war Balsam auf seine Wunden gewesen.

Und dann versuchte sie, mich zu töten! Seiner Flöte entwichen einige schrille Mißtöne, doch schnell fand er die rechte Melodie und Sanftheit des Ausdrucks wieder. Nicht sie. Ein Schattenwesen mit ihrem Gesicht. Von allen würde Min mich am wenigsten verletzen. Er verstand selbst nicht, wieso er das glaubte, aber er war sicher, daß es stimmte.

So viele Gesichter in seinen Träumen. Auch Selene war gekommen, kühl und geheimnisvoll und so wunderschön, daß sein Mund austrocknete, wenn er nur an sie dachte. Sie bot ihm Ruhm, wie schon einmal vor langer, langer Zeit, aber nun hatte der Ruhm mit einem Schwert zu tun, das er besitzen mußte, wie sie sagte. Und sie werde mit dem Schwert zu ihm kommen. Callandor. Das war immer in seinen Träumen. Immer. Und diese verwunschenen Gesichter. Hände, die Egwene und Nynaeve und Elayne in Käfige zwangen, sie mit Netzen fingen, sie verletzten. Warum weinte er mehr um Elayne als um die beiden anderen?

In seinem Kopf drehte sich alles. Der Kopf schmerzte genauso schlimm wie seine Seite, und Schweiß rann ihm über das Gesicht, und er spielte leise ›Rose des Morgens‹ in die Nacht hinein und hatte Angst, einzuschlafen. Er hatte Angst vor den Träumen.

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